Soziokratie

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Soziokratie Lester Frank Ward (1841-1913) Die Welt ist durch die Phasen der Autokratie und Aristokratie in die der Demokratie gelangt und hat, durch eine normale Reaktion gegen die Macht des Einzelnen, bislang den Einfluss des Staates soweit minimiert, dass derselbe Geist, der sich vorher die- ses Staates bediente, um selbst voranzukommen, nun in eine fünfte Phase übergeht, nämlich die der Plutokratie. In Verbindung mit einer schwachen Demokratie oder Physiokratie gedeiht sie beson- ders gut und zielt darauf ab, diese beiden vollstän- dig zu überwinden. Ihren größten Rückhalt findet sie im weitverbreiteten Misstrauen gegen jede Re- gierung, und sie lässt nichts unversucht, um das Feuer des Hasses anzufachen. Anstatt nach einem größeren und stärkeren Staat ruft sie nach einem kleineren und schwächeren. Findig schreit sie nach individueller Freiheit, erinnert fortwährend an die Verbrechen des Staates in dessen autokratischer und aristokratischer Phase und tut fälschlicherwei- se so, als drohe die unmittelbare Gefahr seiner Rückkehr. Laissez-faire und der extremste Individu- alismus, die in allem außer bei der Durchsetzung der eigenen bestehenden Rechte an praktische A- narchie grenzen, werden laut befürwortet, und die Öffentlichkeit wird folglich blind für die Realität gemacht. […] Die großen Übel, unter denen die Gesellschaft heu- te leidet, haben sich unter der Vormachtstellung des Intellekts entwickelt. Sie haben sich heimlich während des allmählichen Vordringens organisier- ter Gerissenheit bis in den Bereich nackter Gewalt ausgedehnt. In diesem schwindenden Bereich be- hält der Staat seine Macht, aber im wachsenden und inzwischen allumfassenden Feld psychischer Einflussnahme ist er machtlos. Niemand hat je be- hauptet, beim körperlichen Kräftemessen solle die Beute ausschließlich dem Stärksten zufallen. In all diesen Fällen packt der Arm der Obrigkeit zu und sorgt für Gerechtigkeit. Aber bei den vielfältigen und weit ungleicheren Kämpfen, die jetzt zwischen den Köpfen ausgetragen werden bzw. mehr zwi- schen dem Individuum und einem organisierten System, dem Produkt ganzer Denkepochen, sagt man üblicherweise, solche Dinge lasse man sich besser selbst regulieren und das Recht des Stärke- ren walten. Aber jedem, der das Thema aufrichtig betrachtet, muss klar sein, dass die erste und wich- tigste Aufgabe des Staates offen und absichtlich verhindert wird, und zwar durch gewaltsame Ein- griffe, dem natürlichen Ergebnis aller Anwendung physischer Gewalt. Diese oft genannten Naturge- setze werden jedes mal verletzt, wenn ein Straßen- räuber verhaftet wird und ins Gefängnis kommt. Früher konnte ein primitiver Staat allein mit roher Gewalt eine gerechte und gleichmäßige Verteilung von Wohlstand sicherstellen. Aber heute, da menta- le Gewalt alles und physische Gewalt nichts mehr bedeuten, hat er nicht mehr die Macht dazu. Das allein beweist, dass der Staat bei seiner Hauptauf- gabe gestärkt werden muss, dem Schutz der Ge- sellschaft. Es gibt jedoch keine Argumentation, die nur für eine Art des Schutzes, aber nicht ebenso für eine andere gilt. Es ist in höchstem Maße unlogisch zu sagen, die Selbstbereicherung durch physische Gewalt sollte verboten, aber die durch mentale Gewalt oder juristische Fiktion sollte erlaubt wer- den. Es ist absurd zu fordern, die durch Muskel- kraft begangene Ungerechtigkeit solle gesetzlich reguliert, aber die durch den Intellekt begangene solle unbelangt bleiben. Auch wenn die moderne Plutokratie keine Staats- form im gleichen Sinne wie die bereits erwähnten ist, kann man dennoch leicht erkennen, dass ihre Macht ebenso groß ist wie die, die irgendein ande- rer Staat je ausgeübt hat. Der Prüfstein einer jeden Staatsmacht ist üblicherweise die Art, in der er sei- ne Bürger besteuert, und die heftigsten Anklagen, die je gegen die schlimmsten Formen der Tyrannei erhoben wurden, sind jene, die die unterdrückeri- schen Methoden erpresserischer Abgaben aufzäh- len. Aber die Abgabe des Zehnten wird als Unter- drückung betrachtet und die eines Viertels vom Ertrag in irgendeiner beliebigen Industrie würde einen Aufstand rechtfertigen. Und doch gibt es heute viele Güter, für die Menschen das Doppelte und Dreifache der Kosten für Produktion, Trans- port und Vergütung mit fairen Löhnen und Profiten bezahlen. In vielen Bereichen besteuern Monopole den Verbraucher mit 25 bis 75 Prozent des realen Gebrauchswertes eines Gegenstands. Stellen Sie sich einmal eine Verbrauchssteuer in dieser Grö- ßenordnung vor! [...] Bei einem Monopol oder bei aggressivem Wettbewerb wird der Preis von Waren bis zum maximalen Grenzwert erhöht, der für ei- nen Gegenstand in profitablen Mengen gezahlt wird, und das völlig unabhängig von den Produk- tionskosten. Kein Staat der Welt hat oder hatte je- mals die Macht, eine solche Erpressung durchzu- setzen. Es ist eine regierende Macht im Interesse einiger weniger Privilegierter, die jene des mäch- tigsten Monarchen oder Despoten übersteigt, der jemals ein Zepter geschwungen hat. 1

