Soziologie Des Ideologischen Leo Kofler

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Kohlhammer Urban- Taschenbücher Reihe 80 Band 868

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KohlhammerUrban-TaschenbücherReihe 80

Band 868

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Leo Kofler

Soziologiedes Ideologischen

Verlag W. KohlhammerStuttgart Berlin Köln Mainz

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Alle Rechte vorbehalten© 1975 Verlag W. Kohlhammer GmbHStuttgart Berlin Köln MainzVerlagsort: StuttgartUmschlag: haceGesamtherstellung W. Kohlhammer GmbHGrafischer Großbetrieb StuttgartPrinted in GermanyISBN 3-17-001958-9

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Inhalt

Einleitung ...........................................

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1. Was heißt überhaupt Ideologie? ......................

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2. Das vorbürgerliche Verhältnis von Herr und Knecht

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3.

Der Diener und der Arbeiter

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Fetischismus und Verdinglichung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Fetischismus und Entfremdung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6.

Der Intellektuelle als Ideologe

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7. Naturalistische und dialektische Bildung

. . . . . . . . . . . . . .

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8. Proletarische, kleinbürgerliche und bürgerliche Bildung . .49

9. Die Ideologie der Entideologisierung

. . . . . . . . . . . . . . . . .

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10. »Zweite Natur« und technologische Ideologie ..........

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11. Die ideologische Dialektik von Genuß und Askese

. . . . . .

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12. Die ästhetische Reflexion des entfremdeten Bewußtseins

.

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13.

Die pseudoreligiöse Ideologie

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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14.

Kriminalität als Ideologie

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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15. Die Ideologie der progressiven Elite

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anmerkungen ........................................ 139

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Einleitung

In den Jahren 1972 bis 1974 habe ich in Verwaltung des Lehrstuhlsfür Soziologie an der Universität Bochum vier Semester hinterein-ander in Vorlesungen und Seminaren das Thema der Ideologie be-handelt. Zur Grundlage nahm ich die in meinen methodologischen,soziologischen, historischen und ästhetischen Schriften verstreutvorliegenden Untersuchungen zum Problem der modernen Ideolo-gie. Bei der Studentenschaft entstand sehr bald der Wunsch, daßdiese Materialien in einer geordneten und zusammengefaßten Weisevorgelegt werden. Eine Schrift, die in der im folgenden dargebote-nen Weise das Problem der ideologischen Strömungen in der spät-bürgerlichen Gesellschaft gleichzeitig in seiner großen Differen-ziertheit und übersichtlich zusammengefaßt vorlegt, gibt es im deut-schen Sprachraum noch nicht.Bei der Abfassung der vorliegenden Schrift bestanden mehrereSchwierigkeiten. Zunächst mußte in seiner Gesamtheit sehr umfang-reiches Textmaterial organisch zusammengefügt, vielfach wesent-lich gekürzt und stilistisch verbessert werden, wobei der kundigeLeser in einigen Passagen Überschneidungen mit früheren Passagenfeststellen wird. Auch ergab sich die Frage, wie der neue Text sinn-voll in übersichtliche Abschnitte aufgeteilt werden soll, was mit sichbrachte, daß manche Zäsuren mitten durch alte Texte geführt wur-den. Endlich stellte sich die Aufgabe, aus der widerspruchsvol-len Vielfalt der Themen ein theoretisch einheitliches Bild zu ge-stalten.Der Versuch, aus bereits vorliegenden Forschungsergebnissen eineneue Schrift zu komponieren, ist zweifellos ein ebenso seltener wiegewagter Schritt. Der Leser möge ihn mit Hinweis auf den Zwang,den Studierenden wie dem übrigen theoretisch interessierten Publi-kum einen geschlossenen Text zum schlechthin schwierigsten Pro-blem der modernen Soziologie, dem der Ideologie, anzubieten, ent-schuldigen.Dem Leser sei geraten, sich den aus systematischen Gründen an denAnfang gesetzten Abschnitt »Was heißt überhaupt Ideologie?« nachder Lektüre der Schrift (nochmals) vorzunehmen, da manche der indiesem Abschnitt abgehandelten Begriffe und Probleme erst durchdie nachfolgenden Ausführungen voll verständlich werden.

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1. Was heißt überhaupt Ideologie?

Das Verhalten des Menschen zur Objektwelt wird durch das Den-ken hindurch, d. h. mittels der aktiven, zielgerichteten (teleologi-schen) und wählenden Stellungnahme vollzogen. In Hinsicht auf dieGesellschaft, der jeder Mensch als ein integrierender Bestandteil zu-gehört, bedeutet das aber, daß sie ihm nicht als etwas bloß Äußerli-ches begegnet, sich in seinem Denken nicht bloß »widerspiegelt«,sondern mit ihm identisch wird: zum Denken dieses Gedachten. Diegesellschaftliche Welt, der der Mensch einerseits als einzelner als ei-ner äußeren begegnet, ist andererseits dieses Denken selbst insofern,als es sich in den Bestimmungen reflektierter Objekte geradezu ver-wirklicht. In diesem wohlverstandenen Sinne sind Denken und ge-sellschaftliche Wirklichkeit identisch.Dies ist zu verstehen aus dem Charakter des gesellschaftlichen Seins,das sich aus denkenden und ihre Beziehung zueinander durch ihrDenken verwirklichenden Individuen zusammensetzt. In dieserWeise reflektiert sich die Gesellschaft selbst, ist das Denken der In-dividuen in seiner komplexen Vernetzung zugleich das Denken derGesellschaft.Daraus resultiert, daß alles gesellschaftliche Denken, sofern es sichunvermeidlich das gesellschaftliche Sein zu eigen macht und den in-dividuellen wie sozialen Bindungen, Bedürfnissen und Zielen ent-sprechend reflektiert und formt, schon in dieser anthropologischenBestimmung allen menschlichen Verhaltens zu seiner eigenen Weltsich als das erweist, was man ideologisch zu nennen pflegt. »Ideolo-gisch« heißt hier soviel wie: nicht unmittelbar durch das dem Den-ken Entgegenstehende (den Gegen-Stand) bestimmt, sondern durchdas Denken dieses Gegenstandes, durch den denkenden Gegen-stand, durch die in seinem Denken- sich richtig oder falsch- erken-nende Gesellschaft selbst, woraus sich die oben behauptete Identitätvon Denken und Sein ergibt.Dieser Sachverhalt kann auch folgendermaßen formuliert werden:Weil in anthropologischer Sicht Denken und Sein dialektisch iden-tisch sind, deshalb bestimmt im praktischen Prozeß das Sein dasDenken. Das anthropologisch eingesehene Verhältnis von Denkenund Sein schlägt im praktischen Bereich seiner historischen Realisie-rung um in das dem »empirischen« Schein nach entgegengesetzteVerhältnis von Sein und Denken.Der Widerspruch zwischen den beiden aufgewiesenen Formen vonSein und Denken stellt als theoretisch aufgehobener und somit

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in seiner Identität eingesehener das dar, was das Ideologieproblem -in seiner formalen und nicht inhaltlichen Seite betrachtet-insgesamtausmacht. Nichts, was den historischen Prozeß menschlicher Exi-stenz betrifft, existiert außerhalb der Identität dieses Widerspruchs;nichts kann es geben, auch sogenannte »philosophische Wahrheit«nicht, das sich hier heraushält. Alles spielt sich innerhalb dieser dop-pelten Identität ab, ist somit unweigerlich ideologisch.Auch die sogenannte »philosophische«, d. h. für alles Sein gültigeWahrheit ist »standortgebunden« insofern, als sie ermöglicht und»erzeugt« wird innerhalb einer gesellschaftlichen konkreten Sub-jekt-Objekt-Beziehung. Auch sie ist das Ergebnis der gedanklichenAssimilation eines bestimmten gesellschaftlichen Prozesses und sei-ner Probleme. Das Spezifische dieses bestimmten Ausschnitts in dergesellschaftlichen Entwicklung liegt eben darin, daß er, aus welchenGründen immer, der Wahrheitsfindung günstig ist. Eine für einesolche Wahrheitsfindung günstige gesellschaftliche Situation bedeu-tet zugleich, daß sie die Tendenz ihrer Überdauerung gebiert. Ein-mal als Wahrheit erkannt und formuliert, pflegt sie lange Epochenzu überdauern. Die soziologische Zuordnung im ideologischenProzeß des Entstehens dieser Wahrheit schließt ihre inhaltliche Ob-jektivität und ihre Objektivierung gegenüber diesem Prozeß nichtaus. Dabei behält die Zuordnung ihren Wert, nicht etwa, weil sieüber den Wahrheitsgehalt selbst etwas aussagen würde, sondernumgekehrt, weil durch sie ein Licht geworfen wird auf den histori-schen Stellenwert und den Charakter der gesellschaftlichen Kräfteund Tendenzen, die seine Findung ermöglicht haben.Mit dieser Form der Verselbständigung der objektiven Wahrheitdem Sein gegenüber ist nicht zu verwechseln jener ideologische Ver-selbständigungsprozeß, der für das falsche, den Träger täuschendeBewußtsein bezeichnend ist. Der Unterschied liegt in folgendem.Die zur selbständigen Geltung gelangte objektive Wahrheit bleibtes, auch wenn sie zu einem gegebenen Zeitpunkt von der Öffent-lichkeit nicht akzeptiert ist. Dagegen beruht die Verselbständigungdes falschen Bewußtseins darauf, daß es sich nur zum Schein zu einereigenen Kraft verdichtet und seinen sozialen Träger beherrscht, je-doch von diesem in allen seinen Bestimmungen abhängig ist. Mitdem Verschwinden dieser Schicht verschwindet auch dieses Be-wußtsein. Auch die objektive ideologische Wahrheit, vor allem jene,die in einem gemeingültigen »philosophischen« und daher überhi-storischen Sinne wahr ist, kann zu einer die Massen beherrschendenMacht werden; aber sie wird nicht bedeutungslos und verschwindetnicht mit dem Verschwinden dieser Massen von der geschichtlichenBühne oder mit der Abschwächung ihrer Fähigkeit, sie zu akzeptie-

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ren. Daher ist die Behauptung Herbert Marcuses, daß die »philoso-phische Wahrheit« niemals soziologisch zugeordnet werden kann,1dem wirklichen ideologietheoretischen Gehalt nicht angemessen, zuallgemein und in der Formulierung bereits so gehalten, daß sie derdefinitionsmäßig vereinseitigten Apriori-Gleichsetzung von Ideo-logie und falschem Bewußtsein entgegenkommt. Es entsteht hier derSchein einer totalen Unabhängigkeit der im geistesgeschichtlichenVerlaufe entstandenen Wahrheitserkenntnis und einer sie tragendengenialisch »freischwebenden« intellektuellen Elite. Als ob bei-spielsweise die Grundsätze der Hegelschen Dialektik, die Marcusezum Bereich der objektiven philosophischen Wahrheit zählen wür-de, nicht ihre historischen Wurzeln in der scharfsinnigen Beobach-tung der französischen Revolution und der englischen Ökonomienebst den in ihnen wirkenden Herr-Knecht-Verhältnissen gehabthätten.Der Sinn der Erforschung des Ideologieproblems liegt darin, zu er-fahren, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen falsches Be-wußtsein und unter welchen Wahrheit, also richtiges Bewußtsein,möglich geworden sind und artikuliert wurden. Womit gleichzeitigdie Wesenheit dieser Bedingungen selbst zur Erhellung gelangt.Sprachen wir bisher von der ideologischen Wahrheit schlechthin, sokompliziert sich das Problem dahingehend, daß es im Bereich desIdeologischen verschiedene, darunter auch historisch relativierteFormen solcher Wahrheit gibt. Es sind drei Formen der ideologi-schen Wahrheit zu unterscheiden. Erstens: Eine ideologische Aus-sage kann sich im Lichte einer späteren theoretischen Analyse als einGebilde zu erkennen geben, das mit verfehlten Vorstellungen überden Menschen und über die Geschichte arbeitet, jedoch gleichzeitigwahr sein in dem Sinne, daß sie sich in den Dienst des Vollzugs desnotwendigen nächsten historischen Schritts stellt. Wir sprechen hiervon der relativen ideologischen Wahrheit. Zweitens: Sie kann wahrsein, weil sie konkrete Teilbereiche des gesellschaftlichen und histo-rischen Geschehens, bestimmte Epochen oder einzelne ihrer Phä-nomene zur gleichen Zeit ihrer Existenz richtig deutet. Wir wählenhierfür die Bezeichnung der konkreten ideologischen Wahrheit.Drittens: Eine durch besonders günstige Umstände veranlaßte ideo-logische Aussage kann wahr sein, wenn sie gemeingültige Erkennt-nisse anthropologischer, philosophischer, sozialtheoretischer usw.Natur enthält, Wahrheiten, die in ihrer Entstehung, jedoch nicht inihrem Gehalt an bestimmte gesellschaftliche Konstellationen ge-bunden sind und die, einmal formuliert, ihre Entstehungszeit über-dauern. Wir bezeichnen sie als die objektiven ideologischen Wahr-heiten. (Die überwindung des Ständestaates in der französischen

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Revolution hat z. B. - zunächst für Marat - die Klassenstruktur derGesellschaft sichtbar hervortreten lassen und erst zu diesem Zeit-punkt theoretisch formulierbar gemacht.) Daß sie stets ideologischeGebilde bleiben, ist auch daran zu ermessen, daß sie vielfach nochmit wechselndem Schicksal der Anerkennung seitens solcher geisti-gen Mächte unterworfen bleiben, die ihrerseits ideologischer Her-kunft sind. Selbst als feststehenden Wahrheiten bleibt ihnen nichtdas Schicksal erspart, im Raume der späteren, d. h. ihrer ideologi-schen Entstehungszeit folgenden Auseinandersetzungen noch im-mer eine ideologische Rolle spielen zu müssen. (Wiederum ein Bei-spiel: Hat die Überwindung des Vorrangs der ständestaatlichen Or-ganisation der Gesellschaft das reine Heraustreten der Dialektik desUmschlagens von subjektivem Handeln in den objektiven Pro-zeß und umgekehrt zur Folge gehabt, so bedurfte es nur der genialenKöpfe, die diesen Prozeß analysierten und die Grundlage für denHistorischen Materialismus schufen; nichtsdestoweniger ist er ausideologischen Gründen noch immer umstritten.)Der begriffliche Unterschied zwischen dem richtigen und falschenBewußtsein ist nicht aus dem Begriff der Ideologie selbst abzuleiten,sondern begründet sich ideologietheoretisch in der Form ihrer ideo-logischen Verselbständigung gegenüber der Gesellschaft.Das falsche Bewußtsein verselbständigt sich gegenüber seinem ge-sellschaftlichen Träger, indem es ihm wie eine ideelle Gewalt vonfremder Herkunft, aber versehen mit der Kraft, als »Wahrheit« An-erkennung zu erzwingen, erscheint. (Denken wir beispielsweise anden chauvinistischen Nationalismus.) Sowohl die Meinungs- undBekenntnisideologien, die eine subjektive Stellungnahme erfordern,als auch die spontan-unbewußt das Denken besetzenden fetischisti-schen Ideologien, die sich um die Vorstellung der »zweiten Natur«bewegen und das Handeln »kategorial« bestimmen (wir kommendarauf ausführlich zurück), erscheinen unter der Bedingung derstrukturellen Verdinglichung in der doppelten Gestalt: das eine Malals ideelle und das andere Mal als »praktische« Mächte, denen sich zuentziehen soviel bedeutet wie den Verlust der Fähigkeit, im öffentli-chen wie privaten Leben zulärglich zu funktionieren. Zwar ist derWeg des Entstehens beider ideologischer Formen ein irrationaler,denn die eigentlichen Entstehungsgründe bleiben dem Individuumvollkommen unbewußt. Aber das eine Mal pflegt es seine Ansichtenin eine rationale Form zu kleiden, während es die unmittelbaren Re-flexionen des verdinglichten Daseins wie Naturgewalten, die man alsunbegreifliche über sich ergehen läßt, hinnimmt. Nur in der abgelei-teten theoretischen Sphäre wird der Versuch unternommen, sie ra-tional zu begreifen. In beiden Fällen vollzieht sich die Verselbstän-

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digung des »ideologischen Himmels« gegenüber dem Individuummittels seines Verhaltens selbst, d. h. mittels seiner gesellschaftlichenTätigkeit unter der Bedingung der arbeitsteiligen und anarchischenWarenstruktur (worüber später Näheres).Genau umgekehrt verhält es sich mit jener Form der ideologischenVerselbständigung, die wir der objektiven Wahrheit zurechnen. Sieentspringt nicht unmittelbar dem verdinglichten Prozeß, sondernder Anstrengung seines Durchschauens, wenn auch nicht in »intel-lektueller Freiheit«, wie oft behauptet, sondern unter bestimmtengünstigen Konstellationen für eine soziale Gruppe innerhalb einerebenso für diese Erkenntnis günstigen Konstellation der ganzen Ge-sellschaft. Im Durchschauen enthüllt sich dem Denken die Sicht aufsolche Zusammenhänge wie Freiheit und Notwendigkeit, Kausalitätund Norm, Tätigkeit und Telos, Prozeß und Moment usw. Es ent-steht richtiges Bewußtsein in der Bedeutung einer gleichzeitig ideo-logischen und »philosophischen« Wahrheit.Von diesen »philosophischen«, auf die allgemeinsten Bestimmungengesellschaftlicher Existenz ausgerichteten Wahrheiten unterschei-den sich die konkreten. Sofern sie ein besonders theoretisches Inter-esse erwecken im Zusammenhang mit dem das gesamte Bewußtseinder bürgerlichen Gesellschaft durchsetzenden Tatsachenfetischis-mus - der darin besteht, daß die infolge der arbeitsteiligen gesell-schaftlichen Anarchie für das falsche Bewußtsein zerstörte Totalitätdurch ein System von ideologischen Täuschungen ersetzt wird, diesich als »Tatsachen« geben-, insofern bestimmt sich das Wesen die-ser konkreten Wahrheiten durch die Fähigkeit, die »Tatsachen« aufihren wirklichen Gehalt zu reduzieren und von ihren ideologischenHüllen zu befreien. Aber diese Fähigkeit ist selbst wiederum und ge-rade wegen ihres antiideologischen Affekts zum realen gesellschaft-lichen Geschehen vermittelt und deshalb in der oben definierten Be-deutung des richtigen Bewußtseins ideologisch gebunden.Die Erkenntnis eines jeglichen Denkens, auch des richtigen, als ei-nes, das sich anthropologisch und erkenntnistheoretisch bestimmenläßt als nach allen Seiten hin an die gesellschaftliche Subjekt-Ob-jekt-Beziehung gebunden und als die Form der konkreten »Selbst-erkenntnis« wie auch Bedingung der darauf beruhenden Reproduk-tion des gesellschaftlichen Lebens, läßt keinen Begriff von Denkenzu, das sich außerhalb des Prozesses der allseitigen gesellschaftlichenBestimmtheit des Bewußtseins durch das Sein hält.Damit stellt sich aber ein spezifisches Problem, ein Problem, das andie Frage gebunden ist: Wie ist diese Bestimmtheit des ideologischenBewußtseins durch das gesellschaftliche Sein des genaueren vorzu-stellen? Erkenntnistheoretisch ausgedrückt: Wie ist sie überhaupt

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möglich? Es geht hierbei um den Aufweis der konkreten Dialektikvon Sein und Bewußtsein. Vorausgesetzt, daß unsere oben entwik-kelte These von der Bestimmtheit eines jeglichen Denkens durch diegesellschaftlichen Verhältnisse richtig ist, bedeutet die These impli-zit auch soviel, daß die Gesamtheit des Bewußtseins und die Ge-samtheit des gesellschaftlichen Seins in einer dialektischen Vermitt-lung zueinander stehen, somit das ausmachen, was unter den Begriffder Totalität fällt.Alle konkrete Dialektik ist identisch mit der Vermittlung in der To-talität. Als Realdialektik ist sie schon im Hegelschen System zurEntwicklung gelangt, denn für Hegel war jede Vermittlung ein Ge-setz der Wirklichkeit. Jedoch fehlte der Hegelschen Dialektik derkonkrete, in den realen Bedingungen des Geschichtsprozesses selbstauffindbare Totalitätsbegriff. Die bloß spekulative Behauptung derTotalität macht noch nicht ihre Konkretheit aus. Um konkrete Tota-lität zu sein, muß sie erst ein Gesetz »erzeugen«, und das Begreifendieses Gesetzes macht erst die Geschichte als Objekt der dialekti-schen Totalität begreiflich.Die konkrete Totalität realisiert sich durch die im Historischen Ma-terialismus zur zentralen Kategorie erhobenen Produktionsverhält-nisse. Im Zusammenhang mit der so verstandenen Totalität gebensich die vielfältigen gesellschaftlichen und ideologischen Erschei-nungen immer als im Rahmen eines durch die Produktionsverhält-nisse bestimmten Beziehungsganzen vermittelt. Hier erscheinenauch die abseitigsten Phänomene der Geschichte als in einer funk-tionalen Beziehung innerhalb der die Gesamtheit der Phänomenezueinander vermittelnden Produktionsverhältnisse stehend. Dasbedeutet die Einsicht in ein Beziehungssystem, dessen ideologischeAusdrucksform die in ihrer Gesamtheit sich deutlich als ideellerAusdruck innerhalb der durch bestimmte Produktionsverhältnissestrukturell durchwirkten Totalität ist. Mit anderen Worten: Pro-duktionsverhältnisse und Gesellschaft einer bestimmten Epochesind Wechselbegriffe und umschreiben diese Epoche als Totalität.Das bedeutet, daß die Beziehungen, die die Individuen und Klassen»in der Produktion ihres Lebens« (Marx) eingehen, auch schon alleübrigen Erscheinungen der Gesellschaft mitbedingen, wenn auchzumeist in einer sehr vermittelten Weise; somit kann nichts außer-halb und neben den Produktionsverhältnissen bestehen, und des-halb ist die Totalität der gesellschaftlichen Erscheinungen bereits mitden Produktionsverhältnissen funktional gegeben. Einer solchenBetrachtungsweise kommt es nicht mehr darauf an, zu jedem ideo-logischen einen eigenen ökonomischen Bezugspunkt zu finden, wieein weitverbreitetes Mißverständnis seit Eduard Bernsteins Kritik

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am Historischen Materialismus (1896) vermeint. Im Gegenteil, daökonomie und Ideologie aufgrund der Tatsache, daß es auch keinökonomisches Handeln ohne den »Durchgang durch den menschli-chen Kopf« (Engels) gibt, ihrerseits Struktureinheiten darstellen, diein einer funktionalen Abhängigkeit innerhalb der gesellschaftlichenTotalität zueinander stehen, die Ideologie als Ganzes daher immernur als Funktion der Ökonomie erscheint, genügt es, wenn einzelneideologische Momente einem größeren ideologischen Zusammen-hang zugeordnet werden und dieser dann seinerseits ökonomischzugeordnet wird.Dieses Begreifen der Gesellschaft einer bestimmten Epoche als funk-tionales Beziehungsganzes oder als Totalität macht der Hauptsachenach die Materialistische Geschichtsauffassung aus; und das in derpopulären Vorstellung so beliebte Schema von der direkten Be-dingtheit eines jeglichen Teiles des Überbaus von einer bestimmtenSphäre des Unterbaus ist nur ein verzerrter Ausdruck davon. Für dasVerständnis der Geschichte ist viel mehr damit gewonnen, wenn ei-nem ideellen Faktor innerhalb der Totalität der gesellschaftlichenBeziehungen ein angemessener Platz zugewiesen wird, als wennman für jede, sei es noch so abseitige, ideologische Erscheinung ei-nen genau zu ihr passenden ökonomischen Faktor ausfindig zu ma-chen versucht. 2 Aber abgesehen von der Richtigstellung, die hier mitHilfe der Totalitätsvorstellung am vulgärmarxistischen Denken vor-zunehmen war, zeigt sich die theoretische Fruchtbarkeit des Den-kens in der Totalität der Produktionsverhältnisse besonders dort,wo man auf die vergeblichen Bemühungen bürgerlicher Denkerstößt, alle gesellschaftlichen Strukturelemente, Gegensätze und Wi-dersprüche ihres antagonistischen Charakters zu entkleiden und ei-nem mehr oder weniger willkürlich herausgegriffenen Einzelmerk-mal zumeist ideeller Art als einem die ganze Epoche formendenMerkmal zu subsumieren. 3Der konkrete Totalitätsbegriff muß aber selbst genau analysiertwerden, bevor er zur theoretischen Anwendung gelangt. Die Pro-duktionsverhältnisse sind, wie der Ausdruck sagt, Verhältnisse, undzwar solche von Menschen, die diese in der Produktion ihres Lebenseingehen müssen. Mit dieser Einsicht erschließt sich für die dialekti-sche Theorie eine neue Seite: Ausnahmslos wird jeder der sozialenWelt zugehörige Begriff als gesellschaftliches Verhältnis oder alsvermittelter Ausdruck eines solchen Verhältnisses bestimmt. Hiermacht die Dialektik einen Sprung über ihre ursprüngliche Begrenzt-heit, sich in der Neubestimmung der Begriffe zu erschöpfen, hinaus.Das Begriffsbild jener sozialen Erscheinungen wird völlig verändert,die sich im ideologischen Bewußtsein der Gesellschaft hartnäckig

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als nichtmenschliche und große gesellschaftliche Macht ausübende»Gegenstände« darstellen. Es handelt sich dabei um die theoretischeLeistung, den Verdinglichungs- und Fetischcharakter - über dieseBegriffe sprechen wir später ausführlich - jener Kategorien, diescheinbar als dinghafte Mächte den Gang des gesellschaftlichen Pro-zesses beeinflussen, aufzulösen und ihr wahres Wesen zu erhellen.Eine ganze Reihe vorwiegend ökonomischer Begriffe wie Kapital,Ware, Wert, Profit und Technik werden als Ausdruck zwischen-menschlichen Geschehens verstanden; sie werden zu sozialen Ver-hältnisbegriffen und als Ausdruck von Verhältnissen zwischen den-kenden, d.h. ideologisch gebundenen Individuen entlarvt.Damit ist in einer auf die letzte Wurzel, nämlich auf das Bewußt-seinsmäßige menschlicher Existenz zurückgehende Weise geklärt,daß dasjenige, was wir als die gedankliche Welt des ideologischenÜberbaus ansehen, vermittelt ist zu einer Gedankenwelt, die sichbloß auf einer niedrigeren Stufe des gesellschaftlichen Prozessesvollzieht, der praktisch-ökonomischen. Das in der ideologisch täu-schenden Begriffswelt des bürgerlichen Individuums erscheinendeVerhältnis der Kontemplation (der Fremdheit) zwischen »Sein« und»Bewußtsein« erweist sich als faktisch aufgehoben: Es ist auf dieseWeise die Frage beantwortet, wie die Bestimmtheit des ideologi-schen Bewußtseins durch das gesellschaftliche Sein überhaupt mög-lich ist. Verkürzt ausgedrückt: Sie ist möglich, weil Sein und Be-wußtsein nur verschiedene Ausdrucksformen ein und derselbenQualität sind, nämlich des zwischenindividuellen und durch denKopf hindurchgehenden, d.h. gedanklichen Reflektierens. Als ver-schiedene Ausdrucksformen erscheinen sie das eine Mal als reinökonomische, das andere Mal als rein ideologische dadurch, daß sichder denkende Mensch das eine Mal auf den Mitmenschen auf derEbene der Auseinandersetzung mit der Natur, das andere Mal aufder Ebene des reflektiv-ideologischen Austausches bezieht.

2. Das vorbürgerliche Verhältnis von Herr und Knecht

Außer dem Vagabundenpaar Wladimir und Estragon erscheinen inBecketts »Warten auf Godot« der Herr und der Knecht, Pozzo undLucky, auf der Bühne. Der auffälligste Teil in der Begegnung zwi-

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schen Pozzo und Lucky ist jener, da Pozzo seinem Knecht in einemherabwürdigenden Tone befiehlt, zu denken und zu sprechen:»Denke, Schwein... Denke!« Lucky beginnt einen endlos langenund nach Becketts eigenen Anweisungen monotonen Vortrag, dersich aus verworrenen und unzusammenhängenden Sprachfetzen,vor allem aber aus philosophischen, theologischen, psychologi-schen, anthropologischen und naturwissenschaftlichen Fachaus-drücken zusammensetzt. Er spricht überraschenderweise wie ein In-tellektueller.Damit lüftet sich das Geheimnis des Knechts Lucky. Der Dichter er-faßt hier intuitiv ein bedeutendes Problem, das Problem des uner-kannten Knechtdaseins des Intellektuellen. Faktisch fällt diese Deu-tung mit der dialektisch-soziologischen zusammen. Die Totalitätdes gesellschaftlichen Prozesses, die auf der Dialektik von Tätigkeitund Abhängigkeit oder, was dasselbe ist, auf der dialektischen Iden-tität von Subjekt und Objekt (auf der Subjekt-Objekt-Beziehung)beruht, duldet nicht den Begriff einer für sich bestehenden Intelli-genz, einer gleichsam außerhalb des Prozesses stehenden und ihnkontemplativ interessiert betrachtenden Schicht von theoretischenProduzenten. Die Haltung der Kontemplation fällt zusammen mitder Einbildung der Kontemplation und ist selbst ein Moment des ar-beitsteilig-verdinglichten Prozesses, für dessen Durchsetzung undReproduktion der Schein der Selbständigkeit des Denkens geradezuBedingung ist. Dieser Tatbestand läßt sich aus der hypothetischenUmkehrung des Zusammenhangs erhellen: Wäre sich der Intellek-tuelle seiner wahren Funktion in der ununterbrochenen Selbstre-produktion des gesellschaftlichen Prozesses voll und ganz bewußt,so würde er damit einen Standort gewinnen, von dem aus er diesenProzeß durchschauen könnte; die totale Kritik wäre die Folge, aberebenso auch die totale Zerstörung dieses Prozesses, weil dieser dannüberhaupt kein Bewußtsein hätte, mit dessen Hilfe allein er sich zureproduzieren vermag. Die ideologische Täuschung der reinen Kon-templation des ideologieproduzierenden intellektuellen Bewußt-seins ist selbst eine notwendige Voraussetzung der Unterwerfungdieses Bewußtseins in der Praxis dieses Prozesses, der Vernichtungder rein kontemplativen Tendenzen. Oder anders ausgedrückt: Dieihm zugestandene Freiheit bildet die Voraussetzung für das Knecht-dasein des Intellektuellen.Erweist sich der Intellektuelle somit als der »eigentliche« Knecht ineiner Welt, in der das Herr-Knecht-Verhältnis dominiert, so ist die-ses Verhältnis selbst das des Klassenverhältnisses zwischen dempraktisch tätigen Knecht, dem modernen Proletarier, und seinemHerrn. Diesem Verhältnis, dem modernen Proletarier-Bourgeois-

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Verhältnis, geht aber ein Herr-Knecht-Verhältnis historisch voraus,das zu reflektieren für jenes aufschlußreich ist.Brechts Grundbesitzer Puntila und sein Knecht Matti sind verspä-tete Reminiszenzen aus den vorbürgerlichen Zuständen, obgleichmit der Absicht der Parallelisierung zu bürgerlichen Verhältnissen.Eine solche Parallelisierung kommt aber eigentlich erst durch denTheaterbesucher zustande, der unwillkürlich das Dargebotene aufseine eigene Zeit überträgt. Die Verfremdung ist geglückt, die Pro-bleme selbst jedoch sind nicht zulänglich genug die modernen. Dennder Proletarier des 20. Jahrhunderts verbirgt hinter der Maske des»Dienenden« eine, wegen der im Vergleich zum einstigen wirklichenDiener völlig veränderten Beziehung zum Herrn, unvergleichbarandersgeartete Wesenheit.Will man den Unterschied, zunächst nur allgemein, einsehen, so istTill Eulenspiegels Gestalt heranzuziehen, die mit oft absichtlicherVerblassung ihres wirklichen Kerns als bloßes Sinnbild des Volks-humors gedeutet zu werden pflegt. Der Eulenspiegel-Mythos hat,sobald volkshafte oder bürgerliche Bewegungen antifeudaler Naturam Horizont sich abzuzeichnen begannen, stets und durch alle son-stigen Wandlungen hindurch einen sozialkritischen Charakter an-genommen. Auch hier noch ergreift die Reminiszenz einen Brecht,dessen Schweyk die soziale Note deutlicher hervortreten läßt, wennauch nicht ohne die traditionelle und für sich stehende schalkhafteTendenz, die zeitweilig ins Possenhaft-Kabarettistische ausartet,wie Holthusen mit Recht bemerkt.4 Doch ist dies nicht weiter er-staunlich, denn die Tragik des modernen Proletariers, die nur in ge-ringem Maße den Humor und dessen naiveren Ableger, die Komik,zuläßt, ist ihm ebenso fremd wie dem Eulenspiegel, der die Possenicht weniger liebt. Wie sich überhaupt dieser humoristische Zugdes Knechts in vielen Darstellungen der Vergangenheit wiederholt.Dies mit wenigen Ausnahmen eigentlich nur, wie beispielsweiseTolstoi, der in seinen Novellen, die das menschlich problematischeVerhältnis zwischen dem Herrn und seinem Knecht behandeln, eineeher sentimentale Stimmung aufkommen läßt. Wir kennen die Tra-gik auch aus vielen literarischen Zeugnissen des 19. und 20. Jahr-hunderts, die nicht die vorbürgerliche, sondern die bürgerliche Weltin ihren düsteren Arbeitergestalten behandeln.Doch ist dieser Unterschied zu erklären. Er liegt darin, daß sowohldie Tolstoische spätbäuerliche als auch die industrielle Welt dieFrage der Revolution des leidenden Volkes als einer selbständigenMacht bereits stellen und den tragischen Charakter aller volkshaftenBefreiungsbewegungen erkennen. Es verhält sich bei Gorki ähnlichwie bei Zola, bei Scholochow ähnlich wie bei Georg Kaiser.

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Dagegen wird in der vorbürgerlichen Epoche das Volkshafte nur sel-ten in seinem tragischen Ernst genommen, sei es, daß es noch vonkeiner historischen Bedeutung ist und deshalb seine Kritik in denTill Eulenspiegelschen Humor umsetzt, sei es - und darauf kommtes hier wesentlich an -, daß das sich zeitweilig mit den Volksmassenverbündende revolutionäre Bürgertum sich der Gestalt des dem feu-dalen Herrn Dienenden als sozialen Symbols bedient, um die ver-sinkende mittelalterliche Gesellschaft zu desillusionieren. Soll aberdie Kritik nicht auch die Basis des aufkommenden bürgerlichenHerr-Knecht-Verhältnisses selbst annagen, so setzt sich ideologischeine fast einheitlich durchgeführte doppelte Linie durch: Einerseitswird von der Vielfalt der Herr-Knecht-Beziehungen, zu denen bei-spielsweise bereits die manufakturellen gehören, zugunsten des amleichtesten gegen den adeligen Herrn ironisch auszuspielenden, weilin einer unmittelbaren persönlichen Beziehung zu ihm stehendenDieners abstrahiert; anderseits wird dieses Problem, nebst seinerEinkleidung ins Humoristische, ins Ironische gezogen. Durch letz-teres wird ihm der volle Ernst, durch den die Herr-Knecht-Fragenicht als eine bloß gegen den Feudalismus gerichtete relative, son-dern als für alle Klassengeschichte geltende grundsätzliche gestelltwerden könnte, genommen.Was immerhin bleibt und in diesem Rahmen, wie wir noch sehenwerden, in einer oft außerordentlich interessanten und scharf-sinnigen Weise behandelt wird, ist die ironische Aufhebung undKritik des Herrenrechts des feudalen Herrn. Daß gelegentlich mehrdurchscheint, ist eher der intuitiven Genialität einzelner Autoren alsder geltenden ideologischen Tendenz zuzuschreiben. Insbesondereseit Diderot und speziell seit Hegel, der bereits die industrielle Revo-lution in England voll erlebt, läßt sich diese gelegentlicheGrenzüberschreitung beobachten. Noch bei Voltaire, der auf dieTatsache des Verhältnisses von Diener und Herrn öfters Bezugnimmt, wird sie nicht ernstlich zu einem Problem, obgleich eine ge-wisse Ahnung von der später zum wichtigen Argument erhobenenÜberlegenheit des das praktische Leben besser beherrschendenKnechts vorhanden ist. Beaumarchais' antiadeliger Vorstoß ist zutheatralisch-allgemein gehalten, um geistesgeschichtlich interessantzu sein, selbstverständlich abgesehen von der Bedeutung für dieAufklärung des vorrevolutionären Publikums.In Wilhelm Hauffs »Die Bettlerin vom Pont des Artsa findet sich diefolgende interessante Stelle: 5

»Und der Diener, der ihm stolzen Schrittes folgt, erinnert er nicht ... an jeneDiener im spanischen Lustspiel, die ihrem Herrn wie ein Schatten treu fol-

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gen, an Bildung tief unter ihm, an Stolz neben ihm, an List und Schlauheitüber ihm stehen?«

Daß hier die Linie der Ironisierung der Beziehung zwischen demHerrn und dem Knecht zugunsten des letzteren fortgesetzt wird, istoffensichtlich. Im Hinweis auf den Stolz wird eine Gleichsetzungvollzogen, im Hinweis auf die Schlauheit, wie auch bei anderen Au-toren, die Schwäche des Knechts und seine Absicht, sich gegen dasvöllige Unterliegen unter den Willen des Herrn zur Wehr zu setzen,betont. Wir werden bei Diderots Jakob und bei Gontscharows Sa-char Ähnliches zu beobachten haben. Aber diese Tendenz reichtnicht zu einem Aufruhr gegen den Herrn. Indem in diesen Darstel-lungen die Schlauheit des Dieners nicht nur gegen den Herrn gerich-tet ist, sondern dieser von ihr gegenüber der Außenwelt selbst profi-tiert, wird gleichzeitig auf ein Treueverhältnis des Knechts zumHerrn hingedeutet. Die schlaue Opposition sprengt nirgends dieKlassenbeziehungen. Und dies liegt ganz im bürgerlichen Sinne.In fast allen Äußerungen der bürgerlichen Aufstiegszeit zumHerr-Knecht-Problem steht am Ende trotz aller Sympathie für denKnecht die Versöhnung. Damit erscheint das Klassenverhältnisselbst als letztlich unaufhebbar. Das Paradigma des »Volkswillens«im Sinne des seit des Marsilius von Padua gesetzten Prinzips der»Volkssouveränität« ist keineswegs die Klassenlosigkeit. Deshalbfallen sich in Diderots »Jakob und sein Herr« nach einem heftigenStreit der Herr und sein Diener wieder um den Hals, wohl wissend,daß sie ohne einander nicht auskommen können.6 Deshalb auchschildert Gontscharow in seinem »Oblomow« das Verhältnis zwi-schen dem Herrn und seinem Diener als ein durch vielerlei Um-stände unlösbares. Deshalb schließlich kommt es in Lessings»Minna von Barnhelm« trotz aller Idealisierung der Dienerfigurenzu jenen Szenen, in denen sich auf der einen Seite Just und Tellheim,auf der anderen Franziska und Minna, also Knecht und Herr undDienerin und Dame, als einander unentbehrlich erweisen. Selbst dieErzählungen Tolstois, in denen der Knecht als der Beschützer desHerrn erscheint (nicht umgekehrt), kulminieren im Ausklang dermenschlichen Harmonie zwischen beiden.Aber trotz gegenseitiger Unentbehrlichkeit und scheinbar gutenEinvernehmens besteht ein dauernder Kampf gegeneinander, so we-nigstens in der vorrevolutionären französischen Fassung, wo derdurch die erstarrten reaktionären Zustände Deutschlands und Buß-lands erzwungenen Abschwächung ins Sentimentale der Boden ent-zogen ist. Jakob kämpft daher um seine durch Schlauheit bereits er-reichten Rechte, während der Herr glaubt, über sie nach eigenemGutdünken verfügen zu können:

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»Jakob: Ein Jakob, mein Herr, ist so gut ein Mensch wie jeder andere.Herr:

Jakob, du täuschst dich; ein Jakob ist nicht so gut ein Mensch wieein anderer.

Jakob: Manchmal ist er sogar mehr wert als ein anderer.Herr:

Jakob, du vergißt dich...Jakob:

Wenn in der Kneipe, wo wir die Gauner antrafen, Jakob nicht einbißchen mehr wert gewesen wäre als sein Herr...«

Jakob kennt also seine Überlegenheit infolge der besseren Kenntnisdes Lebens. Aber er pocht auch auf seine erworbenen Rechte, dieihm der Herr streitig machen will:7

»Jakob: Nachdem Sie mich am Tisch neben sich sitzen lassen, mich Freundgenannt haben.