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Leicht gekürzter Text aus: Lester Frank Ward, "The Psychic Factors of Civilization", Kap. 38, S. 313-330, Boston, U.S.A., Ginn & Company Publishers, 1893, gedruckt in: John Buck und Sharon Villines, "We the People: Consenting to a Deeper Democracy", Anh. A, Washington, DC, U.S.A., Sociocracy.Info Press, 2007 (www.sociocracy.info). Übersetzt von Dinu C. Gherman und Tye M. Thomas.

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SoziokratieLester Frank Ward (1841-1913)

Die Welt ist durch die Phasen der Autokratie und Aristokratie in die der Demokratie gelangt und hat, durch eine normale Reaktion gegen die Macht des Einzelnen, bislang den Einfluss des Staates soweit minimiert, dass derselbe Geist, der sich vorher die-ses Staates bediente, um selbst voranzukommen, nun in eine fünfte Phase übergeht, nämlich die der Plutokratie. In Verbindung mit einer schwachen Demokratie oder Physiokratie gedeiht sie beson-ders gut und zielt darauf ab, diese beiden vollstän-dig zu überwinden. Ihren größten Rückhalt findet sie im weitverbreiteten Misstrauen gegen jede Re-gierung, und sie lässt nichts unversucht, um das Feuer des Hasses anzufachen. Anstatt nach einem größeren und stärkeren Staat ruft sie nach einem kleineren und schwächeren. Findig schreit sie nach individueller Freiheit, erinnert fortwährend an die Verbrechen des Staates in dessen autokratischer und aristokratischer Phase und tut fälschlicherwei-se so, als drohe die unmittelbare Gefahr seiner Rückkehr. Laissez-faire und der extremste Individu-alismus, die in allem außer bei der Durchsetzung der eigenen bestehenden Rechte an praktische A-narchie grenzen, werden laut befürwortet, und die Öffentlichkeit wird folglich blind für die Realität gemacht. […]

Die großen Übel, unter denen die Gesellschaft heu-te leidet, haben sich unter der Vormachtstellung des Intellekts entwickelt. Sie haben sich heimlich während des allmählichen Vordringens organisier-ter Gerissenheit bis in den Bereich nackter Gewalt ausgedehnt. In diesem schwindenden Bereich be-hält der Staat seine Macht, aber im wachsenden und inzwischen allumfassenden Feld psychischer Einflussnahme ist er machtlos. Niemand hat je be-hauptet, beim körperlichen Kräftemessen solle die Beute ausschließlich dem Stärksten zufallen. In all diesen Fällen packt der Arm der Obrigkeit zu und sorgt für Gerechtigkeit. Aber bei den vielfältigen und weit ungleicheren Kämpfen, die jetzt zwischen den Köpfen ausgetragen werden bzw. mehr zwi-schen dem Individuum und einem organisierten System, dem Produkt ganzer Denkepochen, sagt man üblicherweise, solche Dinge lasse man sich besser selbst regulieren und das Recht des Stärke-ren walten. Aber jedem, der das Thema aufrichtig betrachtet, muss klar sein, dass die erste und wich-tigste Aufgabe des Staates offen und absichtlich verhindert wird, und zwar durch gewaltsame Ein-griffe, dem natürlichen Ergebnis aller Anwendung

physischer Gewalt. Diese oft genannten Naturge-setze werden jedes mal verletzt, wenn ein Straßen-räuber verhaftet wird und ins Gefängnis kommt.

Früher konnte ein primitiver Staat allein mit roher Gewalt eine gerechte und gleichmäßige Verteilung von Wohlstand sicherstellen. Aber heute, da menta-le Gewalt alles und physische Gewalt nichts mehr bedeuten, hat er nicht mehr die Macht dazu. Das allein beweist, dass der Staat bei seiner Hauptauf-gabe gestärkt werden muss, dem Schutz der Ge-sellschaft. Es gibt jedoch keine Argumentation, die nur für eine Art des Schutzes, aber nicht ebenso für eine andere gilt. Es ist in höchstem Maße unlogisch zu sagen, die Selbstbereicherung durch physische Gewalt sollte verboten, aber die durch mentale Gewalt oder juristische Fiktion sollte erlaubt wer-den. Es ist absurd zu fordern, die durch Muskel-kraft begangene Ungerechtigkeit solle gesetzlich reguliert, aber die durch den Intellekt begangene solle unbelangt bleiben.

Auch wenn die moderne Plutokratie keine Staats-form im gleichen Sinne wie die bereits erwähnten ist, kann man dennoch leicht erkennen, dass ihre Macht ebenso groß ist wie die, die irgendein ande-rer Staat je ausgeübt hat. Der Prüfstein einer jeden Staatsmacht ist üblicherweise die Art, in der er sei-ne Bürger besteuert, und die heftigsten Anklagen, die je gegen die schlimmsten Formen der Tyrannei erhoben wurden, sind jene, die die unterdrückeri-schen Methoden erpresserischer Abgaben aufzäh-len. Aber die Abgabe des Zehnten wird als Unter-drückung betrachtet und die eines Viertels vom Ertrag in irgendeiner beliebigen Industrie würde einen Aufstand rechtfertigen. Und doch gibt es heute viele Güter, für die Menschen das Doppelte und Dreifache der Kosten für Produktion, Trans-port und Vergütung mit fairen Löhnen und Profiten bezahlen. In vielen Bereichen besteuern Monopole den Verbraucher mit 25 bis 75 Prozent des realen Gebrauchswertes eines Gegenstands. Stellen Sie sich einmal eine Verbrauchssteuer in dieser Grö-ßenordnung vor! [...] Bei einem Monopol oder bei aggressivem Wettbewerb wird der Preis von Waren bis zum maximalen Grenzwert erhöht, der für ei-nen Gegenstand in profitablen Mengen gezahlt wird, und das völlig unabhängig von den Produk-tionskosten. Kein Staat der Welt hat oder hatte je-mals die Macht, eine solche Erpressung durchzu-setzen. Es ist eine regierende Macht im Interesse einiger weniger Privilegierter, die jene des mäch-tigsten Monarchen oder Despoten übersteigt, der jemals ein Zepter geschwungen hat.

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Was also ist das Gegenmittel? Wie kann die Gesell-schaft diesem letzten Machtkampf des egoistischen Intellekts entkommen? Die Herrschaft der Gewalt hat sie durch die Errichtung des Staates abge-schafft. Sie hat die Autokratie durch die Aristokra-tie ersetzt und diese durch die Demokratie, und sie befindet sich nun in den Wirren der Plutokratie. Kann sie ihr entkommen? Muss die Gesellschaft, um die Kraft zu erlangen, mit der Plutokratie zu brechen, zurück zur Autokratie? Kein Autokrat hatte jemals ein Zehntel dieser Kraft. Muss sie sich dann zermalmen lassen? Sie muss es nicht. Es gibt genau eine Macht, die größer ist als jene, die heute die Gesellschaft maßgeblich beherrscht. Diese Macht ist die Gesellschaft selbst. Es gibt eine Regie-rungsform, die stärker ist als Autokratie, Demokra-tie und selbst Plutokratie, und das ist die Soziokra-tie.