Herr:

Du weißt nicht, was das heißt, wenn ein Höhergestellter seinen Un-tergebenen Freund nennt.«

Die »Freundschaft« zwischen Herr und Knecht besteht darin, daßsie sich gegenseitig brauchen, aber gleichzeitig mißtrauen. Allenfallsschätzen sie sich: der Herr den Knecht wegen dessen praktischenFähigkeiten, seiner Lebenserfahrung und Schlauheit, der Knechtden Herrn, weil er sein Herr ist. Jakob fühlt sich nicht sicher, erwünscht einen Vertrag. Aber die Weise, wie er den Vertrag auffaßt,enthüllt das Verhältnis zum Herrn ironisch als ein verkehrtes. Dennals der eigentlich Abhängige erweist sich hierbei der Herr:

»Jakob: ...daß Sie den Titel führen und ich im Besitze der Sache sein sollte.Herr:

Aber unter diesen Umständen wäre dein Los ja besser als das meini-ge.«

Und als der Herr angesichts dieser verzwickten Lage erwägt, ob mandenn nicht die Rollen tauschen könnte, sagt Jakob klar heraus, daßdas nicht ginge, denn der Herr verstünde von der »Sache«, nämlichvom Leben, im Grunde nichts: 8

»Jakob: Wissen Sie, was dann geschehen würde? Sie würden den Titel verlie-ren und die Sache doch nicht besitzen. Lassen Sie uns bleiben, waswir sind!«

Wie später der Historische Materialismus vertritt Diderot denStandpunkt, daß gegen alle abstrakten und mythologisierten, sub-jektivistischen und praxisfremden Deutungen der Erscheinungendie konkret vom Leben ausgehende Deutung die einzig richtige ist:

»Herr: Wo zum Teufel hast du das alles her?Jakob: Aus dem großen Buche (des Lebens, L.K.). Ach Herr, man mag

noch so viel überlegen, sinnen und in allen möglichen Büchern stu-dieren, man bleibt doch immer und ewig ein ABC-Schütze, wennman nicht in dem großen Buche gelesen hat.«

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Hiermit ist aber auch die äußerste Grenze erreicht, die dem theoreti-schen Bewußtsein des revolutionären Bürgertums gesetzt ist. Di-derot selbst eilt sowohl in der Schärfe der ironischen Kritik desHerr-Knecht-Verhältnisses als auch in der Anerkennung der gesell-schaftlichen Praxis als der Grundlage der Erkenntnis seiner Zeit vor-aus. Das Ironische der Kritik liegt in der Selbstzurücknahme derKonsequenzen der Aufhebung des antagonistischen Verhältnisses.überdies werden beide Momente noch ganz im Sinne des Bürger-tums des 18. Jahrhunderts naiv aufgefaßt: das Herr-Knecht-Ver-hältnis als ein ewig geltender Vertrag, die Praxis als unmittelbar em-pirische Lebenserfahrung, wenn auch von Gesetzen geleitete.Der Diener Sachar in Gontscharows »Oblomow« ist weitaus naiverals Jakob, durch den eigentlich Diderot selbst spricht. Während Ja-kob immerhin eine Philosophie hat - seiner Meinung nach ist z. B.alles Gesetzen unterworfen und vorherbestimmt, woraus sich fürihn die dialektische Konsequenz der dauernden Aktivität ergibt -,verhält sich Sachar extrem empirisch. Er folgt daher in seinem Han-deln nicht irgendwelchen philosophischen Grundsätzen, sondernläßt sich treiben. Dadurch wird ihm ermöglicht, seinen Herrn in ei-nem Punkte konsequent nachzuahmen: in der Faulheit. Währendaber die Faulheit für den Herrn gleichsam ein Anspruch, eine nor-male Folge seiner herrenhaften Muße ist und zum Alltag gehört, wi-derspricht die Faulheit des Dieners den Anforderungen, die an ihnals Diener gestellt sind. Seine Faulheit hat einen verborgenen Sinn.Sie ist eine Form der Aktivität, nämlich des Widerstandes gegen dietotale Unterwerfung seines Menschentums, gegen die totale Ent-fremdung. Zwar ist auch Sachar der Meinung, daß sein Verhältniszum Herrn ein naturgegebenes ist und daher unaufhebbar:»Er ging mit Ilja Iljitsch grob und familiär um, genauso, wie ein Schamanemit seinem Idol grob und familiär umspringt: er staubt es ab und läßt es fallenund versetzt ihm vielleicht manchmal im Ärger einen Schlag, aber dennochist in seiner Seele ständig das Bewußtsein von der Überlegenheit der Naturdieses Idols über seine eigene gegenwärtig.«.9

Aber Sachar reflektiert dieses Gefühl nicht rational, sondern nimmtes hin, wie es in jeder Klassengesellschaft hingenommen wird. SeineReflexion ist eine oberflächlich-naturalistische. Demgegenüber be-wegt sich das Denken Jakobs weiter. Zwar kann und will auch er ausdem Herr-Knecht-Verhältnis nicht heraus, es bleibt auch für ihn»natürlich«; aber er versucht, es bewußt zu gestalten, den »Vertrag«zu seinen Gunsten zu interpretieren. Deshalb aber auch ist Jakobganz dem bürgerlichen Gesellschaftsbild gemäß weitaus illusionärerals Sachar, der bereits auf die Erfahrungen eines Jahrhunderts bür-gerlicher Entwicklung zurückblicken kann und sich in Hinsicht der

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vertraglichen übertölpelung seines Herrn keinen Illusionen mehrhingibt. Der Widerstand geht bei ihm nicht über den Vertrag, son-dern über das mögliche Nichtstun, das er als die beste Form des Be-stehens innerhalb der gegebenen Ordnung betrachtet.Die Tragik Sachars liegt darin, daß er, um sich gegen die vollkom-mene Entfremdung schützen zu können, keinen anderen Weg zurVerfügung hat als den, seinen Herrn nachzuahmen. Damit unter-wirft er sich ihm und seinen selbst entfremdeten Eigenschaften erstrecht. Der Widerstand ist schließlich ein mißlungener, und dies ineinem doppelten Sinne. Erstens ist die Nachahmung der Herren-Faulheit kein Ausweg, sondern bestenfalls ein Surrogat für die er-strebte Freiheit, die deshalb ihrerseits zu einer Form der Fesselungan das Knechtdasein wird. Zweitens muß die Nachahmung desHerrn mißlingen, denn es fehlen alle Voraussetzungen dafür, undder Knecht bleibt ein Knecht.Diese Tragik ist die Tragik des Menschen in der modernen Entfrem-dung. Mit ihr kommt der aufmerksame Leser des »Oblomow« be-reits in Berührung, während das Problem der Entfremdung in Di-derots »Jakob« noch gar keine Rolle spielt. Insofern ist, obgleich Ja-kob weitaus klüger und weitblickender ist als Sachar, der »Oblo-mow« insgesamt tiefer und hintergründiger als der Roman Diderots.Trotz seiner unphilosophischen Manier ist der »Oblomow« moder-ner, denn er rührt bereits an das Hauptproblem der modernen Klas-sengesellschaft: das Problem der Entfremdung. Deswegen ist hierder Humor weniger possenhaft als im »Jakob«, denn das Umschla-gen des Humoristischen, das die versteckte Widersprüchlichkeitmenschlichen Verhaltens unter entfremdeten Bedingungen aus-drückt, in das bloß Komische ist stets eine Begleiterscheinung desteilweisen oder gänzlichen Steckenbleibens in der Oberfläche derErscheinungswelt. Komik und Posse setzen ein, wo nichts mehr istaußer dem bekannten Selbstverständlichen; dagegen ist der Humorim kleinen und widerspruchsvollen Alltag des tragisch-entfremde-ten Lebens zu Hause. Als bloßer Humor läßt er allerdings nichts er-scheinen, sondern alles bloß durchscheinen. Insofern ist er der Iro-nie verwandt, die auf der Bühne der größeren Dimensionen arbeitet.Das Gemeinsame der Literatur des aufsteigenden Bürgertums ist dieIdealisierung und Sentimentalisierung des Knechts. Dem skepti-schen Zug entsprechend, der der Anschauung Gontscharows eigenist, ist Sachar mehr oder weniger davon frei. Im allgemeinen läßt sichvon dieser Epoche der Literatur sagen, daß, je weniger die Ahnungvom Entfremdetsein des Menschen hindurchdringt, die Sentimenta-lität oder Idealisierung um so mehr Platz einnimmt. Umgekehrt ver-hindert das Eindringen der Tatsache der Entfremdung des Menschen

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in das künstlerische Bewußtsein die Tendenz der Idealisierung desKnechts im Zuge seines ironischen Ausspielens gegen den Herrn.Diese These bestätigt sich z.B. an Lessings »Minna von Barnhelm«.Während die äußerlich als Hauptfiguren auftretenden PersonenTellheim und Minna in einem gewöhnlichen und im Grunde un-problematischen tragischen Licht erscheinen und recht blaß wirken,sind die drei dienenden Figuren Paul Werner, Just und Franziska dieeigentlich lebendigen, farbigen und interessanten des Stückes. Siesind es, die stets Rat wissen, schlau oder witzig, ehrlich und treusind, die Handlung beleben und vorwärts bringen. Ihre idealistischeund sentimentale Verklärung hat hier einen Höhepunkt erreicht.Von tieferen, sozial-menschlichen, das Entfremdetsein wenigstenszum Durchscheinen bringenden Problemen (wie schon ungefährgleichzeitig bei Schiller in seinen Untersuchungen zur Ästhetik) isthier keine Spur zu bemerken. Als eine in gewissem Sinne zweifellosabstrakte Regel kann angesehen werden, daß, je mehr sich das Den-ken den reiferen bürgerlichen Zuständen annähert, es um so mehrvon Ahnungen der Bedrohung des Menschen seitens der kapitalisti-schen Entfremdung erfüllt ist. Es geht hierbei nicht um die bloß zeit-liche Abfolge, sondern unter Voraussetzung des wirklichen ge-schichtlichen Ablaufs auch um die Reife dieses Denkens bei den ein-zelnen Autoren. Das Vorausahnen oder das Zurückbleiben spieleneine entscheidende Rolle. Voll und ganz stellt sich die Frage der Ent-fremdung erst auf dem Boden des modernen Proletariats.Das bürgerliche Bewußtsein faßt das Herr-Knecht-Problem vor-nehmlich als ein solches der »natürlichen« Unter- und Überordnungauf. Zwar wurde die gegenständliche Erscheinung des Eigentumsdurch Jahrhunderte als die Voraussetzung der Freiheit erkannt unddeshalb bis zu den fortschrittlichen Denkern wie Kant, Schön oderLorenz von Stein dem eigentumslosen Knecht das politische Staats-bürgerrecht abgesprochen. Aber die Reduktion des Herr-Knecht-Verhältnisses auf konkrete Arbeits- und das heißt Ausbeutungsver-hältnisse spielte kaum eine Rolle. Daher kommt die relative Ab-straktheit der Behandlung dieses Problems und daher auch die obenaufgezeigte Tendenz in der vorrevolutionären bürgerlichen Kritik,das Herr-Knecht-Verhältnis auf das Verhältnis des Herrn zu seinemDiener einzuengen. Erzählt John Locke, daß das Eigentum entstan-den ist, indem der einzelne dazu überging, den in der Natur vorge-fundenen Dingen etwas von seiner Arbeitskraft zuzusetzen und aufdiese Weise in Besitz zu nehmen, [Anm.10] so blieb diese Äußerung mehroder weniger typisch für die gesamte ideologische Ausrichtung derbürgerlichen Aufstiegszeit.Überall zeigt sich eine tiefsitzende Animosität gegen die Vorstel-

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lung, daß der Arbeiter es ist, der, indem er die Dingwelt verändert,sich selbst aufopfert (verdinglicht) und »den Herrn«, wie HerbertMarcuse in seiner Darstellung Hegels sagt, »davor bewahrt, der ne-gativen Seite< der Dinge begegnen zu müssen, derjenigen, wodurchsie zu Fesseln des Menschen werden«. 11 Womit gleichzeitig ausge-drückt ist, daß im Anschluß an die alte und im Übergang zur neuenWelt Hegel der erste außerhalb der rein ökonomischen und dahereinseitigen Betrachtung war, der das Problem des Arbeiters (des»Knechts«, wie er noch immer sagt) modern stellt.Die Verdinglichung des Arbeiters ist nicht, wie es auf den erstenBlick scheinen mag, das Ergebnis seiner Beziehung zum Gegen-stand, den er bearbeitet, sondern seiner Beziehung zum Herrn, fürden er unter Aufopferung seiner menschlichen Belange produziert.Dem Scheine nach tut er es für sich, denn er muß leben, wie ebensodem Scheine nach der Herr als der »eigentliche Produzent« er-scheint, denn er verfügt (sei es persönlich, sei es durch Mittelsmän-ner) über die notwendigen Kenntnisse und »tut auch etwas«. DerSchein trügt darüber hinweg, daß dem verdinglichten Tun des Ar-beiters der freie Genuß des Herrn entspricht, der davor bewahrtwird, »der negativen Seite der Dinge, wodurch sie zu Fesseln desMenschen werden, begegnen zu müssen«. Das Problem der Ver-dinglichung des Arbeiters ist also ein gesellschaftliches Problem,wenn auch vermittelt durch die Dinge innerhalb der antagonisti-schen Beziehungen. So wenig man Hegel vorwerfen kann, daß erdiesen Antagonismus zwischen dem Herrn und dem Knecht überse-hen hat, so sehr hat er sich durch seine Abstraktion dazu verleitenlassen, die reine und isolierte Beziehung des Arbeiters zur Dingweltüberzubewerten. Deshalb kann ihm Marx mit Recht vorwerfen, daßbei ihm »das Bewußtsein als reines Bewußtsein nicht in der entfrem-deten Gegenständlichkeit, sondern in der Gegenständlichkeit alssolcher seinen Anstoß hat«. 12Die beiden zusammengehörigen Abschnitte der »Phänomenologiedes Geistes«,13 wovon der zweite Herrschaft und Knecht behandelt,sind trotz ihrer Genialität heute kaum noch zu halten. Vergleichtman mit ihnen die ungefähr gleichzeitigen Äußerungen Schillers, soist hinsichtlich des zentralen Begreifens der Entfremdung dessenÜberlegenheit nicht zu übersehen. 14 I mmerhin beweist Hegel sei-nen intellektuellen Kollegen bis zum heutigen Tage, wie man ernstesoziale Probleme ungeniert in Angriff nimmt, ohne vor den Macht-habern zu erröten. Aber in vielem konstruiert er idealistisch, so etwain der Aussage, daß die Arbeit »bildet«, weil sie »gehemmte Begier-de. ist." Das läuft auf eine Beschönigung des verdinglichten Be-wußtseins des Arbeiters hinaus.

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Seit Aristoteles und folgend über Chrysostomos (bei diesem wegenseiner sonstigen Radikalität merkwürdig genug) und Augustinus bisThomas von Aquin galt der Dienende (Sklave) als »ein beseeltes Be-sitzstück, gleichsam ein Werkzeug seines Herrn«16 und dies noch zueiner Zeit, da die Parole »Stadtluft macht frei« bereits das öffentlicheBewußtsein erobert hatte. Jedoch hat auch diese neue bürgerlicheStadtluft nur eine negative Freiheit des abhängigen Individuums zubewirken vermocht, d.h. bis in das 19. Jahrhundert hinein nichtseine Gleichberechtigung, nicht einmal die formale. Der Arbeitende(es wurde stets vom »Eigentumslosen« gesprochen) und Dienendewurde als der menschlichen Würde, die der Freiheit vorausgeht,nicht mächtig deklariert. Diese Würde sprach der Bürger nur sichzu, und zwar ausdrücklich kraft seiner Verfügungsgewalt über Ei-gentum. Auffallend ist allerdings die Offenheit, mit der man damalsim Gegensatz zu heute diesen Standpunkt vertrat, so etwa wennWieland die unteren Klassen von der politischen Mitbestimmungausgeschlossen wissen möchte, weil sie unter dem Druck der Arbeitund Armut sich nicht um höhere Dinge bekümmern können. 17 (zuletzterem ist bemerkenswert die scharfe Kritik Hegels in seiner»Rechtsphilosophie« -und der Tatbestand selbst erweist sich heutenoch als zutreffend, wenn man erfährt, daß mehr als 90 Prozent derArbeiter in der BRD noch niemals im Theater oder in einem Konzertwaren). Nach Kant sind Hausdiener, Ladendiener, Taglöhner undFriseure (als Beispiel für das niedere Handwerk) nicht »Bürger«,weil dem Angehörigen dieser Schichten die Voraussetzung fehlt,»daß er sein eigener Herr sei, mithin irgendein Eigentum habe«.

18 Die ideologische Logik tendiert auf den folgenden Zusammenhang:Knecht - kein Eigentum - keine Muße, durch die er sein eigenerHerr werden kann - keine Fähigkeit zum Gebrauch der Freiheits-rechte (Marsilius von Padua, John Milton, John Locke, Theodorvon Schön und viele andere) - keine »Person« - kein Angehörigerder Gesellschaft (»gehört nicht zur Gesellschaft«, sagt Cromwell) -kein Anspruch auf das Wahlrecht-passives Objekt der »Wohlgesin-nung« des Bürgers (in den Ständever sammlungen werden die Bauernund Dienenden vom dritten Stand vertreten) und der Gebildeten( Kant). Zu welchen Ergebnissen diese Wohlgesinnung geführt hat,zeigt die gewaltige Not des 19. Jahrhunderts und die ausnehmendgeringe Zahl der Intellektuellen, die darum in Sorge geraten waren(von Lorenz von Stein bis zu den liberalen Kathedersozialisten); diemeisten übernahmen die Rolle der wortreichen Rechtfertigung.Das seit dem 18. Jahrhundert zu großer Bedeutung gelangende iro-nische Ausspielen des Dieners gegen den Feudalherrn und die Ideali-sierung der Dienerfigur als Symbol des dem Adeligen im Grunde

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überlegenen »Volkes« verläuft der obigen Tendenz völlig parallel.Der Widerspruch ist offenbar und beweist, welcher Sprünge dieIdeologie fähig ist, wenn es ums Klasseninteresse geht. Die Figur desDieners, die die aufsteigende bürgerliche Ideologie gegen den Adeli-gen ausspielt, bringt den Vorzug mit, als unwiederholbar auftreten-des Einzelindividuum dem Herrn zu widerstehen. Die Renitenz isthier noch subjektiv und nicht kollektiv wie beim Arbeiter, bei demselbst der subjektive Widerstand sich in bestimmten, vom rationali-sierten Arbeitsraum her bestimmten Bahnen vollzieht. Der»Knecht« ist in der Gestalt des Dieners kein produzierender, son-dern ein nur dienender. Daher ist er nicht verdinglicht, sondern un-terliegt ausschließlich der Kategorie der menschlichen Entfrem-dung. Selbst sein gelegentlicher Kampf gegen diese Entfremdungspielt sich stets auf der subjektiven Ebene ab.

3. Der Diener und der Arbeiter

Dichterisch ist auch der Widerstand des Arbeiters rein individuellgestaltbar. Aber es treten sehr bald wesentliche Schranken auf: dastypische »Arbeiterschicksal« wirkt ins Zentrum der Handlung.Auch in der geschichtlichen Realität bleibt dieser Unterschied ent-scheidend. Nach der anderen Seite hin bedeutet das Gesetzmäßig-Verdinglichte im Schicksal des Arbeiters den Gewinn einer gewissenMacht. Der Knecht ist vereinzelt, er muß die Situation dem Herrngegenüber von Fall zu Fall beherrschen lernen und ist von dessenWillkür und Laune weitgehend abhängig. Er ist sozial schwach; seinbestes Kampfmittel ist daher nicht die kollektive Drohung, sonderndie subjektive Schlauheit. Andererseits entsteht auch eine gewisseAbhängigkeit des Herrn vom Knecht dadurch, daß er ihm persön-lich vertrauen muß, während im Verhältnis zum Arbeiter der »Vor-gesetzte« nicht so sehr persönlich zur Geltung kommt, sondernüberwiegend über den streng geordneten und objektiv sich darstel-lenden Arbeitsprozeß. Daher fühlt sich der Knecht eigentlich nurbeim Herrn zu Hause, der Arbeiter aber im Kollektiv der Fabrik undin der Gewerkschaft. Die Freiheiten des Knechts sind seine unver-dinglicht eigenen. Die Freiheiten des Arbeiters dagegen sind nor-miert und in ihrer verborgenen Bedeutung Freiheiten der Integra-

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tion in die verdinglichte Welt. Kann der Knecht in gewisser Weise anden Freiheiten seines Herrn teilnehmen, etwa indem er mit ihm reist,so ist der Arbeiter nur außerhalb der »Ordnung«, die ihn aber über-allhin verfolgt, dem Herrn »gleich«. Deshalb geht der Kampf desKnechts darum, am Bewußtsein des freien Herrn, es sogar mitgestal-tend und es zeitweise beherrschend, teilzunehmen. Der Kampf desArbeiters dagegen strebt danach, sich vom Bewußtsein des Herrnüberhaupt zu lösen, es zu überwinden und auf diese Weise denHerrn selbst zu überwinden.Weil der Knecht qua Diener vereinzelt dasteht, stellt sich sein Ver-hältnis zum Herrn weniger als ein soziales denn als ein moralischesdar. Es gibt für ihn keine Verabredung, keine Verschwörung wiebeim Arbeiter. Will der Diener gegen seinen Herrn bestehen, somuß er als Träger eines moralischen Prinzips erscheinen, möge eswelcher Art immer sein: das des Vertrauens, der moralischen Über-legenheit, der größeren Schlauheit oder der Sach- und Lebenskennt-nis usw. Deshalb variiert er die Anwendung dieses Prinzips unun-terbrochen, sei es auch, wie z. B. bei Sachar (vgl. S. 22), um zu be-weisen, daß er sich gegen die totale Unterwerfung durch schlauesNichtstun zur Wehr setzen kann.Im Gegensatz zum Diener ist der Herr nicht wegen irgendwelcherKenntnisse und lebenswichtigen Erfahrungen ausgezeichnet, son-dern durch sein bloßes Dasein als Herr. Ja, noch mehr als das: Erdarf sich durch keine besonderen verwertbaren Kenntnisse aus-zeichnen, soll seine Würde, die ihn als Herrn auszeichnet, keinenSchaden nehmen. In der adeligen Gesellschaft wird der einer beson-deren Betätigung Zuneigende zum Außenseiter gestempelt:»Unter diesen Herren galt Don Fabrizio als ein extravaganter Mensch; seinInteresse für die Mathematik wurde nahezu als eine sündige Perversion be-trachtet, und wäre er nicht der Fürst von Salina gewesen, hätte man ihn nichtals vorzüglichen Reiter und als unermüdlichen Jäger gekannt, hätte mannicht gewußt, daß er ganz durchschnittlich Frauen liebt, so wäre er Gefahrgelaufen, dank seinen Parallaxen und Teleskopen aus der Gesellschaft ver-bannt zu werden.«-

Die unnachahmlichen Vorzüge des Herrn, die in äußeren Eigen-schaften, aber unter keinen Umständen in besonderen Kenntnissenbestehen dürfen, schließen nicht nur den Diener aus dem Herrenda-sein aus, sondern jedes nichtadelige Individuum, so auch den Bür-ger, selbst den durch Vermögen hervorragenden. So gerät der Bür-ger unversehens auf die Stufe mit dem Knecht, er gehört zum »Vol-ke«. Diese beleidigende Behandlung des Bürgers ist einer der An-lässe für seinen Kampf gegen den adeligen Herrn, mit der gleichzei-tigen ideologischen Ausnützung dieser vom Feudalismus gezogenen

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Grenze zwischen dem Adel und den übrigen Klassen, sich mit demVolke wenn nötig gleichzustellen und es gegen den Adel auszuspie-len. Wagen es die Bürger gelegentlich der Einberufung der französi-schen Ständeversammlungen, den Stand des Adels um eine sporadi-sche Zusammenarbeit zu bitten, so ist die Antwort zumeist kalt ab-lehnend und höhnisch. Mit ein Grund für den Bürger und dessen in-tellektuelle Ideologen, dem Herrn angesichts der angeblichen besse-ren Eigenschaften des Dieners eins auszuwischen.Wie und wodurch sich der Herr dem Bürger überlegen dünkt, cha-rakterisiert Goethe in der folgenden Weise. Der Herr verhält sichnach dem Prinzip: »Was bist du?«, der Bürger dagegen, der nichtwieder Herr, führt Goethe aus, etwas »scheinen« soll, sondern etwas»sein« - »was er scheinen soll (d.h. indem er den Herrn nachahmt,L.K.), ist lächerlich und abgeschmackt« - nach dem Prinzip: »Washast du? welche Einsichten, welche Kenntnisse, welche Fähigkeiten,wieviel Vermögen?« 20 Was dagegen den Herrn zum Herrn macht,ist seine »Persönlichkeit«, die in ihrer Art unnachahmlich ist durchfolgende Eigenschaften: »Je ausgebildeter seine Bewegungen, je so-norer seine Stimme, je gehaltener und gemessener sein ganzes Wesenist, desto vollkommener ist er.« In »Wilhelm Meisters Lehrjahren«läßt Goethe die Heldin von Widerwillen geschüttelt sein, weil derBischof der Herrnhuter Gemeinde sich als ehemaliger Handwerkervon einer Majorin die Hand küssen läßt.Dieses starrsinnige Bestehen auf der Anerkennung des Bevorzugt-seins durch bloß äußere Merkmale hat- obgleich es auch seine Apo-logeten gefunden hat .21 - selbstverständlich erst recht die ironischeKritik der bürgerlich oppositionellen Intellektuellen gefunden. Dasnaheliegende literarische Werkzeug dieser Kritik war aus den er-wähnten Gründen der Diener. Wie der Arbeiter befindet auch ersich mit seinem Herrn in einem »Kampf auf Leben und Tod« (He-gel). Aber am Ende steht stets die Versöhnung - daß in Becketts»Endspiel« und in Brechts »Puntila« die Diener ihre Herren verlas-sen, ist eine moderne Version-, während beim Arbeiter an die Stelleder Versöhnung bestenfalls die zeitweilige Unterwerfung in derForm der Integration in die verdinglichten Verhältnisse tritt.Der Arbeiter steht ständig an der Grenze der Revolte gegen seineWelt, gegen das »Herr-Knecht«-Verhältnis überhaupt; eine wirkli-che Versöhnung kennt er nicht. Seit Gerhard Hauptmann, EmileZola und Arno Holz über die von Arbeitern selbst hervorgebrachteArbeiterdichtung bis zu den Zwanziger Jahren und ihren zahllosendichterischen Äußerungen zum Arbeiterproblem wiederholt sichdiese Tendenz in endlosen Variationen. Das Erlebnis der »düsterenMacht« der Arbeiterwelt im begrenzten Felde zwischen Fließband

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und Revolte beunruhigt heute die Herrschenden unserer Zeit wieehedem. Konnte der Diener nach dem Begriff der aufsteigendenbürgerlichen Ideologie eine kritische Funktion übernehmen wegenseiner menschlichen Eigenschaften, so der Arbeiter wegen seinerunmenschlichen. Marx unterstreicht diesen Tatbestand energisch:

» Wenn die sozialkritischen Schriftsteller dem Proletariat die weltgeschichtli-che Rolle zusprechen, so geschieht dies keineswegs. ..weil sie die Proletarierfür Götter halten. Vielmehr umgekehrt. Weil die Abstraktion von allerMenschlichkeit, selbst von dem Schein der Menschlichkeit (der bei den besit-zenden Klassen, wie Marx vorher ausführt, als Schein noch vorhanden ist,L.K.) im ausgebildeten Proletariat praktisch vollendet ist, weil in den Le-bensbedingungen des Proletariats alle Lebensbedingungen der heutigen Ge-sellschaft in ihrer unmenschlichen Spitze zusammengefaßt sind...« 22

Wie Marx die Entmenschlichung wesentlich versteht, nämlich nichtbloß ökonomisch, wie ihm die »kritische Kritik« (Marx) gerne un-terstellt, zeigt der folgende, an Schillers Definition des Menschen alseines »spielenden« erinnernde Ausspruch - der allerdings heute da-hingehend zu variieren wäre, daß die gewonnene Zeit, von der Marxspricht, zu sehr in den Prozeß der kapitalistischen Entfremdung hin-eingezogen ist, als daß sie als echte freie Zeit Bedeutung gewänne:

»Zeit zu menschlicher Bildung, zu geistiger Entwicklung, zur Erfüllung so-zialer Funktionen, zu geselligem Verkehr, zum freien Spiel der physischenund geistigen Lebenskräfte...reiner Firlefanz.« 23

Die bürgerliche Theorie (führend die Grenznutzentheorie) rechnetuns vor, daß der Profit des Unternehmers nichts anderes sei als dergerechte Entgelt für das Risiko und den Entgang des Genusses, dender Kapitalist beim sofortigen Verbrauch des Profits haben könnte.Ist es schon einmal dieser Theorie eingefallen, das Risiko zu berech-nen, mit dem der Arbeiter seine Freiheit, seine Gesundheit, seine ge-samte menschliche Existenz einsetzt! Hat man schon jemals dasAusmaß des Genusses berechnet, das dem Arbeiter entgeht, sobalder die Tore der Fabrik durchschritten hat! Das Kapital des Arbeitersist sein Menschentum, das zu genießen er ebenso Anspruch hat wieangeblich der Kapitalist sein Kapital.

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4. Fetischismus und Verdinglichung

Die moderne Entwicklung der Produktivkräfte ermöglichte dieUmgestaltung der Klassengesellschaft in der Richtung des Verzichtsauf den unmittelbaren ökonomischen Zwang, der in der feudalenOrdnung noch vorherrschte. Aufrechterhaltung der Klassenord-nung und formale individuelle Bewegungsfreiheit widersprechensich in der bürgerlichen Gesellschaft nicht, sondern sie ergänzensich. Da aber gleichzeitig jede Klassenordnung eine Ordnung derHerrschaft und der Ausbeutung ist, ist diese Ergänzung keine solcheder vollendeten Übereinstimmung, sondern verdeckt im Gegenteilnur den in allen Teilen herrschenden Widerspruch von Klassenge-gensatz und Freiheit, d.h. sie macht ihr wahres Wesen unsichtbar.Das wichtigste Moment, mit dessen Hilfe, wenn auch unbewußtund spontan, die Verschleierung dieses Widerspruchs gelingt, ist dieVerdinglichung des gesellschaftlichen Prozesses zur »zweiten Na-tur«, deren primäre Grundlage der von Marx im »Kapital« analy-sierte »Fetischcharakter der Ware« ist.Die Wesenheit des Fetischismus und der Verdinglichung liegt darin,daß die ihnen zugrundeliegenden menschlichen Beziehungen in derArbeit als solche von überindividuellen und äußeren dinglichen Be-ziehungen erscheinen. Dafür gibt es hauptsächlich vier Wurzeln. Er-stens die Individualisierung des gesellschaftlichen Prozesses in auto-nome Handlungen »freier« Individuen, wodurch das Zusammen-wirken dieser Handlungen, ihr Verschmelzen zu einem geschlosse-nen Prozeß undurchschaubar wird. Zweitens die weitgehende ge-sellschaftliche Arbeitsteilung, wodurch sich die einzelnen Gebieteder subjektiven Tätigkeit stark verselbständigen und die Tatsacheder Individualisierung bis zur Atomisierung steigern; Erscheinungder kapitalistischen Anarchie. Drittens die Arbeitsteilung innerhalbder einzelnen Produktionsstätten, wodurch das innere Band zwi-schen dem unmittelbaren Produzenten, d.h. dem Arbeiter, und demProdukt zerrissen wird; kein Arbeiter kann angesichts des fertigenProdukts sagen: das habe ich gemacht. Viertens die nicht zuletztauch auf der Grundlage dieser Trennung von Arbeiter und Produktgleichsam als »naturgemäß« sich ergebende Möglichkeit für den Un-ternehmer, sich dieses Produkt anzueignen und auf dem Markte zuveräußern, wodurch zudem die dahinterstehende Tatsache ver-schleiert wird, daß er es sich kraft seiner mit Hilfe des Besitzes an denProduktionsmitteln bestehenden Verfügungsgewalt über Menschenbemächtigt. Auf dem Markte wird die Herkunft aus dem arbeitstei-ligen Zusammenwirken vieler unsichtbar.

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Im ökonomischen Bereich ist das Ergebnis des unter den vier Punk-ten aufgewiesenen Geschehens der Fetischcharakter der Ware. Waswir unter den Bedingungen der kapitalistischen Arbeits- und Aus-tauschverhältnisse »Ware« nennen, ist nichts anderes als Ausdruckzwischenindividuellen Geschehens, das sich um die Produktion vonGegenständen der Bedürfnisbefriedigung dreht. Marx spricht voneinem »festgeronnenen Extrakt« von Beziehungen. Die Ware istsomit eine gesellschaftliche Beziehungen ausdrückende ökonomi-sche Kategorie. Sie ist in dieser Gestalt zugleich die Zelle der Entfal-tung des gesamten ökonomischen und letztlich gesellschaftlichenProzesses im Kapitalismus. Obgleich die Ware das Produkt »unab-hängig betriebener Privatarbeit« ist, wie Marx sagt, dient sie nichtunmittelbar dem Konsum der an ihrer Herstellung beteiligten Pro-duzenten; in diesem Falle wäre sie gar nicht Ware. Sondern sie wirdzum Zwecke des Austausches auf dem anonymen Markt hergestellt.Hier auf dem Markte tauscht sie »sich« nach eigenen Gesetzen gegenandere Waren aus, was sich in einer Preisgestaltung ausdrückt, deren(ungefähre) Herkunft aus der in der Produktion verausgabtenMenge von lebendiger Arbeit undurchsichtig bleibt. Dieser Scheindes gegenseitigen Austausches nach dinglich und unabhängig vonder lebendigen Arbeitskraft sich vollziehenden »Gesetzen« machtdas Wesen des Fetischismus aus.Im bürgerlichen Bewußtsein ist die Ware eben nichts anderes alsWare, ein Gegenstand der Bedürfnisbefriedigung, dessen Preis sichdanach richtet, ob die einzelnen Individuen viel oder wenig davon»haben« und nach der Menge der mit diesen Gegenständen zu be-friedigenden Bedürfnisse (Grenznutzentheorie). Den durch dieWare verdeckten Gehalt erkennt daher dieses Bewußtsein nicht,woraus jene eigenartige Vorstellungswelt resultiert, in welcher diegegenständlichen Beziehungen auf dem Markte Selbständigkeit er-halten, sich als übermenschliche Macht darstellen, denen sich derMensch bestenfalls als Vermittler, Spekulant, Kalkulant oder alskluger, die Widersprüche mildernder Arzt zugesellt. Der Bruchzwischen Mensch und Prozeß, zwischen individuellem Wollen undobjektivem Geschehen ist vollzogen und innerhalb der kapitalisti-schen Ökonomie durch nichts zu überbrücken. Marx drückt das soaus, daß er sagt, die der Ware eigene Täuschung bestehe darin, daßdas »gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtheitals ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis vonGegenständen« erscheint.Ist die Täuschung aber schon der Ware, der Zelle des ökonomischenProzesses eigen, so ist klar, daß sie auf den weiteren Stufen der Ent-faltung des gesellschaftlichen Prozesses noch allgemeiner wird. Der

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bürgerliche Intellektuelle unterliegt im Grunde genau demselbenideologischen Gesetz wie der Geschäftsmann und der einfacheMann der Straße. Dieses Gesetz besteht im Widerspruch zwischendem aus der arbeitsteiligen Warenstruktur entspringenden, über-schaubaren und stets rationalisierbaren Teilgebiet und dem totalenProzeß. Selbst da, wo der bürgerliche Betrachter dem Teilgebiet -oder was für ihn oft dasselbe bedeutet, dem »Problem« - mit kriti-scher Absicht begegnet, nimmt er die ihm innewohnende Eigenheithilflos hin.Das Teilgebiet kann als Teilgebiet nur funktionieren, und das heißtin das ihm grundsätzlich fremd gegenüberstehende »äußere« Ge-schehen einigermaßen integriert werden, weil ständig irrationale, fürden Beteiligten als »soseiend« hingenommene Faktoren der »Au-ßenwelt« als Voraussetzungen seines Funktionierens in es eindrin-gen. Was allein »erkannt« wird, sind die überschaubaren und im In-neren des Teilgebiets berechenbaren Vorgänge, jedoch nicht dieseVoraussetzungen, aus denen sich dieses Gebiet erst wahrhaft begrei-fen läßt. Daher wohnt dem Teilgebiet die Tendenz inne, sich zu ver-festigen, eine »eigene« Gesetzmäßigkeit hervortreten zu lassen. Die-ser Schein einer inneren und unabhängigen Gesetzmäßigkeit ent-steht aus der Starrheit der Oberfläche, die das eigentliche Wesen, dassich nur aus der Inbezugsetzung zu den aus der Totalität erfließen-den Voraussetzungen erkennen läßt, verdeckt. Weil der »empiri-sche« oder »rationalistisch« vorgehende Teildenker diese Voraus-setzungen ihrerseits nicht rational zu begreifen vermag, sondern nurirrational als »gegeben« hinnimmt- z. B. den »Preis« des Rohstoffsin einer an sich durchrationalisierten Schuhfabrik oder auf einerhöheren Ebene der Reflexion, die »Tatsache« der Demokratie beider Beurteilung eines durchaus rationalisierbaren politischen oderinstitutionellen Vorgangs (als Teilgebiet)-abstrahiert er in Wahrheitnicht nur von einem der wesentlichsten Momente der Realität über-haupt, sondern auch des in Frage stehenden Teilgebiets. Schon ausdiesem Grunde kann er nur beschreiben und nicht verstehen. Undda Beschreibung und Verstehen sich unterscheiden wie Stehenblei-ben beim verdinglichten Schein und Enthüllung des verborgenenWesens, so gelangt er nur zu solchen »Lösungen« der gestellten Pro-bleme (z.B. des Problems der Jugendkriminalität), die nur Scheinlö-sungen, mit dem Ergebnis der noch besseren Integration in das Ge-gebene und dem Effekt der weiteren Verschärfung des Problems,anbieten können. Anders ausgedrückt: Der Tatsachenschein obsiegtund heftet das Denken an die verdinglichte Oberfläche fester alsPrometheus an den Felsen.Zunächst ist die Erscheinung der Verdinglichung eine »kategoriale«

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Bewußtseinstatsache - wobei wir hier den Begriff der »Kategorie«im spezifisch Marxschen Sinne gebrauchen. Marx spricht von denökonomischen und soziologischen »Kategorien« als den ideellen»Daseinsbedingungen« für das praktische Verhalten der Individuen.Diese »gesellschaftlich gültigen, also objektiven Gedankenformen«oder auch »Daseinsformen« nehmen die »Festigkeit von Naturfor-men« an. 24 Fast alle ökonomischen Begriffe stellen solche ideologi-sche »Kategorien« dar, denn hinter dem verdinglichten Schein ver-birgt sich nichts anderes als ein Verhältnis ökonomisch tätiger Men-schen, also ein lebendiges Verhältnis. Innerhalb der unendlichenVielfalt verdinglichter und zugleich »kategorialer« Vorstellungen,die von der dinglichen und wertmäßigen Selbständigkeit der arbeits-teilig für den Markt produzierten Warenverhältnisse bis zur »Herr-schaft der Technik« und zur angeblich autonomen Kraft der » Ver-massung« reichen, bleibt primär das »kategoriale« Auseinanderbre-chen von individueller, durch Freiheit bestimmter Zufälligkeit undobjektiver, Dingcharakter aufweisender Notwendigkeit. Die »kate-goriale« Wesenheit dieser unvermittelten Entgegensetzung liegt dar-in, daß sie die ideologische Bedingung bildet für das praktischeFunktionieren des Individuums im Dienste der Reproduktion deskapitalistischen Prozesses. Kennt die kapitalistische Ordnung imPrinzip keinen äußeren Zwang - dieser Zwang erscheint erst da, woihre »Gesetze« verletzt werden -, ist der Zwang nicht nur durch dieunabdingbare Notwendigkeit für die große Mehrheit der Bevölke-rung zum Verkauf ihrer Arbeitskraft, sondern ebenso durch dieVerdinglichung des gesellschaftlichen Prozesses gegeben - z.B. Er-setzung der individuellen Beziehungen durch die anonymen»Marktgesetze« -, so kann sich die gesellschaftliche Reproduktionnur vollziehen, wenn der neue Zwang der »objektiven Notwendig-keiten« die subjektiven »freien« Entscheidungen ebenso hervor-bringt, wie diese die objektiven Gegebenheiten. Das bedeutet, daßzu dieser Gegenseitigkeit das »kategoriale« Bewußtsein der Herr-schaft totaler Freiheit hier und verdinglichter Notwendigkeit dortals ideologische Voraussetzung gehört.Das hat jedoch weitere Konsequenzen. Entsteht aus der arbeitstei-lig-anarchischen Atomisierung ein für den einzelnen undurchschau-barer objektiver Prozeß, dem Naturcharakter anzuhaften scheint, sowird das Denken und damit das Bewußtsein überhaupt nur dem Be-reich des individuellen Geschehens zugesprochen, jedoch der Be-reich des gesamtgesellschaftlichen Geschehens als naturhaft-gedan-kenlos aufgefaßt. Dem Scheine nach muß es so sein, denn denkenkann nur der einzelne innerhalb des von ihm überschaubaren undbeherrschten Teilbereichs und dieses nur durch ihn. Hier gibt es

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noch eine Identifizierung von Sein und Denken. Diese Identität ver-leugnet sich aber, sobald die Grenzen des Teilgebiets überschrittenwerden. Hier erscheint die objektive Wirklichkeit als naturhaft-dinglicher Prozeß, obgleich auch sie, die durch denkende Indivi-duen repräsentiert wird, in der Philosphie, der Religion, dem Recht,der Politik usw. ihre eigenen Gedanken artikuliert.Einerseits ist Verdinglichung eine bloße Bewußtseinstatsache, denndas dahinterstehende tätige und denkende Individuum bleibt mitseiner Beziehung zu den anderen Individuen unangetastet als solchesbestehen. Andererseits wird sie zu einer das Leben im Kapitalismusbeherrschenden realen Macht dadurch, daß sich die zum Objektivenverdichtenden zwischenindividuellen Beziehungen dem Menschengegenüber als eine eigene Macht erscheinen und ihn sich unterwer-fen. Marx schreibt:

»Das Nachdenken über die Formen des menschlichen Lebens... beginnt postfestum und daher mit den fertigen Resultaten des Entwicklungsprozesses.Die Formen... besitzen bereits die Festigkeit von Naturformen des gesell-schaftlichen Lebens, bevor die Menschen sich Rechenschaft zu geben su-chen... über den Gehalt.« 25

In diesem »Nachdenken« erhält das zwischenindividuelle Verhaltennicht nur die Festigkeit von »Naturformen«, sondern diese Formengewinnen auch »kategoriale« Bedeutung:

»Derartige Formen sind... gesellschaftlich gültige, also objektive Gedanken-formen für die Produktionsverhältnisse... der Warengesellschaft.« 26

5. Fetischismus und Entfremdung

Georg Lukacs nimmt Bezug auf die unterste Basis des Verding-lichungsprozesses und weist auf die diesem Prozeß zugeordnetenzwei Stufen hin: Erstens tritt der »Fetischcharakter der Waren« aufals Gegenständlichkeitsform, d.h. als durch quantifizierte Bezie-hungen von Gegenständen verschleierte Beziehungen zwischenproduzierenden Personen; zweitens entwickelt sich daraus das »ihrzugeordnete Subjektverhalten« .27 Das »kontemplative Verhalten«des Individuums zu der sich mechanisch verselbständigenden Arbeitin der Produktion wird, allerdings vermittelt durch viele gesell-schaftliche Faktoren, zur »Grundkategorie des unmittelbaren Ver-

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haltens des Menschen zur Welt«. 28 Dieses kontemplative Verhaltenbirgt aber auch den Schein der absoluten Freiheit des einzelnen, sodaß je nach historischer Situation und persönlicher Position des re-flektierenden Geistes einmal das verdinglichte »Schicksal«, zum an-deren die absolute »Freiheit« zum Thema der Reflexion erhobenwerden: z.B. Beckett gegen Sartre, der »absurde« Mensch gegen je-nen, »der absolut frei ist zu allem und zu nichts« 29 und der schlecht-hin das ist, »wozu er sich macht«,30 wie Sartre wörtlich sagt.Selbstverständlich weiß auch Sartre von den Abhängigkeiten, denendas Individuum unterworfen ist. Was er unter Freiheit versteht, istvor allem die innere Freiheit, die sich von den Zwängen der Außen-welt, die nach Sartre dem einzelnen als »Natur« begegnet, freihält.Sartre unterliegt damit dem ideologisch irreführenden Gegensatzvon Verdinglichung und Freiheit (Versubjektivierung, wie Marxsagt). Das genaue Gegenteil ist wahr. Wo das Wissen von der dialek-tischen Bezüglichkeit zwischen der subjektiven Erlebniswelt unddem objektiven gesellschaftlichen Geschehen fehlt, unterliegt die er-stere erst recht den Einflüssen der äußeren und reflektiert derenPhänomene - in der spätbürgerlichen Epoche in erster Linie diemorbiden und dekadent-nihilistischen - spontan und unbewußt ineiner doppelten Weise: unkritisch-naturalistisch und subjektivi-stisch-willkürlich. Die willkürliche und haltlose Manipulation undVerarbeitung der bloß oberflächenhaft naturalistisch reflektiertenMomente der gesellschaftlichen Außenwelt ist es vornehmlich, diedie Illusion der vollkommenen Unabhängigkeit und unauslotbaren»Tiefe« der seelischen Erlebniswelt bei den hierfür disponierten In-dividuen erzeugt. Diese subjektive Erlebniswelt ist nichtsdestowe-niger das vermittelte Produkt der Außenwelt. Deshalb stellt sich das- besonders intellektuelle - Individuum der hochkapitalistischenEpoche in einer höchst widerspruchsvollen sozialpsychologischenGestalt dar. Einerseits ist die Veräußerlichung in der Form des Aus-geliefertseins an die Verdinglichung total, vor allem infolge der Zer-reißung des einheitlichen Prozesses in Denken hier und »Sein« dort.Anderseits steigert sich das Erlebnis der Verinnerlichung bis zumErlebnis der totalen »Isolation«. Letzteres bedeutet aber nichts we-niger als die unbewußte Inbezugsetzung zu den düsteren und be-drohlichen Seiten des Lebens unter dem Schein, daß sie (auf derGrundlage der bereits besprochenen Tendenz der Versubjektivie-rung) ausschließlich dem »isolierten« einzelnen zugehören, demIch. Zu den beiden Wesensmomenten in der ideologischen Haltungdes modernen Menschen ist etwas zu sagen.1. Hinsichtlich der Veräußerlichung unterscheiden wir die primärenvon den sekundären Erscheinungen.

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Zu den primären Erscheinungen der Veräußerlichung gehören diefolgenden. Der gesellschaftliche Prozeß verselbständigt sich demMenschen gegenüber als eine naturhaft-dingliche Macht, um ihn als»Schicksal« zu bedrohen. Die Fähigkeit, diese Macht zu durch-schauen, sinkt auf ein Minimum. Die weitere Folge ist die Unfähig-keit des Individuums, seine eigene Situation zu begreifen. Damithängt zusammen das Beherrschtsein durch das verdinglichte Reali-tätsprinzip: Es besteht darin, daß immer neue und dem Menschenvon daran interessierten Mächten aufgedrängte Ziele ihn zur »frei-willigen« Unterwerfung unter die verdinglichte und entfremdeteArbeit veranlassen, ohne daß jedoch das mit diesen Zielen einherge-hende Versprechen des Glücks wahrhaft eingelöst wird. Hierher ge-hört der Widerspruch zwischen der erstrebten Fortbewegung demZiel der Erotisierung und Ästhetisierung des Lebens entgegen unddem starren Verhaftetbleiben in der sozial verdinglichten undmenschlich pauperisierten Position. Oder was dasselbe bedeutet,der Widerspruch zwischen der oft geradezu als hysterisch zu be-zeichnenden Tätigkeit, dem extremen Subjektsein, und dem fakti-schen Scheintun (sogar Nichtstun), dem bloßen Objektsein des In-dividuums. Eine der wichtigsten Triebkräfte im Dienste des negati-ven Realitätsprinzips ist das Streben nach Eigentum, das Freiheitverspricht, jedoch gerade im Dienste der Reproduktion dieses Ei-gentums das Individuum lebenslang an die entfremdete Tätigkeitfesselt. Daraus entspringt wiederum die Herrschaft der »sterben-den«, d.h. unschöpferischen, deshalb das Leben zu einem ständigenSterben verurteilenden Zeit. An sie schließt sich organisch die ver-dinglicht-entfremdete Freizeit und Kultur, die ihrer Wirkung nachdas Individuum nicht befreit, sondern erst recht unter den allgemei-nen Prozeß der Verdinglichung unterwerfen hilft. Schließlich reflek-tiert sich die so gestaltete Situation des Menschen insgesamt in einerverdinglichten Ideologie, mit deren Hilfe alle vorangehend erwähn-ten Momente zum schlechthin »Natürlichen« verklärt und ontologi-siert werden.Als sekundäre Erscheinungen der Veräußerlichung sind die folgen-den zu erwähnen. Der Mensch wird von der Pauperisierung total be-setzt, worunter nicht in der üblichen Bedeutung die bloß ökonomi-sche Verarmung zu verstehen ist, sondern eine die gesamte Indivi-dualität bis tief in das Seelisch-Geistige hinein ergreifende Verarmse-ligung. Ihre wichtigsten Kennzeichen sind die Verengung der Intel-ligenz und des Horizonts der Reflexion, wenn auch zunächst infolgeder Arbeitsteilung und des Spezialistentums, so des weiteren durchalle als primäre Erscheinungen der Veräußerlichung aufgezähltenMomente; die Herabminderung der selbständigen Urteilsfähigkeit

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bis fast auf den Nullpunkt- selbst bei Intellektuellen zu beobachten,sobald sie ihr Spezialgebiet verlassen -, wie die Uniformierung derSprache und die Verengung des Sprachraums auf einige hundert zu-meist sehr gewöhnliche Sätze. Des weiteren ist hier zu erwähnen dieverheerende Verengung der ethischen Urteilsfähigkeit, an derenStelle die Gewöhnung an die von der verdinglichten und entfremde-ten Umwelt geforderten Verhaltensregeln und Normen, der ver-dinglichte-pathologische Zustand tritt, das für richtig zu halten, wasdie im Zustand der Verdinglichung lebenden vielen für richtig hal-ten. Trotz der verdinglichten Zweiteilung in Denken und Prozeßgibt es keine ideologische Spannung zwischen ihnen, »keinen«, wieGünther Anders bemerkt, »Unterschied zwischen dem >objektivenProzeß< und seiner >subjektiven Beurteilung< - die Zweiteilung istdem gut Integrierten schlechthin unverständlich«, so daß »Sitten alsDekrete« erlebt werden.31 Da der Mensch die Form des »freien«subjektiven Verhaltens, dessen Endzweck nichts anderes als die Un-terwerfung unter den verdinglichten Prozeß ist, auf die Dauer nichtaushält, vollzieht sich in Konsequenz dieses Tatbestandes ein Um-schlagen in die subjektive Renitenz in vielfältigen Variationen biszum Verbrechen hin. Die totale Integration unter dem Schein derFreiheit bedeutet gleichzeitig eine totale Uniformierung unter demSchein der Vereinzelung. Die scheinhafte Vereinzelung wird zurEinsamkeit; dies nicht etwa, weil die Individuen wirklich allein sind(das sind sie nur selten), sondern weil im Zustand der Uniformie-rung das Gespräch nicht mehr möglich ist: Wo alle letztlich dasselbedenken, fühlen und tun, gibt es keine Diskussion mehr. Die Veräu-ßerlichung ist total geglückt.2. Das dialektische Pendant der Veräußerlichung ist die als eine selb-ständige Gewalt erscheinende Verinnerlichung. Sie äußert sich amgreifbarsten im Erlebnis der »subjektiven Zeit«. Als bloße und fürsich bestehende »subjektive Zeit« müßte sie eine erfüllte und schöp-ferische sein, mit dem Glück identisch. Tatsächlich ist, wie die mo-derne Theorie und Kunst zuzugeben sich nicht scheut - woraus sieallerdings bestens Gründe für die Rechtfertigung der entfremdetenGesellschaft herauszuinterpretieren versteht -, der heutige Menschhöchst unglücklich. Das bedeutet, daß er auch als verdinglichter,entgeistigter und entseelter sein Mißbehagen empfindet und leben-dig, wenn auch sehr widerspruchsvoll reflektiert, d.h. verinnerlicht.Dem Prozeß der Veräußerlichung entspricht eine spezifische Formder Verinnerlichung; eine Verinnerlichung, ohne die das Gelingender Veräußerlichung oder Verdinglichung, vor allem die »freiwilli-ge« Unterwerfung unter diese, in Frage gestellt wäre. Das läßt sicham besten einsehen an dem von uns bereits erwähnten Realitätsprin-

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zip und der daraus erfließenden Ersetzung des ethischen Verhaltensdurch angenommene Normen. Denn bei beiden ist der vermittelndeBezugspunkt die »Freiwilligkeit«, d. h. der nicht direkt von außenaufgezwungene Vollzug, sondern der Umweg über tiefgreifendeseelische Reaktionen, z. B. hinsichtlich der Verflechtung von Kon-sum und Prestige. Da der maßgeblich bleibende Faktor der Veräu-ßerlichung zusammenfällt mit Verdinglichung und Entfremdung,kann der ihm entsprechende Prozeß der Verinnerlichung nur ein ne-gativer, ein ideologisch nihilistischer sein. Die an sich durchaus le-bendige innere Spannung geht der »Leere« kongruent, das »Nichts«wird getragen von Schuldkomplexen, Renitenzneigungen und Unsi-cherheits- wie Minderwertigkeitsgefühlen. Die Fülle der seelischenErlebnisse mündet in die verdinglichte Pauperisierung der geistigenund seelischen Potenz.Weil Pauperisierung des Innenlebens so viel bedeutet wie seine Prä-gung durch die verdinglichten und gorgonischen Phänomene derAußenwelt, kann sie einhergehen mit einer formal lebendigen Refle-xibilität. Das ist der Grund, weshalb auch der Intellektuelle in dieVerdinglichung hineingezogen werden kann; der »Reichtum« seinerErlebnisse und Gedanken widerspricht nicht der verdinglichten Ein-falt und Einseitigkeit seiner Ideenwelt. Weil die Reflexion der eige-nen Existenz über die Verdinglichung der Außenwelt sich vollzieht,daher verkehrt und verzerrt, vermag das Individuum dem unge-hemmten Eindringen der aus der Verdinglichung einer in die Deka-denz geratenen spätbürgerlichen Welt erfließenden bedrohlichenund bedrückenden Einflüsse und ihrer pathologischen Verhärtungkeinen Widerstand entgegenzusetzen. Einmal in den seelischen Er-lebnisbereich geraten univerinnerlicht, entsteht leicht ein Komplexvon irrationalen Reaktionen und Ideen, der vom Individuum alsAusdruck seiner bloß eigenen Welt, als »Isolation«, erlebt und aus-gegeben wird. Der Dialektik von äußerer und innerer Welt bewußt-los begegnend, wird die Verinnerlichung der Phänomene der Au-ßenwelt zum hervorragendsten Mittel der Unterwerfung des Indivi-duums unter diese, d.h. unter deren Tendenzen der VerdinglichungLind Entfremdung.Deshalb dominieren in der seelischen Innenwelt nicht etwa solcheVorstellungen wie Schönheit, Hoffnung, Erhabenes und Humanis-mus, sondern Angst, Sorge, Bedrücktheit, Mißbehagen, Vereinsa-mung, Bedrohung, Verzweiflung usw. Diese reflektiven Erschei-nungen pflegen sich zusätzlich zu spontanen Ideologien zu verfesti-gen, vor allem derart, daß aus ihnen Bestimmungen des Menschenund der Geschichte überhaupt gemacht werden; am Ende steht einenihilistische Weltanschauung-vom »Nichts« des Existentialismus

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bis zur ethologischen Setzung des Aggressionstriebes als das Lebenprimär beherrschender Erscheinung in vielerlei Gestalt.Die Relation ist stets eine gegengleiche. Je mehr die Individuen sicheinbilden, in Beschränkung auf die Pflege ihres Ich, seines Innerenund des darauf beruhenden Privatlebens der Außenwelt nicht odernur zu praktischem Nutzen zu achten, desto spontaner und irratio-naler, desto unkritischer werden deren entfremdete Phänomene re-zipiert und zu Erlebnissen des »reinen« Inneren umgewandelt, umauch desto gewisser die schreckhaften Phänomene des verdinglich-ten gesellschaftlichen Prozesses in ihrer bloß oberflächenhaft-natu-ralistischen Erscheinungsform zu reflektieren. Die zusätzliche, ausdem haltlos-fließenden Charakter des Seelischen sich ergebendewillkürliche Verzerrung der Reflexionen zu düster-farbigen und ka-leidoskopartig wechselnden Bildern des nihilistischen Abgrundes,zu einer zunächst unbestimmten »weltanschaulichen« Tendenz, diedann ihrerseits zu philosophischen oder anthropologischen An-schauungen stilisiert und systematisiert wird, ändert prinzipiell andem naturalistischen Charakter so gut wie nichts; denn der faktischeGehalt bleibt derselbe wie in der die Wirklichkeit verkehrt und ver-zerrt widerspiegelnden verdinglichten Ideologie. Die oberflächen-hafte naturalistische Reflexion, die das Subjektive kennzeichnet, istnichts als eine Reflexion eben dieser ideologischen Inhalte. Es ent-steht eine komplizierte Dialektik der Reflexion: Der subjektivisti-sche Naturalismus besteht in der naturalistischen Reflexion von ver-dinglichten ideologischen Reflexionen und in deren zusätzlichenÜbersteigerungen zu willkürlichen Erlebnismomenten des »reinen«Inneren. Die bereits im realen Entfremdungsprozeß ideologischverkehrten und verzerrten Phänomene dieses Prozesses, ihre ideo-logische Spiegelung als »Vermassung«, »Isolation«, »Schicksal«,»Technisierung« und anderem werden nochmals subjektivistischumgeformt zu gleichsam mythologisch-unbestimmten Formen desinneren Erlebens, wo sie als Verzweiflung, Angst, Sorge, Bedro-hung usw. ihr morbides und pathologisches Spiel treiben.Der sozialpsychologische Prozeß der Verinnerlichung erweist sichalso, sobald im Lichte der dialektischen Analyse betrachtet, zugleichals ein Prozeß der Veräußerlichung. Dies in der zweifachen Bedeu-tung, daß nicht bloß das psychische Innere zum, wenn auch zusätz-lich verzerrten, Spiegelbild der entfremdeten äußeren Welt wird,sondern auch in der Bedeutung der Veranlassung einer Haltung undeines Verhaltens, durch die die Individuen selbst zu einem deus exmachina eben derselben Welt werden, die sie zu verachten und vonder sie sich abzuwenden wähnen. Oder anders ausgedrückt: Dersich sozialpsychologischer Umsetzungen bedienende ideologische

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Prozeß der dialektischen Vermittlung von Verdinglichung und Ver-subjektivierung einerseits und von Verinnerlichung und Veräußerli-chung anderseits gewinnt »kategoriale« Bedeutung auf jener Stufeder kapitalistischen Gesellschaft, auf der unter Bedingung höchstkomplizierter Voraussetzungen die Freiheit und die Freiwilligkeitzum ideologischen Anlaß werden zur dauernden Reproduktion die-ser Gesellschaft. Damit werden zugleich Freiheit und Freiwilligkeitzur Voraussetzung der Reproduktion einer verdinglichten, und dasbedeutet die Freiheit aufhebenden Gesellschaft. Die drei analysier-ten Geschehenssphären: 1. des Umschlagens des extremen Indivi-dualismus in extreme Vermassung; 2. die Integration kraft Identifi-kation und 3. der Veräußerlichung mittels der Verinnerlichungdurchdringen einander und bilden zusammen jenen gleichzeitig psy-chologischen wie ideologischen Komplex, der zur unabdingbaren»kategorialen« Voraussetzung der dauernden Selbstreproduktionder Realität wird. Das bedeutet letztlich, daß die subjektive Inkarna-tion dieses Komplexes, nämlich das »freie« Individuum, dazu be-nützt wird, um es mit seiner eigenen Hilfe zu unterwerfen.Über die spontane und unmittelbare ideologische Reflexion im derDialektik von Verdinglichung und Versubjektivierung wirken, vondieser Dialektik veranlaßt, Ideologien auf einer hohen Ebene der Re-flexion, nämlich der theoretischen und philosophischen. Ihre Expo-nenten wie Produzenten sind die Intellektuellen.

6. Der Intellektuelle als Ideologe

Die innerhalb der Klassengesellschaft menschlich freieste, weil ihreKräfte schöpferisch »spielend« gebrauchende Schicht ist die Intelli-genz. Die Herrschenden aller Epochen bedurften der Intelligenznicht nur, um sich ihrer als Werkzeug zu bedienen, sondern nichtminder, um an ihrer geistigen Freiheit, an ihrem Wissen, ihrer intel-lektuellen Überlegenheit, ihrem Schöpfertum teilzuhaben und aufdiese Weise in den Bereich menschlicher Freiheit, die ihnen als denHerrschenden, was so viel heißt wie als die Unfreiheit der unterenKlassen dauernd Reproduzierenden, versagt blieb, einzutreten.Diese Beziehung der Intelligenz zur herrschenden Klasse wirkte sichaber unheilvoll auf jene aus. Denn sie geriet dadurch in die eigenar-

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tige Lage, in ihrer Freiheit die zugleich am tiefsten in die Unfreiheitgeworfene Schicht der Gesellschaft zu sein. Das Maß der Unfreiheitder Intelligenz ist anders zu messen als das des Sklaven. Es ist zumessen an ihrer prinzipiellen Freiheit, von der wir soeben sprachen.Die Situation des Sklaven ist total die des Unfreien. Die Unfreiheitdes Intellektuellen tritt als solche dadurch in Erscheinung, daß dienoch nachzuweisende Abhängigkeit von den Herrschaftsverhältnis-sen in eine unendliche Spannung tritt zur intellektuellen Freiheit unddiese dialektisch aufhebt. Wodurch aber verdeckt der Intellektuelleals ein absolut Freier seine faktische Unfreiheit?Der Intellektuelle verdeckt und verleugnet seine Unfreiheit sich undder Welt gegenüber, indem er sich auf den Standpunkt der reinen ob-jektiven Kontemplativität stellt, der reinen, an der Praxis nur als ei-nem Gegenstand des Wissens, aber nicht als Ziel interessierten be-schaulichen Neugier. Er vermeint dadurch außerhalb der Praxis zuverbleiben, an ihr unschuldig zu sein. Aber allein schon durch dieideologische Spaltung des Geschehens in Prozeß und distanzierteBetrachtung, Praxis und Kontemplation, wodurch sich der Geist desIntellektuellen als außerhalb des realen Prozesses befindlich erlebt,wird die Wirklichkeit als soseiend, als quasi-naturgesetzliche Reali-tät hingenommen und zum starren Ausgangspunkt, d.h. Objekt desintellektuellen Denkens erhoben. Das Denken erhebt sich scheinbarüber die Wirklichkeit, die als solche schlechthin gegeben und nichtals von diesem Denken selbst in dauernde Bewegung gebracht er-scheint. Der seinserhaltende Charakter der Intelligenz resultiert alsonicht bloß aus der uralten Gewöhnung an die Präpotenz der Herr-schaft, die es überdies verstanden hat, sie durch Beeinflussung undsubtile Methoden des Zwangs an sich zu ketten. Sie resultiert zumZwecke der Vortäuschung der ungehemmten Freiwilligkeit aus derzur »schöpferischen Freiheit« des Geistes gehörigen Haltung derKontemplation und der »Objektivität«, das bedeutet, aus der sichirrtümlich als außerhalb des praktischen Prozesses verstehendenKontemplation. Indem auf diese Weise die Realität als soseiendesObjekt und nicht als durch das Denken, das einen integrierendenBestandteil dieser Realität selbst ausmacht, dauernd reproduziert er-lebt wird, kommt dabei heraus, daß ohne (kritisches) Wissen der In-telligenz die intellektuelle Objektivität in praxisgerichtete Gebun-denheit umschlägt und sich dieser Realität blind unterwirft. Daß sichdieser Vorgang unter der Voraussetzung der Unfähigkeit des Durch-schauens der Totalität, der Verdinglichung, der »zweiten Natur«vollzieht, haben wir bereits dargelegt - womit zugleich ausgedrücktist, daß die kritische progressive Intelligenz, die um die dialektischeBeziehung von Denken und Realität weiß, somit auf die Haltung der

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Kontemplativität verzichtet, eine ideologisch gerade entgegenge-setzte Position einnimmt.In der kontemplativen Distanz zur Realität stehend, vermag diekonservative Intelligenz nicht aus der Realität heraus zu urteilen,sondern nur über sie, und das bedeutet weitgehend spekulativ-will-kürlich. Zu dieser Willkür gehört auch das »Übersehen« vieler Zu-sammenhänge und Faktoren, z. B. des Klassencharakters der mo-dernen bürgerlichen Gesellschaft, die ohne jeglichen zureichendenGrund als eine »pluralistische« oder »formierte« definiert wird.Deshalb geht das bürgerlich-intellektuelle Denken an den Beson-derheiten jener ideologischen Strömungen gedankenlos vorbei, dieaus der spezifischen Situation der verschiedenen Klassen erfließen.Da zudem in der neuesten Zeit, besonders in Deutschland, Impulsezu einer neuen Formierung der Klassenideologien, insbesondere aufder untersten, noch nicht politischen, sondern ihr spontan voraus-gehenden Ebene zu beobachten sind, vollzieht sich deren theoreti-sche Reflexion ausschließlich seitens der progressiven kritischen In-telligenz.»Die Philosophie ist«, sagt Martin Heidegger, »aus dem Blickpunktdes gesunden Menschenverstandes gesehen, nach Hegel die ver-kehrte Welt<.« Ob Philosophie nur vom Standpunkt des alles ver-kehrenden »gesunden Menschenverstandes« die »verkehrte Welt«ist, ist die große Frage. Sie verweist auf das Problem des Scheins undauf die weitere Frage, ob das, was man Bildung nennt, der Welt derWahrheit oder der »verkehrten Welt« angehört.Im gängigen Bewußtsein der Zeit steht Bildung dem subjektiven In-teresse und dem Streben nach Vorteil entgegen. Sie hat, meint man,mit der die objektive Wahrheit und die gesicherte Ordnung desDenkens intendierenden Vernunft etwas zu tun. Vom Alltag trenntsich Bildung durch seine Sonntäglichkeit, die Feierlichkeit des Au-ßerordentlichen.Diese Vorstellung beherrscht das gängige Bewußtsein und verhin-dert zu erkennen, daß in der entfremdet-repressiven Ordnung auchdie Bildung in die Niederungen des Vernunftlosen gelangt. Daran istVernunft, die Trägerin der Bildung, nicht ganz so unschuldig, wie ihrabstrakter und von aller soziologischen Relevanz gereinigter Begriffes scheinen läßt. Nicht ohne Grund weiß die Bibel davon zu erzäh-len, daß der Genuß vom Baume der Erkenntnis nicht etwa eineGroßtat war, sondern der Sündenfall. Doch letztlich ist der Schul-dige der historisch aktive Mensch, nicht die Vernunft. Ihrem ratio-nalen Charakter entsprechend ist ihr eine enthüllende und deshalballer Unterdrückung opponierende humanistische Funktion inne.Trotzdem übernimmt sie ihre herrschende Rolle gerade beim Ein-

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tritt des Menschen in die Klassengeschichte. Vor Beginn dieser Epo-che lebte der Mensch in irrationaler Einheit mit sich und der Natur.Der Bericht der Bibel, daß der Mensch durch den Genuß der Früchteder Erkenntnis, d.h. der Vernunft, sündig wird, trifft das Richtige.In ihrer geschichtlichen Wirkung freilich zeigt die Vernunft ein wi-derspruchvolles Gesicht. Sie ist die Seele des kulturellen, schöpferi-sche Fähigkeiten systematisierenden und ordnenden Fortschritts ei-nerseits, anderseits aber und aus dem gleichen Grunde dient sie derHerrschaft und der mit ihr verbundenen systematischen Unterdrük-kung der Mehrheit der Gesellschaft. Die gleichzeitigen humanisti-schen und repressiven Tendenzen kennzeichnen das Janusgesichtder Vernunft, sofern sie historisch und praktisch wird. Ihrem ab-strakten Begriff nach ist sie neutral. Welche Rolle sie wirklich spielt,ist eine Frage der geschichtlichen Situation.Wir bezeichnen als Vernunft die Fähigkeit des Geistes zu rationali-sierender und systematisierender Verhaltensweise. In der repressi-ven Ordnung stößt dieser Geist auf tabuierte Grenzen, und nur inder kritischen Opposition versucht er, diese Grenzen zu durchbre-chen. Die Arbeit des Intellektuellen mündet ungeachtet der innerenVielfalt der Aussagen darin, das gesellschaftlich tabuierte Vorrechtzum intellektuellen Tabu zu erheben. Das fällt nicht schwer, weil diegesellschaftliche Realität selbst die entscheidende Vorarbeit leistet.Die »Zeit« ist es, die die repressive Ideologie vorbereitet. HerbertMarcuse schreibt: 32

»Die Ideologie unserer Zeit besteht darin, daß Produktion und Konsum dieBeherrschung des Menschen rechtfertigen und ihr Dauer verleihen. Ihr ideo-logischer Charakter ändert aber nichts an der Tatsache, daß ihre Vorteile realsind. Daß das Ganze zu einer immer stärkeren Unterdrückung führt, liegt inerster Linie an seinem guten Funktionieren, an seiner tatsächlichen Wirk-samkeit: es erweitert den Raum der materiellen Kultur, erleichtert die Be-schaffung des Lebensnotwendigen, verbilligt Bequemlichkeit und Luxus,bezieht weitere Gebiete in den Einflußbereich der Industrie ein - und unter-stützt gleichzeitig das System mühseliger Arbeit und Zerstörung. Der ein-zelne zahlt dafür mit dem Opfer seiner Zeit, seines eigenen Bewußtseins, sei-ner Träume; die Kultur zahlt dafür mit der Preisgabe ihrer eigenen Verspre-chungen von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden für alle. - Die Diskrepanzzwischen möglich gewordener Befreiung und tatsächlicher Unterdrückungist zur vollen Reife gelangt: sie durchdringt alle Lebenssphären auf der ge-samten Erde.«

Der Widerspruch könnte durchschaut und überwunden werden.Aber, sagt Marcuse, »der einzelne weiß nicht wirklich, was vor sichgeht«. Auch wenn er sich um Bildung bemüht, ergeht es ihm zumeistnicht besser. Die komplizierte Struktur des realen Prozesses, die

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Gewöhnung an bestimmte Perspektiven und Ideologien, verstärktdurch die Gewöhnung an die repressive Lebenssituation selbst, undder traditionell-repressive Gebrauch der Ratio erzwingen dieses Re-sultat. Die Vernunft, als Bildung ihr Recht anmeldend, schlägt selbstin ein Mittel der Repression, der Unvernunft um. Als Unvernunftdeklariert sie sich, weil in keiner Epoche der Menschheitsgeschichtej emals die Möglichkeit einer repressionslosen Ordnung so groß ge-wesen ist wie heute. Doch Bildung bleibt, auch als unvernünftige. Sowird Bildung selbst zu einer Bedrohung, die nur da gebannt werdenkann, wo die Neigung zum kritisch-humanistischen Durchschauensiegt.

7. Naturalistische und dialektische Bildung

Das Bewußtsein der Bildung oder das gebildete Bewußtsein durch-läuft, verallgemeinert und auf einen theoretischen Begriff gebracht,drei Stufen. Als spontane naive Bildung klammert sie sich an die un-mittelbare Erfahrung: Hier unterliegt sie dem geltenden realen undideologischen Schein, hat aber den Vorzug, in bestimmten engen,dem unmittelbaren Leben des Individuums zugehörigen Spartenunbefangen zu urteilen und in diesem Sinne »gebildet« zu sein. Inder Gestalt eines allgemeinen gesellschaftlichen Bewußtseins ist Bil-dung Ideologie im Sinne von falschem Bewußtsein, folgt sie der re-pressiven Ratio. Als kritisches, auf das unnachsichtige Durch-schauen gerichtetes Bewußtsein ist Bildung erst »wahre und eigentli-che«. Aber niemand bleibt es erspart, durch diese drei Stufen hin-durchgehen zu müssen. Die Frage ist nur, wo er unter dem Druckeder repressiven Zustände stehenbleibt. Soll sie ihren Zweck errei-chen, hat die Bildungsarbeit unserer Zeit bis zur letzten vorzudrin-gen. Aber gerade daran hindert sehr oft die zweite Stufe, die des fal-schen Bewußtseins, die repressiv-ideologische.Da auf der zweiten Stufe des Bildungsprozesses, die als die »natürli-che« erlebt wird, nicht die Wahrheit erscheint, deshalb nicht dasSubjekt ergreift, um es mit der Leidenschaft der Erkenntnis und derTat zu erfüllen, wie dies bei jeder aus dem kritischen Bewußtsein ge-borenen Wahrheit der Fall ist, nicht aus dem bloß Subjektiven insObjektive umschlägt, bleibt Bildung dem Subjektiven verhaftet; sie

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wird hier vornehmlich zum Mittel des subjektiven Glanzes, derSelbsterhöhung, der »Selbsterlösung«. Sie wird zum subjektivenGebrauchsmittel, zum Mittel der Gewinnung von Prestige. Aber dasie gesellschaftlich vermittelte Ideologie bleibt, spielt ihr diese Ver-mittlung einen Streich und gibt ihr hinterrücks die objektive Rolle,die sie im subjektiven Bewußtsein und gegen dessen Wissen verlorenhat, zurück: Objektiv erfüllt diese Art der Bildung den Zweck derEinordnung in das Gefüge der Repression, der »Freiwilligkeit« derUnterwerfung unter Lebensbedingungen, die das Subjekt ihrerStruktur gemäß deformieren und in Unbildung halten.Indem Bildung der zweiten Stufe zwar die Phänomene der Entfrem-dung und der Verdinglichung zum »Problem« erhebt, zugleich aberdie Lösung im Sinne kritischen Durchschauens verhindert, wird siezur vornehmsten Form der Versöhnung des Subjekts mit der vor-handenen Wirklichkeit, die sich so als die einzig mögliche und »na-türliche« dem Gebildeten offenbart. Die Tragödie unserer Zeit istnicht die, daß der Mensch in seiner Masse, als Arbeiter, Kleinbürgerund Bürger, sich nicht das Wissen aneignen kann, dessen er bedarf,um gebildet zu erscheinen, sondern eher, daß trotz der wachsendenMöglichkeit solcher Wissensaneignung das Individuum ungebildetbleibt, weil innerhalb der aufgezeigten Tendenz der Versöhnung mitder entfremdeten Wirklichkeit jeder Ausbruch ins kritische Bewußt-sein verhindert wird, welcher wahre Bildung erst möglich macht.»Bildung« im landläufigen Sinne, und das heißt im Sinne der zweitenStufe, enthüllt sich als ein Begriff des falschen Bewußtseins. Der kri-tisch Wissende will nicht gebildet, sondern ein Wissender sein. Nurder außerhalb dieses Wissens Stehende wird ihn einen Gebildetennennen. Was die Masse der Gebildeten oder nach Bildung Streben-den betrifft, liegt die Einbildung ihrer Bildung darin, mehr innereund äußere Freiheit gewonnen zu haben im Vergleich zur Masse derUngebildeten. Das ist Täuschung. Während die Ungebildeten we-nigstens auf der ersten Stufe der Bildung stehen, nämlich der unmit-telbaren und daher ein echtes Bildungselement enthaltenden prak-tisch-dinglichen Erfahrung, so geht dem Gebildeten der zweitenStufe selbst dieses Maß der Bildung verloren. Ausgerichtet auf diekomplizierten Phänomene der Erscheinungswelt und so ihrem ent-fremdeten Schein unmittelbar unterliegend, wird er unter demSchein der Wahrheitsfindung vollendet ein Opfer des Scheins.Abgetrennt vom Zweck echter (kritischer) Bildung, die Tendenzender geschichtlichen »List der Vernunft« zu erkennen und freimachenzu helfen, wird Bildung zum Selbstzweck, zum »Genuß«, zumästhetischen Spiel, zum Element der »Kultur«, von der Adorno sa-gen kann, sie drückt die »Objektivität des herrschenden Geistes

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aus«, und über die Intellektuellen: »Sie weben mit am Schleier«. WasWunder, wenn Bildung in der Gestalt von Selbsterhöhung und Ge-nuß mehr dem Prestige als der Erkenntnis dient und das Individuumnicht befreit, sondern noch tiefer in die Misere schleudert, so daß diedumpfe Ahnung der Identifizierung des gebildeten Bewußtseins mitRepression und Herrschaft entsteht und damit das immer wiederaufbrechende Gefühl der Schuld - zumeist unter den harten Schlä-gen, die ihnen die progressiven Kritiker erteilen. Befreit allein daskritische Bewußtsein von dieser Schuld, so wird mit dem versöhntenBewußtsein die Schuld des Ganzen zur Schuld des Einzelnen. Daszeitweilige unbewußte Manöver der Ablenkung durch nicht auf dasPrinzip gerichtete, nur sporadische und »ethische« Schuldigspre-chung von Bürokratie, Staat und Unternehmertum, die sich zu »bes-sern« haben, hilft wenig, denn die Versöhnung mit der Totalitätbleibt, wenn auch unter dem Schein der Kritik. Daß diese Kritikbloßer Schein ist, hängt mit der prinzipiellen Position zusammen,die die zweite Stufe der Bildung bezogen hat und die genauer zu de-finieren ist.Konnte Schiller noch sagen: »Naiv ist das Genie oder es ist keins«,und verstand er unter Naivität das unbefangene und kritische Offen-sein der Totalität gegenüber, so ist in der zweiten Stufe der Bildungdas Denken zwar in einer gewissen Weise auch naiv, aber in einemschlechten Sinne. Die schlechte Naivität besteht darin, daß das Den-ken noch über (!) die Wirklichkeit reflektiert und sich so abstraktverhält. Es befindet sich in der Einbildung, völlig autonom zu sein,während es in Wahrheit den dialektisch-einheitlichen Prozeß in zweiSphären zerreißt, in die Wirklichkeit hier und das Denken dort. Manversteht diesen Mangel, durch den das Denken der ihm scheinbar»gegenüber«-stehenden Wirklichkeit erst recht unterworfen wird,am besten bei einem Vergleich mit der dritten Stufe.Auf dieser Stufe, wo das Denken zum vollen Verständnis seiner ei-genen Funktion gelangt ist, setzt sich das Begreifen der geschichtli-chen Totalität als eines Tuns durch, worin das Denken selbst enthal-ten ist, nicht über dieses Tun reflektiert und ihm gegenüber steht,sondern-auch als wissenschaftliches und philosophisches-sich alsein Wesensmoment des praktischen Prozesses selbst zu erkennengibt. Hier gibt sich das Denken zu erkennen als ein Denken der (!)Wirklichkeit (und nicht wie in der zweiten Stufe und oben dargelegtals ein Denken über die Wirklichkeit). Während in der scheinhaftenDenkweise die reale Totalität zerrissen wird in die betrachtete Wirk-lichkeit hier und das betrachtende Denken dort, wird in der diesemSchein widerstrebenden Denkweise die Wirklichkeit als denkendeund das Denken als der Wirklichkeit angehöriges, als »wirkliches«

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begriffen (vgl. auch Kap. 1). Mit letzterem ist ein Standpunkt der Be-trachtung gewonnen, der den Schein zu überwinden erlaubt. DieBildung verliert das Subjektive und wird objektiv: Sie tritt aus derbloß kontemplativen Haltung heraus und erkennt sich als das, wassie tatsächlich ist, als praktisch relevante, als »praktische« Bildung.Sie ist deshalb befähigt, sich der gegebenen Realität, sie denkend-tä-tig verändernd, zuzuordnen und aus dieser neuen Position heraus inihrem Schein zu durchschauen.Bei unserer kritischen Beurteilung der zweiten und der positivenBeurteilung der dritten Stufe der Bildung muß es überraschen, wennhinzugefügt wird, daß die zweite Stufe die der Philosophie ist, diedritte Stufe dagegen alle Philosophie im traditionellen Sinne zuüberwinden sich anschickt .33Die erste Stufe enthält die unmittelbar empirische, »naturalistische«Bildung. Sie ist beengt, aber insofern wahr, als der empirische Scheindas Leben nicht in Widerspruch zum Wesen setzt. Die zweite Stufeder abstrakten Bildung, ist erfüllt von der Neigung, den Schein als»falsches Bewußtsein« in philosophischen Systemen zur Geltungkommen zu lassen. Zwar sind diese Systeme nicht ohne Beziehungzur Realität, zwar spiegeln sie nicht nur philosophisch, sondernauch wissenschaftlich diese Realität wider, aber in verkehrter undverzerrter, eben scheinhafter und dem falschen, besonders verding-lichten und fetischisierten Bewußtsein entsprechenden Weise wider.Erst die dritte Stufe vollzieht einen qualitativen Sprung in die Sphärevoller Erkennbarkeit der Realität. Das dieser Stufe angehörige Sich-selbstbewußtwerden der Tatsache, daß das Denken nicht kontem-plativ außerhalb der Wirklichkeit steht, sondern selbst ein »prakti-sches« Moment der zwar dialektisch-widerspruchsvollen, aber un-teilbaren Totalität ist, und daß deshalb die Probleme und Inhalte die-ses Denkens auf diese Totalität des menschlich-gesellschaftlichenSeins zurückgeführt werden müssen, sollen sie wahrhaft und nichtbloß spekulativ im Sinne des falschen Bewußtseins verstanden wer-den, macht den erwähnten qualitativen Sprung aus. Indem das Den-ken begreift, daß es ein Denken der menschlich-gesellschaftlichenWirklichkeit selbst ist, führt es auch die Philosophie und Wissen-schaft auf diese Wirklichkeit zurück, erklärt ihre Probleme und Aus-sagen als ideologische Reflexe und löst so die Philosophie und Wis-senschaft als kontemplativ-abstrakte Gedankenarbeit über dieWirklichkeit auf. Verschwindet hier Philosophie überhaupt, so be-deutet das zugleich, daß nicht auch Wissenschaft verschwindet, imGegenteil diese an Bedeutung dadurch gewinnt, daß sich jene zu-gunsten dieser auflöst; noch genauer, sie löst sich zugunsten der wis-senschaftlichen Bearbeitung der dialektisch begriffenen mensch-

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lich-gesellschaftlichen Totalität auf. Sollte diese Stufe der Bildungunter veränderten historischen Verhältnissen allgemein werdenkönnen, dann wird man auf die Philosophie und ihre sich endlos ab-lösenden Systeme mit einem bloß geistesgeschichtlichen Interessezurückblicken, wie man das heute hinsichtlich der antiken Mytho-logie tut. Die Philosophie wird zu einem geistigen Schauobjekt derVergangenheit. Was von ihr übrigbleibt, ist allenfalls die Erkennt-nistheorie samt der ihr zuzuzählenden Methodologie, die aber nurnoch als Dialektik Bestand haben kann; jedoch auch dies nur in derGestalt streng realistischer Wissenschaft ohne spekulativen Beige-schmack.

8.Proletarische, kleinbürgerliche und bürgerliche Bildung

Individuelle Tragödien wird es immer geben. Unglückliche Liebe istauch in harmonischen Gesellschaften denkbar. Aber Tragödien gan-zer Schichten, Klassen und Gesellschaften sind eine Erscheinung an-tagonistischer Ordnungen und treten, sonst latent verborgen, be-sonders in krisenhaften Niedergangsepochen hervor. Von den heutein die tragische Situation geratenen drei gesellschaftlichen Klassendes Bürgertums, des Kleinbürgertums und der Arbeiterschaft trifftsie die letztere am schwersten. Daß dies bei dieser in einem besonde-ren Sinne geschieht, wodurch sie sich in einer eigenartigen Weiseüber die beiden übrigen Klassen erhebt, werden wir später zeigen.Das in dialektischer Umkehrung des Loses des Arbeiters hervortre-tende Besondere in seiner Wesenheit hat schon Hegel bemerkt undanalysiert. Allerdings hat Hegel noch den Adeligen als Herrn undden noch halb in Traditionen der Leibeigenschaft steckendenKnecht vor Augen gehabt. Das Herr-Knecht-Verhältnis bot sichihm noch rein als das Verhältnis von Müßiggang und Tätigkeit dar.Indem Kojeve und Sartre die Hegelsche Dialektik des Herr-Knecht-Verhältnisses unkritisch auf die moderne Zeit übertragen,gelangen sie zu Schlüssen, die in ihrer den Arbeiter idealisierendenGestalt nicht haltbar sind.In Anknüpfung an Hegel bemerkt Sartre folgendes:34 Der Arbeiterist zwar der negativste, der abhängigste Teil der Gesellschaft. Aberindem er als einziger die Dingwelt durch seine Arbeit beherrscht, sie

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umgestaltet, mit seiner Geschicklichkeit umzubilden in der Lage ist,sie in den Griff bekommt und verändert, hat er in seiner Weise »Bil-dung«. Zwar schreibt ihm der Herr vor, was er zu tun hat, manch-mal bis in alle Einzelheiten hinein. Jedoch macht ihn gerade wie-derum diese aufgezwungene Regelmäßigkeit seiner Arbeit auch frei-er, denn er muß nicht mehr wie der Angestellte auf die Eigenarten,die Psychologie des Herrn Rücksicht nehmen, er braucht ihm nichtzu schmeicheln; es genügt, wenn er der inneren und vorgeschriebe-nen Gesetzmäßigkeit der Arbeit folgt. - Wir müssen uns mit diesenwenigen Hinweisen begnügen, aber sie zeigen bereits, daß ange-sichts der wirklichen Lage des Arbeiters im Kapitalismus die zugun-sten des Arbeiters kritisch sein wollenden Analysen Sartres nichts alseine Art Sophisterei ausmachen, die, wenn auch ungewollt, fast aufeine Art Beschönigung der Lage des Arbeiters hinausläuft. Als So-phisterei entpuppt sich vor allem die These von der Bildung des Ar-beiters, weil er die gegenständliche Welt umbildet. So sinnvoll einesolche dialektische, weil den Umschlag der tiefsten AbhängigkeitUnd Unbildung in eine Art von Bildung nachweisende Perspektivenoch in Hegels Philosophie sein mochte, so wenig verweisen ihreResultate auf die soziologische Wahrheit gegenwärtiger Zustände.Der Arbeiter läßt sich nicht begreifen aus der einfachen Beziehungzur Dingwelt, die er bearbeitet, sondern aus den allgemeinen zwi-schenindividuellen Verhältnissen der gesellschaftlichen Totalität, indenen das Problem der Dingbezogenheit in der Arbeit allerdingsnicht übersehen werden darf. Gerade als Phänomen der allgemeinengesellschaftlichen Verhältnisse betrachtet, läßt sich diese Dingbezo-genheit in genau entgegengesetzter als der von Sartre herausgestell-ten Wirkung einsehen: als verdinglichte Versachlichung der Indivi-dualität des Arbeiters, als eine Form der Unterwerfung seinermenschlichen Eigenschaften unter dinglich-sachliche Erfordernissedes kapitalistischen Produktionsprozesses. Daß ein Gran Wahrheitin der These liegt, der Arbeiter würde die dingliche Welt im Griffhaben, sie und damit in einem wohlverstandenen Sinne sich selbst»bilden«, was oft seinen berechtigten Stolz ausmacht, haben wiroben aufgewiesen, ist aber eine andere Sache und verliert innerhalbdes allgemeinen kapitalistischen Entfremdungsprozesses seinen biszur Verkehrung ins Gegenteil ihm in der isolierten Betrachtung zu-kommenden Sinn.Fünf konkrete Symptome sind es, die die Tragik des heutigen Arbei-ters erkennen lassen.Erstens die totale menschliche Verarmseligung, der proletarischePauperismus, der völlig unabhängig von der Lohnhöhe unverändertbleibt. Er ergreift das emotionale Leben des Arbeiters bis hin zur

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Erotik, ebenso sein Bewußtsein, das jene auffallende dialektischeForm zeigt, wonach bei steigender Verbürgerlichung der Arbeiter-organisation er zwar hinsichtlich der Anpassung an die bürgerlichenLebensformen - hoffnungslos - mitzumachen versucht, jedoch sichstets ein klares Wissen um seine proletarische Situation und Wesen-heit erhält (auch wenn er es selten ohne äußeren Anstoß artiku-liert), 36

Zweitens ist die Bindung an das »Eigentum« zu erwähnen. Wir mei-nen hier nicht die Gebundenheit an das kapitalistische Eigentum inder Weise, daß der Arbeiter genötigt ist, seine Arbeitskraft anzubie-ten, um leben zu können und damit in Abhängigkeit vom kapitalisti-schen Eigentum gerät. Wir meinen im Gegenteil das Eigentum desArbeiters selbst, das, um in seiner Beengtheit und Armseligkeit er-halten oder um weniges vermehrt zu werden, die ständige Anforde-rung zu rastloser Tätigkeit und Aufopferung der Arbeiterindividua-lität stellt. Dieses Eigentum erfüllt jene gesellschaftliche Aufgabe,die seit Freud unter den Begriff des repressiven »Realitätsprinzips«subsumiert wird. Indem es zum autonomen Ziel im Arbeiterlebenwurde, wirkt es als treibende dynamische Kraft, die dem einzelneneinredet, im Dienste seines Glücks dieses Ziel erreichen zu müssen,um ihn am Ende seines Lebens wissen zu lassen, daß er ein Opfer ei-nes ideologischen Phantoms geworden ist.Drittens ist ein zuverlässiges Kennzeichen des proletarischen Paupe-rismus der Schutz, der ihm durch die Sozialgesetzgebung gewährtwird. Nur der Gefährdete und Schwache bedarf eines solchenSchutzes. Der Bürger bedarf seiner nicht. Schon die Sprache verrätdiesen Tatbestand, wenn gesagt wird, daß sich der Arbeiter etwas»leistet«, während der Bürger z. B. einen Wagen »erwirbt«.Viertens haben scharfsinnige Beobachter bemerkt, daß die wichtig-ste Zeit im Leben des Arbeiters, die Arbeitszeit, eine »sterbendeZeit« ist. Sie ist unschöpferisch und von Langweile erfüllt, so daß aufden Europäischen Gesprächen der Gewerkschaften in Recklinghau-sen Kasnacich-Schmid unter Zitierung von Walter Rathenau sagenkonnte:

»Das Arbeitsleid ist eine sehr reale Gegebenheit. Wer mechanische Arbeit ameigenen Leib kennengelernt hat, wer das Gefühl kennt, das sich ganz und garin einen einschleichenden Minutenzeiger einbohrt, das Grauen, wenn eineverflossene Ewigkeit sich auf einen Blick auf die Uhr als eine Spanne vonzehn Minuten erweist, wer das Sterben eines Tages nach einem Glockenzei-chen mißt, wer Stunde um Stunde seiner Lebenszeit tötet, mit dem einzigenWunsch, daß sie rascher sterbe, der wird das Märchen von der Arbeitslustmit Hohn beiseite schieben...«

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Fünftens verweisen wir auf das vieldiskutierte Problem der Freizeitund der »Kultur«, auf jene heute herrschende und für den Arbeiterin seiner großen Mehrzahl geltende Kultur, die sich bei genauer Prü-fung als ein verdinglichtes Schema erkennen läßt, ausgestattet mitdem Zweck, das Individuum nicht durch Befreiung aus seinermenschlichen Entfremdung zu wandeln, sondern umgekehrt es inden entfremdeten Prozeß einzuordnen.Bei diesem Punkt setzt die eigentliche Frage der Bildung in ihrer Be-ziehung zum Arbeiter ein. Auf der pauperisierten Lebensebene istBildung entweder nicht möglich oder bestenfalls als Bildung derzweiten Stufe beobachtbar. Jedoch lehnt der Arbeiter diese Bildungkonsequent ab, er zieht die völlige Unbildung der Scheinbildung, dieer überraschenderweise als solche - wenigstens gefühlsmäßig -durchschaut, vor. Vielleicht liegt in diesem ahnungsweisen Durch-schauen der Scheinbildung seine eigentliche »Bildung«, oder besser,die Grundlage zu einer künftigen echten Bildung.Wie Philosophie, Theologie, Literatur und Alltagsbewußtsein be-weisen, kann Schicksal in dreifacher Weise erlebt und aufgefaßtwerden: als gesellschaftlich-kollektives Schicksal, dem der einzelneunterworfen ist, mehr oder weniger ohne seine eigene Schuld; als in-dividuelles Schicksal, wobei der gesellschaftliche Hintergrund nichtgeleugnet wird, aber die Verantwortung für die Begegnung mit die-sem Schicksal dem Individuum aufgelastet wird; als subjektives (ver-subjektiviertes) Schicksal, dessen Normen voll und ganz von denBedingungen der objektiven Welt abgetrennt und in das Innere desMenschen verlegt werden. Der allgemeinen Tendenz nach läßt sichsagen, daß die erste Form des Schicksalserlebens für den Arbeiter,die zweite für den Kleinbürger, die dritte für den Bürger charakteri-stisch ist- wobei stets hinzugefügt werden muß: in der Epoche derbürgerlichen »Dekadenz«, in der sich diese drei Formen schärfer alssonst voneinander abgrenzen. Übrigens ist die dritte bürgerlicheForm eine Neuerscheinung der Dekadenz selbst, dem Bürgertumdes 19. Jahrhunderts noch fremd. - So wenig dies auf den erstenBlick einleuchtet, so muß doch unterstrichen werden, daß mit diesenverschiedenen Formen des Schicksalserlebens die verschiedenenFormen der Bildungsauffassung eng zusammenhängen, und in wei-terer Folge die verschiedenen geistigen Tragödien, die sich den so-zialen anschließen und die sich im Bildungsproblem, wie es sich alsideologisches Problem darbietet, widerspiegeln.Vom Arbeiter wird entsprechend seiner kollektivistischen Arbeits-und Lebenssituation das Schicksal als von objektiven gesellschaftli-chen Mächten abhängig begriffen. Von unserem Standpunkt des dia-lektischen Totalitätsdenkens sind wir geneigt, dem zuzustimmen,

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wenngleich sich theoretisch die Vermittlungen zwischen dem Indi-viduellen und dem Objektiven komplizierter darstellen, als dies demnaiven Bewußtsein des Arbeiters zugänglich sein mag.Erscheint dem Arbeiter das Schicksal als objektive gesellschaftlicheMacht, dann folgt für ihn daraus, daß Wissen und Bildung keine an-dere Aufgabe zu erfüllen haben als die, diesem Schicksal, das er alsbedrückend empfindet, kritisch und verändernd gegenüberzutreten,was nichts anderes heißt als eine praktische Aufgabe. Bildung ist ihmnichts anderes als ein praktisches Werkzeug. Daraus resultiert eineeigenartige Dialektik im Denken des Arbeiters, die als eine tragischezu erkennen ist. Dies äußert sich darin, daß der Arbeiter den Trägerdes Wissens und der Bildung, den Intellektuellen, hoch einschätztund achtet, ihm gleichzeitig aber als dem gefährlichen »Verführer«des Menschen im Dienste etwaiger Konservierung der schicksalhaf-ten sozialen Verhältnisse mißtraut. Aber diese Dialektik geht weiter.Gerade weil der Arbeiter in der Bildung eine praktische Einrichtungerblickt, bekümmert er sich um sie nur so weit und nur zu jenen Zei-ten, als er die Überzeugung gewinnen kann, sie praktisch-politischauswerten zu können; er resigniert und wendet sich von ihr ab inZeiten des Versagens seiner »Bewegung«, wobei sich das Mißtrauengegen die sonst von ihm geschätzten Intellektuellen steigert. Einer-seits ist er gerade wegen seiner praktischen Ausrichtung den anderenKlassen insofern überlegen, als er in seiner naiven, ja primitivenWeltansicht und aus seinem unmittelbaren Erleben heraus das heu-tige gesellschaftliche Verhältnis als ein Herr-Knecht-Verhältnisdurchschaut; dieses Durchschauen, das gleichfalls der ersten, unmit-telbar empirischen Stufe der Bildung angehört, macht seine Bildungaus. Anderseits lehnt er wegen seiner praktischen Einschätzung allerBildung im heutigen Zustand der resignierten Dekadenz die Bildungim gegebenen historischen Augenblick als für ihn irrelevant ab, ziehter ganz bewußt die Unbildung vor. Das ist die Lösung des vieldisku-tierten Geheimnisses, weshalb der Arbeiter sich weigert, die bereit-stehenden Bildungsinstitute auszunützen (z. B. die Volkshochschu-len).Das bewußte Aufsichnehmen der Unbildung, so sehr sie die Tragikdes Arbeiters kennzeichnet, hat eines für sich: Er gibt sich keiner Il-lusion hin. Das Wissen um die ideologische Gebundenheit des Wis-sens und das Wissen um die eigene Primitivität verleiht dem Arbeitereine illusionslose Klarheit, die bewirkt, daß er, besonders im Gegen-satz zum Kleinbürger, keine subjektiven Minderwertigkeitsgefühlekennt, sondern nur solche, die aus seiner gesellschaftlichen Lage,seiner sozialen Inferiorität kommen, also durch die objektive Reali-tät veranlaßt sind. Deshalb kennt der Arbeiter keine subjektiven

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Schuldgefühle, was ihm jenen eigenartigen Gleichmut verleiht, deroft beobachtet worden ist. Illusionslos, versucht natürlich auch derArbeiter sich vom allgemeinen Brotlaib ein Stück abzuschneidenund verlegt seine Träume, die sich in einem krassen Widerspruch zuseiner resignierten Anpassung an die gegebene Ordnung befindenund deshalb bewußtseinsmäßig mehr oder weniger zurückgedrängtwerden, in eine ferne Zukunft. Aber diese beiden Momente: dasklare Wissen um die eigene gesellschaftliche Inferiorität und derHang zum Sozialutopischen, der unter Ablehnung der Bildung fürsich selbst ihr trotzdem für die tätige Veränderung der Welt in derZukunft einen hohen Wert zuspricht, bilden die Grundlage für dieErmöglichung jenes dialektischen Umschlags der resignierten Passi-vität in Aktivität, die noch heute gefürchtet wird, die Grundlage fürden Widerstand, wenn die Umstände dies erlauben.Bei der Einschätzung der Mentalität des Arbeiters wird diese oft mitder Mentalität der Arbeiterbewegung verwechselt. Beide sind kei-nesfalls identisch. Das resignierte Aufsichnehmen der Unbildung,die geschichtliche und erfahrungsmäßige Gründe hat, hatte zweivernichtende Folgen: das Verschwinden des in der Arbeiterbewe-gung unentbehrlichen und einst großartigen Volkstribunentumsund die Beseitigung der direkten und indirekten Kontrolle der Or-ganisationen seitens der Mitgliedschaft. Das Ergebnis war die Büro-kratisierung der Arbeiterbewegung. An die Stelle der Bewußtseins-bildung trat der Praktizismus, an die Stelle der Theorie, die zu befra-gen war, die Bürokratie, die ungefragt entschied. Die Bewegung unddie Mitgliedschaft wurden nicht mehr durch Ideen, sondern durchManipulation geleitet. Bewirkte der ideelle Einfluß die zustimmendegeistige Gefolgschaft, so setzt die bürokratische Manipulation dieresignierte Gleichgültigkeit voraus. Auf dieser Basis wird selbst je-nes Maß von Bildung überflüssig, das früher unabdingbare Voraus-setzung der Gefolgschaft der Arbeiter gewesen ist. Verstärkt der Bü-rokratismus die Resignation, so erlaubt diese Resignation den bil-dungsfeindlichen Bürokratismus. Und da aus dem kollektiven, ob-jektivistischen Bewußtsein der Arbeiter heraus Bildung nur den Sinngewinnt, wenn sie praktisch relevant wird, so lehnt er auch aus die-sem zusätzlichen Grunde der Bedeutungslosigkeit der Bildung inden bürokratischen Organisationen sie ab. Ihrerseits bedürfen dieseauf bürokratischem Wege gesellschaftlich integrierten Organisatio-nen keiner Bildung, denn Bildung würde infolge ihrer kritisch-täti-gen Wirkung diese Integration stören. Selbst als gängige Bildung derzweiten Stufe hat sie für den Bürokratismus nicht einmal den aufge-zeigten illusorischen Sinn, denn aller Bürokratismus ist seiner Naturnach bildungsfeindlicher Praktizismus.