Das Individuum hat lange genug geherrscht. Für die Gesellschaft ist der Tag gekommen, ihre Angel-egenheiten in die eigenen Hände zu nehmen und ihre eigenen Schicksale zu formen. Das Individuum hat so gut gehandelt wie es nur konnte. Es hat auf die ihm einzig mögliche Weise gehandelt. Mit eige-nem Bewusstsein, Willen und Intellekt ausgestattet konnte es gar nichts anderes tun als der eigenen Bestimmung zu folgen. Es sollte weder verurteilt noch geschmäht werden. Man sollte ihm nicht einmal einen Vorwurf machen. Nein, es sollte ge-lobt und sogar imitiert werden. Die Gesellschaft sollte eine große Lektion daraus ziehen und den-selben Weg zum Erfolg einschlagen, den es so deut-lich vorgegeben hat. Sie sollte sich als Individuum begreifen, mit allen Interessen eines Individuums. Sie sollte sich dieser Interessen vollständig bewusst werden und sie mit demselben unbeugsamen Wil-len verfolgen, mit dem ein Individuuum seine Inte-ressen verfolgt. Und nicht nur das; Sie muss sich ebenso wie das Individuum vom sozialen Intellekt leiten lassen, ausgestattet mit all dem Wissen, wel-ches Individuen, durch harte Arbeit, Eifer und Be-gabung, in ihre Hände gelegt haben und welches die soziale Intelligenz ausmacht.

Die Soziokratie wird sich von allen anderen bishe-rigen Regierungsformen unterscheiden, und doch wird dieser Unterschied nicht so groß sein, dass eine Revolution nötig wäre. Ebenso wie die absolu-te Monarchie unmerklich in eine beschränkte Mon-archie und in vielen Staaten sogar ohne Namens-änderung in eine mehr oder weniger reine Demo-kratie überging, ist die Demokratie in der Lage, reibungslos in Soziokratie überzugehen, ohne de-ren ungewohnten Namen anzunehmen oder jenen zu ändern, für den sie heute bekannt ist. Denn,

auch wenn es paradox klingt, die Demokratie, die jetzt die schwächste aller Staatsformen ist – zumin-dest bezogen auf die Kontrolle ihrer eigenen inne-ren Elemente –, ist in der Lage, zur stärksten zu werden. Tatsächlich könnte keine andere Staatgs-form direkt in eine Regierung durch die Gesell-schaft übergehen. Die Demokratie ist eine Phase, durch die alle Regierungsformen gehen müssen – auf unterschiedlichen Wegen, die zur letzten ge-sellschaftlichen Stufe führen, die alle Staaten schließlich erreichen müssen, um fortzubestehen.

Die Frage stellt sich, worin sich Demokratie und Soziokratie voneinander unterscheiden? Was ist der Unterschied zwischen der Gesellschaft und dem Volk? Wenn der Ausdruck „das Volk“ wirklich die einzelnen Menschen meinte, wäre der Unter-schied kleiner. Aber dieses Klischee demokratischer Staaten, falls es denn überhaupt irgendetwas be-deutet, was sich beschreiben oder definieren lässt, steht schlicht für die Mehrheit der qualifizierten Wähler, egal wie klein diese Mehrheit auch sein mag. Es gibt eine Art und Weise, auf die Handlun-gen einer Mehrheit als Handlungen der Gesell-schaft angesehen werden können. Zumindest lässt sich das Recht der Mehrheit nicht leugnen, für die Gesellschaft zu handeln. Denn sonst würde man entweder der Regierung das Recht absprechen, ü-berhaupt zu handeln, oder einer Minderheit das Recht zugestehen, für die Gesellschaft zu handeln. Aber eine Mehrheit, die für die Gesellschaft han-delt, ist etwas anderes als die Gesellschaft, die für sich selbst handelt, auch wenn sie, wie es immer der Fall sein muss, über eine von ihren Mitgliedern gewählte Vertretung handelt. Alle demokratischen Regierungen basieren größtenteils auf der Regie-rung einer vorherrschenden Partei. Die Wähler stel-len sich auf der einen oder anderen Seite einer Par-teilinie auf, und die Siegerseite betrachtet sich ge-nauso als Staat wie es Ludwig XIV. tat. Die unterle-gene Partei betrachtet die Regierung dann in der Regel als etwas Fremdes und Feindseliges, wie ei-nen Eindringling, und denkt an nichts anderes mehr als daran, genug Kraft zu schöpfen, um sie bei nächster Gelegenheit zu stürzen. Während ver-schiedene Fragen immer wieder vorgebracht und verteidigt oder angegriffen werden, ist es für den Zuschauer offensichtlich, dass die Wettkämpfer sich für sie gar nicht interessieren, und sie nur da-für benutzen, einen Vorteil zu erlangen und eine Wahl zu gewinnen.