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Spricht man, wie oft zu hören, von der Verbürgerlichung der heuti-gen Arbeiter, so steckt zumeist die Verwechslung mit der fort-schreitenden Verbürgerlichung der Arbeiterbewegung dahinter;wobei die Tatsache zur täuschenden Beurteilung beiträgt, daß tat-sächlich im unvermeidlichen Anpassungsprozeß an verschiedeneLebensformen der heutigen Gesellschaft gewisse äußerliche Zügeder Verbürgerlichung den Habitus des Arbeiters mitformen. Äußer-liche, weil eine genaue Beobachtung zeigt, daß es zu einem als tra-gisch zu beurteilenden Widerspruch zwischen diesen Tendenzen zurVerbürgerlichung und der verbleibenden innersten Wesenheit desArbeiters kommt.Gründet sich ein gewisser Stolz des Arbeiters auf seine Hand- undtechnischen Fertigkeiten, so hat der Kleinbürger keinen Grund zueinem solchen Stolz, denn seine Arbeit ist zumeist formale und ab-strakte Manipulation, die an der Sachwelt nichts ändert. Den Kerndes Kleinbürgertums bildet die Angestelltenschaft in ihren verschie-denen Formen. Das Schicksal kleinbürgerlicher Arbeit ist nicht dieProduktivität, sondern die Sterilität. Von der kollektiven Einord-nung des Arbeiters in den Arbeitsprozeß unterscheidet sich der ar-beitsmäßige Individualismus des Angestellten grundsätzlich. Be-sonders seinem Bewußtsein nach. Die relative Entfernung dieserArbeit vom produktiven Prozeß verstärkt diese individualistischeTendenz. Damit hängt auch zusammen das Gefühl des Bewahrtblei-bens von den Unbilden der körperlichen Arbeit und deshalb desAnders- und Besserseins im Vergleich zum Arbeiter. Interessant andieser Haltung ist auch, daß trotz der üblichen verbalen Ableugnungder Existenz eines Proletariertums in unserer Zeit diese Existenz zu-gleich durch ein fanatisch zu nennendes Bemühen, sich von diesemProletariertum abzugrenzen, zugegeben wird. Daraus ergibt sich dieNeigung des Kleinbürgers, es dem Bürger gleichzutun, die Neigungzur Verbürgerlichung. Was dem Arbeiter nur äußerlich bleibt, isthier echt; von einer Verbürgerlichung des Kleinbürgertums kanndurchaus gesprochen werden.Trotzdem bleibt eine unaufgelöste Differenz zwischen dem Bürgerund dem Kleinbürger, die dem gewissenhaften Beobachter nichtentgehen kann - z.B. beim Studium der »bürgerlichen« Wohnungdes Kleinbürgers, die stets einen eigenen, eben kleinbürgerlichenGeschmack hinterläßt. Mag in Kleidung und Gestik, in der Redeund in der Weltansicht die Nachahmung mehr oder weniger als ge-lungen erscheinen, es bleibt ein »auf den ersten Blick« erkennbarerUnterschied. Da ist zunächst die kleinbürgerliche Unsicherheit, diedurch das »Gehabe« durchscheint und sich von der Sicherheit desechten Bürgers abhebt. Der Kleinbürger hat mit dem Arbeiter unge-

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achtet aller darin liegenden unterschiedlichen Nuancen das Inferio-ritätsgefühl gemeinsam. Vom Bürger unterscheidet er sich durch dieUnfähigkeit, der gesellschaftlichen Wirklichkeit mit der gleichenDistanz zu begegnen wie jener. Der Bürger beherrscht die Realität,aber er unterliegt ihr - wenigstens in seinem subjektiven Bewußt-sein - nicht, während der Kleinbürger bis in seine subtilsten seeli-schen Erlebnisse hinein dem Gefühl, von den äußeren Mächten ab-hängig zu sein und sich ihnen »geschickt« anpassen zu müssen, nichtentrinnt. Auch dies ist geeignet, die Kluft von bürgerlicher Sicher-heit und kleinbürgerlicher Inferiorität zu vertiefen. Was daraus nochfolgt, weist auf die verfeinerte Versubjektivierung des Bürgers aufder einen Seite und auf das gleichzeitig manische wie mißlungeneBemühen des Kleinbürgers zur Aneignung dieser versubjektiviertenTechnik der Lebens- und Erlebensgestaltung. Was beim Kleinbür-ger herauskommt, ist ein Surrogat, das mehr die Sehnsucht nach ver-innerlicht-verfeinertem Leben verrät als das Gelingen.Wir haben es mit einer Dialektik des Widerspruchs zwischen der ge-reizt-fanatischen Neigung zur Nachahmung des Bürgerlichen unddem Versagen, dem äußeren Gelingen und dem grundsätzlichenMißlingen dieser Nachahmung in den zentralsten Belangen des ei-gentlich Bürgerlichen zu tun. Sehen wir näher zu, so läßt sich erken-nen, daß diese Dialektik nur die Kehrseite einer anderen ist, nämlichder Dialektik der fanatischen Neigung zur Abgrenzung gegen allesProletarische und des im letzten nicht zu vermeidenden ständigenRückfalls auf dessen menschlich-pauperisierte Position, wenn auchmit den entsprechenden Unterschieden, die aus der stärkeren Ver-bürgerlichung des Kleinbürgers resultieren. Es genügt, darauf hin-zuweisen, daß in einer, wenn auch nuancenmäßig abgewandelten,Gestalt die aufgewiesenen fünf Momente der menschlichen Tragikdes Arbeiters auch für den Kleinbürger gelten, was sich am leichte-sten am Angestellten demonstrieren läßt:Erstens die Pauperisierung der menschlichen Totalität als Folge vonBeruf, Spezialistentum, Inferiorität und Integration in das allge-meine entfremdete Bewußtsein. Zweitens der notwendige Schutzdurch die Sozialgesetzgebung, denn nur der Schwache und Abhän-gige muß geschützt werden. Drittens die Bindung an das »Eigen-tum«, das in Wahrheit keines ist, denn es gewährt nicht Freiheit imSinne der bürgerlichen Unabhängigkeit, sondern fesselt im Sinne des»Realitätsprinzips« den einzelnen an die Notwendigkeit der Repro-duktion dieses »Eigentums«. Viertens die sterbende Zeit, die sichvon jener des Arbeiters kaum unterscheidet. Fünftens die Funktionder Freizeit als eine Funktion der zweiten Stufe der Bildung, derEinordnung in das Schema verdinglichter Kultur.

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Von besonderer Bedeutung wird für den Kleinbürger der fünftePunkt der Freizeit und Kultur, der sich in der kleinbürgerlichenDenkweise zum Problem der Bildung verdichtet. Um das zu verste-hen, müssen wir auf das Problem des Schicksals zurückgreifen.Wir haben gesehen, der Arbeiter erlebt das Schicksal als eine gesell-schaftliche Macht. Daraus resultiert sein praktischer Bildungsbegriffund das bewußte Aufsichnehmen der Unbildung. Der Arbeiter, dersich seiner Inferiorität und ihres gesellschaftlichen Grundes bewußtist, hat Minderwertigkeitsgefühle, aber keine Schuldgefühle. DerSchuldige ist für ihn die Gesellschaft. Daraus entspringt seine offeneoder, wie heute, in Westdeutschland, verborgene Haltung gegen dieGesellschaft. Der Kleinbürger dagegen hat nicht nur Minderwertig-keits-, sondern auch ihn zutiefst beunruhigende Schuldgefühle. Sieentstehen dadurch, daß er in ideologischer Abwehr der kollektivisti-schen proletarischen - »gewerkschaftlichen«, hört man ihn oft sa-gen - Denkweise und in Zuneigung zum bürgerlichen Subjektivis-mus die gesellschaftliche Bedingtheit seiner menschlichen Miserenicht oder nicht primär gelten läßt und in weiterer Folge die subjek-tivistische, durch den allgemeinen bürgerlichen Individualismus zu-sätzlich genährte, Neigung entwickelt, diese Misere aus demeigenen Versagen zu erklären. Er verlegt die vom objektiven Seinihm aufgezwungene Schicksalsfrage in den Bereich des Individuel-len, wo er sie zu bewältigen und zu lösen versucht.Eingeklemmt zwischen die Pole der bürgerlich-individualistischenAnreizung zur Ausnützung der »freien Konkurrenz«, »aus sich et-was zu machen«, auf der einen Seite, der tragischen Gebundenheitan die erwähnten Momente des menschlichen Pauperismus und derEntfremdung auf der anderen Seite, findet der Kleinbürger aus die-sem verhexten Kreis nicht heraus. Da er dem kleinbürgerlichen In-dividualismus zuneigt, der einzelne eher schuldig erscheint als dasGanze, schlagen die aus dieser widerspruchsvollen Situation em-porwachsenden Gefühle der Verzweiflung leicht in subjektiveSchuldgefühle um.Die Neigung, »etwas aus sich zu machen«, mündet in das bekanntekleinbürgerliche Bildungsstreben aus. Erscheint das Schicksal demKleinbürger in der doppelten irrational-»mystischen« Gestalt: alsobjektiv-undurchdringliches und als subjektiv-verschuldetes, sogibt beides Anlaß zur Fortsetzung der grundsätzlich individualisti-schen Haltung in einem »Tun«; nicht etwa die Gesellschaft zu ver-ändern, denn das scheint angesichts der undurchdringlichen objek-tiven Mächte und des Aufrufs zur subjektiven Selbsterlösung irrele-vant oder von sekundärer Bedeutung, sondern sich von seinemSchuldgefühl zu befreien durch »Bewährung« im Sinne des indivi-

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dualistischen Aufrufs zur Entfaltung der Persönlichkeit. Das Heilliegt in der Selbsterlösung. Der Weg dahin kann aber nur der sein,der dem Kleinbürger zur Verfügung steht, der der Bildung. Da aberunter den gegebenen pauperisierten Lebensbedingungen dieses Zielnur relativ, nur sehr unbefriedigend zu erreichen ist, wird dasSchuldgefühl nicht getilgt, sondern es verstrickt sich nur noch mehrin die bedrückende subjektive Problematik und bedrängt den ein-zelnen, je ernster er sich nimmt und je bemühter um die Selbsterlö-sung er ist, desto schwerer.Der mit Hilfe der Bildung zu erzwingende Durchbruch durch diedem Kleinbürger eigene Welt des Scheins wird erschwert und ver-hindert durch die Tatsache, daß die erstrebte Bildung im gegebenengeschichtlichen Stadium nur die Bildung der zweiten Stufe seinkann, der Stufe des Scheins und der spekulativen Philosophie. Um-gekehrt kann der Kleinbürger diese Stufe nicht überwinden, weil alleseine geschilderten situationsbedingten und habituellen Eigenschaf-ten ihn auf diese Stufe verweisen, ihn an sie fesseln.Die unerfüllte Sehnsucht weist in die Utopie, die aber nicht wie beimArbeiter einen wesentlich realen Charakter annimmt, sondern einensubjektivistisch-irrealen. Vorläufig, im »Diesseits«, soll die Verbes-serung der materiellen Besitzlage zu erhöhtem Prestige verhelfen.Prestige und Sicherheit erfordern ein gesteigertes materielles Stre-ben. Aber da im Vergleich zum nachgeahmten Bürger die »Erlö-sung« durch materiellen Genuß nur halb gelingt, ergänzt das klein-bürgerliche Bewußtsein dieses Streben durch das Gegenteil davon,nämlich durch die sehnsuchtsvolle utopische Hoffnung auf einekünftige Erlösung sowohl in materieller als auch in persönlicher Be-ziehung. Dieser kleinbürgerliche Utopismus ist der typischen klein-bürgerlichen Mentalität entsprechend verschwommener und wider-spruchsvoller Natur. Seinem eigenen Utopismus begegnet derKleinbürger bald mit gläubigem Ernst, bald mit höhnender Ironie, jenach den gesellschaftlichen und persönlichen Umständen. Zeigt derUtopismus des Arbeiters eine deutliche Realitätsbezogenheit undKonstanz, wobei er sich besonders im Umkreis des Sozialen undTechnischen bewegt, so steht der kleinbürgerliche Utopismus aufeiner unbestimmten, schwankenden Grundlage.Das »Träumen« des Kleinbürgers ist haltloser und verschwommenerals das des Arbeiters. So wenig es aus der seelisch-geistigen Welt desKleinbürgers weggedacht werden kann, und so wahr es ist, daß ersich in diesem Träumen selbst verwirklicht, weil sein ganzes Lebenauf illusionärer Grundlage basiert, was sich aus seiner Zwischenstel-lung zwischen Proletariat und Bürgertum und aus seinem ungefe-stigten Subjektivismus erklärt, so wahr ist es aber auch, daß er un-

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vermittelt in eine Stimmung ironischens Verneinens gerät, wennman ihm seine traumhaft-utopischen Neigungen vorhält. Er schämtsich seines »kritischen« Utopismus, der an den proletarischen erin-nert und der Utopielosigkeit des Bürgers widerspricht, um desto zä-her an dem utopischen Selbsterlösungsbedürfnis festzuhalten. Esbleibt jedoch kennzeichnend, daß der Kleinbürger infolge der ihmeigenen subjektivistischen Tendenzen auch seinen Utopismus ver-subjektiviert, d.h. aus dem Bereich des Real-Zukunftsgerichtetenins Irrational-Subjektive ausbricht und unter Zukunft nur sekundärdie soziale versteht, primär die persönliche Zukunft, grundsätzlicheine Zukunft innerhalb der vorhandenen Beziehungen und Verhält-nisse.Es ist nicht leicht, diesen verschwommenen und ambivalenten Uto-pismus genau zu beschreiben. Wie der Kleinbürger zwischen allenExtremen hin und her schwankt, so schwankt auch sein Utopismuszwischen der Hoffnung auf materielle Sicherstellung und der Befrie-digung des Bedürfnisses nach Erhöhung seiner Individualität mittelsder Zugänglichmachung aller Bildungsmöglichkeiten. Der klein-bürgerliche Bildungsphilister, ein Produkt der Verbindung von ver-bürgerlichtem Individualismus und der zweiten Stufe der Bildung,sieht die Erfüllung seiner Sehnsucht nach Prestige und subjektivemGlanz zeitweilig auch in einer neuen sozialen Ordnung, von der ersich aber einen mehr sentimentalen Begriff macht, und wird »revolu-tionär«. Man unterschätze aber anderseits diese Haltung nicht, dennsie macht unter günstigen Umständen gewisse kleinbürgerlicheSchichten zugänglich für ernste humanistische Parolen, deren An-liegen gleichfalls, wenn auch nicht aus Gründen des Prestiges, son-dern aus Gründen der Emanzipation durch die Wiederherstellungder Einheit von Mensch und »Spiel«, die individuelle »Persönlich-keit« ist. Der Kleinbürger hat sich stets von einer kraftvollen undnicht integrierten, von einer humanistischen und nicht »ethisch«verwässerten, von einer mit kritischer Theorie gesättigten, vor allemaus allen diesen Gründen selbstbewußt auftretenden gesellschaftli-chen Bewegung imponieren lassen. Die Diskussion darüber, wie derKleinbürger in seiner Masse für den Humanismus zu gewinnen sei,findet in diesem Aspekt ihre Antwort. Allerdings hat der ambiva-lente Habitus des Kleinbürgers auch seine gefährliche Seite. Ge-neigt, jedem zu folgen, der in irgendeiner Weise seinem sehnsuchts-vollen Utopismus entgegenzukommen bereit ist, geht er leicht auchdem Faschismus, dessen hohl-deklamatorischen Revolutionarismusnicht durchschauend, auf den Leim.Die eigentliche Tragik des Kleinbürgers ist zu suchen im Wider-spruch zwischen seiner Neigung zur Anpassung an die vorhandenen

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gesellschaftlichen Lebensbedingungen und der gleichzeitigen Nei-gung zur Revolutionierung seiner subjektiven, insbesondere intel-lektuellen Existenz. Die kleinbürgerlichen Minderwertigkeitsgefüh-le, die den subjektiven Bildungsbegriff des Kleinbürgers provozie-ren - und der ihm anhaftet wie die Lüge dem Sophisten -, zwingenihm die Vorliebe dafür auf, etwas zu scheinen, was er nicht ist. Ver-gleicht man ihn mit dem Arbeiter und dem Bürger, so ergibt sich einesubjektiv ganz verschiedene Haltung. Der Arbeiter will nicht mehrscheinen als er faktisch ist, weil er aus seinem mehr oder weniger kla-ren Wissen um seine menschliche Inferiorität heraus sich keiner Illu-sion hinsichtlich der Realisierbarkeit eines prestigeerzeugendenScheins hingibt. Was er ist, das will er auch solange zu sein scheinen,solange unter den für ihn unabdingbar geltenden Lebensbedingun-gen seine armselige Gestalt durch die ideologischen Manöver, dieihm das auszureden versuchen, sich unverkennbar zu erkennen gibt.Der Bürger wiederum will nicht etwas anderes scheinen, weil er indem Bewußtsein einer besonderen menschlichen Bevorzugtheit lebtund sich damit begnügt, dieses Bewußtsein bestehen zu lassen, aller-dings nicht ahnend, daß es gerade da, wo diese Illusion der menschli-chen Bevorzugtheit herrscht, dem Schein unterliegt. Es geht hiernicht um die Feststellung dieses Scheins, sondern um die bewußteHaltung zu sich selbst, die beim Arbeiter wie beim Bürger eine sol-che der Ablehnung des bewußt erzielten Scheins ist. Anders derKleinbürger. Nur er führt einen ständigen Kampf gegen sich selbst,gegen sein eigenes Wesen, sowohl gegen das, was er ist, als auch ge-gen das, was er scheint. Ständig ist er bemüht, unter Zuhilfenahmevon allerlei äußeren und inneren Kunststücken, »aus sich etwas zumachen«. Gibt ihm das Streben nach Bildung gelegentlich den stol-zen Schein, ein Gebildeter zu sein, so heftet er sich um so gewaltsa-mer an diesen Schein, als ihm sein Bemühen, diese Bildung mit demdes angesehenen Bürgerlichen gleichzusetzen, stets mißlingt. Aberer harrt aus, so daß seinem Selbstverständnis nach der Schein, den ersich gewollt gibt, der Wahrheit entspricht: Die Illusion ist hierebenso widerspruchsvoll wie vollkommen.Auf die Frage, was der Kleinbürger eigentlich sei, läßt sich antwor-ten: er ist die menschliche Inkarnation der vollendeten Illusion, derzweiten Stufe der Bildung. Auch der Bürger bleibt, in gewissemSinne noch extremer (wie wir noch sehen werden), der zweiten Stufeder Bildung verhaftet. Aber er leidet nicht darunter, weil er sich alsBürger, als Herrschender fühlt. Seine menschliche Problematik isteine andere.Spricht man vom Bürger, so muß man sich gegenwärtig halten, daßvom liberalen Bürger des vorigen und beginnenden 20. Jahrhunderts

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heute nur noch Reste übriggeblieben sind. Der moderne Bürger ent-steht mit der imperialistischen Periode, er ist der Bürger der »Deka-denz«. Seine klarste und schärfste Ausprägung erhält er in seiner Eli-te. Verwischen sich die Grenzen vom Kleinbürgerlichen zum Bür-gerlichen über das Mittelständische, so ist die Masse des heutigenBürgertums nicht ohne gewisse mittelständische Züge, was das Pro-blem erschwert. Andererseits ist aber das eingestandene Ideal dieserMehrheit des Bürgertums seine ausgeprägte und »gebildete« Elite;deshalb ist an dieser Elite das eigentlich Bürgerliche zu studieren undzu analysieren.Auch das Bürgertum kennt einen Schicksalsbegriff, der für es cha-rakteristisch ist. Schicksal ist hier das völlig andere, das das Innerenicht berührt, es ist deshalb auch nicht das im Leben Wesentliche,sondern das Profane, mit dem man rechnet, das zugleich als bloße»Natur« zu betrachten ist. Das Bürgertum kann sich ein solchesSchicksalserlebnis erlauben, weil ihm als Herrschendem ein großerRaum individueller Freiheit gewährt ist, so daß die äußeren Ein-flüsse ihm als allgemeine, naturhafte Bedingungen des Lebens gel-ten, jedoch nicht als bestimmende Merkmale dieses Lebens selbst.Daß das Bürgertum sich eine solche Entgegensetzung von inneremfreien und äußerem naturhaften Geschehen leisten kann, hängt so-ziologisch mit der ideologischen Entwertung des realen geschichtli-chen Prozesses infolge der tiefgehenden historischen und geistigenKrisenerscheinungen, des allgemeinen Einbruchs der »Dekadenz«seit Beginn der Epoche des Imperialismus zusammen. Der Glaubean den Fortschritt in der Geschichte, von dem noch das liberale Bür-gertum durchdrungen war, ist verlorengegangen. Die menschlich-geschichtliche Welt scheint nicht fähig, echte und den Menschen tra-gende Werte hervorzubringen. Wenn sie überhaupt noch zu findensind, so im Innern des einzelnen, im esoterischen Subjekt, im elite-haften Ich.Dieser gefühlsmäßigen und ideologischen Tendenz der Trennungvon Objektivem und Subjektivem, bei sehr verschiedener Einschät-zung beider, schlägt sich nieder in einem neuartigen und gewisse in-nere Werte bejahenden, widerspruchsvollen Nihilismus. Dieser Ni-hilismus deckt sich mit dem bürgerlich-dekadenten Schicksalsbe-griff, der wiederum mit dem bürgerlichen Bildungsbegriff eng ver-knüpft ist. Wir definieren diesen Bildungsbegriff als sowohl derScheinbildung wie der Verbildung verhaftet (worüber später mehr).Die nihilistische Entwertung der äußeren Welt bleibt nicht ohneEinfluß auf die subjektiv innere. Sie erscheint trotz ihrer Entspre-chung zur Freiheit hin als düster und von Schuld erfüllt. Es ist diesdie vom bürgerlichen Bewußtsein als unheimlich erlebte Allmacht

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der äußeren Welt, die unbewußt die innere beherrscht und ihr denSchein der unauslotbaren wechselvollen Tiefe verleiht. Mit dieser ir-rational-düsteren inneren Welt, die der rational auszunützendenund zu beherrschenden äußeren unvermittelt entgegensteht, wirddas bürgerliche Individuum nicht so leicht wie mit jener fertig. Bil-dung besteht für diese Reflexionsform in der Beschäftigung mit denProblemen dieser versubjektivierten Welt, in der Aufnahme undBewältigung der hier entstehenden Fragen an das Leben, in derPflege einer sich um diese Fragen bewegenden Kultur und im Auf-sichnehmen der nihilistisch-gorgonisch das Individuum bedrängen-den Antworten. Das sich darin artikulierende »Lebensschicksal«soll begriffen und bewältigt werden. Es ist somit keine Bildung, diesich auf die als nur dem Nutzen dienende äußere Welt bezieht, son-dern eine der verinnerlichten »Verjenseitigung« (woraus sich z.B.die weitläufige Begeisterung für Wagners mystische Operndramatikin diesen Kreisen erklärt). Die »vulgären« Probleme der Außenweltdürfen die »tiefen« der Innenwelt nicht »verfälschen«.Damit wird aber nicht bloß der besprochene Gegensatz zwischenDenken und Sein, der für die zweite Bildungsstufe des kontemplati-ven Scheins und der spekulativen Philosophie charakteristisch ist,bis ins Extrem gesteigert, sondern zudem das Individuum selbst bisin sein Handeln hinein in zwei Teile zerrissen: in ein Individuum derabstrakten und subtilen Kontemplation einerseits und ein Indivi-duum des ungeschminkt praktisch-egoistischen Alltagsverhaltensandererseits. Für das bürgerliche Subjekt wird damit nicht nur derauf dieser Trennung von Denken und Sein beruhende Schein ver-tieft, die Schein-Bildung zur beherrschenden geistigen Haltung,sondern darüber hinaus die Einheit der Individualität gestört, so daßman geradezu von einer Verbildung des geistigen Habitus des Bür-gers sprechen kann.Gibt es für den Kleinbürger noch immer eine enge Sparte des Zu-rückfindens zu den Fragen der Totalität wenigstens einer wider-spruchsvollen Tendenz gemäß - denn der Kleinbürger muß bemühtsein, seine Reflexionen unmittelbar der Praxis anzupassen, will ersich in ihr bewähren (Beruf, Familie usw.) -, so besiegelt die zweiteBildungsstufe der unüberschaubar gewordenen und zerrissenen To-talität das Schicksal des Bürgers. Die bewußtseinsmäßige Zerrissen-heit der Totalität, die tief in die Individualität des Bürgers hinein-wirkt und sie deformiert, habituell und bildungsmäßig verbildet, istihrerseits wiederum nur Schein. Denn in Wahrheit und ihm unbe-wußt sind es die Phänomene und Probleme der Außenwelt, der To-talität (die innerhalb dieser Totalität gleichzeitig auch solche der In-nenwelt sind), die das individuelle Bewußtsein des Bürgers beherr-

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schen und beschäftigen. Die menschliche Tragik des Bürgers liegt inder doppelten Selbsttäuschung. Einerseits dünkt er sich höherste-hend als die übrigen Klassen, obgleich er derselben Entfremdung,die im Unterworfensein unter das »Weltbild« der zweiten Bildungs-stufe ihren Ausdruck findet, unterliegt; anderseits glaubt er übereine höhere Geistigkeit zu verfügen, obgleich sie wegen ihrer unkri-tischen oder nihilistisch-scheinkritischen Begegnung mit der Au-ßenwelt dem naturalistischen Oberflächenschein dieser Außenweltunterliegt.

Gewiß gelten für ihn nicht oder nur in anderer Weise als für den Ar-beiter und für den Kleinbürger die aufgezählten fünf Punkte derEntfremdung - weshalb Marx sagen kann, daß sich der Bourgeoiswohler fühlt als die übrigen Klassen, jedoch an anderer Stelle ebensovermerkt, daß auch er befreit werden müsse. Gehen wir die fünfPunkte nochmals mit dem Blick auf den Bürger durch:

Erstens ist der Pauperismus zu erwähnen, den wir zunächst aus dermenschlichen Armseligkeit des Arbeiters deduziert haben. Kenn-zeichnet sich eine solche Armseligkeit auch durch den Mangel an ob-jektiver Erkenntnisfähigkeit und durch die Unfähigkeit, sich selbstzu erkennen, so ist auch der Bürger ein Pauper. Seine menschlichtragische Situation, die sich unter anderem durch den weltabge-wandten, damit abstrakten verinnerlichten Nihilismus kennzeich-net, ist nur eine vermitteltere und verdecktere, eine durch den fein-gewobenen Schleier des »Gebildetseins« weniger erkennbare.

Zweitens bedarf der Bürger gewiß nicht des sozialen Schutzes. Aberindem er ihn unter Zwang oder freiwillig gewährt, anerkennt er denKnecht als ein Wesensmerkmal seiner eigenen Existenz, denn ohneden Arbeiter wäre er kein Bürger. Damit wird er schuldig amHerr-Knecht-Verhältnis, das er zu verewigen versucht, statt es auf-zuheben. Er wird selbst zu einem Objekt dieses Verhältnisses, letzt-lich selbst zu einem Knecht, zu einem Pauper mit umgekehrten Vor-zeichen.

Drittens: Die Bindung an das Eigentum, das nicht nur zu reprodu-zieren, sondern auch zu vermehren und zu verteidigen ist, ist offen-sichtlich; die ständige Reproduktion des Knechts im Dienste derReproduktion des bürgerlichen Eigentums wird deshalb zu einerzentralen Aufgabe im sowohl praktischen als auch geistigen Lebendes Bürgers, wodurch er in einer den übrigen Klassen fremden Weisezusätzlich in die Entfremdung hineingezogen wird. Der Zwang derReproduktion des Herr-Knecht-Verhältnisses drängt ihn in eineunkritisch-apologetische Position diesem gegenüber und hindert ihndeshalb, sein Wesen zu durchschauen, wie auch andererseits die dar-

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aus entspringende praktische Haltung jegliche dieses Verhältnis hu-manisierende Tendenz paralysiert.Viertens ist die Zeit für den Bürger zwar keine sterbende im Sinneder Zeit des Arbeiters, aber sie ist eine ebenso unschöpferische, weilbloß untätig-genossene (orgiastische). Die Voraussetzung für dieArtikulation eines schöpferischen Zeiterlebens ist die unzerstörteDialektik von Subjekt und Objekt, von Tätigkeit und Totalität. ImZuge der Verjenseitigung und subjektivistischen Asthetisierung derProbleme werden diese beiden Seiten ideologisch voneinander ge-trennt, so daß die an die subjektivistische Tendenz anknüpfende Be-tätigung in eine leer-spielerische umschlagen muß, während die (so-fern überhaupt noch von Angehörigen des parasitär gewordenenBürgertums ausgeführte) praktische Tätigkeit zur rationalistisch-fe-tischistischen entartet. Wir haben in den Ausführungen über denArbeiter dargelegt, daß dessen Zeit eine unschöpferische und dahersterbende Zeit ist. Das Gegenteil davon wäre die erfüllte Zeit in derGestalt der Erfüllung eines jeden Augenblicks der Tätigkeit im Zeit-fluß, das heißt in der Gestalt des »Spiels«; oder was dasselbe ist, derAufhebung der Zeit in der Zeit. Da der dekadente Bürger die Tätig-keit vom Genuß (Spiel) trennt und diesen, weil ihm eigentlich ange-messenen, als jener überlegen deklariert, zerstört er die Vorausset-zung für die wirkliche Aufhebung der Zeit in der Zeit, für das Schöp-fertum, und gerät damit in die Fänge einer falschen Kontemplation,womit er einer nur anderen Form der sterbenden Zeit als der Arbei-ter unterliegt. Die scheinbare Überwindung der sterbenden Zeit inder Muße und Kontemplation des Bürgers entpuppt sich in letzterBeziehung wiederum als eine dialektische Komponente der sterben-den Zeit selbst, als eine Form der sterbenden Zeit mit umgekehrtenVorzeichen. So kommt es trotz aller Verschiedenheit zu einer über-raschenden Annäherung des Zeitgefühls des dekadenten Bürgers anjenes des Arbeiters: In beiden Fällen ist die Langweile das eigentlicheErlebnis, d.h. die Zeit eine unerfüllt-sterbende. Nur daß im einenFalle die Form dieser Langweile die angestrengte unschöpferischeTätigkeit ist, im anderen Falle die anstrengungslose unschöpferischeKontemplation.Fünftens: Daraus und im Zusammenhang mit den übrigen Punktenkonstituiert sich die bürgerliche Kultur nicht als befreiende, sondernals verinnerlicht-(ästhetisiert-)nihilistische. Das Eindringen der de-kadenten und morbiden Außenweltsphänomene in das Seelisch-In-nere des bürgerlichen Individuums vollzieht sich nicht etwa in derWeise, daß diese Phänomene in voller Konkretheit erscheinen, son-dern blaß und abstrakt, in Anpassung an die fließende irrationaleGefühlswelt. Nur in dieser veränderten irrationalen Gestalt können

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sie überhaupt zu Objekten der verinnerlichten Erlebniswelt werden,ohne daß die Subjekte ihre objektive Herkunft bemerken. Nur aufdiesem Wege können die drohenden und düsteren Erscheinungender spätbürgerlichen Geschichte zu irrationalen Erlebnissen derscheinbar rein subjektiv gebundenen Verzweiflung, Angst, Leere,Todesfurcht usw., zu erlebnismäßigen Abgründen von schreck-haft-interessanter Tiefe umgemünzt werden.Vergleicht man die faktische Fülle und Konkretheit der objektivenRealität mit ihrem verinnerlichten und abgeblaßten Spiegelbild,dann erscheint dieses als von aller objektiven Herkunft gereinigt undvollständig selbständig. In diesem Schein wurzelt die Einbildung desbürgerlichen Individuums von der Bezugslosigkeit der inneren zuräußeren Welt. Georg Lukäcs spricht in einem ähnlichen Zusam-menhang geradezu von einem »leer-abstrakten Fließen« der »von al-ler Gegenstandswelt befreiten Zeit«. Treffend verweist er auf dieDialektik von leer-abstraktem Fließen und Starrheit (»Zuständlich-keit«) im verinnerlichten Zeiterlebnis, und er fügt hinzu, daß ausdieser Erstarrung das Schreckenauslösende und Unheimlich-Welt-lose der inneren Zeit sich erklärt. Wir würden eher sagen, daß diesesscheinbar rein verinnerlichte leer-abstrakte Fließen der Zeit die Vor-aussetzung bildet für das unbewußte und widerstandslose Eindrin-gen der nihilistischen Schicksalserlebnisse, wie sie in der Epoche derbürgerlichen Dekadenz die ganze Gesellschaft beunruhigen; denneine wirklich leer-abstrakte, eine völlig von aller Objektivität gerei-nigte Erlebniswelt kann es nicht geben, weil ein jeglicher seelischerProzeß seine Materialien von der Außenwelt bezieht.Die Illusion der reinen Innerlichkeit ist gleichzeitig gesellschaftlichwirkungsvolle Ideologie, falsches Bewußtsein. Ist das Bildungsbe-wußtsein des Bürgers von dieser Illusion durchdrungen, trennt erdeshalb den Kulturgenuß vollkommen vom Alltag, den es bloß aus-zunützen gilt, ist ihm darum auch jeglicher auf die Humanisierungder gesellschaftlichen Totalität ausgerichteter Kulturgenuß fremd,so konstituiert sich seine Bildung als eine ästhetisch-jenseitige unddamit als Scheinbildung, der das einseitig genießerische und kon-templative Zeiterlebnis organisch zugeordnet ist.Das Problem, das sich dem Menschen in der repressiven Gesellschaftbewußt oder unbewußt stellt, ist das Problem der Wiedergewinnungder zur Freiheit führenden schöpferischen, im »Spiel« sich verwirk-lichenden Zeit. In der entfremdet-repressiven Zeit ist die in diesemZeiterlebnis ablaufende Tätigkeit dazu verurteilt, ohne Erfüllungder Zukunft zuzustreben. Das Versprechen künftiger Erfüllung hatden Zweck des Anreizes zu Opfern im Sinne des geltenden »Reali-tätsprinzips«: Indem auf dem Wege dahin immer neue Ziele produ-

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ziert werden in endloser Progression, übernimmt das Versprechenkünftiger Erfüllung keine andere Aufgabe als die, das Individuum inständigem Trab im Dienste der repressiven Ordnung zu halten. In-dem jeder Augenblick im Flusse der Zeit unerfüllt vergeht und sichdem Tode nähert, erscheint der Tod als der eigentliche Herr der Zeit,sie selbst erscheint als eine sterbende. Die Überwindung der ster-benden Zeit verweist auf die Wiederherstellung des erfüllten Augen-blicks. Die ständige Flucht von Augenblick zu Augenblick in der re-pressiven Zeit, der sterbenden, wird abgelöst vom Wechsel der insich ruhenden glückhaften Augenblicke, in denen der Mensch gerneverweilt, von der »Aufhebung der Zeit in der Zeit«. Indem jeder Au-genblick, jedes Tun und jedes Erlebnis seinen »spielenden« Sinn insich trägt, verliert der zeitliche Fluß seinen Schrecken und gibt auchdem Tode seine ursprüngliche Bedeutung wieder, nämlich Abschlußeines erfüllten Lebens zu sein.Dem Schein nach kann der Bürger glauben, sich im Besitze derschöpferisch-erfüllten Zeit zu befinden, denn seiner Freiheit undseiner Verfügung über materielle Güter gemäß kann er über seineZeit nach eigenem Ermessen verfügen. Aber auf der Grundlage derüberwiegend parasitären Lebensform, die den späten Elitebürgerkennzeichnet, verschärft die zweite Bildungsstufe noch mehr denGegensatz von Denken und Sein, Erkennen und Tat. Der Gebrauchder Zeit wird hier unvermittelt passiv, d.h. einseitig genießerisch,was äußerliche und hektische Scheinaktivität, etwa aus Langweile,nicht ausschließt. Das Ziel ist nicht das Erfüllung spendende einheit-liche Denken-Tun, sondern die genießend-spielerische - man be-achte den Unterschied zwischen »spielend« und »spielerisch« -Kontemplation. Die hier erstrebte und scheinbar gelungene Aufhe-bung der Zeit in der Zeit ist aber nur Schein, weil diese Form des Ge-nusses um des Genusses willen auf die Dauer unbefriedigend wirkenmuß. Fehlt die schöpferische Tat, die dem Genuß Sinn verleiht, wieauch umgekehrt der Genuß der Tat Sinn verleiht (»Erotisierung desWerkes«), so blickt hinter der Fassade der scheinbar geglücktenAufhebung der Zeit in der Zeit die Fratze der sterbenden Zeit her-vor. Anstelle der erfüllten Zeit siegt die Zeit der Langeweile, wennauch in einer anderen, ja entgegengesetzten Gestalt als dies beim Ar-beiter der Fall ist, dessen Zeit keine genießerisch-kontemplative,sondern leer-angespannte ist.Der Schein, in dem der Bürger lebt, wird allerdings dadurch unter-stützt, daß er sich in ihm als dem Ausdruck der hastlosen und müßi-gen Kontemplation selbstverständlich wohler und freier fühlt, alssich der Arbeiter im Zustande der nackt hervortretenden Repressionseiner Tätigkeit fühlen kann. Der Bürger hat Zeit zur Langeweile,

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was sich gelegentlich darin äußert, daß er Zeit und Langeweile, oderwas für ihn dasselbe bedeutet, Bildung und Langeweile gleichsetzt.Hierbei wird für ihn das Bedürfnis entscheidend, dem in der äuße-ren, als »naturgesetzlich« erlebten Zeit ablaufenden drohendenSchicksal, dem er unbewußt seine Erlebnisse der Verzweiflung unddes Nichts entnimmt, den Rücken zu kehren und sich einen nachrein subjektiven Maßstäben abgegrenzten Raum der »Betätigung«,d.h. subtiler Bildung und des genießerischen Ausschöpfens der Ab-gründe des morbid-düsteren Seelenflusses zu reservieren - was zu-meist mit Hilfe der dieser Tendenz entgegenkommenden Produkteder bildenden und darstellenden Kunst zuwege kommt. Freiheitheißt hier nicht Rückkehr zur Dialektik von unentfremdetem Ge-nuß und ebensolcher Tätigkeit, 36 sondern Flucht in die verinner-licht-verjenseitigende und ästhetisierte Kontemplation, in diescheintätig-genießerische Untätigkeit. Die Langeweile weicht daherauch nicht, wenn diese Untätigkeit irgendeine Form der hektischenScheintätigkeit annimmt - es sei denn, daß sie sich in Ausnahmefäl-len auf das dem subjektiven und als dem eigentlichen erlebten Privat-leben entgegengesetzten Gebiet der ökonomischen, rein der Nütz-lichkeit dienenden Praxis richtet, wo sie aber nicht einmal den Scheinder frei-spielenden Betätigung vorzutäuschen vermag, sondernsichtbar der »ent-werteten« Welt der Entfremdung angehört.Ist die zweite Stufe der Bildung, der auch das Bewußtsein des Bür-gers angehört, gleichzeitig die Stufe der spekulativen Philosophie, sospiegelt sich in dieser Philosophie (z.B. im Existentialismus) nichtnur das Sein der ganzen Gesellschaft scheinhaft-verkehrt wider,sondern in einer gewissen Verteilung der Gewichte zugunsten desherrschenden Bürgers und kraft Herrschaft die allgemeine Ideologiestarkprägenden Denkweise das spezielle Sein des Bürgers. Daß aberdiese ideologische Widerspiegelung der bürgerlichen Existenz alsallgemein gültige ausgegeben werden kann, erklärt sich daraus, daßgewisse Züge der Entfremdung allgemeine, alle Schichten der Ge-sellschaft erfassende Geltung besitzen.