Aus Sicht der Gesellschaft sind das Kindereien. Schon ein leichtes Erwachen des sozialen Bewusst-seins wird sie verbannen und durch etwas Ge-schäftsmäßigeres ersetzen. Einmal von diesem kin-

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dischen Spielgeist befreit und die Aufmerksamkeit auf die wahren Interessen der Gesellschaft gerich-tet, wird man sehen, dass bei fast allen wichtigen Fragen sich alle Parteien und alle Bürger einig sind, und dass es keine Notwendigkeit für diesen Parti-sanenkampf mit den öffentlichen Energien gibt. Dies zeigt sich eindeutig bei jeder Veränderung im Parteikolorit der Regierung. Die siegreiche Partei, die die Regierung angeprangert hat, nur weil sie in den Händen ihres politischen Gegners war, rühmt sich damit, dass sie das Land im Interesse guten Regierens revolutionieren wird, aber in dem Mo-ment, in dem sie an die Macht kommt und die Bürde der nationalen Verantwortung spürt, stellt sie fest, dass sie wenig tun kann und setzt die Ge-setzte in der gleichen Weise durch, wie es ihre Vor-gänger getan haben.

Es gibt einen großen Unterschied zwischen all die-ser Parteilichkeit und Verteidigung sogenannter Prinzipien und der Beschäftigung mit den wirkli-chen Interessen und der notwendigen Belangen der Nation, wobei Letzteres die wahre Aufgabe einer Regierung ist. Es ist eine gesellschaftliche Pflicht. Der für ihre Umsetzung nötige Druck ist die Kraft des gesellschaftlichen Willens. Aber in der künstli-chen Aufregung der Partisanenkämpfe, in der pro-fessionelle Politiker und Demagogen einerseits und Agenten der Plutokratie andererseits sich in den Ohren des Volkes uneinig anschreien, gehen die wahren Interessen der Gesellschaft, zumindest vo-rübergehend, aus den Augen verloren, werden ge-trübt und verdunkelt, und die Menschen verlieren ihr Verständnis für die wirklichen Probleme, ver-gessen sogar ihre eigenen Interessen, die, obwohl egoistisch, eine weit bessere Orientierung böten, und das allgemeine Ergebnis ist in der Regel, dass diese vernachlässigt werden und Nationen auch weiterhin in den Händen bloßer Politiker verblei-ben, die leicht durch die gerissenen Vertreter der Vermögenden gelenkt werden.

Die Soziokratie wird all das ändern. Irrelevante Probleme werden beiseite gelegt werden. Die wich-tigen Ziele, auf die sich alle bis auf einige wenige Interessierte einigen, erhalten ihr richtiges Maß an Aufmerksamkeit und Maßnahmen werden in ei-nem überparteilichen Geist mit dem alleinigen Zweck des Erreichens dieser Ziele in Betracht ge-zogen werden. Betrachten Sie zum Beispiel das Problem der Posttelegraphen. Niemand, der nicht zufällig Aktionär einer existierenden Telegraphen-firma ist, würde lieber 25 Cents pro Nachricht be-zahlen, wenn er sie auch für zehn Cents versenden könnte. Wer würde diese Art von Fragen über-haupt diskutieren wollen? Was die Gesellschaft will

ist das günstigst mögliche System. Sie will Gewiss-heit darüber, ob ein nationales Telegraphensystem dieses allgemein angestrebte Ziel gewährleisten würde. Es ist zu erwarten, dass die Vertreter der existierenden Telegraphenfirmen versuchen wür-den, zu zeigen, dass das nicht gelingen würde. [...] Aber warum sollte man sich von den, wenn auch berechtigten, Interessen einer so kleinen Anzahl von Personen beeinflussen lassen, wenn der ganze Rest der Menschheit an der entgegengesetzten Lö-sung interessiert ist? Die Untersuchung sollte eine selbstlose und streng wissenschaftliche sein, und sollte die Frage auf die ein oder der andere Weise entscheiden. Würde man feststellen, dass es einen echten Vorteil gäbe, dann sollte man das System annehmen. Heute stellen sich dem amerikanischen Volk eine große Anzahl solcher rein gesellschaftli-cher, jeden Bürger in diesem Land betreffen Fragen, und ihre Lösung hätte zweifellos tiefgreifenden Einfluss auf den Zustand der Zivilisation, der auf diesem Kontinent erreicht werden kann. Doch nicht nur ist es unmöglich, diese Fragen zu lösen, es ist auch unmöglich, deren Untersuchung auf Basis ihrer wirklichen Werte zu gewährleisten. Das Gleiche gilt für andere Länder, und im Allgemei-nen sind die vorherrschenden Demokratien der Welt außerstande, mit Fragen des gesellschaftlichen Wohls umzugehen.

[... D]ie Preise der meisten von der Menschheit konsumierten Gebrauchswaren haben keine direkte Beziehung zu den Kosten ihrer Herstellung und ihrem Transport bis zum Verbraucher. Es ist immer der höchste Preis, den der Verbraucher für eine Wa-re zu zahlen bereit ist, anstatt ohne sie auszukom-men. Nehmen wir an, der Preis wäre durchschnitt-lich doppelt so hoch wie die Kosten, die Waren zu produzieren, zu transportieren, zu handeln und auszuliefern, so dass in jeder dieser Transaktionen eine gerechte Entlohnung für alle Leistungen ent-halten wäre. Gibt es irgendjemanden in der Gesell-schaft, der lieber zwei Dollar für etwas zahlen würde, was fairerweise nur einen Dollar wert wä-re? Gibt es irgendeinen vernünftigen Grund dafür, eine solche Frage überhaupt zu diskutieren? Ganz gewiss nicht. Das Individuum kann an diesem Zu-stand nichts ändern. Keine Demokratie kann ihn ändern. Aber ein Staat, der wirklich die Interessen der Gesellschaft verträte, würde das genauso we-nig tolerieren wie ein Individuum die ständige Er-pressung von Geld durch andere tolerieren würde, ohne einen Gegenwert zu erhalten.

Und so wäre es überall. Die Gesellschaft würde rational und ohne Angst, Gefälligkeiten oder Vor-eingenommenheit zu allem Fragen stellen, was ihr

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Wohlbefinden beträfe. Und wenn sich Hindernisse fänden, würden diese entfernt, und wenn sich Ge-legenheiten ergäben, würden diese wahrgenom-men. Kurz gesagt, die Gesellschaft täte unter den-selben Bedingungen genau das, was auch ein intel-ligentes Individuum täte. Sie würde auf jede mög-liche Weise ihre Interessen verfolgen.