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9. Die Ideologie der Entideologisierung

Auch den obigen ideologischen Tendenzen kommt nicht bloß dieRolle eines passiven ideellen Verhaltens gegenüber dem praktischenProzeß zu, sondern sie bilden ihrerseits ein wesentliches Momentseiner Selbstreproduktion, ein Moment der Identifikation des Indi-viduums mit der bestehenden Wirklichkeit im Dienste dieser Selbst-reproduktion.Der Form nach ist diese Ideologie extreme Rationalität. Denn dereinzelne macht sich sehr klare Vorstellungen von den Gründen, demWeg und den Zielen seiner Haltung. Gründe, Weg und Ziel sindgleichzeitig die der objektiven Wirklichkeit. Darin besteht das We-sen der Identifikation mit der objektiven Wirklichkeit. Da aber dieseWirklichkeit in ihrer widerspruchsvollen und verborgenen Strukturunerkannt bleibt, ist das eigentliche Wesen der ideologischen Ratio-nalität die Irrationalität. Der formalen Rationalität entspricht die in-haltliche Irrationalität. Der an der Oberfläche haftende »gesundeMenschenverstand« nimmt die verdinglichten Täuschungen fürbare, d.h. rationale Münze. Diese ideologische Identifikation mitder Wirklichkeit schließt eine scheinkritische Opposition zu ihrnicht aus; auf einer abgeleiteten Stufe werden Kritiken an den Prei-sen, den Vorgesetzten, den Löhnen, den Schulen, der Bürokratie,der lügnerischen Presse usw. durchaus artikuliert.Ermöglicht wird dieser Umschlag von rationaler Identifikation mitder Wirklichkeit in Mißtrauen gegen einige abgeleitete Erscheinun-gen durch den prinzipiell irrationalen Charakter, durch die un-durchschaubar-schicksalhafte Dunkelheit dieser Wirklichkeit, diedurch die vordergründige Rationalität der Teilgebiete nicht aufge-hoben wird. Diese, die Rationalität des Teilgebietes hintergründigbegleitende Irrationalität wird ideologisch als mythisch-schicksal-hafter Untergrund allen Seins erlebt und hingenommen. Wo dieWirkung dieses als dunkles Schicksal erscheinenden Untergrundesfür die Rationalisierbarkeit der Teilgebiete als schädlich erscheintoder den unmittelbaren und alltäglichen Interessen des Individuumswiderspricht, artikuliert das ideologische Bewußtsein die Vorstel-lung des mehr oder weniger zufälligen Auswuchses. Diesen zusätz-lichen ideologischen Faktor beschreibt Paul A. Baran folgenderma-ßen: 37»Zwar wenden sich die Menschen gegen die Beschneidung ihrer Hoffnun-gen, ihres Glücks und ihres Freiheitsbegehrens; aber da sie vom >gesundenMenschenverstand< gepeinigt sind, auf den alle Agenturen der bürgerlichen

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Kultur setzen und der das oberste Gebot der kapitalistischen Rationalitätdarstellt, können sie kaum vermeiden, die Rationalität des Kaufens, Verkau-fens, Profitmachens mit der Vernunft selbst zu identifizieren. Allzu leichtwird der Protest gegen die kapitalistische Rationalität der Märkte und Ge-winne ein Protest gegen die Vernunft selbst, schlägt um in Antiintellektua-lis mus und schürt Aggressivität gegenüber denjenigen, die, um Reichtümeranzuhäufen, zu ihrem Fortkommen und zu ihrem Vorteil nach den kapitali-stischen Spielregeln handeln.«

Was Baran hier den Protest gegen die Vernunft selbst nennt, istnichts anderes als der gelegentlich durchbrechende Protest gegen dasverdinglichte »Schicksal« außerhalb der Rationalität der Teilgebiete,mit dem man sich prinzipiell identifiziert. Solche ideologischenVorgänge variieren nur den Prozeß der Identifikation, heben ihnnicht auf.Allerdings vermögen sie ideologische Hebel des Durchbruchs durchdas herrschende Identifikationssystem zu bilden und den Umschlagdes scheinkritischen in ein, wenn auch von theoretischer Aufklärungunterstütztes, echt kritisches Bewußtsein einzuleiten. Im Lichte die-ser Feststellung wird z.B. der folgende Bericht verständlich: 38

»Bei einer soziologischen Untersuchung unter den Arbeitern der FIAT-Werke... zeigen die Mitglieder der kommunistisch-sozialistischen Gewerk-schaft CGIL die geringste Neigung zu autoritärem Verhalten; nach ihnenrangieren die Mitglieder der christlichen, danach die der sozialdemokrati-schen und schließlich die der werksinternen, paternalischen FIAT-Gewerk-schaft.«Die am stärksten auf die Identifikation mit der bestehenden Ord-nung ausgerichteten sozialdemokratischen Gewerkschaften zeigensomit die ausgesprochene Neigung zu autoritärem Verhalten, imGegensatz zu den aufgeklärteren kommunistischen und den aus ei-nem christlich-humanistischen Fundus schöpfenden christlichenGewerkschaften. Bezeichnend für die integrierten sozialdemokrati-schen Gewerkschaften ist die hier vorherrschende Einbildung, imGegensatz zu den weltanschaulich geschulten und einer festen Ideo-logie folgenden fortschrittlichen Christen und Kommunisten über-haupt keiner Ideologie verhaftet und daher von aller Ideologisierungfrei zu sein. Die sich hierin offenbarende dialektische Umkehrung,daß sich die zu einer systematisierten Ideologie Bekennenden ge-genüber der Gesellschaft ideologisch freier fühlen als diejenigen, diesich einbilden, keiner ideologischen Bindung zu folgen, gibt einProblem auf, das sich als Problem der Ideologie der Entideologisie-rung umschreiben läßt.Wir haben bereits die Tatsache aufgewiesen, daß sich die modernebürgerliche Freiheit nur als eine dialektisch vermittelte Form der

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Fesselung des Individuums an den verdinglichten Prozeß darstellt.Das Geheimnis dieser dialektischen Vermittlung ist die Aktivität inder Abhängigkeit, das Getriebensein. Obgleich ständig etwas »ab-läuft«, geschieht nichts qualitativ Neues. Das Handeln vollzieht sichin der Gestalt des bereits Feststehend-Vollziehbaren. Der tätigeMensch enthüllt sich als ein getaner.In der totalen Identität des scheinbar versubjektiviert freien Ich mitder objektiven Außenwelt ist für eine selbständige ideologische Stel-lungnahme kein Platz. Diese Tatsache spiegelt sich wiederum ideo-logisch darin, daß das Individuum vortäuscht, außerhalb aller ideo-logischen Reflexion zu agieren, ein »entideologisiertes« zu sein, wiedas moderne Schlagwort lautet. Die subjektiven Entscheidungen er-scheinen als rein nach persönlichen Maßstäben vollzogene, als »un-ideologische«. Im Scheine der vollendeten Entideologisierung ist dieIdeologisierung vollendet geglückt. Das Resultat ist die allesbeherr-schende Ideologie der Entideologisierung. Die ideologische Maske-rade gibt sich nicht mehr wie einstmals phantastisch bis theoretischund philosophisch, nicht mehr als nationale, politische, religiöse,ästhetische oder soziale »Wahrheit«. Sie gibt sich nüchtern und pro-fan, sie tritt gegen alle Verklärungen, Wertungen und Idealisierun-gen wie insbesondere gegen alle Ideale mißtrauisch auf, kurz sie willder Wahrheit ohne alle ideologische Voreingenommenheit ins Augeblicken. Als Wahrheit wird ausschließlich die »empirische« der be-stehenden Realität ausgegeben. Alle theoretischen Systeme, die dieGrenzen des aufs empirisch Unmittelbarste bezogenen, also am ex-tremsten ideologisierten Tatsachenfetischismus überschreiten, wer-den auf den großen Haufen der - a priori als unwahr definierten -Ideologien geworfen, die nunmehr »Gott sei Dank« auszusterbenbeginnen, um dem angeblich bereits weit fortgeschrittenen Prozeßder Entideologisierung Platz zu machen. Das glückliche Nirwanades klaren, nüchternen und unbestechlichen Geistes nicht nur in derWissenschaft, sondern auch im Alltagsmenschen hat begonnen unddie humanistisch-kritischen Systeme als lebensfremde Ideologienüberführt. Dies vermeint die Ideologie der Entideologisierung.Es ist klar, daß für einen so gearteten ideologischen Identifikations-prozeß sich jegliche ausgeprägte Weltanschauung oder Theorie ge-radezu als ein Hindernis erweisen muß. Allzu komplizierte ideolo-gische Vermittlungen würden die Haltung der Identifikation vor dieAufgabe der dauernden Begründung und Rechtfertigung stellen unddeshalb stören. Die totale und aus dem realen Prozeß selbst spontanerfließende Identifikation des Individuums mit diesem Prozeß be-darf keiner Vermittlung seitens einer religiösen, politischen odertheoretischen Ideologie. Zu dieser in dieser Schrift bereits analysier-

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ten spontanen Identifikation, die aus der Verdinglichung erfließt,kommen die scheinbaren »Vorteile" in materieller, sozialer undideeller Beziehung (z.B. ins Haus getragene Unterhaltung) hinzu.Die teilweise realen (z.B. Sozialversicherung), überwiegend aberheuchlerisch-repressiven Fortschritte (z.B. Bildung und Erotik)werden gleicherweise zu Fesseln des Durchschauens der Wirklich-keit.Als nicht oder postideologisch erscheinen solche Haltungen wie re-ale Nüchternheit, sensualistische Reflektibilität und ideologischeNüchternheit. Aber gerade sie sind wiederum ideologische Sublima-te, denn Nüchternheit, reflektive Spiegelhaltung (naturalistischeOberflächenreflexion), Kritikschwäche und kultureller Pauperis-mus sind ihrerseits ideologische Produkte eines verdinglichten undspätkapitalistisch-konsumtechnischen Prozesses. Als ideologischeProdukte stellen sie genaugenommen so etwas wie eine Weltan-schauung dar, wenn auch eine höchst oberflächliche und primitive.So erweist sich die These von der Entideologisierung als die ideolo-gischste aller Ideologien. In seinem Buch »Die Antiquiertheit desMenschen« beschreibt Günter Anders diesen Tatbestand folgen-dermaßen: 39

»Unsere Welt ist >post-ideologisch, das heißt ideologisch unbedürftig. -Womit gesagt ist, daß es sich erübrigt, nachträglich falsche, von der Welt ab-weichende, Welt-Ansichten, also Ideologien, zu arrangieren, da das Gesche-hen der Welt selbst sich eben bereits als arrangiertes Schauspiel abspielt. Wosich die Lüge wahrlügt, ist ausdrückliche Lüge überflüssig. «

10. »Zweite Natur« und technologische Ideologie

Die verdinglichte Ideologie macht in bestimmten Fällen auch vorprinzipiell kritischen Geistern nicht halt. Auch da, wo »Philoso-phie« als dialektisches Totalitätsdenken anerkannt ist, kann sie frag-lich werden, wenn sie in zwar kritischer, aber gleichzeitig gehemm-ter Vermittlung zum verdinglichten Prozeß der hochbürgerlichenGesellschaft in ihrer Kritik nicht bis zu Ende geht. Hier wird das dia-lektische Totalitätsdenken, wenn auch durchaus nicht ohne Ver-mittlung zur verdinglichten Realität, überspannt bis zur totalenMachtlosigkeit alles Subjektiven gegenüber dem Objektiven, ge-

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genüber der »zweiten Natur«. Das gelegentliche Offenlassen gewis-ser Ventile zum Utopischen hin (z.B. Marcuse) ändert daran nurwenig, denn in der theoretischen wie praktischen Konsequenz ver-dichtet sich hier die Perspektive der »zweiten Natur« zu einer Artnihilistischer Weltanschauung. Es entsteht eine quasi-naturphiloso-phische Überspannung des Totalitätsdenkens: prinzipiell richtigeEinsicht in die herrschende Verdinglichung wird zur geschichtsphi-losophischen Manie, in die nunmehr weit über den gegenwärtigenVerdinglichungszustand hinaus auch die Vergangenheit und die Zu-kunft, kurz alle Geschichte, hineingezogen wird. Etwa wennAdorno sagt:40

»Aber gegen diese Problematik des Fortschritts, also daß der Fortschrittnicht gleichsinnig, einsträhnig, verläuft, sondern daß es Regressionen größ-ten Maßstabs gibt und ebenso, durch Korrespondenzen, die Wiederkehr desVergangenen, dagegen ist das Gegengift des Zeitlosen (der Vernunft, L.K.)nicht gewachsen.

Diese Aussage verweist auf geschichtsphilosophische Reminiszen-zen, die sich im Schrifttum Adornos zu bestimmenden verdichten,besonders in der bekannten und für den »kritischen« Nihilismus derFrankfurter Schule bezeichnenden Formulierung von der »Progres-sion der Regression«.Seit Jahrtausenden bot sich der gesellschaftliche Prozeß wegen sei-nes unkomplizierten ökonomischen Charakters und der damit zu-sammenhängenden Durchschaubarkeit der gesellschaftlichen Tota-lität unverdeckt dar. Andererseits provozierte er wegen seines anta-gonistischen Charakters ideologische Reflexe, die zugleich das an-schauliche Durchdringen der gesellschaftlichen Wesenheit verhin-derten. Einerseits traten die sozialen Austauschverhältnisse als Aus-druck der einfachen Arbeitsverhältnisse klar zutage, hatte die Ver-dinglichung noch keine Gewalt über das Bewußtsein. Anderseitsverschleiert die Sozietät, gleichsam beschämt über das unmenschli-che Fundament ihrer Existenz, das Herrschafts- und Ausbeutungs-verhältnis, indem sie an die Stelle der mißbrauchten und mißbrau-chenden Klasse den von Natur und subjektiver Vorherbestimmtheitgeprägten Stand setzt: Die Klasse erscheint bis zur FranzösischenRevolution nirgends als Begriff: Marat ist der erste, der ihr eine be-griffliche Gestalt verleiht und sie ins Bewußtsein hebt. War Zeus einBegriff, so die Klasse keiner. Die Konkretion des Abstrakten warideologisch ebenso geglückt wie die Abstraktion vom Konkreten.Im Gefolge von Marat waren es die frühen Utopisten des 19. Jahr-hunderts und erstaunlicherweise liberale bis konservative Historikerin Frankreich, die den Begriff der Klasse in die Geschichtsschrei-

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bung einführten. Als die wichtigsten sind solche Namen wie Thiers,Thierry, Mignet, Guizot, Michelet anzuführen.Zudem bestand die Abstraktheit des ideologischen Bewußtseinsfrüherer Epochen in der Reflexion des historischen Geschehens alseines Neben- und Durcheinanders von Zufälligkeiten wie auch inder Vorstellung des vorrangigen Einflusses der mehr oder wenigermachtvollen Persönlichkeit. Wo sich ihr die Ahnung eines subjekti-ven »Schicksals« entgegensetzte, konnte es gleichfalls nur abstraktbegriffen werden, mythologisch wie in der Antike oder mit Hilfe derauf nichtmenschliche Kräfte zurückgreifenden Astrologie wie in derRenaissance. Ungeachtet gewisser unausgereifter Vorstadien im cal-vinistischen Prädestinations-Mythus, in der konservativen Theolo-gie Giambattista Vicos (den Marx sehr schätzte) und in der Gesell-schaftsphilosophie des 18. Jahrhunderts - zu allen drei Punkten vgl.meine »Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft« 41 - wirkte diesubjektivistische Vorstellungsweise bis in das 19. Jahrhundert hin-ein. Erst von da ab wird zunehmend bewußt, daß objektive »Ge-setzmäßigkeiten« die Geschichte leiten. Es entsteht das Bild einerobjektiven, wenn auch widerspruchsvollen Vernünftigkeit des hi-storischen Geschehens (Comte, Spencer, Hegel, Marx), welche Per-spektive zunächst den zugleich genialsten und extremsten Ausdruckfand.Hegel wurde die Dialektik, die er der geschichtlichen Beobachtungentnahm, aber ins Weltgeistige der Zusammenschau von Natur- undMenschenwelt transportierte, die Dialektik von subjektiver Tätig-keit und objektivem Prozeß, der Totalität, präsent. Die Position desWeltgeistes hinderte ihn daran, zum wirklich Konkreten vorzudrin-gen. Man erinnere sich nur an ein so unmittelbar praktisches Pro-blem wie »Herrschaft und Knechtschaft« aus der »Phänomeno-logie«, wo er dem entsprechenden Abschnitt unter Bezugnahme aufden vorangehenden rein philosophischen den abstrakten Titel »Selb-ständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins« gibt 42Erst nach Hegels Tode haben Marx und Engels das ganze Instru-mentarium des ökonomischen und gesellschaftlichen Geschehensdes aufsteigenden Kapitalismus vor Augen, was ihnen möglichmacht, die Dialektik von Subjektivem und Objektivem, Tätigkeitund Prozeß, Denken und Sein am ausgereiften konkreten Materialzu studieren. War für Hegel das Geheimnis der Wirklichkeit die To-talität der Vernunft, so für Marx und Engels das Geheimnis der Ver-nunft die Totalität der Wirklichkeit. Nicht ohne daß solche Hegel-sche Bestimmungen wie Negation der Negation, der Identität desSichwidersprechenden, des Begriffs als des Wesens, des Ganzen alsder Wahrheit, der Erscheinung als der Täuschung und gleichzeitig

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des in der Vermittlung zum Prozeß erscheinenden Wesens aus-drücklich oder unausdrücklich in die marxistische Denkweise Ein-gang gefunden hätten.In unserer Zeit gibt es für die dialektische Theorie entweder nur einWeiterschreiten auf dieser Ebene oder einen Rückschritt hinter diebereits erreichte Höhe gesellschaftstheoretischen Denkens. ZweiFormen dieses Rückschritts sind heute schon festzustellen: den inden mechanischen Materialismus des 18. Jahrhunderts, wenn auchmit den Begrenzungen, die einen totalen Rückfall hinter Marx nichtmehr erlauben; und den in den Hegelschen Idealismus, wenn auchmit den gleichen Begrenzungen. Nur mit einigen Erscheinungen desletzteren werden wir uns im folgenden beschäftigen.Diese neben der hegelschen und der marxistischen dritte Stufe derdialektischen Gesellschaftsphilosophie fällt in die Epoche der bür-gerlichen Dekadenz. Als die auffälligsten Vertreter sind zu nennenTheodor Adorno in vollkommener Gleichgesinnung mit MaxHorkheimer, der mit beiden gleichfalls seit Jugend befreundete,aber in manchen Tendenzen von ihnen abweichende Herbert Mar-cuse, schließlich Günther Anders, der eine eigene Position bezieht.Mit letzterem werden wir uns hier, da er weniger typisch ist (wir ha-ben uns anderweitig mit ihm bereits auseinandergesetzt), nicht be-schäftigen. Ihre Eigenart besteht in der, durch marxistische Remi-niszenzen allerdings behinderten, Rückkehr zu einem System vonverallgemeinernden quasi-philosophischen Bestimmungen der ge-sellschaftlich relevanten Phänomene und Begriffe. Als quasi-philo-sophisch ist diese Haltung deshalb zu charakterisieren, weil sie die inder hochbürgerlichen Gesellschaft extrem in Erscheinung tretendenTendenzen der Verdinglichung und Fetischisierung in quasi-philo-sophischer Manier zum allgemeinen negativen Schicksal von unent-rinnbarer Gewalt mythologisiert und sich um die Vielzahl der Ein-zelerscheinungen entweder gar nicht oder von Fall zu Fall nur soweit kümmert, als sie ihre nihilistischen Thesen zu bestätigen schei-nen. Die philosophische Manier der Analysen nimmt hier den Cha-rakter eines Quasi-Weltgeistes an, deutlicher als bei Marcuse (aufdessen nihilistische Technologie-Ideologie wir bald ausführlich zu-rückkommen), verfolgbar an Adornos These des »Immerglei-chen«, 43 wodurch die Identität von Aufklärung und nihilistischemMythus in der folgenden Weise konstruiert wird. Ist alles Fort-schreiten der rationalen Naturbeherrschung als »Aufklärung« zuwerten, so schlägt sie stets in Herrschaft des Menschen über denMenschen um; dieser negativ zu wertende Zusammenhang sei so altwie der Mensch selbst und bildet ein unausweichliches Schicksalauch in aller Zukunft. Dazu bemerkt Tomberg: 44

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»Der Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts ist die unaufhaltsame Regres-sion. - Die Idee des Fortschritts bleibt, nur daß sie negativ gefaßt wird: alsRegression, die als stetige Investierung des Immergleichen gedacht ist.«

Adornos Weltgeist-Ideologie, die sich ungeachtet seiner oftmalsproklamierten Systemfeindschaft 45 zu einem System verfestigt, stellteine Art Umkehrung der Hegelschen Weltgeist-Philosophie dar. Istfür Hegel der Weltgeist identisch mit der Vernunft, so für Adornomit der Unvernunft. Das Ergebnis ist eine quasi-naturphilosophi-sche Theorie. Gewiß hat sich seit Marx die Verdinglichung erheblichverschärft, sie ist total geworden. Der Fehler der Frankfurter Schuleliegt im Steckenbleiben in der die Verdinglichung unvermittelt wi-derspiegelnden abstrakten Verallgemeinerung von quasi-naturphi-losophischer Relevanz. Diese Abstraktheit bewirkt, daß die einzel-nen Phänomene, die ungeachtet der Gewalt, die ihnen Verdingli-chung antut, eine weitgehende Differenziertheit aufweisen, nur we-nig Beachtung finden, zu wenig einbezogen werden in das System,in dem Aufklärung und Herrschaft identifiziert werden-durch wel-che Einbeziehung dieses System in Frage gestellt wäre. Die Ver-mittlung dieser Phänomene zum Ganzen findet keine dialektischeEntsprechung in der Vermittlung des Ganzen zu ihnen. Im dialekti-schen Spannungsfeld zwischen Verdinglichung und der trotz ihrerlebendigen Innerlichkeit des gesellschaftlichen Lebens sind solchePhänomene wie Proletariat, Bürgertum, Parteiwesen, Bürokratie,Managertum und viele andere Erscheinungen bis hin zu den kri-tisch-oppositionellen Kräften auf ihre konkrete Wirksamkeit inkonkreten historischen Situationen - z.B. Unterschied zwischenFrankreich und Deutschland-nicht ohne weiteres der »zweiten Na-tur« zu opfern; sie sind nicht bloß als gleichartige Tropfen in einemeinheitlichen Fluß mitzudenken, sondern differenziert zu vermit-teln. Die Vermittlung der »zweiten Natur« zu sich selbst ist keine.Erst das Aufsuchen der vielen Qualitäten und ihre Vermittlung zumFetischistisch-Ganzen macht sie zur eigentlichen.Nehmen wir das Proletariat. Nicht es selbst ist - in Deutschland -verbürgerlicht, sondern seine Organisationen. (Vgl. dazu u. a. meineSchriften »Der proletarische Bürger« und »Der asketische Eros« 46 ).

Läßt sich bei genauer Kenntnisnahme der Texte selbst unterschiedli-cher Herkunft der Beweis führen, daß das moderne Proletariat auchin seiner verdinglichten und integrierten Gestalt zwar an den bürger-lichen »Vorteilen« teilzuhaben versucht, aber durchaus nicht derVerbürgerlichung zum Opfer gefallen ist, so geht dies nicht in denKopf der bürgerlichen wie Frankfurter Theoretiker. Der letzteren»nonkonformistisch maskierter Konformismus«, wie Georg Lukäcs

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sagt,47 wird damit offenbar. Auch die »zweite Natur« hat nicht dieKraft, Geschichte gegenstandslos zu machen. Dies zu präponieren,ist Eschatologie mit umgekehrten Vorzeichen: Der Endzustandwird nicht in die Zukunft, sondern in die Gegenwart verlegt. Die ge-schichtsphilosophische These von der »immergleichen« Wiederkehrder Identität von Fortschritt und Regression, Naturbeherrschungund Unterdrückung, Aufklärung und repressivem Mythus weistnach dieser Richtung.Es geht nicht darum, mit »Sturheit«, wie Adorno formuliert, zu be-haupten, seit Marx habe sich nichts geändert. Aber Klassengesell-schaft ist geblieben. Die Möglichkeit, daß diese Gesellschaft »imErnstfall mit überwältigender Chance sich zu behaupten« in derLage ist, wie Adorno sagt,48 hat sich auch in der Vergangenheitdurch ganze Epochen bewährt. Geschichte ist trotzdem weiterge-gangen. Meint Adorno zudem, daß das Proletariat, an das sich Marxwandte, keineswegs »zusehends verelendete« 49,so rekurriert er aufdie im bürgerlichen Bewußtsein als Vorwurf gegen Marx gängige»absolute Verelendungstheorie«, um für unsere Zeit aus der Falsch-heit dieser Theorie deduzieren zu dürfen, daß heute das Proletariatintegriert und deshalb entschärft sei. Abgesehen davon, daß sich ausdem Schrifttum von Marx nur eine relative Theorie der Verelendungablesen läßt - schon im Kommunistischen Manifest sagt Marx aus-drücklich, daß sich die Arbeiter zwecks Verbesserung ihrer Lage or-ganisieren, und er führt als Beweis die Zehnstundenbill an; auch sol-che Hinweise wie die auf die »goldene Kette« des Arbeiters in derGestalt von Spareinlagen usw. sprechen eine andere Sprache-, stehtfest, daß auch das heutige Proletariat sich ein tiefgreifendes Bewußt-sein von seiner inferioren sozialen Lage und von den scharfen Unter-schieden zwischen den Klassen erhalten hat. Der ganz in der Manierder quasi-naturphilosophischen Gleichschaltung aufgefaßte Begriffder Integration verschmiert die sozialen Gegensätze zum Unifor-men und sieht daher die Möglichkeit nicht mehr, daß eine kraftvolleund von »Volkstribunen« (Lukacs) geleitete Organisation an diespontanen Bewußtseinselemente des Proletariats anknüpfen und eszur Artikulation eines vollen Klassenbewußtseins führen könnte.Geht es doch auch nicht allein um das Einkommen; die Dialektikvon Konsum und Askese, armseligem »Wohlstand« und dauerndemVerzicht, Freiheit und Entfremdung, allgemeiner Kulturakkumula-tion und proletarischer Kulturlosigkeit (z.B. 90 Prozent aller Arbei-ter waren noch niemals im Theater) gehört ebenso zu dieser Artiku-lation. Wir wissen sehr Genaues über das Mißbehagen, die dumpfeAversion gegen »die da oben« und über die unbestimmten Sehn-süchte der Arbeiter, die ins Utopische weisen, um nicht verwundert

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zu sein über die unentwegte Treue, die die große Mehrheit des Prole-tariats den sozialistischen Parteien und den Gewerkschaften zu hal-ten pflegt. Das nennen wir Klassenbewußtsein, wenn auch in einernicht traditionellen, aber den modernen Problemen angemessenenVersion. F. Weltz stellt in einer gewissenhaften Untersuchung fest,daß dem Arbeiter das proletarische Schicksal als eine unbeeinfluß-bare Kraft erscheint. 50 Als die einzige Möglichkeit, eine sehr be-scheidene Verbesserung zu erwirken, wird von den Arbeitern kri-tisch die totale Unterwerfung ausgegeben. 51Auf dieser Grundlage soziologischer Erkenntnis, die hier nur ange-deutet werden konnte, könnte gesellschaftliche Veränderung auflange historische Sicht durchaus ins Auge gefaßt werden, wennhierzu geeignete organisatorische und aufklärerische Kräfte - die esübrigens überall bereits gibt - sich der Anstrengung des Begriffs,d.h. der ideologischen Durchbrechung der verdinglichten »zweitenNatur« unterziehen würden. Adornos Votum: »Die Realität produ-ziert den Schein, sie entwickelt sich nach oben, und bleibt au fond,was sie war«, 52 würde dann der Nichtigkeit anheimfallen.Obgleich Herbert Marcuse sich später von der Frankfurter Schule,aus der er kommt, distanziert hat und seinen eigenen Weg gegangenist, bleibt er mit einer Tendenz an ihr hängen, mit seiner Theorie der»technologischen Rationalität«.53 Diese Theorie bewegt sich zwi-schen drei Polen: l . Er präjudiziert einen anfänglichen und bereits inder Antike gesetzten existentiellen »Entwurf« 54 logisch-wissen-schaftlicher Rationalität, die durch die historischen Epochen hin-durch und sie übergreifend Herrschaft impliziert. 2. Er verbindetmit dieser Theorie die Vorstellung eines sich stets aus sich selbst er-neuernden technologischen Progresses, der in der Fassung, die ihmMarcuse gibt, als »schlechte Unendlichkeit« zu interpretieren ist.3. Er vernachlässigt-teilweise in kritischer Auseinandersetzung mitMarx-den alle Geschichte auszeichnenden Dreiklang von Entwick-lung der Produktivkräfte, der gesellschaftlichen Entwicklung derProduktionsverhältnisse und des geistigen Oberbaus, wodurch erdahin gedrängt wird zu übersehen, daß die seit dem 17./18. Jahr-hundert eine neue Entwicklung der Produktivkräfte ermöglichendeNaturwissenschaft ihrerseits in einer bereits erreichten Höhe derProduktivkräfte wie der allgemeinen Produktionsverhältnisse wur-zelt: in jenen, indem sie eine neue Form rationellen Denkens hervor-riefen, in diesen, indem sie durch neue Bedürfnisse der Akkumula-tion von Kapital gefördert wurde. Der entscheidende Durchbruchzur wissenschaftlichen Rationalität in technologischer Absicht ver-dankt sich somit nicht einem althergebrachten anfänglichen »Ent-wurf«, sondern einer qualitativ veränderten historischen Situation.

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Zunächst folgt Marcuse hinsichtlich des Verhältnisses von Naturund gesellschaftlicher Entwicklung Marx: »... das metaphysischeSein als solches (d. h. die außerhalb des Menschen existierende Na-tur, L.K.) weicht einem Instrumenten-Sein«. 55 Aber aus der Tatsa-che, daß aus der fortgesetzten teleologischen Setzung im menschli-chen Handeln die Individuen sich stets nur Ziele setzen, die bereitsbestehenden Bedingungen entsprechen, somit nicht außerhalb allerKausalität stehen, macht Marcuse eine Theorie des »Entwurfs«. Er

sagt:55

»Die Wissenschaft von der Natur entwickelt sich unter dem technologischenApriori, das die Natur als potentielles Mittel, als Stoff für Kontrolle und Or-ganisation entwirft.«

Marcuse fühlt wohl, daß an seiner Theorie etwas nicht stimmt undgibt zu, daß er sich »hier nicht mit dem historischen Verhältnis vonwissenschaftlicher und gesellschaftlicher Rationalität zu Beginn derNeuzeit« beschäftigt.57 Daher müssen wir selbst einen Blick auf dieEntwicklung der modernen Welt, soweit sie unser Problem betrifft,werfen.Die Denkergebnisse der antiken Welt, wie sie Marcuse beschreibt, 58wurden mit dem Untergang der Antike so gut wie vergessen odertheologisch entrationalisiert. Die neue europäische Kultur wächstgleichsam aus dem Nichts empor. Die antiken Städte hatten sich zufeudalen Gebilden zurückentwickelt, 59 und erst allmählich entwik-keln sie sich auf der Grundlage der sich durchsetzenden Arbeitstei-lung zwischen agrarischer und handwerklicher Produktion wiederzu echten Städten. Ihr und keinem »Entwurf« verdankt sich die neueinsetzende Rationalisierung des Lebens. Im Übergang zu Verlagund Hausindustrie und schließlich zur Manufaktur verstärkt sichdieser Prozeß. Mit dieser Entwicklung eng verquickt rationalisiertsich das Denken in der Zeit zwischen dem 13. und 16. Jahrhundertals Folge der Ausbreitung der individualistischen Marktordnung,die durch Handel und Großhandel ermöglicht wird. Erst diese indi-vidualistisch-rationalistische gesellschaftliche Situation drängte da-hin, das naturwissenschaftliche und technische Denken anzuregenund zur Entfaltung zu bringen. Der »szientifische Zwang« war nichtdie Ursache, sondern die Folge entwickelter gesellschaftlicher Zu-stände.Sofern also die Entwicklung naturwissenschaftlichen Denkens ge-sellschaftlich bedingt gewesen ist, muß es den Ideologien zugerech-net werden. Gerade dies bestreitet Marcuse, 60 was sich aus seinerThese, daß rationale Vernunft als »Entwurf« aller künftigen Ge-schichte vorausgegangen ist, ergibt. Vielfach wird auch von anderer

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Seite die Naturwissenschaft von aller ideologischen Bindung freige-sprochen, was sich daraus erklärt, daß diese Wissenschaft eine an-dere ideologische Rolle übernimmt als die Geisteswissenschaft. Be-vor wir auf diesen Unterschied eingehen, sind die näheren Ursachenfür das Entstehen der modernen Naturwissenschaft kurz zu be-schreiben. Es sind dies hauptsächlich die folgenden: Rationalisie-rung des individuellen Bewußtseins durch die Warenwirtschaft derStadt, zunehmende Rationalisierung der handwerklichen Arbeit,Befreiung des städtischen Menschen von der irrationalistischen Un-terworfenheit unter die äußeren ländlichen Naturbedingungen beigleichzeitiger Steigerung des Interesses an der Erkenntnis der Naturinfolge der städtischen Distanzierung von ihr, Erleichterung der Na-turerkenntnis durch die Fortschritte der neuen Arbeitsmethoden(z.B. Wasserrad, das bereits Leonardo studierte), Interesse an dernaturwissenschaftlichen Erkenntnis im Dienste der Produktion undihrer Technik, was wiederum praktisch erst bedeutsam wurde, alsdie handwerklichen und manufakturellen Produktionsformen sichals nicht mehr zureichend erwiesen und die Entwicklung neuer Pro-duktivkräfte nicht mehr zu umgehen war.Die Naturwissenschaft ist somit das Produkt der bürgerlichen Ent-wicklung und deshalb Ideologie. Jedoch eine Ideologie, die nur alsmit den Interessen der feudalen Klassen unverträglich erschien, je-doch innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft selbst gleichermaßenden Interessen sowohl der bürgerlichen wie der proletarischen Klas-sen entgegenkam. Dadurch schied sie, seitdem sie die Anfechtungendes Feudalismus hinter sich gelassen hatte, aus dem ideologischenInteressenkampf der Klassen der bürgerlichen Gesellschaft aus,wenn man von den philosophischen Schlußfolgerungen, für die dieNaturwissenschaft selbst nicht direkt verantwortlich zu machen ist(philosophischer, geschichtsphilosophischer und politischer Mate-rialismus), absieht. Das gleiche kann von der Gesellschaftswissen-schaft, die eine unmittelbare Rolle im Kampfe der Klassen in der ent-falteten bürgerlichen Gesellschaft spielt, nicht gesagt werden. Dazukommt, daß die Naturwissenschaft infolge des allgemeinen Interes-ses aller Klassen der bürgerlichen Gesellschaft an ihr davor bewahrtwurde, einem ideologischen Richtungskampf zum Opfer zu fallen;sie wurde im Gegensatz zur Gesellschaftswissenschaft davor be-wahrt, in den Verdacht des falschen Bewußtseins zu geraten. Ist dieNaturwissenschaft also ideologischen, weil gesellschaftsbestimmten(historischen) Ursprungs, so erscheint sie wegen ihrer ideologischenNeutralität im Kampfe der Klassen untereinander als außerideolo-gisch. Dafür gibt es aber noch einen weiteren Grund.Die Schwierigkeit der Bewältigung des Gegensatzes von Sein und

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Denken ist in der Gesellschaftslehre nicht so geartet, daß sie von An-fang an wie die Naturwissenschaft in der Sache liegt, denn dieser Ge-gensatz ist kein faktischer, sondern ein ideologischer. Da das gesell-schaftliche Sein stets Subjekt und Objekt, Umstand und Tätigkeit,Wirklichkeit und Denken zugleich ist (s.o.), konstituiert sich eingrundlegender Gegensatz zur Naturwissenschaft, wo sich Kosmos(»Sein«).und Betrachtung naturgemäß ausschließen. Gesellschaftli-che Erkenntnis ist prinzipiell Selbsterkenntnis. Für die Naturwis-senschaft ist die sachliche Schwierigkeit mit der Beseitigung eventu-eller ideologischer Hemmnisse durchaus noch nicht überwunden.Im Gegenteil beginnen sie erst da, denn Erkenntnis des außer-menschlichen kosmologischen Seins besagt, daß sie nicht wie in derGesellschaftstheorie Selbsterkenntnis des Objekts ist, sondernFremderkenntnis. In der Gesellschaftswissenschaft ist Erkenntnismit der Selbsterkenntnis der in Frage stehenden Gesellschaft gera-dezu identisch. In der Naturwissenschaft ist eine solche Identität apriori ausgeschlossen. Das schließt aber nicht aus, daß ihre Entste-hung und gewisse Stadien ihrer Entwicklung gesellschaftlich be-dingt, somit als ideologisch gebunden zu interpretieren sind.Jede historisch-gesellschaftlich bestimmte Entwicklungsphase ra-tionalwissenschaftlichen Denkens baut sich auf den Ergebnissenvorangehender Phasen auf, bildet ihren logisch rationalen Fortgang.Da in möglicher Verzweigung dieses Vorgangs nicht a priori fest-liegt, nach welcher genauen Richtung er sich im einzelnen bewegenwird, entscheidet darüber (wie auch über seinen Stillstand und übersein Tempo) das gesellschaftliche, teleologische Bedürfnis. A poste-riori entsteht jedoch der Schein einer totalen logischen Autonomiesowohl des Denkinhalts wie der Denkrichtung, die sich verstärkt,wenn der gesamte Entwicklungsgang dieses Denkens rein »geistes-geschichtlich« rekonstruiert wird.Bei Adorno und Marcuse kehrt Hegels Weltgeist-Philosophie mitumgekehrten Vorzeichen wieder. Ist für Hegel der Weltgeist iden-tisch mit der Vernunft, so für Adorno und Marcuse mit der Unver-nunft. Das Ergebnis ist eine quasi-naturphilosophische Theorie beibeiden: die »zweite Natur« folgt ihren eigenen Gesetzen. Zwar kannjeder gesellschaftliche Prozeß, insbesondere der moderne, zunächstso betrachtet werden, als ob wir es mit einer naturgesetzlichen Er-scheinung zu tun hätten, was eben die Möglichkeit von Gesell-schaftswissenschaft überhaupt ausmacht. Gewiß hat sich seit Marxdie Verdinglichung noch weiter verschärft. Der Fehler der Frankfur-ter Schule liegt nicht in der Beschäftigung mit diesem Phänomen, erliegt vielmehr im Steckenbleiben in der die Verdinglichung unver-mittelt widerspiegelnden abstrakten Verallgemeinerung zu einer

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quasi-naturphilosophischen Perspektive. Diese Abstraktheit be-wirkt, daß die einzelnen Phänomene, die ungeachtet der Gewalt, dieihnen Verdinglichung antut, eine konkrete Differenziertheit aufwei-sen, zu wenig Beachtung finden und ihre Vermittlung zum Ganzenkeine zureichende dialektische Entsprechung aufweist in der Ver-mittlung des Ganzen zu ihnen. Nur Unzureichendes ist über dieVielfalt der Erscheinungen ausgesagt, wenn man sie der »techno-logisch« interpretierten »zweiten Natur« schematisch unterwirftund damit in ihrem Wesen vergewaltigt. Die abstrakte Vermittlungder »zweiten Natur« zu sich selbst widerspricht aller sozialtheoreti-schen Dialektik, wie der Dialektik überhaupt.Im letzten Sinne erweist sich die Auflösbarkeit der Ideologie der un-ausweichlich-schicksalhaft wirkenden »zweiten Natur« an anthro-pologische Überlegungen gebunden. In welcher Weise sich das Pro-blem der modernen kapitalistischen Technik, der der Schein geradli-niger und aus ihren eigenen Eingeweiden erfließender Progressionim Gewande einer »zweiten Natur« anhaftet, mittels des Rückgriffsauf anthropologische Voraussetzungen erhellen läßt, zeigt die Ein-beziehung des Begriffs des Telos. Menschliche Tätigkeit, hier alsformale Voraussetzung menschlicher Existenz überhaupt begrif-fen,61 ist nicht zu trennen von der Erscheinung des Teleologischen,des auf Ziele gerichteten Tuns. Die Ziele entstehen aus dem Drangnach Verwirklichung sich wiederholender oder sich verändernderBedürfnisse, woraus der unendliche Progreß menschlicher Tätig-keit sich erklärt. Allerdings muß dieser Begriff des unendlichen Pro-gresses hier verstanden werden als im dauernden Kontakt und inVermittlung zu den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen einerjeden historischen Epoche stehend. Auf der Höhe der zum äußer-sten differenzierten Arbeitsteilung der bürgerlichen Gesellschaftentsteht eine mit maschineller Ausrüstung versehene Form der Ar-beit, in der sich das Prinzip des Teleologischen gegenüber den wirk-lichen Bedürfnissen der Arbeitenden verselbständigt und damit dieArbeit gegenüber den Arbeitenden. Es entsteht jene schlechte Formdes unendlichen Progresses, die sich ideologisch als »Herrschaft der

Technik« zum Ausdruck bringt und die faktischen Vermittlun-gen dieses Progresses zum selbst in einen schlechten Progreß gera-tenen und damit abstrakt gewordenen Profitinteresses ver-schleiert.Die Loslösung des teleologischen Prinzips und seine Umformungzum schlechten Progreß, der einerseits infolge seiner Nichtachtungder wahren Interessen der Arbeitenden eine Realität darstellt, ander-seits aber infolge des ihm anhaftenden Scheins »naturgesetzlicher«Notwendigkeit seiner Bewegungsrichtung bloß ideologischer We-

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senheit ist, überträgt eben diesen Schein auf die Technik. Da dertechnische Progreß sein Hinwegschreiten über die wahren Bedürf-nisse nicht offen zutage legt, sondern im Gegenteil den Schein derprogressiven Befriedigung der Bedürfnisse erzeugt, ist er ideolo-gisch.

11. Die ideologische Dialektik von Genuß und Askese

Das falsche Bewußtsein des automatischen technischen Progressesin der Gestalt der schicksalhaften »zweiten Natur« schafft gleichzei-tig eine der wichtigsten Voraussetzungen für die unkritische Selbst-integration des Individuums unter diese »Natur«. Zwei ideologischeEntwicklungstendenzen sind zunächst getrennt ins Auge zu fassen.Auf der einen Linie setzt sich durch der Prozeß des Umschlagens desextremen bürgerlichen Individualismus in eine ebenso extreme Ent-individualisierung und Vermassung. Auf der anderen Linie stoßenwir auf die Erscheinung der kraft bestehender Freiheit vollzogenenIntegration in den repressiven Prozeß als Folge der freiwilligen Iden-tifikation mit diesem Prozeß.Unter der Voraussetzung der zunehmenden fetischistischen Irratio-nalisierung des Prozesses, der Verfestigung des gesellschaftlichen»Naturcharakters«, der sowohl vom Alltagsbewußtsein wie auf derintellektuellen Reflexionsebene als undurchschaubar bedrohliches»Schicksal« erlebt wird, verschärft sich auch der Widerspruch vonIrrationalismus der Außenwelt und der Neigung zur rationalenOrdnung und Beherrschung des individuellen Lebens bis ins Ex-trem. Auch hier, im subjektiven Bereich des privaten Lebens, wer-den wie im geschäftlichen oder beruflichen Teilbereich die von au-ßen hineinwirkenden Gegebenheiten als irrationale und gleichsamnaturhafte Voraussetzungen hingenommen. Diese Voraussetzungenerscheinen in abgeleiteter Weise auch als solche des »öffentlichen«Lebens im Gegensatz zum privaten Leben, in dem allein wirklicheFreiheit zu herrschen scheint. Aber in der sich dem öffentlichen Le-ben ideologisch entgegensetzenden privaten Sphäre kann Ausnüt-zung der Freiheit nur bedeuten die möglichste Ausnutzung aller ra-tionellen Möglichkeiten des Lebensgenusses, der seit Gewährungdieser F[r]eiheit nicht mehr als das ausschließliche Monopol bestimm-ter Schichten erscheint, sondern als prinzipiell allen zugänglich. Ge-

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lingt dies, wie wir noch sehen werden, nur in einem sehr begrenztenMaße, nur nach dem Zuschnitt eines »asketischen Eros«, so wird dieBegrenzung ihrerseits wieder zum Anreiz, die Anstrengungen nachdieser Richtung zu steigern.Die sich daraus ergebende widerspruchsvolle Situation ist die fol-gende. Einerseits steht die im Vergleich zu früheren Epochen gestei-gerte Möglichkeit des Konsums im Dienste des Genusses. Ander-seits nimmt der Weg der Genußbefriedigung jene Richtung, die dieenterotisierte repressive Gesellschaft den Massen stets als Surrogatder Freiheit anbietet, nämlich den am leichtesten, weil reibungslose-sten zu akzeptierenden Weg des erotischen Ventils. Das infolge derallgemeinen repressiven Umsetzung von Befriedigung erotischerBedürfnisse (diese im weitesten Sinne begriffen) in Leistung entero-tisierte Individuum greift nach jedem, unter den repressiven Bedin-gungen nur Ersatzbefriedigung erlaubenden, Ventil. Ideologischspiegelt sich der verbreitete Gebrauch solcher Ventile als Ausflußgeltender bürgerlicher Freiheit. Zudem ist in der bürgerlichen, indi-vidualistischen Gesellschaft der private Lebensbereich vor dem Zu-griff äußerer Mächte gesicherter als in früheren Epochen. Eine Gret-chentragödie zum Beispiel ist kaum denkbar. Schon vor den Ha-beas-corpus-Akten bestimmte das Bedürfnis des aufsteigenden Bür-gers, sich vor dem Zugriff des alles beherrschenden feudalen Abso-lutismus zu schützen, seine Mentalität. Den radikalsten ideologi-schen Niederschlag fand dieses Bedürfnis im bürgerlichen Natur-recht von Althusius (sein Hauptwerk erschien 1610) bis Rousseau.Diese Tendenz wurde aber im Verlaufe der Entwicklung der indu-striellen Klassengesellschaft dahingehend verändert, daß die Hei-ligung des privaten Lebensraumes als eine Konzession des herr-schenden Bürgertums an die Massen begriffen wurde. Allerdingsund sinnvollerweise an jene Massen, die in gleicher, steigender Pro-gression zur passiven Akkommodation an die repressiv rationali-sierte Ordnung des Arbeitsplatzes gezwungen wurden, woran ge-werkschaftlicher Einfluß und Mitbestimmung nur sehr wenig än-derten. Je größer die im privaten Bereich gewährte Freiheit wurde,desto sicherer fühlten sich die herrschenden Mächte im öffentlichen,in jenem, in dem die Gefahr der Kritik und der Rebellion immer wie-der aufbrach. Im privaten Bereich erschöpften sich die aus dem so-zialen Unbehagen erfließenden Renitenzneigungen an privatenGegenständen und bildeten hier ein Ventil für die sozialen Renitenz-bedürfnisse. Vor allem ist es das erotische, weil begehrteste Ventil,das sozial bedingte Spannungen auf den privaten Lebensraum ab-lenkt und hier durch Inanspruchnahme des kraft individueller Frei-heit gängig gewordenen enttabuisierten Genusses paralysiert. In

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keiner Gesellschaft ist die den Charakter des Surrogats aufweisendeErotisierung des privaten Bewußtseins so weit gediehen wie in derspätbürgerlichen.Für das spätbürgerliche Bewußtsein ist die Enttabuisierung traditio-neller Vorstellungen und die Durchbrechung eingeübter morali-scher Bindungen zum Hauptmerkmal der Freiheit geworden. DerNeigung zur Enttabuisierung steht aber wegen der Begrenztheit derMittel die Neigung zur Rationalisierung entgegen. Im Kampfe die-ser beiden Tendenzen siegt ebenso oft der asketische Rationalismusüber den Hang zum erotischen Genuß wie dieser über jenen. Der ir-rationale Drang nach Benützung der durch die moderne bürgerlicheFreiheit für den Bereich des Privatlebens gängig gewordenen Ventilesteht in Widerspruch zu der als asketisch anzusprechenden und vonaußen, dem Berufs- und sonstigen öffentlichen Leben aufgezwun-genen rationellen Selbstbeschränkung. Gerade um in einer von derKonsumindustrie den Massen eingeimpften und dem Bedürfnis nachEnttabuisierung entgegenkommenden Weise konsumieren zu kön-nen, muß eine die Kräfte weitreichend rationalisierende Askese da-mit Hand in Hand gehen. Genuß auf Kosten künftigen Genussesund Verzicht zugunsten künftigen Genusses bedingen einander.Diese Dialektik des Konsums und des Genusses bildet einen Spezial-fall der Dialektik des falschen Bewußtseins, in dem Freiheit und Re-pression zugunsten der letzteren zur Aufhebung gelangen. Ist dergesteigerte Konsum in der hochbürgerlichen Gesellschaft nur einSpezialfall der Beschränkung auf jenes Maß des Konsums, das derunterdrückte Mensch nicht überschreiten darf, soll er dem dauern-den Anreiz zur Steigerung des »freiwilligen« Arbeitsvollzugs folgen,so ist das Bewußtsein der Teilnahme an diesem Konsum nur ein Spe-zialfall des herrschenden ideologischen Scheins, der totalen Freiheitteilhaftig zu sein.Die empirische Verifikation dieser Behauptung liegt zunächst in derempirischen Verifikation der Tatsache, daß trotz des herrschendenKonsumbewußtseins die Massen der Menschen armselig leben: inengen Wohnungen mit schmucklos normierten Möbeln, verratendnicht nur die Kulturlosigkeit der Ausstattung, sondern des Geistesinsgesamt, die sich nicht nur in den Bildern an den Wänden beschä-mend demonstriert. Der Fernsehapparat, der Kühlschrank und der(übrigens gar nicht so verbreitete, wie angenommen wird) Kleinwa-gen gehören, der erreichten zivilisatorischen Entwicklungsstufe ent-sprechend, bereits zu den gewöhnlichen Gebrauchsgegenständenund stehen daher in der Konsumstufe an letzter Stelle, wenn auch imBewußtsein der Konsumierenden an erster, worin sich gerade seineideologische und ihn irreführende Bindung äußert. Es geht in Wahr-

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heit um etwas anderes, als sich dieses Bewußtsein vormacht. Es gehtdarum, daß die bezeichneten materiellen Einrichtungen nur dannder Freiheit dienen, wenn sie die Voraussetzung für den Genuß in ei-nem wirklich befreienden Sinne bilden und nicht Selbstzweck blei-ben. Das heißt, wenn sie die Voraussetzung bilden für den Genußder Kultur- und der geistigen Güter, der ästhetischen Angebote ins-besondere, ohne die die erotischen Belange zu entwürdigendenSchemen werden, von den wirklichen sich unterscheidend wie derBesuch bei einer Prostituierten von einem bedeutenden erotischenErlebnis. Konsum um des Konsums willen wird zur Schranke stattzur Bedingung der Freiheit. Die widersprüchliche Dialektik des ka-pitalistischen Konsums besteht also darin, das Bewußtsein durchmäßige Steigerung zu manipulieren, das bedeutet, ihm Befreiungvom Zwang vorzutäuschen zu dem Zweck, dem Individuum immergrößere Opfer abzuringen und es um so gewisser an die Erforder-nisse des repressiven Prozesses zu fesseln.Auf die Dauer müßte dieser Widerspruch die repressiven Fesseln dergegenwärtigen Gesellschaft sprengen. Die aus der Repression erflie-ßenden Neigungen zur Renitenz müßten sich gegen diese Repres-sion selbst wenden. Diese Konsequenz wird aber (insbesondere inLändern, in denen kein politisches Betätigungsfeld für die Opposi-tion und die Kritik vorhanden ist, was vor allem für Deutschland zu-trifft) nicht gezogen. Im Gegenteil, der verbreiteten Demoralisationdes privaten Lebens entspricht ein nicht minder verbreitetes Spießer-tum im öffentlichen Leben - mit der gegengleichen Tendenz derängstlich-spießigen moralischen Tarnung des Privatlebens und dermoralischen Zersetzung des öffentlichen. Wir sprechen von Demo-ralisation, weil die durch die allgemeinen repressiven Zustände er-zwungene Umwandlung der erstrebten erotischen Freiheit inScheinerotik, und das heißt in eine zusätzliche Form der Repression,nicht befreiend, sondern zersetzend auf die einzelne Individualitätsich auswirkt. Die Frage, die hier entsteht, ist die, wie dieses auffal-lende Umschlagen von tabufeindlicher Inanspruchnahme der gel-tenden Freiheit in die freiwillige Unterwerfung unter die gesell-schaftlichen Tabus zu erklären ist.Die großen bürgerlichen Humanisten der Zeit vor der Französi-schen Revolution träumten davon, daß dereinst, wenn das Individu-um von den ständischen Bindungen befreit sein werde, es sich dieneuen Lebensbedingungen zunutze machen würde, um seine Per-sönlichkeit allseitig zu entfalten. Dieser Traum erfüllte sich nicht.Denn unter der Notwendigkeit, sich nach der Befreiung von derStändeordnung mehr als zuvor um seine materielle Sicherheit küm-mern zu müssen und im harten Kampf der »freien Konkurrenz« zu