Ich kann den Einwand voraussehen, dass dies ein Idealzustand sei, und dass er noch von keinem Volk erreicht wurde und allem Anschein nach auch nie erreicht werden kann. Jedoch wird kein unvor-eingenommener Kritiker den üblichen, nicht ganz unberechtigten, Einwand erheben können, der al-lein sozialistischen Systemen gegenüber erhoben wird, nämlich den, sie setzten eine Veränderung der „menschlichen Natur“ voraus. Denn bei der hier angedeuteten Transformation wird die Dauer-haftigkeit aller geistigen Attribute postuliert, und ich habe nicht nur darauf verzichtet, auf den mora-lischen Fortschritt der Welt einzugehen, sondern habe nicht einmal die Kraft der Sympathie unter den gesellschaftlichen Kräften als Zivilisationsfak-tor erwähnt. Ich erkenne diesen als einen abgeleite-ten Faktor an, der eine wichtige Rolle spielt, aber ich habe es vorgezogen, in diesem Fall bei den pri-mären und ursprünglichen egoistischen Einflüssen zu bleiben, da ich glaube, dass weder Meliorismus noch Soziokratie auf bestimmte Gefühle oder auf altruistische Hilfen für ihre Unterstützung ange-wiesen sind. Zumindest werden die Beweise ohne solche Zuhilfenahmen stärker sein, und wenn sie einen nachweislichen, legitimen Einfluss haben, so erhöhen sie nur deren Gewicht.

Was den anderen Vorwurf angeht, so lautet die Antwort, dass Ideale notwendig sind, und dass kein Ideal jemals vollständig verwirklicht wird. Wenn man zeigen kann, dass die Gesellschaft sich in Richtung irgendeines Ideals bewegt, ist die letzt-lich echte Verwirklichung dieses Ideals so gut wie bewiesen. Beweise einer solchen Bewegung in der heutigen Gesellschaft sind reichlich vorhanden. In vielen Ländern wurden die Übergriffe des egoisti-schen Individualismus bei einer Reihe wichtiger Punkte gebändigt. In diesem Land wurde die Sorge sehr ernst genommen, die der Marsch der Plutokra-tie unter dem Schutzmantel der Demokratie aus-löst. Parteilinien weichen auf und es gibt unver-kennbare Anzeichen dafür, dass ein großer Teil der Menschen sich ernsthaft für den sozialen Fort-schritt im Land interessiert. Zum ersten Mal in der Geschichte politischer Parteien hat sich eine deut-lich tatkräftige Partei gebildet, die alle Elemente von Dauerhaftigkeit besitzt und vielleicht schon bald ein bestimmender Faktor in der amerikani-

schen Politik sein wird. Obwohl dies noch kein Vorbote einer großen sozialen Revolution sein muss, ist es gerade diese Art und Weise, in der eine Reform in die angegebene Richtung erwartet wer-den sollte. Aber ob die aktuelle Bewegung nun dauerhaft sein wird oder nicht, die Samen der Re-form wurden im ganzen Land gesät, und früher oder später müssen sie sprießen, wachsen und ihre Früchte tragen.

Für eine lange Zeit wird soziales Handeln in erster Linie weiterhin negativ sein und darin bestehen, bestehende Übel zu beseitigen, wie sie auf diesen Seiten dargelegt wurden, aber letztlich wird eine positive Phase erreicht werden, in der die Gesell-schaft Maßnahmen zur eigenen Weiterentwicklung berücksichtigen und einführen wird. Auf die Frage der jeweiligen Bereiche des sozialen und individu-ellen Handelns kann hier nicht ausführlich einge-gangen werden, aber sicher ist, dass Ersteres sich weiterhin auf Letzteres ausdehnen wird, solange solche Übergriffe zum öffentlichen Nutzen sind. Es gibt einen großen Bereich, in dem dieser Punkt un-strittig ist, nämlich das Feld, das im modernen wirtschaftlichen Sprachgebrauch als „natürliches Monopol“ bezeichnet wird. Die Argumente sind zu bekannt, als dass man sie hier wiederholen müsste, und die Bewegung ist bereits so weit fortgeschrit-ten, dass sie kaum weiterer Argumente bedarf. Bei dem, was aber darüber hinaus geht, gibt es Raum für viele Diskussionen und ehrliche Meinungsun-terschiede. Das liegt an der mangelnden Beschäfti-gung mit dem Thema. Das besondere Merkmal der Staatsform, die ich Soziokratie genannt habe, liegt darin, dass sie direkt auf der Wissenschaft der So-ziologie basiert, um die Fakten zu untersuchen, die Einfluss auf jeden Einzelnen haben. Nicht um ir-gendeiner Klasse von Bürgern die Möglichkeit zu nehmen, zu ihrem Wohlergehen zu wirken, son-dern einzig und allein dazu, zu ermitteln, was dem Wohl der ganzen Gesellschaft dient.

Die sozialistischen Argumente zugunsten einer Gesellschaft, die die gesamte industrielle Tätigkeit der Welt auf sich nimmt, schienen mir noch nie schlüssig, vor allem, weil sie weitestgehend aus reiner Theorie und a priori-Schlussfolgerungen be-standen haben. Jeder, der bei der Beschäftigung mit einem bestimmten Wissenschaftszweig vom Wesen wissenschaftlicher Beweise durchdrungen wurde, verlangt die Vorlage solcher Beweise, bevor er Schlussfolgerungen in einem anderen Feld ziehen kann. Und das sollte die Haltung aller bzgl. dieser breiteren Fragen zu sozialen Phänomenen sein. Der wahre Ökonom kann kaum weiter gehen als zu sagen, eine bestimmte Frage stünde noch offen,

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und er sei bereit, logische Tatsachen zu akzeptieren, sobald sie vorgebracht würden. Damit meine ich nicht, wir sollten nicht ins Wasser gehen, bevor wir zu schwimmen gelernt hätten. Jedoch legt das die wahre Methode der Lösung solcher Fragen nahe. Schwimmen lernt man durch eine Reihe von Ver-suchen, und auch eine Gesellschaft kann es sich leisten, in bestimmte Richtungen Experimente durchzuführen und die Ergebnisse zur Kenntnis zu nehmen. Es gibt jedoch auch andere Verfahren, wie sorgfältige Kostenabschätzungen und genaue Be-rechnungen der Auswirkungen auf Basis der ein-heitlichen Gesetze gesellschaftlicher Phänomene. Das Experiment ist die ultimative Übertrüfung ei-ner bisherigen wissenschaftlichen Theorie und kann, in der Sozial- wie in der Naturwissenschaft, Hypothesen entweder etablieren oder zu Fall brin-gen. Aber in den Sozialwissenschaften, nicht weni-ger als in anderen Zweigen der Wissenschaft, muss die Arbeitshypothese stets das wichtigste Instru-ment erfolgreicher Forschung sein.

Bis das wissenschaftliche Stadium erreicht ist und als notwendige Einleitung dazu, sollten gesell-schaftliche Probleme klar formuliert werden, und alle sie betreffenden Überlegungen nach ihrem di-rekten Einfluss auf sie vorgetragen werden. Ich kenne keine Versuche dieser Art, die ich wärmer empfehlen könnte, als die, die John Stuart Mill in seinem kleinen Werk On Liberty und in seinen posthum erschienenen Chapters on Socialism ge-macht hat. Wegen ihrer umfassenden Kenntnis stehen sie in deutlichem Gegensatz zu den sehr

einseitigen Schriften von Herbert Spencer zum im Wesentlichen gleichen Thema, und doch sind sich beide Autoren offensichtlich in den besprochenen wesentlichen Punkten einig. Diese ehrliche Kenn-tlichmachung der wahren Absichten der Laissez-fai-re-Schule ist völlig legitim, ebenso wie die ehrli-chen Darlegungen der gegensätzlichen Seite der Frage. Je mehr Licht auf alle Seiten geworfen wer-den kann, desto besser, jedoch um soziale Probleme wirklich aufklären zu können, muss es das trocke-ne Licht der Wissenschaft sein, so wenig beeinflusst durch das Gefühl, als wären es die Bewohner der Jupitermonde und nicht die dieses Planeten, die im Blick des intellektuellen Teleskops liegen.

Leicht gekürzter Text aus: Lester Frank Ward, "The Psychic Factors of Civilization", Kap. 38, S. 313-330, (PDF: http://www.webcitation.org/5nnPfDdEo), Boston, U.S.A., Ginn & Company Publishers, 1893.

Gedruckt in: John Buck und Sharon Villines, „We the People: Consenting to a Deeper Democracy“ (http://www.amazon.com/dp/0979282705), Anh. A, Washington, DC, U.S.A., Sociocracy.Info Press, 2007 (http://www.sociocracy.info).

Übersetzt von Dinu C. Gherman, unter Mitwirkung von Tye M. Thomas, Oktober 2011, veröffentlicht unter der Creative Commons-Lizenz CC-BY-SA, siehe Details unter: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/

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