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bestehen, geriet unvermittelt und entgegen der bürgerlich-humani-stischen Erwartung das materielle Interesse so sehr in den Mittel-punkt der individuellen Existenz, daß die emotionalen, kulturellenund geistigen Interessen dagegen weit zurückgedrängt wurden. Dietotale Vermaterialisierung des Bewußtseins wie der Individualitätstand am Ende der Entwicklung. Die Konsequenz war die Fesselungdes Individuums an das niedrigste kulturelle Niveau und seine Aus-prägung zur uniformen Schablone, die in der nachfolgenden ideolo-gischen Reflexion die Bezeichnung der »Vermassung« erhalten hat.Das Individuum erkaufte seine »Freiheit« durch Integration in denkapitalistischen Prozeß und durch Entindividualisierung seiner sub-jektiven Eigenschaften. Der wahre Grund der Vermassung ist einzu-sehen im Prozeß der extremen Entindividualisierung unter der Be-dingung der extremen Individualisierung des Lebens in der bürgerli-chen Gesellschaft. Das Umschlagen des extremen Individualismusin eine ebenso extreme Entindividualisierung oder Vermassung voll-zieht sich völlig organisch. Vermassung wurzelt somit nicht, wie dieideologische Tendenz der Rechtfertigung sie plausibel zu machenversucht, in der Massengesellschaft (welche Erklärung einem Pleo-nasmus gleichkommt), sondern in der Atomisierung des Lebens inder kapitalistischen Warengesellschaft.Vermaterialisierung und Entindividualisierung sind aber nicht dieeinzigen negativen ideologischen Ergebnisse der in ihrem Wesen wi-derspruchsvollen bürgerlichen Freiheit. Als solche Ergebnisse bil-den sie ihrerseits die Voraussetzung für eine weitere ideologischeEntwicklungslinie sozialpsychologischen Charakters, die darin be-steht, daß wiederum bürgerliche Freiheit in Integration umschlägt,jedoch diesmal aus einer anderen Wurzel des individuellen Verhal-tens heraus.Das Individuum der hochbürgerlichen Gesellschaft hat es gelernt,das private Leben kraft ihm zugestandener Freiheit nach eigenenGrundsätzen, die den auf repressiver Sublimierung beruhendenpsychischen Fesseln instinktiv widerstreben, gestalten zu wollen.Dies gleichzeitig nicht zu können, wird noch zu zeigen sein. Tradi-tionelle Tabus, die von den auf Verdrängung beruhenden psychi-schen Vorgängen bis zu sichtbaren des sozialen Geschehens reichen,werden vor allem da, wo sich ihnen der einzelne am leichtesten ent-ziehen kann, im privaten Lebensbereich, am ehesten verletzt. Zu-nächst steigert die Möglichkeit der Enttabuisierung, als Möglichkeitgegeben durch das Einverständnis »aller«, das Freiheitsgefühl ge-genüber den gesellschaftlichen Mächten und dem verdinglichten»Naturprozeß«, der als unentrinnbares objektives Schicksal er-scheint. Aber dieser Drang zur Verletzung von tief ins Psychische

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versenkten Tabus und moralischen Grundsätzen gelingt nicht rest-los, ja hinsichtlich der gesellschaftlich relevanten - z.B. hinsichtlichdes Pflichtgefühls - in einem äußerst eingeschränkten Maße. Dies'erklärt sich aus dem unaufgehobenen Widerspruch des zur totalenFreiheit drängenden Enttabuisierungsstrebens zu der faktisch unan-getastet bleibenden repressiven Ordnung, die die Unterwerfung desIndividuums und seine entsprechende moralische Anpassung vor-aussetzt. Seit Freud wissen wir, daß die Moral und die Tabus zu dendie repressive Ordnung schützenden und das Individuum unter-drückenden Einrichtungen der Psyche gehören. Keine Klassenge-sellschaft kann auf ihre Fortwirkung verzichten. Das durch die be-wußte Enttabuisierung zunächst gesteigerte Freiheitsbewußtseinverstärkt gleichzeitig das auf der Lockerung der Disziplin beruhendeGefühl, nicht richtig zu »funktionieren«, vor allem der Gefahr aus-gesetzt zu sein, gesellschaftlich als »guter Bürger«, wovon auch dasöffentliche Ansehen abhängt, zu versagen. Die extreme Versubjek-tivierung des individuellen Erlebnisbereichs bewirkt bei allem Ge-fühl der freien Verfügung über das eigene Ich eine gleichzeitige Stei-gerung des Gefühls isolierter Verantwortlichkeit, subjektiver Isola-tion. Die eben wegen der zunehmenden bewußtseinsmäßigen Isola-tion des einzelnen hilf- und widerstandslose Projektion der verding-lichten und entfremdeten Phänomene der Außenwelt auf das Seelen-leben mystifiziert, verwirrt und verunheimlicht dessen Erlebnis-welt, die als eine subjektiv-eigene empfunden wird, und beunruhigtdas Individuum insbesondere da, wo die unüberwundenen »schick-salhaften« Ordnungsfaktoren der äußeren repressiven Realität ihreunerbittlichen Anforderungen anmelden.Innerhalb der Ideologie der Tabuisierung der Enttabuisierung istletztere gleichzeitig weitgehend nur Schein. Da das Tabu der gesell-schaftlichen Verantwortung und Zuverlässigkeit gegenüber der re-pressiven Ordnung bestehen bleibt, kommt es zu einer rückläufigenTendenz, zu einer Behinderung der Inanspruchnahme der nur ideo-logisch verfestigten Enttabuisierungstendenz, die gleichsam auf hal-bem Wege stecken bleibt. Von der ideologischen, sich vielfach nur ineiner geistigen Teilnahme (Film, Zeitschriften usw.) äußernden Ent-tabuisierungstendenz bis zu deren praktischen Verwirklichung istein weiter und verworrener Weg. Wo anderseits die praktisch getä-tigte Enttabuisierung fortgeschritten ist, ruft sie psychische Reak-tionen hervor, die aus dem Gegensatz zur weiterbestehenden undanerkannten repressiven Ordnung, die an sich kein erotisch freiesIndividuum duldet, entstehen. Diese Reaktionen äußern sich wie-derum in einer zweifachen Weise: in der eigensinnigen Fortsetzungdes einmal beschrittenen Weges bis hin zu antisozialen Renitenzak-

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tionen oder in Schuldgefühlen, die zur Abtragung und Wiedergut-machung drängen. Soll proklamierte und vom Individuum stolz be-anspruchte Freiheit diesem etwas gestatten, so in der repressivenOrdnung nur unter der Bedingung, daß diese die Rechnung prä-sentiert und etwas davon hat. Freiheit, selbst erotische, erweist sichals ein Faktor der Ordnung.Das durch die Verletzung traditioneller Tabus hervorgerufeneSchuldgefühl entsteht also nicht aus dieser Haltung selbst, denn sieentspricht der als grundsätzlich berechtigt erlebten Freiheit, eskommt vielmehr aus der anderen Ecke: aus der faktischen Weiter-existenz der gesellschaftlichen, ideologischen und psychischen Bin-dung an eine Ordnung, die den einzelnen total an sich fesselt. DieserWiderspruch wirkt sich regressiv auf den schwächeren der beidenPole aus, auf den des individuellen Privatsektors, woraus sich derbloß partielle und eingeschränkte Charakter des Dranges nach Ent-tabuisierung erklärt. Ja noch mehr als das. Der gegen die verfestigtenTraditionen, tabuierten Gewohnheiten, moralischen Systematisa-tionen und psychischen Bindungen sich auflehnende Mensch über-schreitet in Wahrheit nirgends die von ihm von der repressiven Ord-nung wirksam über das Pflichtgefühl - als Ausdruck seiner Identifi-zierung mit dem Vorhandenen - und über sein Schuldgefühl - alsAusdruck seiner Teilnahme am Prozeß der Enttabuisierung - psy-chisch gesetzten Grenzen. Sowohl der Drang, trotz »genießeri-scher« Lebensführung seine Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stel-len, als auch diese Lebensführung selbst wirken in die Richtung derAkkommodation an die repressive Gesellschaft.Die Pflicht- und Schuldgefühle entstammen nicht erst der Jetztzeit,sondern sind so alt wie die Klassengesellschaft selbst. Der erfolg-reichste Ausdruck ist das Gewissen. Jedoch nicht das aus der primä-ren Ich-Du-Beziehung stammende und neutrale (formal-anthropo-logische), 62 sondern das mit Hilfe eines tief eingewurzelten und diePsyche des Individuums total beherrschenden negativen Menschen-bildes inhaltlich manipulierte Gewissen.Die Moral ist nichts anderes als das repressiv systematisierte Gewis-sen. Sie ist das System des im Dienste der repressiven Anforderun-gen gebändigten und seiner freien intuitiven Entscheidungsfähigkeitberaubten Gewissens. War das Gewissen in seiner vormoralischenurzeitlichen Epoche Ausfluß der spontanen und rein intuitiv erleb-ten Identität von Individuum und Gesellschaft und der entsprechen-den harmonischen Interessenssituation, so wird es in seiner klassen-gesellschaftlich manipulierten Gestalt zur Grundlage der Moral.Die »überzeugende« Kraft der Moral ist nicht zuletzt darin begrün-det, daß sie sich auf ein Gewissen stützt, das als »reines« Gewissen

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seinen repressionsfreien Ursprung nicht verleugnen kann. Denn inaller Gewissensfunktion steckt die Frage nach dem Du in seinermenschlichen Integrität. In dieser Ausrichtung auf das Du wird allesGewissen vom Individuum erlebt, und gerade damit wird seine in-haltliche Manipulation verschleiert. Für das repressiv manipulierteBewußtsein des einzelnen ist die Gewissensregung, d. h. die Orien-tierung auf das Du, abgetrennt von der Antwort, die gegeben wirdund die aus den gesellschaftlichen Normen und der sie tragendenMoral entspringt. Der dialektische Widerspruch zwischen der re-pressionsfreien Wurzel und der repressiven Funktion des Gewissensschlägt sich im Janusgesicht der Moral nieder. »Du sollst nicht steh-len« z. B. impliziert eine berechtigte Forderung im Dienste desSchutzes des »Bruders«, der denselben Anspruch auf materielle Le-benssicherung hat, aber es impliziert auch den Schutz des Eigen-tums, das durch Ausbeutung zustande gekommen ist. Die Dialektikvon originärem und manipuliertem Gewissen ist identisch mit derDialektik von schützender und repressiver Funktion der Moral.Sofern diese Dialektik tief ins Psychische versenkt ist, findet sie hiernoch andere Faktoren vor, die in der gleichen Richtung wirksamsind und die unter dem Anschein des Menschlichen, Natürlichen,Selbstverständlichen und Rechtmäßigen (woraus sich z. B. viele Na-turrechtssysteme ableiten) das Individuum an die Repression fes-seln. Diese Versenkung ins Psychische ist von einer gleichsam ar-chaischen Gewalt. Eine der wichtigsten dieser quasi-archaischen Er-scheinungen ist das repressive Menschenbild, über das wir weiterunten ausführlich berichten werden. Zunächst ist eine Klärung vor-zunehmen.Der Begriff des Archaischen, von C. G. Jung erstmals psychologischgeprägt, ist umstritten. Er verweist (über Jung hinaus) auf urtümli-che und gleichsam in den noch vorpsychischen oder, phylogenetischgesehen, frühpsychischen Schichten verankerte unauslöschlicheKollektiverlebnisse. In ihren bereits faßbaren Formen stoßen wirhierbei auf solche archaische Vorstellungen wie das Göttliche, dasKosmische, das Väterlich-Weisheitliche, das Heldentümliche usw.Geht man mit dem Begriff des Archaischen mit der erforderlichenwissenschaftlichen Vorsicht um und reinigt ihn von den mythologi-schen und metaphysischen Überresten, die ihm in der irrationalisti-schen Psychologie - die den irrationalen Gegenstand mit der Me-thode verwechselt und deshalb diese selbst irrationalisiert- noch an-haften, dann ist ihm ein bedeutender rationaler Wert für die Er-kenntnis kollektivpsychologischer und ideologischer Prozesse nichtabzusprechen. Durch viele Generationen fortgepflanzt und psycho-logisch bis tief ins Ideologische hinein verfestigt, sind die gegensätz-

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lichen Komponenten der Urerinnerung an das Goldene Zeitalteroder das Paradies und das repressive Menschenbild die wichtigstenPhänomene des Quasi-Archaischen (das eigentliche Archaische istdas Triebhafte). Die quasi-archaische Vorstellung vom GoldenenZeitalter scheint in einem solchen urtümlichen Erlebnis (dessenHerkunft wir hier nicht zu diskutieren haben) zu wurzeln, und siebewirkt im Zusammenhang mit zeitbedingt veranlaßten ideologi-schen Tendenzen bewußtseinsmäßige Reminiszenzen von großerStärke und vielerlei Gestalt, wie die zahllosen Rückwärts- und Vor-wärtsutopien, die alle bewußt oder unbewußt an die Vorstellung ei-nes einmal existierenden harmonischen Zeitalters, in dem nur dieGöttin der Liebe und der Harmonie (Hesiod) herrschte und in demdie Altäre nicht mit Stierblut benetzt werden durften (Empedokles),anknüpfen. In Gebräuchen, Märchen, Liedern, Tänzen und Festen,in Religion, Mythus, Kunst und Philosophie finden gewisse Erleb-nismechanismen, die sich psychologischer Wunsch-, Verdrän-gungs-, Angst- und Lebenserhaltungsmechanismen bedienen, ihrenquasi-archaischen Niederschlag: Ihre wichtigsten Formen sind dieUrerinnerung an das Goldene Zeitalter und das repressive Men-schenbild.Beide quasi-archaischen Vorstellungskomplexe haben, obgleich dieerstere älter ist als die letztere, gemeinsam, daß sie sich mit dem Be-ginn der Klassenordnung zu entwickeln beginnen: die positive Vor-stellung des Goldenen Zeitalters schlagartig (es hat ja dieses Zeitalterin der jüngeren Eiszeit wirklich gegeben), der negative, quasi-an-thropologisch sich verfestigende Reflex erlebter repressiver Zu-stände in der Form eines »natürlichen« Bildes des Menschen allmäh-lich und je nach den Bedürfnissen der jeweiligen antagonistischenGesellschaft mit entsprechenden ideologischen Variationen und Zu-sätzen. Sich grundsätzlich ausschließend, erfüllen beide Erschei-nungen die Aufgabe, das durch den geschichtlichen Fortschritt er-möglichte Eindringen utopischer, und das heißt teilweise aus derVorstellung des Goldenen Zeitalters erfließender Tendenzen in dassich diesem Fortschritt in einem ihn zurücknehmenden Sinne anpas-senden Menschenbild aufzufangen oder gar selbst in den Dienst die-ses Menschenbildes zu stellen (z. B. durch religiöse Verjenseitigungder Paradiesvorstellung mit Hilfe des Sündenfallmythus). Das seitJahrtausenden ideologisch verfestigte und in der hochbürgerlichenGesellschaft extreme Züge annehmende repressive Menschenbildzeigt die folgenden Hauptmerkmale:

1. Das Leben kann nur so weit Freiheit und Genuß bieten, so weitsie erkauft werden durch Mühsal und Opfer.

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2. Die Sünde (in theologischer und profaner Auffassung) ist derGrund, die Schuld der Weg und die Arbeit im Schweiße des Ange-sichts das Schicksal des Lebens. In der ideologisch-modernen Ge-staltstellen sich diese drei Faktoren wie folgt dar. Das Sündigsein desMenschen hat seine Wurzel in der unausrottbaren Tatsache, daß er»von Natur« egoistisch und daher böse ist. Die Schuld erfließt ausdiesem Bösesein des Menschen, und das Schicksal, arbeiten zu müs-sen, ist nicht nur dem im Irdischen und im beengten Naturdaseinwandelnden Menschen mitgegeben, sondern ebenso Komponenteseiner eigenen negativen Natur: Er kann sich nicht beschränken undhat daraus die Konsequenz zu ziehen.3. Das Beglückende erscheint als Versprechen in einem Strom vonLeid, und es ist niemals sicher, ob sich dieses Versprechen jemals er-füllt. Wo das Beglückende oder Glückhafte ohne Leid erscheint,wird es als seltene Ausnahme dem rein Zufälligen angelastet.4. Die demütige Hinnahme des bedrohlichen und düsteren Lebens-schicksals, das als das Alltägliche und Normale erscheint, ist als Fe-stigkeit des Charakters und als Heroismus zu verstehen und demeinzelnen abzufordern.5. Da der Mensch von Natur sündig und böse ist, ist der Kampf allergegen alle natürlich.6. Die sich aus dem Kampf heraushaltende Ausnahme ist der lebens-fremde Heilige, wiederum in religiöser und profaner Gestalt.7. Das normale und eigentliche Kennzeichen der Erhöhung des In-dividuums ist der Erfolg. Die daraus resultierende Nützlichkeits-ethik ist nur der unmittelbarste Ausdruck des Erfolgsdenkens.(Es istnoch nicht erkannt worden, daß die calvinistische Nützlichkeits-[ Prädestinations-]lehre in dieser Komponente des repressiven Men-schenbildes eine ihrer Wurzeln findet.)B. Im repressiven Menschenbild werden die »höheren Werte« alsnicht dieser Welt zugehörig begriffen und erscheinen dazu berufen,das Individuum zu Disziplin, Unterwerfung und Opfer zu erziehen.Als solche höhere Werte gelten vor allem Wahrhaftigkeit, Geduld,Einsicht, Pflichtbewußtsein, Gottesfurcht, Moralität, Bescheiden-heit usw.9. Kontemplation und Genuß gelten als gleichsam außerhalb des ei-gentlichen Lebens stehend. Sie werden in die neben dem eigentlichenLeben der Arbeit und der Pflicht einherlaufenden Freizeit verlegtoder in den Ruhestand des Alters. Ihre Bestimmung ist in diesemMenschenbild entweder die Regeneration im Dienste der Leistungoder der Abschluß, wenn die Leistung nicht mehr möglich ist. Siegelten hier als dem Schlaf und dem Tod näher stehend denn dem Le-ben.

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10. Damit hängt zusammen die Neigung zur Diffamierung der Frei-zeit, die als zum Bösen verführend gewertet wird. Die aus der klas-sengesellschaftlichen Wurzel herkommende Verkehrung der Frei-zeit in eine Komponente der herrschenden Repression wird dazubenützt, um dem Individuum glaubhaft zu machen, daß allzu großeFreiheit lebenszerstörend und zersetzend wirkt.11. Die Diffamierung der Freizeit ist eng verbunden mit jener desErotischen, des Lustvollen, insbesondere der Sexualität. Selbst inder hochbürgerlichen Gesellschaft, in der der Schein der totalen ero-tischen Freiheit vorherrscht, verhält es sich prinzipiell nicht anders.(Es werden jene beispielsweise belächelt, die in erotischer Freiheit zuleben versuchen.)12. Die einseitige Gleichsetzung des vielschichtigen Eros, den wiranderweitig als Dreiklang von Sexualität, Sympathie (Geselligkeit)und Kultur definiert haben, 63 mit bloßer Sexualität erstrebt nichtnur deren Vulgarisierung und Diffamierung, sondern auch die Iso-lierung der Massen von aller einheitlichen und damit anspruchsvol-len erotischen Kultur, deren Anforderungen in Widerspruch stehenzu den Anforderungen der repressiven Ordnung.13. Das mit der repressiven Lebensordnung identische Dahinster-ben des Lebens schlägt sich nieder in der Idealisierung des Todes alsdes Erlösers vom irdischen Übel.14. Darin steckt auch die Komponente, die in einer ebensolchenDiffamierung des Todes besteht: Der Tod wird nicht als die Mög-lichkeit des natürlichen Endes nach einem glückhaften Leben ver-standen, sondern als bedrohlicher Endpunkt nach einem düsterenLeben. Der Enterotisierung des Lebens entspricht die Enterotisie-rung des Todes.Wie immer sich der ideologische Prozeß im einzelnen gestaltenmöge, so bleibt das tief in die Psyche versenkte repressive Men-schenbild als ideologische Basis unaufgehoben und hilft die repres-sive Ideologie besonders da befestigen, wo die Neigung zur Identifi-kation mit der bestehenden Ordnung aus anderen, etwa entgegenge-setzten Gründen sich durchsetzt, z.B. über den im Vergleich zu frü-her höhere materielle Befriedigung gewährenden Konsummecha-nismus. Da der verbesserte Konsum an sich eine höhere erotischeFreiheit gestattet, so wird er durch die nihilistischen ideologischenTendenzen, wie vor allem durch das tief in Psyche versenkte repres-sive Menschenbild in sein Gegenteil verkehrt, d.h. seinerseits zu ei-ner Bedingung der Abfindung mit der repressiven Lebensform.Kommt ohnehin »von Natur« dem Menschen nur wenig an eroti-scher Freiheit zu, so soll er zufrieden sein, wenn ihm einige äußereGüter der Sättigung und der Bequemlichkeit zufallen; der »sozialen

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Marktordnung« sei dafür gedankt. So wird innerhalb des differen-zierten Komplexes ideologischer Tendenzen auch der »Markt« zueinem mitwirkenden Element der ideologischen Pervertierung desöffentlichen Bewußtseins. Dieser Prozeß setzt bei der unterstenStufe des repressiven Menschenbildes an und geht seinen Weg überdie Erscheinung der Verdinglichung bis hin zur oberflächlichsten al-ler bürgerlichen Ideologien, der Markt-Ideologie, die verschiedenensonstigen ideologischen Strömungen- z.B. die mit dem repressivenMenschenbild eng verknüpfte Moral - einbeziehend.Es gehört zum Verständnis des ideologischen Prozesses, daß derHinweis auf die Identifikation mit der repressiven Realität ein ver-kürzter Ausdruck dafür ist, daß sich das Individuum in Wahrheitnur mit dem Schein, dem aus der fetischistischen Verkehrung erflie-ßenden Reflex dieser Realität identifiziert. Die Realität selbst wirdnicht durchschaut und nicht in ihrem eigentlichen Wesen erkannt.Womit sich das heutige Individuum identifiziert, das ist nicht derklassengesellschaftliche Antagonismus, nicht die herrschende Un-terdrückung, nicht die allumfassende Entfremdung und Verdingli-chung des Lebens, sondern mit deren sie verschleiernden Ideologie,mit ihrem Schein. Es identifiziert sich mit der Konsumideologie, diedie Ausbeutung und die Armseligkeit verschleiert, mit dem Wohl-stand, der die tatsächliche Askese verbirgt, mit der Freiheit, die eindialektisches Pendant zur effektiven Manipulation und Unterwer-fung darstellt.Jedoch bleibt die ideologische Entwicklung dabei nicht stehen. Dain der hochkapitalistischen Gesellschaft Konsum, Wohlstand undFreiheit - wohlgemerkt als bloße Ideologien - in einen ständigenWiderspruch geraten müssen zu den realen Tendenzen der Konsum,Wohlstand und Freiheit gleichzeitig einengenden Tendenzen der re-pressiven Ordnung, und da ebenso die aus dem Antagonismus undFetischismus stammenden und als bedrohliches »Schicksal« erlebtenideologischen Strömungen sich durchsetzen, bleibt letztlich der Pes-si mismus und Nihilismus herrschend. Die an sich optimistischenideologischen Tendenzen der Freiheits-, Konsum- und Wohlstands-ideologie, die ihre Fortsetzung in der Enttabuisierungsideologie fin-den, werden in den subjektiven Erlebnisbereich derart hineingezo-gen und integriert, daß die diesen Erlebnisbereich durchdringendeideologische Mischung von repressivem Menschenbild und fetischi-stischem Pessimismus siegreich bleibt. Nicht nur im praktischenVollzug setzt sich die Dialektik des asketischen Eros durch, sondernauch ideologisch.Die Repression wohl empfindend, wird unter Ausnützung der all-gemeinen verdinglichten Bewußtseinslage diese Empfindung in

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scheinkritische Begriffe wie Vermassung, Herrschaft der Technik,Vereinsamung umgesetzt. Aber als nur scheinbar kritische setzendiese Begriffe die Tendenz zur Integration und Identifikation im öf-fentlichen Leben nicht außer Kraft, sondern werden zum ideolo-gisch relevanten Sprachgebrauch im privaten Bereich, wo sie höch-stens Akte der privaten und damit die öffentliche entlastenden Reni-tenz provozieren. Das Renitenzbedürfnis, das grundsätzlich gegendie Repression gerichtet ist, widersteht daher nicht der repressivenOrdnung, sondern läuft parallel zu ihr und bildet ein bloßes Ventil inder Totalität ihrer Durchsetzung. Es macht sich Luft in einer sprach-lich verdinglichten Kennzeichnung der vermeintlich schuldigenMächte, die aber nur der Sphäre des verdinglichten Scheins ent-stammen, wobei es zu einer Verlagerung der gegen das Ganze ge-richteten Renitenzakte ins Subjektive kommt.Die unerschütterliche Grundlage für diesen ideologischen Prozeßbleibt die Dialektik von Genuß und Askese sowohl auf ökonomi-schem wie erotischem Gebiet. Was das erstere betrifft, wußte schonMarx zu sagen:64

»Diese Wissenschaft der wunderbaren Industrie ist zugleich die Wissenschaftder Askese, und ihr wahres Ideal ist der asketische, aber wuchernde Geizhalsund der asketische, aber produzierende Sklave. Ihr moralisches Ideal ist derArbeiter, der in die Sparkasse einen Teil seines Salair bringt...«

Im Lichte der ideologischen Problematik, die uns hier vordergrün-dig interessiert, ist zu sagen: Der Zwang zur Askese wird in denHintergrund des Bewußtseins gedrängt, obgleich er praktisch überdas Streben nach Konsum und Genuß dauernde Siege davonträgt,nicht ohne daß das Versagen im Genuß Minderwertigkeits- undSchuldgefühle hervorruft, die ihrerseits wiederum das Streben nachüberwindung der Askese hervorrufen.

12. Die ästhetische Reflexion des entfremdeten Bewußtseins

Das insgesamt in unseren Ausführungen gezeichnete, in sich kom-plizierte und widerspruchsvolle Bild des ideologischen Prozesses imSpätkapitalismus setzt sich verständlicherweise auch in der künstle-rischen Reflexion fort, am greifbarsten in der modernen Malerei und

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in der »absurden« Literatur. Insbesondere im Begriff des Allegori-schen fassen sich die wichtigsten Bestimmungen des von uns be-schriebenen ideologischen Prozesses zusammen und finden hier ihreFortsetzung, d.h. da, wo sie für das auf Unmittelbarkeit ausgerich-tete Auge am wenigsten einsichtig sind. In der modernen Kunst stel-len sie sich vornehmlich dar in Kategorien des Häßlichen, Absurdenund Bizarren, was uns wiederum das Recht gibt, vom Allegorischenzu reden.Die Vorliebe der modernen Kunst für das Häßliche, Absurde undBizarre hat ihre tiefen Wurzeln in der Eigenart der spätkapitalisti-schen Gesellschaft. Schon die Romantik neigte ihnen, wie MauriceNadeau zeigt, 65 zu, wobei zu unterstreichen ist, daß Form und In-halt wesentlich von dem abwichen, was sich heute ästhetisch artiku-liert. Diese Vorliebe für das Häßliche pflegt sich in der modernenKunst und Literatur in die Form des Grotesken und Dunkel-Allego-rischen zu kleiden. Die psychischen Mittel, deren sich diese ästheti-schen Erscheinungen zu bedienen pflegen, um zu jener ideologi-schen Kristallisation zu gelangen, die sich im Grotesken und Allego-rischen niederschlägt, sind zunächst sporadisch zu skizzieren.Die Fähigkeit der Psyche, bestimmte, für das Individuum rationalnicht aufschließbare Erlebnisse in dunkle Symbole von allegorischerWesenheit umzuwandeln, erklärt sich aus der grundsätzlich archai-schen Struktur der Phantasie. Weitaus älter als die Ratio, die sich erstviel später als eine eigene Fähigkeit der Psyche abspaltet und sich derPhantasie entgegensetzt, hat diese von Anfang an die spontaneHandlungsweise des Menschen geleitet - wie anfänglich überhauptalles Handeln irrational-spontan geartet war. Beim Urmenschen wardas Verhältnis von Handeln und Umwelt noch gänzlich an eine dun-keltraumhafte Erlebnisweise gebunden, so daß die dieses Handelnermöglichende subjektive Selbstreflexion noch zwangsläufig dieForm des Symbolhaften und Dunkel-Allegorischen aufwies (wieheute noch in den Residuen der freisteigenden Vorstellungen unddes Traumes). Bei genauer Beobachtung stellt sich heraus, daß auchheute noch viele Bereiche des menschlichen Verhaltens einen ähnli-chen Charakter aufweisen, insbesondere bei den vorindustriellenVölkern und in den modernen Kulturen überwiegend bei den un-ausgebildeten, der rationalen Reflexion nur in einem beschränktenMaße mächtigen Individuen.Für die Kunst aller Zeiten, in spezifischer Weise und in extremer Zu-spitzung aber für die in einer widerspruchsvollen und schwer durch-schaubaren ideologischen Situation stehende moderne, bleibt in-folge der grundsätzlich irrationalistischen Eigenart des Kunstschaf-fens diese Fähigkeit der Phantasie, unverstandene Erlebnisformen in

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Ausdrücke von allegorischer Bedeutung umzuwandeln, von großerWichtigkeit. Je komplizierter der gesellschaftliche Prozeß wird, jemehr die Tendenz zur Rationalisierung von Realität und Bewußtseinauf enge spezialistische Bereiche zurückgedrängt wird und deshalbdieser Prozeß außerhalb der rationalisierten Teilbereiche dem Be-greifen durch die bloße Phantasie, der irrationalistischen Einfühlungüberlassen wird, desto mehr gewinnt die Arbeit der Phantasie wie-der an Umfang und verstärkt sich die Neigung, der symbolhaftenAllegorisierung des Geschehens mehr Raum zuzugestehen als derrationalen Analyse. Es ist klar, daß da, wo die ästhetische Irrationa-lität (Intuition) auf einen gesellschaftlichen Prozeß von der erwähn-ten irrationalen Dunkelheit stößt, sie eben wegen dieses Charaktersder Irrationalität um so energischer bemüht ist, das undurchschauteGeschehen in einer spezifischen Weise zu reflektieren, nämlich mit-tels der allegorisierenden Symbolik.Daß die archaische Fähigkeit der Phantasie zur Allegorisierung vonErlebnisinhalten diese künstlerische Arbeit unterstützt, besagt al-lerdings nur so viel, daß sie von ihr in Anspruch genommen wird, je-doch mit ihr nicht zusammenfällt. Die inhaltliche Tendenz zur Alle-gorisierung selbst entspringt der zeitbedingten ideologischen Situa-tion und wirkt sich um so stärker aus, je komplizierter, wider-spruchsvoller und verworrener die letztere ist. Das Panorama desmenschlichen und gesellschaftlichen Grauens, die bis ins Pathologi-sche reichende und zersetzte individuelle wie soziale Landschaftbildet den unverstanden-geheimnisvollen Hintergrund und bietetdas denkbar geeigneteste Material für die Allegorisierung. DiesesPanorama des menschlichen Grauens wird in düsteren allegorischenBildern eingefangen. Es wird immerhin als solches verstanden.Gleichzeitig wird die verborgene Wesenheit und Bedeutung nichtverstanden und gerade deshalb allegorisiert; nicht verstanden infolgeder aus ideologischen Gründen mangelnden Vermittlung zur Totali-tät des spätkapitalistischen Prozesses. Das Nichtdialektische, dasPositivistische aller modernen Allegorie kommt bereits an diesemPunkte der Ableitung zum Vorschein und entlarvt sie als eine ästhe-tische Form bürgerlicher Ideologie.Ist somit die allegorisierende Verhaltensweise der modernen Kunstund Literatur aus der ideologischen Position heraus, in der sie steht,begreiflich zu machen, so heißt das nicht, daß sie die einzig möglicheund damit richtige ist. Es drängt sich die Frage auf, ob jeder Künstlernotgedrungenermaßen der gängigen Ideologie unterliegen muß,oder ob nicht durch die rationale Zuordnung zum kritischen Be-wußtsein der Bann dieser Ideologie durchbrochen und der Weg freigemacht werden kann zu einem rationalen Wirklichkeitsverständ-

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nis, das die Allegorisierung der Thematik überflüssig macht - diesungeachtet der irrational verfahrenden Phantasie, die die psychischeVoraussetzung aller Kunst ausmacht, d. h. ungeachtet der alle Kunsthervorbringenden ästhetischen Intuition. Den Weg aller echtenkünstlerischen Arbeit stellt die Dialektik von intuitiver Methode alsMittel und rationaler Aussage als Inhalt dar. Diese Dialektik stelltdie unaufhebbare Bedingung jener Kunst dar, die sich aus dem Ver-sinken in das allegorische Dunkel der rational unkontrollierten Ar-beit der Phantasie heraushalten will.Die allegorisierende Unvermitteltheit der Aussagen der modernenKunst und Literatur bewirkt unter anderem, daß sich die Figurennicht entwickeln, keine subjektive und keine objektive Geschichtehaben. Sie sind deshalb, um es einmal ganz abrupt zu sagen, falschgezeichnet. Das trifft sogar für Kafka zu. An dem hier behandeltenProblem vorbeigehend, spricht dies Hans Mayer sehr deutlich aus: 66

Seine (Kafkas) Figuren verändern sich nicht, kennen keinerlei klassischeWandlung, weder Schuld noch Sühne, sie sind weder verstehbar noch unver-stehbar. «

»Weder verstehbar noch unverstehbar«, das ist zudem eine zutref-fende Bestimmung das allegorischen Charakters der Dichtung Kaf-kas. Noch deutlicher trifft, wiederum ohne das Problem in seinerGänze zu durchschauen, Gustav Rene Hocke den Sachverhalt : 67

»In der Dichtung können diese Attribute einer Allegorie zu Metaphern wer-den, die nun paralogisch kombiniert werden. Obwohl die Bedeutungsvor-gänge, zumindestens für den Kenner, zumeist noch rational erkennbar blei-ben, werden die einzelnen Attribute bereits im 18. Jahrhundert vielfach der-art alogisch und sinnsprengend kombiniert, daß sich damals schon Vieldeu-tigkeit und Sinn-Losigkeit ergaben. «

Die Vorstufe der modernen Allegorie ist die moderne Groteske. Sieist in der modernen Malerei immer »noch« gegenständlich und in derLiteratur immer »noch« rational vollziehbar. Dieses »noch« be-zeichnet die Tatsache, daß sie an der Grenze zum Allegorischensteht-typisches Beispiel: die grotesk-allegorischen FrauenportraitsPicassos. Soweit das Groteske der modernen Kunst noch dem »Ver-ständlichen« zugeordnet ist - eine Bestimmung, die, wie wir späterzeigen werden, dem Allegorischen abgeht -, erlaubt es diese Ver-ständlichkeit, eine konkrete soziologische Differenzierung vorzu-nehmen.In der klassengesellschaftlich vermittelten Kunst, weitläufig aber inder modernen, beobachten wir eine dreifache Tendenz des Diszipli-när-Apollinischen, Orgiastisch-Dionysischen und Harmonisie-

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rend-Utopischen. Natürlich ist diese dreifache Bestimmung in derTheorie leichter durchzuführen als in der künstlerischen Praxis.Aber sie trifft die Sache wesentlich.Da, wo sie sich noch gegenständlich gibt, stellt die moderne Kunst ihrObjekt - in erster Linie den Menschen selbst, erst in zweiter Liniedas Gegenständliche, das allerdings zum Menschen vermittelt ist-inder Form des Grotesken dar. Infolge der antagonistischen Differen-zierung des gesellschaftlichen Lebens zerfällt die so geartete Grotes-ke, entsprechend den beiden soziologisch und sozialpsychologischzu differenzierenden Formen der Entfremdung in das Apollinischeund in das Dionysische, in die entgegengesetzten Motive des Aske-tisch-Apathischen einerseits - z.B. Munchs berühmte abendlicheStadtstraße mit den gespenstisch abgehärmten Gesichtern (dieZylinder sind allgemeine Tracht der Zeit) - und des Bacchantisch-Orgiastischen andererseits - z.B. Noldes »Tanz um das goldeneKalb«. Die Differenz wird bis in die figurale Ordnung, die Farbge-bung (matte Farben dort und grelle hier) und in die Linienführungsichtbar. Gemeinsam ist ihnen jedoch das Groteske, das nicht seltenbis ins Bizarre reicht.Die Richtung, die sich naturgemäß dem Grotesken entzieht, ist dieharmonisierend-utopisierende-wofür als Beispiel mit gutem Grundzahlreiche Bilder des »weltflüchtigen« Gauguin oder auch des mehrweltzugewandten Macke wie Renoirs mit ihren stets gut gekleide-ten, in der Sonne wandelnden und harmonisch sich bewegendenMenschen angeführt werden können.Doch je weiter der Künstler sich von der traditionellen Kunst ent-fernt, je weniger er darauf bedacht ist, das Milieu seines Motivs (dieTotalität) in seine Darstellung einzubeziehen, desto stärker symbo-lisiert und abstrahiert er und gerät er in die Nähe des Allegorischen,um sich schließlich ihm ganz zu ergeben. Und je stärker die Allegori-sierung vorwärtsschreitet, wird nicht nur um so abstrakter die Dar-stellung in formaler Beziehung, sondern auch ungenauer und nach-lässiger oder zumeist gar nicht die Zuordnung zum allgemeinen Mi-lieu des gesellschaftlichen Hintergrundes vollzogen. Der Weg zurAbstraktion wird nicht erst mit dem Ungegenständlichen in die Mo-derne eingeschlagen, sondern beginnt bereits mit der Tendenz zursymbolisierenden Allegorisierung, die ihrerseits nicht zu verstehenist, wenn man nicht beachtet, wie der Künstler den entfremdetenund verdinglichten ideologischen Strukturen der spätbürgerlichenGesellschaft unterliegt. Erst mit dem endgültigen Siege der ideologi-schen Verdinglichung im 20. Jahrhundert gelangt auch die allegori-sierend-abstrakte Malerei zum Siege.Ein sporadischer Vergleich zwischen dem vorangehenden Impres-

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sionismus und dem ihn überwindenden Expressionismus als derÜbergangsstufe zur abstrakten Malerei kann das dahinterstehendeideologische Problem verdeutlichen. Der Impressionismus ist vonder Aussage her zu definieren als utopischer Realismus, der sichideologisch herausbildet aus dem optimistisch affizierten Liberalis-mus und dem Sozialismus des 19. Jahrhunderts. Von der vorange-henden Klassik, etwa der Renaissance, unterscheidet sich der Im-pressionismus durch folgendes. Haben auch beide gemeinsam,durch die ästhetische Form auf den Beschauer verklärend zu wirken,d.h. so, als ob die kritische Negation gar nicht in der Absicht dieserKunst läge, so trifft diese Tatsache nur für die ältere realistischeKunst zu. Die Kunst der Renaissance ist zwar auch durchschauendkritisch - auch hier machen z. B. die Porträts das soziale und sozial-psychologische Wesen der Gestalten hinter dem äußeren Scheinsichtbar -, aber sie ist dies nur spontan, ohne Absicht.Der Impressionismus dagegen setzt dem Negativen, der Unvoll-kommenheit der Realität, das Ideal realer Harmonie entgegen. VieleBilder zeigen diese idealisierende Tendenz: festlich gekleidete Bür-ger in Theaterlogen, Frauen mit ihren Kindern im sommerlichenFelde, Gasthaus- und Tanzszenen von harmonischer Ausgeglichen-heit und andere. Die Groteske erscheint noch nicht, auch nicht, wobereits Entfremdetes zum Thema gemacht wird. Sie findet keinenPlatz, weil diese Art des kritischen Realismus so sehr optimistischder Veränderlichkeit der Welt verhaftet ist, daß alle Darstellungendas gleiche meinen: nämlich die realistische Symbolisierung mögli-cher Schönheit und Harmonie - dies unabhänig davon, ob die kon-kret dem Leben entnommenen Gestalten sich in ein bürgerliches,kleinbürgerliches oder proletarisches Gewand kleiden. Der Impres-sionismus ist die Kunst der kritischen Oberwindung des Bisherigenin der Gestalt des Versprechens als möglich begriffener Harmonie.Deshalb kennt er im allgemeinen nicht die Spaltung der Darstellungin Apollinisches und Dionysisches, es ist für ihn alles utopische Ein-heit. Dies wird erst so recht deutlich, wenn man ihn dem Expressio-nismus gegenüberstellt.Der Expressionismus bricht mit der soeben beschriebenen Auffas-sung des Impressionismus. Dies aus dem Grunde, weil er angesichtsderSteigerung und Verhärtung der Entfremdungstendenzen den op-timistischen Glauben an die Möglichkeit der Harmonisierung desLebens verloren hat. Künstlerische Zerstörung verbunden mit derAbsicht restloser kritischer Oberwindung aller bisherigen Illusionenist sein letztes Motiv. Daher wird naturgemäß unter seinen Händenalles zur Groteske, selbst die scheinbar außerhalb des Menschlichenexistierende gegenständliche Welt. Alles erscheint als häßlich und

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der Zerstörung wert. Wie aber die Einseitigkeit des Impressionismusin seiner optimistischen Utopisierung liegt, so jene des Expressio-nismus in seiner Ontologisierung des Negativen zur »Welt über-haupt«. Letzterem gelingt dies aber nur auf dem Wege des Ober-springens der Vermittlung von äußerer Erscheinung (Häßlichkeit)und gesellschaftlicher Totalität (Kapitalismus), worin eben seineEinseitigkeit begründet ist.Der unbefangene und aus der realistischen Tradition kommende Be-trachter empfindet die Bilder der Moderne als häßlich. Er hat zu-mindest insofern recht, als er nicht bloß das Formale meint, sonderndie Aussage und die entsprechende Darstellungsweise. Die moderneGroteske ist nun tatsächlich in dem Sinne häßlich, als sie einseitigund ungeniert das Häßliche des fetischisierten Lebens betont undmit Hilfe abstrahierend symbolischer Ausdrucksformen zum Ei-gentlichen des Seins erhebt. In der alten realistischen Kunst ist dasHäßliche, z.B. in den Gesichtern der sozial höhergestellten Perso-nen auf den Gemälden von Carpaccio (um 1500) bis Goya, ein blo-ßes Moment des Ganzen, ein Ergebnis der intuitiv-kritischen Be-gegnung des Künstlers mit einer Welt, die nicht von vornherein,nicht von Natur her häßlich war, eher im Gegenteil sich durch Ma-nier, Form und Ausstattung zu »verschönern« verstand. Daß dasHäßliche als Moment auf vielen Bildern deutlich sichtbar wird, istbloßer Außdruck der vom Apollinischen (und der anthropologi-schen Dialektik von Apollinischem und Dionysischem) abgetrenn-ten und daher ästhetisch begriffenen Entfremdung des monopoli-sierten, d.h. von den oberen Klassen beanspruchten Dionysischen.Aber es bleibt ein bloßes Moment im ganzen, manchmal mehr,manchmal weniger hervortretend, je nach der historischen Situa-tion, dem Thema und der Anschauung des Künstlers.Gewiß brauchte auch in einer extrem entfremdeten, verdinglichtenund dem Künstler daher vielfach als »gespenstisch« erscheinendenWelt die Dialektik der Totalität nicht zugunsten einer positivisti-schen Ontologisierung des Häßlichen zur Welt überhaupt zerstörtzu werden, gewiß ist grundsätzlich auch im 20. Jahrhundert einenicht minder kritische, aber dialektisch-realistische Malerei mög-lich. Jedoch begreift man, daß ebenso wie in der theoretischen In-terpretation der modernen Kunst sich noch mehr in ihr selbst dasverdinglichte Sein wie der ihm kongruente verdinglichte Schein ineinem Maße aufdrängen, daß Inhalt und Form unter den totalen Ein-fluß des Häßlichen und seiner nichtdialektischen Version geraten.Das unkritische Uriterliegen ist ungeachtet eines Moments des Wah-ren, das darin erscheint, die eigentliche Tragödie der modernenKunst und Kunsttheorie. Die positivistisch-hohle und gleichzeitig

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gängige bürgerliche Ideologie reflektiert sich in der modernen Kunstgleichfalls positivistisch, d.h. ohne Vermittlung der Aussage zumGanzen, womit diese Aussage zugleich falsch wird. Das Reden vomnegativen und verworfenen Wesen des Menschen und die zusätzlichsie verfestigende Redewendung von der »schockierenden Wirkung«der Kunst (Adorno und andere) beweist, bis in welche pseudokriti-sche Bereiche der Theorie die verdinglichte Ideologie reicht. Versagtvor dem Götzen der Verdinglichung bereits die ihrer Natur nach ra-tional-kritische Theorie, so ist es nicht verwunderlich, daß die derWelt intuitiv begegnende Kunst hierin erst recht versagt.Die zunehmende Verdinglichung des gesellschaftlichen Lebens im20. Jahrhundert verschluckt das Individuelle und ordnet es - ob-gleich es in der dialektischen Analyse als Tätig-Individuelles nichtwirklich verschwindet - dem undifferenzierten Uniformen der» Massengesellschaft« unter. Das schon seiner spezifischen Eigenartnach auf das bloß Allgemeine tendierende Symbol wird daher ästhe-tisch ins Vordergründige geschoben, und da es zudem, wie bereitsbemerkt, auf das mit der »Massengesellschaft« identische Verding-licht-Häßliche stößt, vernichtet es nicht nur das in der alten Kunstnoch selbstverständlicherweise psychologisch (individueller Cha-rakter) und soziologisch (Durchscheinen der sozialen Zuordnung)ausgeprägte Porträt, sondern jegliche Darstellung, die noch indivi-duelle Menschen in einem konkreten Milieu sich zu eigen macht.Der Mensch wird zur undifferenzierten Schablone, zur nature mortedegradiert, zudem zu einer des verdinglicht Häßlichen. Der zur un-differenzierten Allgemeinheit degradierte häßliche Mensch zeigtsich nicht mehr (wie z. B. in den Gemälden der Renaissance) hinterseiner psychischen Maske und seiner individuellen Würde, sonderner grinst uns als ein jedem anderen fast Gleichartiger und Häßlicherungeniert an. Mit seiner uniformierten Seele erscheint er seelenlos,mit seinem nach außen gerichteten Geist erscheint er geistlos. Sozumindest begreift ihn die unter der Gewalt der Verdinglichung ste-hende moderne Kunst - und daß sie ihn gleichzeitig nicht in seinerwirklichen Konkretheit und Widersprüchlichkeit begreift, weilnicht in seiner konkreten Vermittlung zur gesellschaftlichen Totali-tät, ergibt sich aus unseren vorangehenden Analysen des Verding-lichungsprozesses, hinter dem die Dialektik der Subjekt-Objekt-Beziehung steht, von selbst.Wir haben gesagt: Die Symbolisierung des Häßlichen des 20. Jahr-hunderts ergibt die moderne Groteske. Was ist aber des genauerendas Groteske daran? Oder und vor allem im engsten Zusammenhangmit dem Problem des Humoristischen oder gar Komischen wird inaller grotesken Darstellung die Frage formuliert: Warum wirkt die

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moderne, als solche aber nicht beabsichtigte Groteske so penetrantkomisch? (Wir dürfen nicht davon ausgehen, daß sie der bereitstheoretische voreingenommene Intellektuelle keineswegs als ko-misch empfindet, sondern davon, daß dies beim überwiegenden Teildes »naiv« reagierenden Publikums der Fall ist.)Zwischen der gewollten, besonders literarischen, und der ungewoll-ten Groteske, in der das Groteske dem Werk bloß passiert und dasbeabsichtigt Tragische durchbricht oder gar verdrängt, ist imGrunde kein qualitativer Unterschied. Und doch besteht ein Gegen-satz. Auch die traditionelle, das heißt beabsichtigte Groteske hatihre tragische Note, sonst wäre sie eine Satire oder Humoreske; wirhätten es hier mit einem rein komischen Stück zu tun.Die Groteske entsteht, wo die Aussage zum exponiert Tragischennicht reicht, gleichzeitig aber die herben oder gar verdinglichtenZüge des Lebens, die häßlichen, sich vordrängen, deshalb das Komi-sche nach sich ziehen. Wo hingegen unter den gleichen Vorausset-zungen des verengert Tragischen dieses Tragische trotzdem das be-herrschende Moment bleibt, entsteht das humoristische Stück (dasmit der ungenau so bezeichneten Humoreske nichts zu tun hat).Zu einer Zeit, in der Verdinglichung und Fetischisierung noch Rand-erscheinungen waren, blühte der Humor in einem weitaus breite-ren Maße, als dies heute der Fall sein kann. An die Stelle des Humorsschiebt sich heute das Komische, dessen dialektische Bezüglichkeitzum Tragischen die Groteske ergibt; aber die zugleich ungewollte,die sich von der beabsichtigten der früheren Zeiten durch das Ein-dringen vordergründiger und nicht bloß randmäßiger oder erfunde-ner »absonderlicher« Züge unterscheidet. Das Absonderliche oderHäßliche war früher im Grunde nicht weniger typisch als heute, je-doch aus Gründen, die im damaligen gesellschaftlichen Raum lagen,noch nicht als im Zentrum des Lebens stehend, nicht als typisch,empfunden worden. Diese, wenn auch sozial-ideologisch veranlaß-te, so doch die Dialektik der Vermittlung vernachlässigende Ü ber-spitzung des Häßlichen bewirkt, daß die Darstellung nicht wie beab-sichtigt ernst, sondern komisch wirkt.Gerade die Reduktion nicht irgendeines, sondern sich auf das Feti-schisiert-Häßliche konzentrierenden Gehalts zum Abstrakt-Allge-meinen macht seinen Sinn zudem weitgehend oder ganz unverständ-lich, irrationalisiert und mythologisiert ihn bis zu jener Höhe, aufder nur noch die äußeren ästhetischen Formen und Techniken sichdem rationalen Verständnis als erschließbar anbieten. Infolge derVernachlässigung der vielseitigen Vermittlungen gehen die einzel-nen Gestalten der Vielfalt der Bestimmungen und der Genauigkeitder ins Detail reichenden Charaktermerkmale verlustig, die sie in der

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realistischen Literatur auszeichnen. Um das Wesentliche aufzuwei-sen, muß das Typische und nicht das Zufällige oder Abseitige er-scheinen, und zwar in seiner mit einer großen Fülle von Details aus-gestatteten Vereinzelung wie ebenso in seiner Substantialität als ge-sellschaftliches Moment. Die teilweise oder gänzliche Unverständ-lichkeit der figuralen wie der handlungsmäßigen Darstellung in derabsurden Literatur resultiert aus der Abstraktion von diesen Be-stimmungen. Das dem verdinglichten Prozeß vom Dichter abge-schaute Häßliche gibt sich als Ontologisch-Allgemeines und jenseitsaller Konkretheit im Detail wie in der gesellschaftlichen Bezogenheitexistent. In dieser Gestalt kann es nur, wenn überhaupt, in allegori-sierenden Symbolen ausgedrückt werden oder, was dasselbe bedeu-tet, »unverständlich«. Ist es dem ideologisch sich auf der gleichenEbene wie diese Literatur bewegenden Beschauer-und nur von die-sem ist hier die Rede - verwehrt, die Aussage zu verstehen, fühlt ersich gleichzeitig gedrängt, die ästhetische Form als angemessenenAusdruck seiner eigenen ideologischen Bindung zu akzeptieren, soakzeptiert er das Kunstwerk insgesamt. Dem Fehlen der dialekti-schen Vermittlung zur Totalität in seiner eigenen ideologischen Hal-tung kommt das Kunstwerk durch die gleichartige ideologischeAusrichtung ohnehin a priori entgegen. Es entsteht so notgedrungender Schein einer unmittelbaren ästhetischen Wahrheit. Der im ästhe-tischen Bewußtsein sich herausbildende und gleichzeitig zur Einheitsich zusammenfassende Widerspruch von ontologisierend-abstrak-ter Symbolisierung des Häßlichen und als hochwertig empfundenerästhetischer Form (»Originalität« des Künstlers) ergibt die moderneAllegorie. Als Ergebnis stellt sich die Erkenntnis ein, daß hier Gro-teske, Symbolisierung und Allegorie zusammenfallen. Eine solcheAllegorisierung, die sich auf den verschiedenen Stufen der Intensitätzwischen dem noch und dem nicht mehr Verständlichen zum Aus-druck bringt, wird ihrerseits zum Anlaß genommen, das Grauenzum schlechthin Menschlichen zu erheben und damit das spezifischeGrauen, wie es nur als solches der bestehenden kapitalistischenOrdnung begriffen werden kann, verschwinden zu lassen.In dem gewöhnlichen Sinne wird unter dem Allegorischen ganz all-gemein das Sinnbildliche verstanden. In dieser Gestalt ist die Allego-rie neutral. Sie erfüllt hier ein spielerisches Bedürfnis nach sinnbild-licher Darstellung überwiegend abstrakter Begriffe wie des Guten,Schönen, Bösen, der Freiheit, Wollust, des Geizes und so weiter. Indieser Gestalt ist ihr Platz außerhalb aller Ideologie im Sinne der Be-friedigung eines dem Dekorativen nahestehenden Bedürfnisses, d. h.eines »allgemein menschlichen« Bedürfnisses. Ihrer ganzen Naturnach auf Verallgemeinerung und so verstanden auf Abstraktion an-

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gelegt, gerät die Allegorie seit dem beginnenden 20. Jahrhundert inBeziehung zu jener Form der Abstraktion, die zum Wesen der mo-dernen Kunst geworden ist. Sie wird somit in den Bereich der ästhe-tischen Ideologie gezogen und ihres ursprünglichen neutral-dekora-tiven Charakters entkleidet. Sie gerät in eine enge Beziehung zurmodernen Groteske, die in vielerlei Gestalt den Inhalt der abstraktenKunst und der absurden Literatur ausmacht.Dieser Prozeß beginnt mit dem frühen Expressionismus vor dem er-sten Weltkrieg und setzt sich ungeachtet der Tatsache, daß sich dieseRichtungen untereinander oft heftig bekämpfen, im Dadaismus,Surrealismus, Kubismus und Futurismus fort.Die mit der Groteske dialektisch identische Allegorie ist aber nichtzufälliger Natur, sondern wurzelt in einem tiefen ideologischenVerhältnis des Künstlers zur entfremdeten und verdinglichten Wirk-lichkeit. Die moderne Allegorie drängt sich überall da dem ästheti-schen Bewußtsein auf, wo der Künstler mit dem Problem der ver-dinglichten Entfremdung des Lebens nicht fertig wird, im Gegenteilideologisch unterliegt; wenn auch nicht in der gewöhnlichen Weise,nicht ohne Widerstand wie der durchschnittliche Alltagsmensch,sondern sich subjektiv wenigstens die Neigung zum kritischen Ab-seitsstehen erhaltend. Die moderne Allegorie wird geboren, wennder gesellschaftlich in die Opposition gedrängte Künstler ungeachtetseiner kritischen Haltung dem verdinglichten Schein unterliegt, ins-besondere die Dialektik von Schein und Wesen in der modernen,zum höchsten komplizierten Gesellschaft nicht durchschauen kann.Über die komplizierte Dialektik von Schein und Wesen der V erding-lichung haben wir in den vorangehenden Abschnitten ausführlichgesprochen, ebenso über die damit eng zusammenhängende Dialek-tik von Verinnerlichung und Veräußerlichung. Bezüglich der letzte-ren bleibt die Relation stets eine gegengleiche. Je mehr der Künstlersich einbildet, in Rückwendung zur eigenen Subjektivität der ver-dinglichten Außenwelt zu entfliehen, desto weniger merkt er, woheres eigentlich kommt, daß in seiner Erlebniswelt nicht etwa solcheVorstellungen wie Hoffnung, Schönheit, Wunderbares und Erha-benes dominieren, sondern im Gegenteil Angst, Sorge, Bedrückt-heit, Verzweiflung, Mißbehagen, Vereinsamung, kurz das Häßli-che, das der Außenwelt entstammt. Die zusätzlich aus dem fließen-den Charakter des Seelischen sich erklärende willkürliche Verzer-rung dieser Reflexionen zu düsteren und kaleidoskopartig wech-selnden Bildern des nihilistischen Abgrundes verschärft nur die Tat-sache, daß es sich hierbei um eine die verdinglichte Wirklichkeit ver-kehrt und zusätzlich verzerrt widerspiegelnde Ideologie handelt.Das Ergebnis ist die Groteske. Da aber ihre Aussage rational nicht

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bewältigt ist, bedient sie sich der Form nach der Allegorie. Ist alsoder Form nach die Aussage allegorisch, so dem Inhalt nach auf dasHäßliche bezogen und somit grotesk.Obgleich der moderne Künstler sich selbst als unnachgiebig kritischeinschätzt, hindert ihn seine ideologische Bindung an die verding-lichte Außenwelt daran, den Weg der durchschauenden und damitwirklich kritischen Vermittlung zu den strukturellen Bedingungendieser Welt zu beschreiten und auf diese Weise mit dem Phänomender Verdinglichung insgesamt fertig zu werden. Nicht die in ideolo-gischen Reflexionen sich ausdrückenden Klassenverhältnisse undderen individuellen Niederschlag erkennt er als die Bedingungen al-ler »Absurdität«, sondern er setzt diese selbst als primär und wesent-lich, sie selbst erhebt er zum schlechthinnigen Sein, zu dem des»Menschen überhaupt«. Der starre und monotone Eigensinn desmodernen Künstlers erkennt nicht Individuen, sondern das Indivi-duum, nicht gesellschaftliche Differenzierungen, sondern die Ge-sellschaft, nicht historische Konkretionen, sondern den Menschenin der Geschichte. Und da es dies alles nicht gibt, kann es nur sym-bolisch dargestellt werden. Da aber der gewöhnliche symbolischeAusdruck zudem nicht zureicht, um das Individuum, die Gesell-schaft und die Geschichte so darzustellen, wie dies mit den verding-lichten Vorstellungen einer bürgerlich-abstrakten und die Realitätverzerrenden Ideologie übereinstimmen soll, steigert er die Symbo-lik ins Mystifizierend-Allegorische.Mit aller Energie ist hierbei zu unterstreichen, daß trotz des äußer-lich entgegengesetzten Anscheins wir es insbesondere bei der absur-den Literatur (wie ebenso beim Expressionismus, Surrealismus, Da-daismus und Futurismus) mit einer neuartigen Form des Naturalis-mus zu tun haben. Genauer definiert ist zu sprechen von einem alle-gorischen Naturalismus oder naturalistischen Allegorismus. Die Be-stimmung des Naturalistischen ist wesentlich daran erkennbar, daßdas Material oder das Thema, das in den künstlerischen Produktio-nen erscheint, den sporadisch-intuitiv erlebten Oberflächenerschei-nungen der entfremdeten Welt entnommen ist; des weiteren fällthier auf, daß wir es mit einem subjektivistisch-psychologischen Na-turalismus zu tun haben: dies deshalb, weil die abseits aller dialekti-schen Vermittlung vor sich gehende Reflexion der Oberflächenan-sicht der verdinglichten und entfremdeten Welt mit ihrer sensualisti-schen, d. h. subjektivistisch-verinnerlichten Ausformung zusam-menfällt und nicht etwa mit ihrer rationellen des »gesunden Men-schenverstandes«, welch letzteres den Naturalismus des Alltags-menschen und der entsprechenden Kunst ausmacht. Der subjektivi-stisch-sensualistische Naturalismus reflektiert, genau besehen, die

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naturalistische Oberfläche geltender verdinglichter Ideologien, wasnur deshalb unsichtbar wird, weil er sich des allegorischen Dunkelsbedient, das zwar formelle Hintergründigkeit und konstruiertenTiefsinn nicht ausschließt, aber die Entfremdung ideologisch un-vermittelt stehen läßt. Der »Tiefsinn« ist ein bloß subjektiver, einaus der Begabung und der Phantasie des Dichters erfließender, aberkein die objektive Realität entlarvender.Was den Expressionismus, der die abstrakte Malerei und die absurdeLiteratur methodisch und sachlich einleitet, trotz aller sonstigenUnterschiede z.B. mit dem »sprachzertrümmernden« Dadaismusverbindet, das ist der Zweiklang des Psychologisch-Subjektivisti-schen und Monomanisch-Expressiven einerseits und das über dieideologische Oberflächenerscheinung der Realität nicht hinausdrin-gende Reflektive anderseits, was insgesamt eben in den allegorisie-renden Naturalismus ausmündet.Im Gegensatz zur extrem abstrakten Malerei bleibt im absurdenTheater die Tendenz zur Allegorisierung insofern zum Teil durch-brochen, als Einzelvorgänge in ihrer isolierten Bedeutung bei einigerAnstrengung und bei einigem analytischen Vermögen auf ihren so-zialen Sinn hin erkannt werden können. Das Schuhausziehen und-anziehen wie das Hütewechseln symbolisieren im »Godot« ebensodas Scheintun im hektischen Tun wie das Nichtvorwärtskommen inder dauernden Bewegung des modernen Menschen sehr anschau-lich. Auch bei Kafka gibt es viele solcher vereinzelten Szenen, diesich wie rationalisierbare Inseln aus dem allegorischen Dunkel her-ausheben. Aber sie geben sich zum Unterschied zur realistisch-dia-lektischen Literatur nicht in einer direkt auf den konkreten Zusam-menhang bezogenen, realistischen Handlung zu erkennen, sondernbloß mittels der Symbolisierung: Wladimir und Estragon demon-strieren ihre Scheintätigkeit nicht an einem Akt des wirklichen Le-bens (in einer Fabrik, im Büro, in der Familie, auf der Straße, im Par-lament usw.), sondern an einem zum bloßen Symbol für etwas ande-res erhobenen und höchst gleichgültigen. Die Handlung steht hieran der Grenze der vollendeten Allegorisierung und leitet auch zudieser, die das Stück als Ganzes besetzt, unvermittelt über. Das Al-legorische bleibt das beherrschende Moment: Es sei an die Schwie-rigkeit erinnert, den blätterlosen Baum, die sonstige Leere auf derBühne, die Prügelszene, die Rede Luckys, Godot und anderes demrationalen Verständnis zugänglich zu machen.Das Problem des Häßlich-Grotesken gewinnt auch seine Bedeutungim Zusammenhang mit der weiter oben gemachten Andeutung derDifferenzierung der Themen der modernen Malerei in eine dü-ster-apollinische und eine erotisch-orgiastische Thematik. Beide

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Themenkreise, von uns demonstriert an Munchs »StockholmerStraße« und an Noldes »Tanz um das goldene Kalb», meinen undtreffen das Häßliche in seinen beiden, dem modernen Leben be-kannten Haupttendenzen des Repressiven und des Orgiastischen. 68Gerade weil diese beiden Strömungen nichts von der aus der Sehn-sucht nach ihrer Überwindung erfließenden Möglichkeit des Uto-pisch-Schönen ahnen lassen, werden sie eine diesem zugewandteKunst provozieren (nicht zufällig extrem getätigt von einem aus dermodernen in die primitiv »paradiesische« Gesellschaft geflohenenKünstler wie Gauguin). Aber auch in diesem letzteren Falle wirdtrotz der manchmal unmittelbaren und klaren Form der Aussäge derallegorische Charakter nicht aufgehoben.In aller Literatur geht es um das Ganze des Menschen und dermenschlichen Existenz. Das Ganze ist hierbei als dialektische Totali-tät zu begreifen, die durch die Handlung, d.h. durch das dargestellteindividuelle Schicksal hindurchzuscheinen, den überall fühlbarenHintergrund zu bilden hat, soll sie nicht ein bloß vereinseitigtes undverzerrtes Bild des Menschen zeichnen. Die Gefahr, die Totalität zuverfehlen, liegt nicht allein darin, daß diese zugunsten eines extremsubjektivistischen Menschenbildes übersehen wird, sondern ergibtsich ebenso daraus, daß sie als Totalität nur scheinbar beachtet wird,sich nur als Scheintotalität installiert. Ein markantes Beispiel istJoyce' »Ulysses«. Die gewaltige Fülle der Ereignisse, Situationen,Bezüge, Gestalten und der psychologischen wie intellektuellenReaktionen bezeichnet, trotz oft interessanter und zutreffender Ef-fekte im einzelnen, bei weitem noch nicht den wirklichen Charakterder englischen Großstadtgesellschaft, die wirkliche Totalität desmodernen, an Dublin exemplifizierten Lebens. Es ist nicht das wirk-liche Ganze, das uns Joyce vor Augen führt, sondern eine Abstrak-tion des Ganzen, als solche jedoch unkenntlich gemacht durch dieungeheuere Fülle von Bildern, eine Menge nur notdürftig geordne-ten Materials, zusammengehalten vermittels der schematisch-ab-strakten Idee des Gegensatzes zwischen dem vergeistigten und demvermaterialisierten Prinzip, Dädalus und Bloom, mit dem Effekt ei-ner mythischen Versubjektivierung des Menschenbildes nach demMaßstab der heute herrschenden nihilistischen Ideologie.Wir werden noch darauf zurückkommen, daß trotz des Eindringensverstreuter realistischer Züge diese Kunst als Folge ihrer prinzipiel-len subjektivistischen Mängel den Menschen nicht bloß in irgendei-ner Weise vereinseitigt und verzerrt, sondern - tendenzmäßig, d. h.in den verschiedenen Werken in verschiedener Weise und Intensität- dies nach einer ganz bestimmten Richtung hin tut, nämlich derniedrig-triebhaften und pathologischen, insgesamt spätbürgerlich-

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nihilistischen. In seiner Begeisterung für James Joyce' »Ulysses« ge-steht der geschwätzige Essayist Ernst Robert Curtius ein: 69

»In Ulysses wird nun alles freigelegt, und das macht das Buch zu einem Mu-seum der Sexualpsychologie und der Skatologie. « (Für »ästhetisch« nichtge-schulte Leser übersetzen wir: Skatologie heißt wissenschaftliche Kotkunde.)

Und das ist ebensowenig bloß symbolisch oder »philosophisch«gemeint (obgleich eine solche Philosophie das Gesagte nur bestätig-te) wie die folgende Charakterisierung des gleichen Autors : 70

»Und da sind die anderen Sünden... in jenem Gespensterreigen des 15. Kapi-tels... Die äußere Szene ist ein Bordell. Aber wir fühlen bald, daß wir aus der>wirklichen< Welt herausgetreten sind in ein Reich monströser und grauen-hafter Überwirklichkeit, einen Hexensabbat der Träume und Geister, eineOrgie von lasterhaften, blasphemischen Halluzinationen, neben der Flau-berts Versuchungen des heiligen Johannes zahm und literarisch wirken...Kritiker haben sich über den Wert und die Bedeutung des Kapitels gestrit-ten.«

Einer anderen Methode bedient sich, um zu einem ähnlichen Resul-tat eines subjektivistischen Nihilismus zu gelangen, z.B. ThorntonWilder in seinem Stück »Wir sind noch einmal davongekommen«,Besteht Joyce darauf, an Dublin in einem Zeitraum von 24 Stundenvorzuführen, in welch aussichtsloser Lage, wie verloren sich derMensch als Mensch überhaupt findet, so zielt Wilder auf dasselbeResultat. Der Unterschied ist nur der, daß er nicht einen besonderenPunkt wie Joyce (Dublin zu einer ganz bestimmten Zeit) zur Schein-totalität ausbaut, sondern indem er umgekehrt seine konstruierteScheintotalität ins überhistorisch-Maßlose ausdehnt und weit aus-einanderliegende Epochen der Katastrophe so miteinander ver-knüpft, daß der Zuschauer sich einer ewig wiederkehrenden und mitschicksalhafter Gewalt sich durchsetzenden »Ursituation« gegen-übergestellt sieht, die nur eine geringe Chance des Davonkommensläßt. Die wegen des Verfallens ins Abstrakt-überhistorische man-gelhafte Konkretisierung läßt nur einer scheinhaften, aufgebausch-ten Konkretisierung Raum, einer Scheintotalität, die das Publikumüber die wahren Gründe der geschilderten Katastrophen vollkom-men im dunkeln läßt. Naturkatastrophen (Eiszeit und Sintflut) undklassengesellschaftlich bedingte Katastrophen (Weltkrieg) werdenabstrakt auf die gleiche Stufe gestellt, auf diese Weise wird der bür-gerlich-dekadenten Stimmung der »Unentrinnbarkeit« entsprochenund das Liedchen mitgesungen, daß Einsamkeit, Melancholie, Nihi-lis mus und Schuldgefühl nicht Symptome einer zerfallenen bürgerli-chen Gesellschaft seien, sondern »es sie immer schon gegeben« habe.Warum aber die Dichter anderer Epochen von solchen alles über-

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deckenden Tendenzen einer dekadent-nihilistischen Stimmung freisind, können die nihilistischen »immer«-Ideologen nicht erklären.Das zeitweilig extrem Pathetische in der bildenden Kunst seit demfrühen Mittelalter und später im Barockroman war selbst Ausdruckeiner weitreichenden Kontaktlosigkeit von Kunst und Leben. Er-schien das Alltagsleben zu nüchtern, um »interessant« zu sein, soumging man es auf dem Wege der »Auswahl« besonderer Themenund legte in diese Themen eine Stimmung hinein, die erst den» Wert« der Dichtung ausmachen sollte. Diese »unnatürliche« oderbesser unrealistische Stimmung wurde vom Dichter gerne überstei-gert und ergab im Resultat eine Kunst von weitreichend nichtreali-stischer Struktur. Da unter der Voraussetzung der Einfachheit undDurchsichtigkeit des Alltagslebens nur das fesselte, was den nüch-ternen Ablauf des Alltags unterbrach, wurden Liebe und Krieg zuden beliebtesten Themen. Bis man dann im Barockroman ein ande-res »Außerordentliches« zum herrschenden Thema erhob, nämlichdas außerordentliche Leben und die konstruierten Schicksale derFürstenfamilien, die in der Zeit der neufeudalen absolutistischen Re-aktion als allein noch des Interesses wert erschienen. Das arbeitendeund bürgerliche Volk schien in die soziale Profanität und Schicksals-losigkeit versunken, bis Lessing, wenn auch nicht ganz ohne Vorläu-fer, einen anderen Ton anzuschlagen begann. Wird später auch derAlltag der verschiedenen sozialen Klassen von den Künstlern beach-tet, wird auch er »interessant«, so bleibt er noch immer ein durch-sichtiger Alltag, der nichts Wesentliches verbirgt, weil seine öko-nomischen Strukturen, seine sozialen Probleme und ideologischenWege noch wesentlich verständlich sind. Das Werk gilt als gelungen,wenn es der Dichter versteht, ausreichend konkret und vielseitig dieBezüglichkeit zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen,dem Einzelnen und dem objektiven »Schicksal« darzustellen. Etwas»ausdrücken« heißt hier nicht mehr, etwas Gesuchtes mit einer ge-fühlsgeladenen Sprache in eine »interessante« Stimmung zu verset-zen, sondern wesentlich das Leben sich selbst erzählen lassen.Damit wird die Sprache selbst um ein starkes Maß nüchterner, be-sonders verglichen mit jener des Barock. Sie wird aber gleichzeitigauch komplizierter, psychologischer, hintergründiger und schließ-lich epischer im Sinne der Einfügung von Interpretationen des Er-zählers selbst. An die Stelle der früheren pathetischen Oberflächen-schilderung - man könnte von einem pathetischen Rationalismussprechen - tritt die nüchterne Tief enschilderung, die auch dem Irra-tionalen der Erlebnis- und Gefühlswelt einen gewissen Raum läßt.»Schicksal« ist jetzt nicht mehr wie im Barock das Ergebnis endloserZufälle, sondern letztlich das unter bestimmten Bedingungen sich

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vollziehende Verhältnis des Menschen zum anderen Menschen; diedialektische Subjekt-Objekt-Beziehung, die nicht zufällig Hegel zurgleichen Zeit entdeckt. Aber noch immer bleibt das Leben, wennauch schicksalhaft verworren in seinem Ablauf, im Grunde ver-ständlich und durchschaubar. Die »Erkennungsszenen«, ein wichti-ges Mittel der dichterischen Handhabung der Handlung, wirken(mit Ausnahme von Kleist, wie Georg Lukäcs zeigt) klärend und dieMißverständnisse im Sinne der Durchsetzung normaler und greifba-rer menschlicher Beziehungen aufhellend auf den Lauf der Hand-lung. Das Schicksal bleibt als ein vom Menschen selbst letztlich»gemachtes« und verschuldetes verstehbar.Mit der fortschreitenden Industrialisierung, spezialistischen Me-chanisierung und Vermassung wird die Lebenssituation des einzel-nen Individuums immer undurchsichtiger. Das Schicksal erscheintzunehmend als gleichsam mystische Gewalt, als etwas mehr oderweniger Unbeeinflußbares, Übermenschliches. Das Einzelschicksalals solches scheint an Bedeutung zu verlieren. Es scheint nur inso-fern interessant, als es zum wichtigsten Darstellungsmittel des all-gemeinen Schicksals wird.Gleichzeitig und aus genau demselben Grunde der zunehmendenUndurchschaubarkeit des allgemeinen Schicksals zeigt der Dichterdie Neigung, sich in das Subjekt zurückzuziehen und die allgemeinemenschliche Situation von hier aus verständlich zu machen. Der dia-lektische Umschlag der künstlerischen Ideologie vom extrem Ob-jektiven (ä la Joyce und Wilder) als verdinglichter Entfremdung insextrem Subjektive ist zu verstehen als Flucht. Zwar gelingt sie nicht,weil auch die Subjektivität mit ihrer differenzierten Innerlichkeitsich (wie wir bereits gezeigt haben) bei genauer Analyse als Ab-klatsch der verdinglichten Außenwelt erweist. Entweder bleibt dieDichtung dabei stehen und schildert das Subjekt selbst als einen ent-fremdeten Apparat, als ein Element der äußeren Verdinglichung vonExistenz und Bewußtsein; oder sie sucht einen Ausweg in der sub-jektiven Freiheit, die sich der entfremdeten Welt entgegensetzt,dann gerät sie in die Fänge konstruierter Behauptungen (worübernoch zu reden sein wird). Die drei Formen verdinglichter Ideologiein der Literatur sind somit: 1. Übersteigerung der Totalität zurScheintotalität; 2. Schilderung der verinnerlichten Subjektivität alsveräußerlichter; 3. Flucht in die Scheinfreiheit des Subjekts, das sei-nerseits entweder als monologisierendes Ich oder als der absolutenFreiheit mächtiges Über-Ich erscheint.Diese künstlerische Haltung trägt ihrerseits zur gesteigerten Ideolo-gisierung des Bewußtseins bei. Der Künstler beobachtet mit oft gro-ßem Scharfsinn das Geschehen, aber er verbleibt gedanklich auf dem

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ihm unmittelbar erreichbaren Boden der Entfremdung, so daß das inMythen, Symbolen und Allegorien eingefangene Geschehen nichtwirklich verstanden, nicht zum wirklich Erkannten erhoben werdenkann. Die »Wahrheit« erscheint hier als bloß ideologische, bloß inder Konfrontation mit dem gewohnten verdinglichten Bewußtseindes selbst entfremdeten Theaters und Leserpublikums sich bewäh-rende Wahrheit. Je genauer die verdinglichte Oberfläche zur Repro-duktion gelangt, je geistvoller sie wie z. B. in Becketts »Godot« aus-gemalt wird, desto wahrer erscheint sie dem auf verdinglichte Refle-xion geeichten Theaterbesucher. Daß hier gleichzeitig - und das istdas »Überzeugende« an vielen modernen Theaterstücken-durchausauch Wahres dargestellt wird, beweist nur, daß aller auf scharfer Be-obachtung beruhender Schein eben nicht bloßer Schein ist, sonderndaß die Dialektik von Wahrheit und Unwahrheit des Scheins in dermodernen Literatur strafwürdig vernachlässigt wird. Statt der gan-zen Wahrheit erscheint nur die »empirische«, in der alltäglichenOberflächenbetrachtung sich präsentierende Wahrheit. Wäre dermoderne Mensch in der von der absurden Literatur geschildertenArt verdinglicht, dann wären Geschichte und gesellschaftlicher Pro-zeß nur noch als ein Naturprozeß begreiflich, jedoch nicht mehr alsdurch Bewußtsein und Tätigkeit sich vollziehende Subjekt-Ob-jekt-Beziehung.Bis zum 19. Jahrhundert beschäftigte sich die Literatur mit dem»normalen« Leben, auch wenn es bereits abnormal war im Sinnezeitbedingter Entfremdung. Ihre Normalität bestand darin, daß sieselten die Grenzen des Alltäglich-Möglichen, des Empirischen,überschritt. Die Entfremdung erscheint dem Künstler als das Pro-blematische eines Lebens, das als prinzipiell normales weitergeht.Im 20. Jahrhundert dagegen setzt sich in dynamischer Steigerungdas Bewußtsein der mehr oder weniger vollkommenen Zerstörungdes Normalen bis zur Höhe der Zerstörung des Menschen selbstdurch. Gleichzeitig ist dieses Bewußtsein seinerseits ein verkehrtes,ein der Entfremdung unterlegenes, weil es in zunehmendem Maßedie Tatsache aus den Augen verliert, daß alle gesellschaftliche Exi-stenz, auch die extrem entfremdete, nur möglich ist unter der Bedin-gung, daß der Mensch innerhalb der gegebenen Verhältnisse arbei-tet, strebt, denkt, liebt, sich nach Freiheit sehnt usw., d. h. sich nor-mal verhält. Es gibt keine Entfremdung für sich, sondern nur eineEntfremdung des Lebens, wie es immer in seinen primären Bedin-gungen gewesen ist, sein muß und stets bleiben wird. MenschlichesExistieren steht nicht außerhalb der Geschichte. Bis zur Epoche desanbrechenden Imperialismus im letzten Drittel des vorigen Jahr-hunderts war es noch möglich, das in der Literatur oft als das Unver-

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dorben-Naive sich gebende in ungenierter Spontaneität dem All-tagsleben selbst zu entnehmen und es in einer der humanistischenSehnsucht nach Überwindung der Entfremdung befriedigendenWeise darzustellen.Die naiv-sehnsuchtsvolle, die »elegische« Tendenz ging dahin, dietragischen Einzelschicksale als relative und vermittelte Spiegelbilderdes ebenso tragischen, weil entfremdeten Schicksals aller Menschen,der ganzen Gesellschaft, deutlich zu machen und gleichzeitig das»Sittliche« oder »Gute« als Möglichkeit der Erlösung von diesemSchicksal durch die Einbeziehung positiver, den Kampf gegen dasBöse tragisch durchfechtender Gestalten in die Handlung durch-scheinen zu lassen. Es ist hierbei zunächst ohne Belang, ob diese Ge-stalten idealistisch übersteigert zu siegreichen Helden stilisiert oderim tragischen Zusammenbruch endend dargestellt wurden. Selbstwo das »Gute« oder das »Ideal« wieder ironisch zurückgenommenwird, indem man es als unverwirklichbar-utopisch erscheinen läßt,geschieht dies nicht im Sinne des nihilistischen Pessimismus, son-dern es bleibt als eine aus dem Leben nicht wegzudenkende positiveUtopie bestehen, um dieses Leben und in weiterer Folge die Kunstselbst zu affizieren, in Bewegung zu halten, ja noch mehr als das,überhaupt möglich zu machen. Das als Kampf zwischen dem Gutenund dem Bösen und damit gewollt oder ungewollt, direkt oder indi-rekt humanistisch begriffene Leben bot die zureichende Grundlagefür eine Kunst, die es noch nicht nötig hatte, »ganz neue Formen« zusuchen, um sich ausdrücken zu können. Die gesellschaftliche Situa-tion der Entfremdung im Liberalismus ließ noch in spontaner Refle-xion die Einsicht in den Widerspruch zwischen entfremdeter Reali-tät und ihr kritisch entgegenstehendem Ideal zu.Die Suche nach neuen Formen der künstlerischen Darstellung wur-zelt überwiegend in dem Gefühl und der ihr entsprechenden Ideolo-gie, die das spätkapitalistische Grauen zum Unwiderstehlichen undUnüberwindlichen erhebt und damit als absolut setzt. Unter ande-rem entstehen in diesem Zusammenhang solche Fragen wie die fol-genden: »Kann der Mensch heute überhaupt noch >gespielt< wer-den?«, fragt Dürrenmatt; Adorno stellt die Frage »Ist Lyrik nachAuschwitz noch möglich?«, Hans Mayer fragt ähnlich wie Dürren-matt »Kann es heute noch Tragödien geben?«Zweifellos ist es äußerst schwierig, den in der spätbürgerlichen Ideo-logie seiner konkreten Züge beraubten und zum abstrakten Schema»des« entfremdeten Individuums allegorisierten Menschen auf denBühnen und in den Romanen so darzustellen, daß sich daraus Thea-ter und Erzählung in der Art dessen ergeben, was wir darunter tra-ditionell verstehen. Aber als konkretes und dem historischen wie ge-

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sellschaftlichen Diesseits entnommenes Wesen ist dieses Individuumtrotz aller mit Recht geforderten Neuerungen genauso darstellbarwie in früheren Jahrhunderten - auch Lyrik ist nach Auschwitz wie-dererstanden, womit ihre Möglichkeit erwiesen ist. Ziehen wir dieengere Frage in Betracht, ob es heute noch Tragödien geben kann.Um diese Frage zu beantworten, nimmt Hans Mayer in seiner Es-saysammlung »Zur deutschen Literatur der Zeit« Stellung zu Dür-renmatts Hörspiel »Die Panne« 71 Der Inhalt dieses Hörspiels drehtsich darum, daß ein verirrter Vertreter sich einem zwecks bloßerUnterhaltung durchgeführten Gericht unterwirft und des Mordes anseinem Chef beschuldigt wird, den er mit einer für die kapitalisti-schen Konkurrenzverhältnisse charakteristischen halbbewußtenRationalität - man erinnere sich an Kafkas zwischen Schlafen undWachen handelnde Personen - in den Tod treibt. Der VertreterTraps handelt letztlich zwangsläufig, seine Schuld ist eine nur zweit-rangig persönliche. In Wahrheit fällt die Schuld auf die gesellschaft-lichen Umstände, die das einzelne Individuum kraft des in ihnen lie-genden Zwangs, vermittels eines raffinierten Handelns erfolgreichzu sein, in die Situation bringen, am Tode anderer symbolisch odereffektiv schuldig zu werden.Mit der Panne will Dürrenmatt demonstrieren, daß es in unserer Zeitkeine echten Tragödien mehr geben kann. Hans Mayer folgt ihmhierin. Die Begründung ist die folgende:»In der modernen Welt, so will es Dürrenmatt scheinen, ist das große, tragi-sche Spiel und Gegenspiel kaum noch möglich. Nichts mehr von MarquisPosa, von König Philipp, von Egmonts Attituden, von Herzog Alba.«

Diese Ansicht widerlegt sich zunächst - zunächst, weil hinter ihrauch ein großes Stück Wahrheit steckt - dadurch, daß Dürrenmattdie Protagonisten des tragischen Spiels ganz nach dem überliefertenZuschnitt des altklassischen Theaters auf die »echten Repräsentan-ten«, die Helden mit Namen, das heißt auf die historisch oder gesell-schaftlich hervorstechenden Persönlichkeiten reduziert. Dürren-matt sagt - zitiert nach Hans Mayer:

»Die echten Repräsentanten fehlen, die tragischen Helden sind ohne Namen.Mit einem kleinen Schieber, mit einem Kanzlisten, mit einem Polizisten läßtsich die heutige Umwelt besser wiedergeben als mit einem Bundesrat, als miteinem Bundeskanzler. Die Kunst dringt nur noch bis zu den Opfern vor,dringt sie überhaupt zu Menschen, die Mächtigen erreicht sie nicht mehr.«

Die Konsequenzen sind die folgenden:

»Nicht die Schuld oder Sühne des Herrn Traps soll gezeigt werden, sonderndie Struktur der >menschlichen Gemeinschaft< von heute. Zustand einer Ge-

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meinschaft der totalen und allgemeinen Verantwortungslosigkeit, die nachDürrenmatts Meinung in unserer Zeit das Schreiben von Tragödien unwei-gerlich verbieten müsse. Denn: >Denn die Tragödie setzt Schuld, Not, Maß,Übersicht, Verantwortung voraus. In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, indiesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine Schuldigen und keine Ver-antwortlichen mehr. Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt...Wir sind zu kollektiv schuldig, zu kollektiv gebettet...<

«

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Die Ansicht Dürrenmatts läuft darauf hinaus, daß es wirklich freieIndividuen in einer Zeit der durchschnittlichen Nivellierung desVerhaltens auf der Ebene der alles nach Schema ausführenden »Se-kretäre« - die hier für den schematisch verfahrenden Alltags- undBerufsmenschen der spätbürgerlichen Gesellschaft stehen - nichtmehr gibt. Daher gibt es kaum noch die wirklich freie Entscheidungund Verantwortung, nicht die wirklich freie Tat, die Schuld, Not,Maß usw. nach sich zieht. Erst durch eine solche freie Entscheidungund Tat erhält der Begriff der tragischen Verwicklung und Schuldeinen Sinn. Da im entindividualisierten Kollektiv, in der institutio-nalisierten und uniformierten Gesellschaft alle Individuen unterDruck gehalten werden, sind sie durch den anonymen Prozeß, der indie Schuld drängt, zugleich aller Verantwortung bar und entschul-digt. Die subjektive Schuld kann das Individuum nicht mehr treffen.Die einstmals von profilierten, des Alleingangs fähigen und vomBewußtsein der persönlichen Verantwortung getragenen Individuenprovozierte tragische Situation, die in der konfliktgeladenen Begeg-nung mit anderen, prinzipiell ähnlich gearteten Individuen das her-vorbrachten, was man die Tragödien nennt, ist heute nicht mehrmöglich.An dieser Argumentation ist zunächst etwas Wahres. Würde mandies leugnen, dann würde man die tiefgreifenden Veränderungen derbürgerlichen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts leugnen. Jedochübertreibt gleichzeitig die moderne theoretische und ästhetischeIdeologie in einer ganz bestimmten, nämlich den dekadenten An-sprüchen der gegenwärtigen bürgerlichen Epoche angemessenenWeise, womit sie selbst zu einem Element der ideologischenAkkommodation an die bestehenden Verhältnisse wird, denen siemit kritischer Distanz zu begegnen vermeint.Diese Akkommodation zeigt eine doppelte Tendenz. Einerseits: In-dem die ästhetische Reproduktion moderner Tatbestände der Ent-fremdung und Verdinglichung alle Individuen als gleichermaßenund deshalb mechanisch »funktionierende«, aller subjektiven Ent-scheidungsfähigkeit bare »Sekretäre« begreift, wird der die verant-wortlichen Mächte entschuldigende Schein erzeugt, als ob die ganzeSchuld dem anonymen und rein mechanisch ablaufenden »Prozeß«

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zu Lasten fiele. Anderseits: Es wird auf diese Weise selbst jener un-aufhebbare Raum individueller Entscheidung sistiert, der die allge-meine anthropologische Voraussetzung menschlicher Existenzüberhaupt darstellt. Es ist dem entgegenzuhalten, daß es Gesell-schaften ohne irgendeine Form individueller Entscheidung, zwi-schenindividueller Widersprüche und ohne jeglichen tragischenKonflikt schlechthin nicht geben kann.Was sich in Wahrheit geändert hat, das ist die Form des tragischenKonflikts. An die Stelle der einstigen Akteure dieser Konflikte derfeudalen und bürgerlichen Welt von Egmont bis Buddenbrooks sindmoderne Akteure mit veränderten Eigenschaften und Tendenzengetreten. Alles verläuft weniger heroisch, die Konflikte spielen sichviel nüchterner, wenn auch nicht in einer weniger erregenden Atmo-sphäre ab. In einer Zeit der fast totalen ideologischen Manipulation,verdinglichten Institutionalisierung und fetischistischen Verspieße-rung - die nur eine begrenzte progressive Elite, über die wir spätersprechen werden, ausläßt - spielt die einstmalige »erhabene« Pathe-tik und Gestik nur noch eine geringe Rolle. Die für jede Gesell-schaft, auch für die extrem verdinglichte, fortwirkende dialektischeSpannung zwischen den reaktiven und den, wenn auch zahlenmäßigbegrenzteren, progressiven Kräften läßt sich niemals ganz sistieren.Der aus seiner Partei ausgeschlossene Intellektuelle, der um dieRechte der Mitglieder isoliert kämpfende Gewerkschaftsfunktionär,der in das Einzelgängertum gedrängte aufmuckende Arbeiter oderAngestellte, der wegen seiner mutigen Haltung im Netz verwickel-ter Schikanen zappelnde Student, ja selbst der gegen die Normenverstoßende Liebhaber wie der in die theoretische Arbeit sich flüch-tende Kritiker usw. - sie alle sind Gestalten von einer höchst tragi-schen Wesenheit, und die heutige Welt ist voll von ihnen.Die entscheidende Bestimmung ist damit aber noch nicht gewonnen.Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß das Tragische unserer Zeiteinen anderen Charakter angenommen hat. Die Konflikte von Indi-viduen, die der Entscheidung und der Tat, der Schuld und der Ka-tharsis, der Not und des Maßes fähig sind, nehmen weniger als frü-her die Form von Konflikten zwischen wirklichen und individuellenExponenten entgegengesetzter Art an, als vielmehr die Form vonKonflikten mit einer zu verdinglicht-manipulierter Objektivität er-starrten Welt, als deren selbst manipulierte Schatten ihre individuel-len Exponenten agieren. Selbst ein sich zum »demokratischen Sozia-lis mus« bekennender Mann wie der deutsche Bundeskanzler WillyBrandt versteht seine »linken« Kritiker nicht, wenn diese ihm vor-werfen, unter dem Zwange des verdinglichten Prozesses spätkapita-listischer Selbstreproduktion dem Großkapital dienstbar zu sein; er

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vertritt nicht eine Idee, einen Standpunkt, ein Ideal gegen andereIdeen, Standpunkte, Ideale und deren Exponenten, sondern er»funktioniert« im Netz verdinglichter Profit- und Manipulations-mechanismen. Seine individuellen progressiven Gegner finden inihm nicht ihresgleichen, sondern einen bloßen subjektiven Ab-klatsch objektiver Institutionalisierungen. Als konsequente Vertre-ter der Ideologien einer verdinglichten Welt und ihrer Institutionenerscheinen deren Exponenten als bloße selbst manipulierte Werk-zeuge. Sie als profilierte Einzelne ä la Philipp, Macbeth oder Albaernst zu nehmen, ist hoffnungslos. Der Kampf gegen sie bleibt einKampf gegen wesenlose Schatten. Von der verdinglichten Institutio-nalität bis in die intimsten Bereiche des Denkens und Handelns hin-ein bestimmt, lassen sie sich nicht mehr wie einstmals in ein persön-liches Austragen der entstandenen Konflikte ein, sondern folgenmechanisch der Schematik des Vollzugs, die dem objektiven Prozeßimmanent ist. Innerhalb dieser Schematik wahren sie allerdings denSchein der »selbständigen Entscheidung« zum Zwecke der Selbst-täuschung und der Täuschung ihrer Umwelt. Als verdinglichter Ra-tionalismus stellt diese Haltung eine dar, der das tragische Momentunmittelbar fremd sein muß.Dieser verdinglichte Rationalismus ist es, der den Schein logischerKonsequenz erweckt und das verdinglichte Selbstbewußtsein derihm unterworfenen Individuen stärkt. Sie ahnen nicht, daß ihr Den-ken nur in dem Sinne rational verläuft, in dem auch der naive Na-turmensch vermeint, einen Gegenstand begriffen zu haben, wenn ersich ihn in seiner Größe, Gestalt und Farbe mit seinem »Verstande«aneignet. Als individuelle Verkörperung des Widerstandes gegenden verdinglichten Rationalismus und seine Exponenten, die »Se-kretäre«, als Träger von Leid und Opfer, als Handelnde dauernd inechte oder irrige Schuld sich verstrickend, als Initiatoren von Ent-scheidung und Verantwortung, stellen die »kritischen« Individuentragische Figuren in der Weise dar, daß der moderne Autor nur zu-greifen muß, um Stoff für seine Tragödien zu finden.Die moderne Tragödie wartet noch immer auf ihren großen Dichter.Trotz Bert Brecht, der in solchen Gestalten wie Galilei, Grusche,Sehen Teh und Mutter Courage den gegen die objektiven Mächtekämpfenden Helden genial vorausahnt, aber nur in einer romanti-sierten, noch nicht zureichend modern-konkreten Form. Alle dieseGestalten Brechts kennen das Problem der Bewußtheit, der Verant-wortung, der Entscheidung und der Schuld, sie alle sehen sich vordie Frage der Katharsis gestellt. Aber sie sind noch nicht zureichendmoderne Gestalten, auf ihnen baut sich noch nicht die Tragödie desSpätkapitalismus auf. Dieser Mangel pflegt den gängigen Irrtum zu

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bestärken: Weil es solche Tragödien noch nicht gibt, ziehen Dür-renmatt und Hans Mayer die Konsequenz, daß es sie nicht gebenkann.I m Gegenteil, noch niemals zuvor ist dem humanistischen Kampfgegen die klassengesellschaftliche Misere und damit dem tragischenKonflikt zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen dem sichnicht beugenden Heros und den menschenfeindlichen Umständeneine so große Möglichkeit des breiten Sichauswirkens geboten wor-den als in einer Epoche, in der das humanistische Pathos diesesKampfes sich nicht bloß wie in den alten Tragödien auf den engenRaum individueller Konflikte und Aktionen (wenn auch auf gesell-schaftlichem Hintergrunde) beschränken, sondern jene Breite ge-winnen kann, die sich durch den Kampf gegen die Totalität verding-lichter Zustände von selbst ergibt.

13. Die pseudoreligiöse Ideologie

Die ideologische Entgegensetzung zu den verdinglichten Zuständenist nicht immer eine humanistische. Im vielschichtigen Bereich derideologischen Ausprägung des spätkapitalistischen Bewußtseins ent-stehen verschiedene Formen der versuchten Flucht aus den Zwängendes verdinglichten Lebens, die auf eine Scheinflucht hinauslaufen.Beispielgebend dafür sind die pseudoreligiösen Strömungen, die die-ses Bewußtsein zumeist hin[t]ergründig unterlaufen. Um dieses Phä-nomen auf der Grundlage der marxistischen Ideologienlehre unmiß-verständlich darstellen zu können, ist eine vorgängige Klärung desBegriffs der Religion, wie ihn Marx versteht, unumgänglich.Eines der berühmtesten Schlagwörter lautet: »Religion ist dasOpium für das Volk.« Es ist nicht genau bekannt, wann es entstan-den ist. Jedenfalls hat es seine entschiedenste Wirkung ausgeübt imrevolutionären Kampf des aufsteigenden Bürgertums des 18. Jahr-hunderts, als sich dieses darauf vorbereitete, seine große Schlachtgegen die feudalen Mächte und gegen die mit ihnen verbündete Kir-che zu schlagen. Indem die führenden bürgerlichen Philosophen vorder Französischen Revolution alles gesellschaftliche Denken entwe-der aus den klimatischen Bedingungen oder aus dem egoistischen In-teresse ableiteten, konnten sie aus dieser naiv-materialistischen Posi-

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tion heraus die Religion nicht anders erklären denn als ein künstli-ches Produkt der in staatlicher und kirchlicher Gestalt das Volk un-terdrückenden und bewußt irreleitenden Mächte. Daher die Formu-lierung: »Opium«, d.h. Gift, »für« das unterdrückte Volk.Daß Marx und Engels einen weitaus subtileren Materialismus vertra-ten als ihre bürgerlichen Vorgänger und sie deshalb das uralte Phä-nomen der Religion viel feinsinniger deuteten, würde allein schondurch die Tatsache zureichend belegt sein, daß sie die Fortsetzer desalten Materialismus im 19. Jahrhundert, nämlich Moleschott, Büch-ner und Vogt, höhnisch als die »naturwissenschaftlichen Reisepre-diger des Materialismus« (Engels) abtaten. Es macht deshalb einenwesentlichen Unterschied aus, daß der Marxsche Ausspruch aus der»Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« an die Stelle des Opium»für« das Volk ausdrücklich den, einen anderen Sinn implizieren-den, Satz setzt: »Die Religion ist das Opium des Volks«. Aus demZusammenhang, in dem dieser Satz steht, läßt sich noch deutlichererkennen, daß Marx der Religion eine aus dem gesellschaftlichenSein selbst und keineswegs aus der subjektiven Absicht irgendwel-cher bösen Mächte erfließende ideologische, d.h. seinsreflektierendeBedeutung zumißt. Marx sagt: »Die Religion ist der Seufzer der be-drängten Kreatur... der Geist geistloser Zustände... sie ist dasOpium des Volks.«Stammt Marx aus einer jüdischen Priesterfamilie und war Engels inseiner Jugend noch selbst einer tiefen pietistischen Religiosität ver-haftet, so waren sie der religiösen Erlebniswelt zu nahe gewesen, umsie in der Weise der alten bürgerlichen Materialisten abzutun. Dazukommt, daß ihre differenzierte geschichtsphilosophische Konzep-tion bei ausnahmslos allen gedanklichen Strömungen, erst recht sol-chen von weltgeschichtlicher Bedeutung, kategorisch nach den ver-borgenen objektiven Wurzeln ihres Zustandekommens fragt. Einesubjektivistische Erklärung der Religion bleibt mit den theoreti-schen Ansprüchen des historischen Materialismus unvereinbar. Dervergesellschaftete und objektiven Gewalten - in der Urzeit der Na-

tur, in der Klassengesellschaft den herrschenden Mächten -ausgelie-ferte Mensch sucht, wie Marx deshalb weiter sagt, in der Religion»das Gemüt einer herzlosen Welt, den Geist geistloser Zustände.«Er sucht also etwas hinter dieser Welt, er sucht das Verborgen-Hö-here, an dem sich sein leidendes und protestierendes »Gemüt« em-porranken kann; an ihm rankt sich, wie Marx bemerkt, der dem irdi-schen Elend widerstrebende »Enthusiasmus« 73 empor. Deshalbkann Marx geistvoll bemerken, daß, weil in der entfremdeten Welt»das menschliche Wesen keine Wirklichkeit besitzt«, die Religion»die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens« ist.

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Zwar stellt sie, sagt Marx weiter, »ein verkehrtes Weltbewußtsein«dar, aber in dieser Gestalt ist sie gleichzeitig »die allgemeine Theoriedieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in po-pulärer Form«. Ihrer nichtpopulären Form, der Theologie, mißtrautMarx um so mehr und nennt sie »die faule Ecke der Philosophie« . 74

Im Gegensatz zur Religion ist die Theologie nicht volkshaft, son-dern akkommodiert sich in ihrer hauptsächlichsten Tendenz denherrschenden Mächten. Der bedeutende katholische Gelehrte Au-gust Knoll hat in einer aufsehenerregenden Schrift im einzelnennachgewiesen, wie sehr sich die Theologie in den letzten anderthalbJahrtausenden den herrschenden Mächten unterworfen hat .75Auch die Theologie »hockt«, sagt Marx, ebensowenig wie derMensch »außerhalb der Welt«. 76 Keine Kritik, auch nicht die imDienste ihrer eigenen Katharsis vollzogene Selbstkritik der Theolo-gie ist vollziehbar ohne die Kritik »der Erde, des Rechts und derPolitik«. »Die Kritik der Theologie«, sagt Marx, »ist die Kritik derPolitik. «77Was Marx, der den Weg für das Verständnis des Religiösen für daskritische Bewußtsein frei gemacht hat, nicht voraussehen konnte,das ist, daß der entgeistigte und vermaterialisierte Mensch der spät-bürgerlichen Epoche sich selbst der oben aufgezeigten urwüchsigenFähigkeit entschlägt, seinem bedrückten Herzen in einem »Seufzer«seiner religiösen Phantasie Ausdruck zu verleihen. An die Stelle derüber die religiös-phantastische »Kritik« an der Welt gehende Ver-söhnung mit dieser tritt die profane Versöhnung, die keiner »kriti-schen« Brücke mehr bedürftige. Die gelegentlich noch vollen Kir-chen sind mit Ungläubigen gefüllt; die meisten bleiben draußen.Marx hat zwar das religiöse Bewußtsein als das Ergebnis des profa-nen Elends nachgewiesen, aber ein anderes Ergebnis dieses selbenElends, nämlich das sich immer weiter ausbreitende areligiöse Be-wußtsein, erklärbar aus der sich ausbreitenden Gleichgültigkeit undAversion gegen alles Geistige, übersehen. Der Marxsche »Seufzerder bedrängten Kreatur« ist abgeflacht zum Nichts der totalenGeistlosigkeit, unter deren alleszermalmendem Gleichschritt auchdie Religion begraben wird.Das religiöse Bewußtsein beginnt also nicht erst, wie Marx erwartethat, mit der klassenlosen Gesellschaft abzusterben, wenn auch ausgenau entgegengesetzten Gründen. Der den modernen humanisti-schen Ideen mit großem Verständnis begegnende DominikanerMarcel Reding weist in kritischer Absicht darauf hin, daß Marx inder Religion »eine Angelegenheit des Volkes im Gegensatz zu denGebildeten« gesehen hat . 78 Wäre es für einen Zeitgenossen des 20.Jahrhunderts nicht interessant zu untersuchen, warum die Religion

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faktisch und vor unseren Augen allmählich aufhört, eine Angele-genheit des Volkes zu sein? Die naturwissenschaftlich-technischeEntwicklung, auf die man sich gerne beruft, hat in den früherenJahrzehnten nur zum geringsten das Volksbewußtsein zu entmytho-logisieren vermocht und ist in ihrer Wirkung weit hinter der allge-meinen Gewalt der kapitalistischen Entgeistigung zurückgeblieben.Nichtsdestoweniger wäre es nicht ganz richtig, einem einfachenVerschwinden der religiösen Vorstellungen zuzustimmen. Richtigerist es, von einer Verdrängung des Religiösen zugunsten primitiver,das bedeutet im Niveau unter ihm stehender pseudo- und vorreligiö-ser - magischer - Formen zu sprechen. In erster Linie und ohne andiesem Orte die gesamte, noch nicht untersuchte, Erscheinungs-weise ausschöpfen zu können, sind es die folgenden: die in einem er-staunlichen Ausmaß sich ausbreitende Astrologie (in den USA istdas anfängliche Dutzend der Blätter, die eine astrologische Spalteführen, im Laufe der letzten Jahre auf einige hundert angestiegen);der, weil mit dem rationalen Alltagsdenken des naturwissenschaft-lich aufgeklärten Menschen unvereinbare, verschämt in den subjek-tiven Bereich zurückgenommene Aberglaube; der mißverstandeneZen-Buddhismus und verschiedene »indische« Ritual- und Konzen-trationsriten; der mit magisch-religiöser Kraft ausgestattete Umgangmit Rauschgiften; die mit ebensolchem magischen Vertrauen ge-handhabten Glücksspiele (Lotto, Toto usw.); neuerdings kommthinzu die Jesusbewegung Jugendlicher, die die früher Ekstasen undTrancezustände hervorrufenden Beatveranstaltungen abzulösenscheint.Solche soziologisch nur schwer faßbaren pseudoreligiösen und insMagische zurückfallenden Strömungen breiten sich im gleichenMaße aus, wie das echte religiöse Bewußtsein abnimmt. Der vonMarx mit der Religion gleichgesetzte »Seufzer der bedrängten Krea-tur« macht unter dem Druck der allgemeinen Entgeistigung einermagisch-primitiven Ideologie, mit der der Alltagsmensch auf die re-pressiven Verhältnisse reagiert, Platz. Der Rückfall ins Magischeentspricht der Reflexion des verdinglichten Prozesses, wie wir ihnoben eingehend analysiert haben, als eines übermenschlich-schick-salhaften.Was die oberen Klassen der modernen Gesellschaft betrifft, ist ih-nen, wie dies bereits Max Weber bemerkt hat, das Religiöse im ei-gentlichen Sinne fremd . 79 Aber die ihnen ideologisch zugeordnetenIntellektuellen, die ihre subjektiv kritische Aufmerksamkeit demGanzen des Seins schenken und sich nicht bloß mit praktischenRechtfertigungsnormen begnügen, leiden unter der Entwertung ei-ner »gottlos« gewordenen Welt, deren Wert- und Sinnfreundlich-

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keit sie nicht als das Resultat bürgerlicher Herrschaftsverhältnissedurchschauen. Sie suchen nach einem neuen Halt. Ist auch für ihrVerständnis die Entwertung des Geschichtlichen vollzogen durchden Einbruch »mythisch«-verdinglichter Gewalten - die sie unter-schiedlich beschreiben und definieren -, so erkennen sie das zu set-zende Ziel nicht in deren Auflösung, sondern im Sichzurückziehenauf das »Personale«, das subjektive Ich und seine ihm angeblich au-tonom und unvermittelt zur Außenwelt innewohnende Kraft derGewinnung von Freiheit und der Lösung der Widersprüche.Sonst dem Religiösen überwiegend mit Skepsis und Distanz begeg-nend, ahnt diese Intelligenz und die von ihr beeinflußte dekadenteOberschicht gar nicht, daß der subjektivistische »Personal«-Mythuseinen, wenn auch vom übrigen Religiösen deutlich unterschiedenen,Rückfall in das Religiöse darstellt. Da aber gleichzeitig der ethischeBezug zu einem höheren Wesen fehlt, weil an die Stelle Gottes daseigene Ich als allmächtige »personale« Einheit getreten ist, entstehtfaktisch auch hier eine Art Pseudoreligion mit einem gleichfalls ma-gischen Anflug. Zwar sind bei dieser Elite die magischen Tendenzennicht wie bei der Masse der abhängigen Schichten aus der allgemei-nen Entgeistigung erflossen, sondern umgekehrt aus dem Bemühenum eine Rettung des Geistes im Dienste der Selbstrettung des vonder Außenwelt bedrohten »personalen« Ich. Im Hintergrunde stehtjedoch dieselbe nihilistische Dekadenz der hochbürgerlichen Gesell-schaft, dieselbe Geistfeindlichkeit der objektiven Realität, der sichdas elitäre Ich zu entziehen versucht. Wilhelm Emrich, einer der be-rufenen Ideologen des dekadenten elitären Bewußtseins, bietet fürdiese Haltung eine äußerst treffende Formulierung: 80

»Eine Bewußtseinsstufe also ist zu gewinnen, in der der Mensch >seinerselbst bewußt< geworden ist, d. h. die dualistische Spaltung zwischen Empirieund >Ding an sich< in seiner >Person< aufgehoben hat. Der Widerstreit zwi-schen den Direktiven, die aus dem außerempirischen, absoluten Reich der

>Freiheit< i n Gestalt des (subjektivistischen, L.K.) kategorischen Imperativsdem Menschen zukommen, und den empirischen Bedingungen und Not-wendigkeiten, in die der Mensch als physisches und geschichtliches Wesenzwangsläufig gestellt ist, ist überwindbar durch ein personales Bewußtsein,das die Gegensätze als ihm eigene... begreift und damit die Widersprüchedurch sich selbst als überlegene Bewußtseinsinstanz zu durchschauen und zuüberwinden vermag.«

Münchhausen zieht sich selbst aus dem Sumpf. Der neue Gott ist»die überlegene Bewußtseinsinstanz« des Ich, der »Person«. Die be-schwörende Magie bemächtigt sich der eigenen Person als der Zu-ständlichkeit, in der angeblich das geheime Einverständnis, die »ge-heime Identität« »von Irrationalismus und Rationalismus durch-

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schaut und überwunden« wird, wie Emrich formuliert. Wobei nurein neuer extremer Irrationalismus von zudem pseudoreligiöser Re-levanz zustande kommt.Es ist noch nicht lange her und gilt auch gegenwärtig noch, daß diepseudoreligiöse Hoffnung profanere Wege beschritt: Sie fließt ausder Droge, aus LSD und dem Haschisch, nicht selten aus Schlimme-rem. Es ist kein Zufall, daß Anthroposophie, Zen-Buddhismus,Konzentrationsübungen und verwandte magische Strömungen einegroße Ausbreitung in der westlichen Welt gefunden haben. Schon1954 beschrieb Aldous Huxley in seinem Buch »Pforten der Wahr-nehmung« enthusiastisch seine Erfahrungen mit Meskalin und ande-ren Halluzinogenen. Unvergessen ist der Harward-Psychologe Pro-fessor Leary, der zwei Kolonien des »Transzendentalen Lebens«und eine »Internationale Vereinigung für innere Freiheit« auf derGrundlage des Gebrauchs von Rauschgift gründete. Der amerikani-sche Religionsprofessor Clark unternahm Versuche mit Theologie-studenten, in denen sie mittels des LSD »näher zu Gott gebracht«werden sollten.81Die »bedrängte Kreatur« der unteren Klassen meidet in hoffnungs-loser Resignation den religiösen »Geist geistloser Zustände« (Marx)ebenso, wie sich die scheinoppositionelle, weil nur in eine Opposi-tion gegen die Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft gedrängteSchicht der bürgerlichen Ideologen in einen pseudoreligiösen »per-sonalen« Atheismus flüchtet.

14. Kriminalität als Ideologie

Spricht Emrich von den »Bedingungen und Notwendigkeiten, in dieder Mensch als physisches und geschichtliches Wesen zwangsläufiggestellt ist« (s. Zitat S. 121), so sind sie implizit als negative begriffen,denen ein ebenso negativer Mensch etwa im Sinne des Heidegger-schen »Man« entspricht. Das nihilistische Weltbild, das der Epocheder bürgerlichen Dekadenz zugeordnet ist, ist automatisch mitge-dacht. Neuerdings und unter dem Einfluß der Ethologie wird dieserMensch mit Vorliebe durch die Aggressionsneigung definiert. Einneues biologistisches, und das heißt vulgär-materialistisches Men-schenbild ist entstanden, eine Ideologie, die den bisher von uns be-schriebenen und in sich verzweigten ideologischen Strom fortführt.In diesem Zusammenhang konstituiert sich eine schlechte Dialektik

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von Anthropologie und Gesellschaftstheorie auf der Grundlage ei-ner nihilistischen Verzerrung beider. Wenn Kriminalität, Alkoho-lis mus, Rauschgiftsucht, in Verbindung mit zunehmender Primiti-visierung des Geistes- und des Empfindungslebens so offenbar wer-den, daß sie nicht mehr abgeleugnet werden können, so wird dieserSachverhalt nicht mehr retuschiert, sondern offen zugegeben, aberauf eine Weise, daß z. B. der Wohlstand es sei, der es dem von Naturaggressiven Menschen leicht mache, sich gehen zu lassen. So vertrittErwin K. Scheuch ganz im Sinne dieser Ideologie die These, daß »ineiner Wohlstandsgesellschaft die Hemmungen abnehmen« . 82 Aberschon Hegel hat gewußt, daß »nicht die Kartoffel, sondern der Pflugden Menschen bestimmt«, »womit die Unfähigkeit der Empfindungund des Genusses der weiteren Freiheiten und besonders der Vor-teile der bürgerlichen Gesellschaft zusammenhängt« . 83 Worauswiederum faktische Aggression erfließt. Marx bemerkt, daß mit Ab-straktionen »keine wirkliche geschichtliche Produktionsstufe be-griffen« ist. 84 Bereits zu einem früheren Zeitpunkt geht Marx direktauf die anthropologische Frage nach dem Verhältnis von »Begier-den« zu den »materiellen Umständen« ein und kommt zu dem Re-sultat, daß diese Begierden »nur der Form nach verändert werden«,was so viel heißt, daß ihre inhaltliche Auswirkung in historischenUmständen ihre Wurzel hat. Erscheint auch die Aggression als einean die ihrer Natur nach aggressiv-anarchisch geprägten Primärtriebegebunden, also als eine Art Sekundärtrieb, 85 so ist nicht zu verheh-len, daß es ausschließlich entfremdete gesellschaftliche Situationen,in unserem Falle die des entwickelten Kapitalismus, sein können, diedas Individuum zu Aktionen der Artikulation dieses Aggressions-triebs in der Richtung der Kriminalität usw. treiben.Der angebliche »Wohlstand«, der seiner Eigenart nach dazu be-stimmt ist, den Menschen durch Befreiung von Not und Sorge unddurch Gewährung von Freiheit und Muße der gegen Not und Sorge,Unfreiheit und Streß aufbegehrenden Aggression Widerstand zu lei-sten, kann es also nicht sein, der ihn in die Renitenz drängt. Nur imZustand der kapitalistischen Entfremdung kann relativer, d.h. imVergleich zu früher von permanenter Not befreiender »Wohlstand«den Anlaß bilden, daß die bestehenden Herrschaftsverhältnisse sichreproduzieren und ihrerseits die Bedingung abgeben für die Auf-rechterhaltung und Verschärfung gängiger Entfremdung. Unter die-sen Umständen muß, welche schrittweisen Konzessionen die bür-gerliche Gesellschaft im Verlaufe der ökonomischen Entwicklungzwecks Sicherung ihrer Ordnung auch zu machen gewillt ist, selbsteine bescheidene Zunahme des »Wohlstandes« sich gegen den Men-schen wenden. Unter diesen Umständen werden Verdinglichung,

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Vermaterialisierung und Entfremdung zum ausweglosen Kerker derVerkehrung aller ökonomischen und geistigen Fortschritte in ihrGegenteil, werden die neugewonnenen Mittel der Bereicherung desLebens zu Anlässen gesteigerter Aggression gegen den Mitmenschenund gegen sich selbst. Darin liegt der Grund der sogenannten»Wohlstandskriminalität«, die einerseits kapitalistische Realitätist, andererseits Ideologie, denn nicht der »Wohlstand« ist es, der diezahlreichen Akte der Aggressionen hervorruft, sondern die beste-hende Klassengesellschaft. Und je »perfekter« die kapitalistischeKlassengesellschaft sich gestaltet, desto widerspruchsvoller gestaltetsich das Leben der Massen.Der »perfekte« Kapitalismus erscheint keineswegs als ein krisen-freier und auch nicht als einer, der die Armut überwunden hat -selbst in den USA leben zwei Fünftel der Bevölkerung in der Nähedes Existenzminimums -, sondern als einer, der über gewaltige öko-nomische Kräfte verfügt, demonstrierbar etwa an den USA, derSchweiz und Schweden. Die zwischen ihnen und gesellschaftlichverwandten Ländern wechselnden Weltrekorde an Ehescheidungen,Selbstmorden, Geisteskranken und psychisch Erkrankten (inDeutschland sieben Millionen), Rauschgiftsüchtigen, Kriminellenerscheinen angesichts des »Wohlstandes« rätselhaft und verleitendienstfertige Ideologen zu dem Kurzschluß, daß dieser »Wohl-stand« an allem schuld sei. Für gewöhnlich wird dieser zum Sünden-bock erhobene »Wohlstand« zusätzlich in Verbindung gebracht mitobjektivistisch verallgemeinernden, das bedeutet von dem fakti-schen gesellschaftlichen Prozeß abstrahierenden Begriffen wie sol-chen der »Vermassung« und »Technisierung« (vgl. oben) unterletztlicher Zugrundelegung eines anthropologisch negativen, zu-meist biologistischen Menschenbildes. Da hier »Vermassung« und»Herrschaft der Technik« als eine Art Naturkatastrophe interpre-tiert werden, erscheint diese ohne Schuld der bestehenden Klassen-ordnung über die Menschen hereingebrochen.Jedoch decken sich Verstädterung und Vermassung nicht einmal be-grifflich. Zunächst ist nicht zu übersehen, daß sich die im Gefolgeder ökonomischen Entwicklung einstellende Verstädterung keines-wegs ausschließlich zuungunsten des Menschen ausgewirkt hat. Siehat ihn nach einem Worte von Marx dem »Idiotismus des Landle-bens« entrissen. Obgleich autoritär überspannt und das Individuumzu einem passiven Objekt einer gewaltigen verdinglichten Maschinedegradierend, zeigen sich die Fortschritte über den mittelalterlichenRomantizismus hinaus, ohne die ein modernes Leben undenkbar ist.Als einer der bedeutendsten Kritiker des Kapitalismus hat Lenin die

Überwindung des irrationalistischen Schlendrians früherer Epochen

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gepriesen. Trotz ihres weitreichenden Mißbrauchs haben Presse undanderer Lesestoff, Film und Rundfunk zur Erweiterung des Hori-zonts wenigstens eines Teiles der Bevölkerung beigetragen. Schule,Versammlungs- und Bildungswesen haben trotz ihrer überwiegen-den Integration in den repressiven Ordnungsvollzug eine bedeu-tende Wirkung auf die Bewußtseinsformung des modernen Men-schen gehabt und eine kritische progressive Elite ermöglicht, die indiesem Ausmaß in allen vorangehenden Epochen ausgeschlossengewesen wäre. Ein Mozartkonzert, das über das Fernsehen eine Mil-lion Menschen erreicht, ist ein »massenhaftes« Ereignis und trotz-dem das Gegenteil von Vermassung.Die bürgerlich-revolutionären Materialisten des 18. Jahrhundertsergaben sich der Erwartung, daß der vom feudalen Joch zum auto-nomen Individuum befreite Mensch in Anstrengung seiner Kräfte zuEigentum, durch Eigentum zu Muße und durch Muße zur allseitigenEntfaltung seiner Persönlichkeit gelangen werde. Die Rechnungging nicht auf, weil wegen der noch nicht zureichend entwickeltenProduktivkräfte die Frage nicht beantwortet war, wer für die müßi-gen Eigentümer, die doch alle umfassen sollten, weiterproduzierensoll. Es kam anders. Unter der für die kapitalistische Gesellschaftgeltenden Voraussetzung der »allgemeinen Konkurrenz«, d. h. desegoistischen Prinzips des Kampfes aller gegen alle im Dienste derstets gefährdeten materiellen Sicherheit, erwirkte die Bereitschaft,auf Muße zugunsten der Arbeit zu verzichten oder diese zum Her-ren über jene zu machen, daß an die Stelle der erwarteten allseitigenEntfaltung der Persönlichkeit ihre Degradation zum einseitigen»Formular«, wie Schiller sagt, trat. Die egoistisch-individualistischeForm der Beziehung der Individuen untereinander bildet die pri-märe Bedingung für die Entindividualisierung dieser Individuen,oder, was dasselbe bedeutet, der Vermassung.Als der Vermassung unterworfenes Individuum des freien Ge-brauchs der eigenen libidinösen wie der tätigen Kräfte nicht fähig,strebt das heutige Individuum nach Befriedigung von angebotenenfalschen Bedürfnissen, nach Surrogaten, die es immer tiefer in denWiderspruch von Anstrengung im Erwerb materieller Güter undUnfähigkeit, sie »spielend«-libidinös zu gebrauchen, stürzen. DieKonsequenz ist, wie die moderne Frustrationstheorie weiß, derAusbruch in vielerlei Formen der Entlastung und des Widerstandes,die sich dem Begriff der Aggression subsumieren lassen. Der »Wohl-stand« hindert den Menschen nicht daran, zu »spielen« und sich li-bidinös zu verwirklichen. Er fördert die Aggression nur, weil er un-ter den herrschenden Bedingungen der Repression die Mittel bereit-stellt, entweder durch Aggression sich »Freiheit« zu verschaffen

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oder mittels ihrer diese Mittel zu vermehren. Die Kriminalität,gleich ob die berüchtigte der »weißen Kragen« oder der schmutzigenHände, ist nur ein extremer Ausdruck davon.

15. Die Ideologie der progressiven Elite

Voll bewußt ist sich in der heutigen Gesellschaft der herrschendenProblematik nur die progressive Elite. Sie ist gleichzeitig als die hu-manistische zu definieren. Versucht man sie soziologisch zu fassen,so fällt auf, daß sie als fest umrissene oder gar organisierte Gruppegar nicht existiert. Sie setzt sich vielmehr aus allerlei Elementen zu-sammen, die einander nicht selten in Anschauung, Zielsetzung undHabitus entgegengesetzt sind. Zu ihren wesentlichsten Merkmalengehören überall da, wo keine mächtige Partei ihr den Rücken stärkt(Deutschland, USA), die Widersprüchlichkeit und Unbeständig-keit. Stets zwischen Optimismus und Verzweiflung hin und herschwankend, sitzt sie zwischen allen Stühlen und ist scheinbar ohnerealen Einfluß. Und doch ist sie da und nicht ohne Bedeutung. Ja, sieexistiert spürbar, denn sie wird von Zeit zu Zeit gefürchtet, unterDruck gehalten, wenn notwendig verfolgt.Die humanistische Elite der Epoche der bürgerlichen Dekadenz istin Deutschland das Ergebnis zweier historischer Komponenten: derZersetzung des einst angesehenen und eindrucksvollen Volkstri-bunentums der sozialistischen und gewerkschaftlichen Bewegungeinerseits und des Weiterwirkens eines in der Asche der Dekadenzund des Nihilismus glimmenden Antinihilismus und Humanismusanderseits. überall finden sich in einer geringeren oder größerenZahl selbständig denkende Individuen, die sich weder mit dem Geistder nihilistischen Verneinung noch des hochtrabenden, hohl-frei-heitslüsternen Subjektivismus abfinden können, so daß die Frontzwischen Humanismus und Antihumanismus oft mitten durch diesozialen, weltanschaulichen und sogar politischen Fronten hindurchgeht. Die Geschichte pflegt in ihrer Gesamtheit klüger zu sein als ihrindividueller Exponent. Wo die revolutionären Kräfte versagen,schafft sie sich einen Ersatz. In Deutschland ist die humanistischeElite dieser Ersatz. Ihre Vertreter finden sich, zumeist sich furcht-sam tarnend, selten alles in die Waagschale werfend, in allen Institu-

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tionen, in den Gemeinderäten, schulen, Bildungsanstalten, Univer-sitäten, religiösen Organisationen und in den politischen Verbän-den, vor allem in den Reihen der Künstler, Schriftsteller und Wis-senschaftler.Die Widersprüchlichkeit im Verhalten der progressiven Elite erklärtsich aus der Tatsache der individuellen Isoliertheit, der sich die ein-zelnen Eliteindividuen mehr oder weniger ausgeliefert sehen, undaus dem sich daraus ergebenden Gefühl der Schutzlosigkeit. Siepflegt daher konsequent in ihrer inneren, aber ebenso inkonsequentin ihrer äußeren Haltung zu sein. Ihre Stärke liegt, wie dies noch fürdie alte humanistische Elite des klassischen Sozialismus zutraf undheute noch in den Ländern mit starken sozialistischen Bewegungenund ihre politische wie intellektuelle Elite zutrifft, in ihrer unbe-stechlichen Sehnsucht nach Herstellung wahrhaft humanistischerVerhältnisse. Von dieser Position aus entfaltet sie das kritische Ver-mögen, die Zustände der gesellschaftlichen Verdinglichung undEntfremdung zu durchschauen und eine ideologische Positiongleichsam außerhalb der Gesellschaft einzunehmen, die infolge derBefangenheit ihrer Opponenten in der verdinglichten Ideologie (wiewir sie in dieser Schrift ausführlich analysiert haben) ebensooft miß-deutet wie gefürchtet wird.Aus dem weitläufigen Streit darüber, was als Elite anzuerkennen sei,heben wir das Votum von Prof. Ernst Steinbach hervor, der in einer1956 in der Evangelischen Akademie in Bad Boll veranstalteten Ta-gung sagte:

»Elite ist zunächst einmal dadurch ausgezeichnet, daß sie sich in Zucht hält...denn jede Elite ist asketisch. Zu dieser Elite gehört weiterhin, daß man sich injedem Augenblick der Gesamtheit verantwortlich weiß, daß man nicht vomnächsten Tagesgesichtspunkt ausgeht, sondern eine Sache durchdenkt undseine Entscheidungen verantwortlich trifft.«

Diese Definition der Elite ist offensichtlich auf revolutionäre und re-ligiöse Eliten ausgerichtet, schließt aber z.B. die herrschende deka-dente Elite, die auch eine, wenn auch negative ist, aus. Was uns je-doch in diesem Zusammenhang interessieren muß, das ist der Hin-weis Steinbachs auf das asketische Moment im Elitebewußtsein. Be-reitschaft zum Verzicht und Unbestechlichkeit kennzeichnen zwei-fellos eine jede humanistische Elite. Aber der Genuß widersprichtihr nicht grundsätzlich. Sie mißtraut jeder a-priori-Verherrlichungder Askese, hinter der sich zumeist die repressive Absicht verbirgt.Nicht Askese oder Genuß an sich entscheiden über das Wesen undden Charakter der historisch neue Qualitäten setzenden (und des-halb die reaktionären und faschistischen »Eliten« ausschließenden)

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Elite, sondern ausschließlich die humanistische Perspektive. Erstinnerhalb dieser Perspektive - die sich aus der konkreten Ideologiedieser Elite deduzieren läßt - entscheidet sich je nach den realen hi-storischen Umständen das Maß von Genuß und Askese. Disziplinund Selbstbeschränkung betrachtet die humanistische Elite als uner-läßliche Bedingung für den Erfolg ihres Kampfes, aber sie scheutsich nicht, den Genuß zu kultivieren, wo dies im Dienste einer re-pressionslosen Heranbildung des Menschen als notwendig und denUmständen gemäß als möglich erscheint. Sie ist asketisch aus prakti-schen, jedoch genießerisch aus anthropologischen und weltanschau-lichen Gründen.Die progressive Elite ist die Bewahrerin des Wissens von der primä-ren Bedeutung der großen und durchgängigen, die Totalität des Le-bens, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als unzerreißbarenZusammenhang im Auge behaltenden Menschheitsprobleme. Eliteheißt hier menschliches Höhersein nicht aus formalen (»ethischen«)und auch nicht aus subjektivistisch-nihilistischen Gründen, sondernaus inhaltlichen, die der Geschichte angehören. Daraus ergibt sichder entscheidende Gegensatz zwischen der bürgerlich-dekadentenund derprogressiv-humanistischen Elite. Die würdelose Bindung andas Vorhandene treibt die dekadente Elite in die »Mythologie« dersubjektiven Phantasie: Dem dürren praktisch-materialistischen Ra-tionalismus entspricht ein vergorener und kränklicher Irrationalis-mus. Anders die humanistische Elite. Ihre unbestechliche Sehnsuchtnach humanistischer Freiheit löst sie trotz ihres Interesses für alleGegenwartsfragen von der verdinglichten Oberfläche los und treibtihr Denken in die Zukunft hinaus, in die Utopie. Für die utopischenKonstruktionen gibt es an sich keine Begrenzung, weshalb der halt-lose Utopismus ein ernstes Moment derBedrohung des progressivenElitebewußtseins darstellt. Da aber anderseits das unnachgiebige In-teresse am wirklichen Menschen und seinen wirklichen Lebensver-hältnissen die realistische Sicht sicherstellt, entsteht gleichzeitig dieihr angemessene entgegengesetzte Neigung, die aus der humanisti-schen Sehnsucht geborenen utopischen Vorstellungen einer stetigenrationalen Überprüfung zu unterziehen. So entwickelt sich die dia-lektische Tendenz, einerseits die Neigung zum überspannten Uto-pismus mittels eines rationalen Realismus zu überprüfen - »realeUtopie« - und andererseits den engstirnigen verdinglichten Prakti-zismus mittels der utopischen Perspektive zu überwinden.Aber dies ist nur die ideologische Haupttendenz im Denken der hu-manistischen Elite. In der ideologischen Praxis verhält es sich damitdifferenzierter. Da die humanistische Elite nicht als einheitlicheKraft organisiert ist, keine feste politische Macht hinter sich hat und

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aus diesem Grunde dem Bewußtsein totaler Ohnmacht unterliegt-zum Problem der Ohnmacht vgl. meinen Beitrag »Jesus und dieOhnmacht«86-, reagiert sie auf die entfremdeten Probleme der Rea-lität vielfach mit tiefster Verzweiflung und Resignation. Zwar hältsie unerschütterlich an ihrem humanistischen Ideal fest, aber unterdem Eindruck der steigenden Aushöhlung, Vermaterialisierung undBestialisierung des Menschen siegt innerhalb des Spannungsverhält-nisses von Realismus und Utopismus ebensooft der letztere wie dererstere, es siegt ebensooft die utopisierende Träumerei über den rea-listischen Sinn wie umgekehrt. Die diese Schwankungen begleitendeStimmung pflegt die der Verzweiflung zu sein. Ihrerseits bleibt dieseVerzweiflung nicht ohne jegliche Rückwirkung auf den grundsätzli-chen humanistischen Optimismus. Indem das Ideal, gehemmt durchdie Verzweiflung, sich nicht voll, nicht radikal ausleben kann, son-dern nur in sehr ferner Zukunft und deshalb gebrochen verwirklich-bar erscheint, erfährt es eine eigenartige Ironisierung, nicht unähn-lich der »romantischen Ironie«, jedoch zum Unterschied von diesergetragen von der unerschütterlichen Überzeugung der letztlichenVerwirklichbarkeit dieses Ideals, ja von der Überzeugung, daß esder eigentliche und nicht zu vernichtende Zweck der Weltgeschichteist.Vornehmlich in Bett Brecht findet die humanistische Elite der Epo-che der bürgerlichen Dekadenz ihren künstlerischen Ideologen, des-sen Werk gerade dem Problem der ironischen Brechung des Idealsweitgehend entgegenkommt. Brecht zeigt das Wegweisende deshumanistischen Ideals in der Form auf, daß er es am vorhandenen,zwar widerspruchsvollen, jedoch im Lichte einer optimistischenAnthropologie begriffenen Menschen in seiner Berechtigung nach-weist und sich bewahrheiten läßt. Als Mittel hierzu wählt er die so-genannte positive Volksgestalt, die den zentralen Punkt seines gro-ßen Theaters bildet. Weil aber diese Gestalt nicht außerhalb, son-dern innerhalb der Entfremdung steht, verkörpert sie das Ideal nichtin voller Reinheit, sondern es scheint gleichsam nur durch diese Ge-stalt hindurch, gibt sich gebrochen. Damit entsteht in der Brecht-schen Kunst ein Problem der Ironie, das sich aber auch hier von derromantischen grundsätzlich durch seinen realistischen Charakterunterscheidet, d.h. durch seinen als in der geschichtlichen Realitätselbst wirksam erkannten Aspekt der Verwirklichbarkeit des Ideals(i m Gegensatz zur romantischen Ironie, in der das Ideal als letztlichnicht verwirklichbar zurückgenommen wird). In dieser Sicht istnicht nur das humanistische Ideal ironisch, sondern auch die aus derVerzweiflung kommende Ironie humanistisch (optimistisch) gebro-chen.

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Wenn auch in einer ästhetisch zu Ende gedachten Form, so ent-spricht diese Perspektive vollkommen dem spontanen Bewußtseinder progressiven Elite. Die Ironisierung des eigenen Ideals bedeutetnichts weiter als das Begreifen des grundsätzlich optimistisch ver-standenen Menschen, wie er zugleich in der kapitalistischen Praxisist und sein muß, bei gleichzeitiger Bejahung dieses Ideals gegenüberdieser Praxis. Einerseits sind Brechts positive Volksgestalten positiv,weil sie beweisen, daß sie in einer Welt der menschlichen Verwor-fenheit und Charakterlosigkeit sich ein mehr oder weniger hohesMaß an Selbständigkeit und Haltung bewahrt haben, daß sie subjek-tiv nichts weiter verkörpern als die letztlich unverwüstlichen ur-wüchsigen Kräfte des Menschen. Andererseits entsteht aus dem Wi-derspruch zwischen Entfremdung und Urwüchsigkeit eine ins Tra-gische spielende dialektische Spannung, womit übrigens auch dasSchuldproblem in der Brechtschen Kunst zusammenhängt. DieseWidersprüchlichkeit ist es vornehmlich, die das Ideal nirgends vollzum Durchbruch kommen läßt, nirgends Gestalten erlaubt, die esrein verkörpern, die bewirkt, daß das Heroische, Selbstlose, Erha-bene und Würdige nur in ironischer Verkleidung vor den Zuschauertritt. Da aber gleichzeitig dieses Heroische, Selbstlose, Erhabeneund Würdige ein Ideal ausdrückt, das der Realität nicht bloß unver-mittelt und abstrakt entgegengesetzt wird (wie in der reaktionärenRomantik), nicht als eine bloß gedankliche Ergänzung für eine »fürewig verworfene« Wirklichkeit aufgefaßt wird, sondern umgekehrttrotz aller Widersprüchlichkeit, trotz aller Düsternis und Tragik ausihr herausdestilliert wird, kann es bei Brecht niemals zur Grundlageeiner abstrakten romantischen Verzweiflung werden, sondern esverbleibt auf dem festen Boden des prinzipiellen humanistischenOptimismus. Das was wir als den ironisch gebrochenen Optimis-mus in der Denkweise der humanistischen Elite erkannt haben, er-scheint auch als das wesentlichste Moment in der Kunst Brechts.Wir haben im vorangehenden die progressive Elite von ihrer prak-tisch-ideologischen Seite her betrachtet, indem wir die Frage stell-ten, wie sie sich verhält, sofern sie der heutigen Welt praktisch zubegegnen genötigt ist. Es gibt aber auch eine theoretische Haltungdieser Elite; sie fällt wesentlich mit dem Bekenntnis zum Marxismuszusammen - sofern nicht auch gewisse Variationen, z.B. ins Anar-chistische oder Christliche auftreten. Wir werden im folgenden eineSkizze der Hauptzüge der marxistisch-theoretischen Eliteideologiezu geben haben.Die bürgerliche Wissenschaft hat den Marxismus durch Jahrzehnteals nicht existierend betrachtet, sie hat ihn, von einzelnen Anspie-lungen und (oft mißverständlichen wie z.B. bei Woltmann, der ihn

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in die Nähe des Darwinismus bringt) verstreuten Äußerungen abge-sehen, übergangen und verschwiegen. Das änderte sich mit demAuftreten des hervorragenden bürgerlichen Rechtsgelehrten RudolfStammler im Jahre 1896. Stammler, der mehrere Jahre zum Studiumdes Marxismus verwendet hatte, erkannte dessen gewaltigen ge-danklichen Wert und schrieb ein umfangreiches Werk mit der Ab-sicht, sein eigenes Denken gegen den historischen Materialismus zuverteidigen. Die unerwartete Folge war, daß er das Interesse für denMarxismus in der Öffentlichkeit weckte und ihn universitätsfähigmachte. Der Epoche des Totschweigens folgte die Epoche der Aus-einandersetzung. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang diegroßangelegte Arbeit des Kantianers und Darwinisten Woltmann,der aber nicht nur wie Stammler dem Marxismus einen größeren In-teressenkreis gewann, sondern auch tiefgehenden Mißverständnis-sen, die bis zum heutigen Tage nachwirken, Vorschub leistete. Inden Reihen der bedeutendsten Gegner des Marxismus reichen sichsolche Namen wie der Philosoph Rickert, der Wirtschaftstheoreti-ker Sombart, der Rechts- und Staatstheoretiker Kelsen, der »Sozia-list« und spätere Faschist de Man, der Staatsmann Masyrk und an-dere die Hand. Der Hauptsache nach geht es zunächst weniger umdie marxistische Nationalökonomie als um den Historischen Mate-rialismus, durch den der selbstgefällige und als Herr der Geschichtesich dünkende Geist, das unentbehrliche metaphysische Ergän-zungsstück zu einer brutalmaterialistischen Praxis, sich aus seinerStellung verdrängt fühlt.Das Merkwürdige ist nun, daß trotz aller kritischen Abwehr der ge-schichtsmaterialistische Standpunkt direkt in die bürgerliche Wis-senschaft einzudringen beginnt. Wenn z. B. Max Weber die vordemals blasphemisch angesehene Frage nach dem Zusammenhang vonProtestantismus und Kapitalismus aufwirft, so ist das schon deutlichmarxistischer Einfluß. Mag er in Beantwortung dieser Frage noch sosehr die Priorität des Geistes betonen, er ist schließlich doch genötigtzuzugeben, daß er »den Einfluß der wirtschaftlichen Entwicklungauf das Schicksal der religiösen Gedankenbildung für sehr bedeu-tend halte«. War man einmal so weit gekommen, stieß man überall inder Geschichte auf das Phänomen der Klasse, den Grundbegriff je-der marxistischen Geschichtsbetrachtung. Je ehrlicher und bedeu-tender, und das hieß je demokratischer und humanistischer ein bür-gerlicher Gelehrter innerhalb der ihm auferlegten Schranken gesinntwar, in um so stärkerem Maße verfiel er der materialistischen Be-trachtungsweise. Dafür haben wir ein glänzendes Beispiel in ErnstTroeltsch, dessen Inbezugsetzung von Sozial- und Kulturgeschichteeinerseits und Geistesgeschichte andererseits sich als stark ge-

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schichtsmaterialistisch durchtränkt zu erkennen gibt. Selbst Som-hart unterlag dem von ihm bekämpften Denksystem ebenso wieetwa Lujo Brentano, dessen »Geschichte der wirtschaftlichen Ent-wicklung Englands« die zahlreichen historisch-materialistischenDeutungen offenbart.Wie war es nun möglich, daß die bedeutende bürgerliche Wissen-schaft gleichzeitig dem historischen Materialismus Konzessionenmachte und ihn als Methode ablehnte? Daran war die irrtümlicheund durch eine ausgedehnte Literatur gestützte Meinung schuld, derMarxismus mißachte mit seinem »mechanischen ökonomismus«die wahre Rolle des Individuums in der Geschichte; der in gleicherWeise mißverstandene marxistische Gesetzesbegriff tat hierbei dasseinige. Aber bei Marx sieht die Sache völlig anders aus. In Anknüp-fung an den genialen, aber fast vergessenen GeschichtsphilosophenGiambattista Vico aus dem frühen 18. Jahrhundert betont Marxausdrücklich, daß sich die Menschheitsgeschichte grundsätzlich vonder Naturgeschichte dadurch unterscheidet, daß »wir«, die Men-schen, die eine »gemacht«, die andere »nicht gemacht« haben. In denThesen über Feuerbach, in denen sich Marx ausdrücklich gegen den»alten« mechanischen Materialismus abgrenzt, erhebt er gegen die-sen den Vorwurf, daß er den Menschen nur als Objekt, nicht auch alsSubjekt betrachtet, d.h. das Moment der »Tätigkeit« außer acht läßt.In welcher Weise es Marx selbst gelingt, Subjekt und Objekt als Ein-heit zu fassen, ist an anderer Stelle dargelegt. 87 Bereits in den Früh-schriften heißt es: »Der Mensch macht seine Lebenstätigkeit selbstzum Gegenstand seines Wollens und seines Bewußtseins. Er hat be-wußte Lebenstätigkeit«. Oder: »Anders der Mensch... Er tritt derNatur als denkendes und denkend erkennendes Wesen gegenüber.Diese spezifisch menschliche, bewußte, vom Geiste, von Ideen ge-leitete Tätigkeit macht den Menschen zum Gattungswesen, sie istdas Wesen des Menschen. « Engels schreibt im »Ludwig Feuerbach«:»In der Geschichte der Gesellschaft sind die Handelnden lauter mitBewußtsein begabte, mit überlegung oder Leidenschaft handelnde,auf bestimmte Zwecke hinarbeitende Menschen; nichts geschiehtohne bewußte Absicht, ohne gewolltes Ziel.«Daß dieser Standpunkt mit einem konsequenten geschichtsphiloso-phischen Materialismus vereinbar ist, werden wir noch sehen. Be-reits in der Vorgeschichte des modernen Materialismus zeigen sichTendenzen zur Auflösung der rein naturmechanischen Position,was allerdings nach der anderen Seite in gewisse Inkonsequenzenausmündete. In der Erkenntnistheorie Quesnays zum Beispiel, derals einer der bedeutendsten materialistischen Sozialtheoretiker des18. Jahrhunderts anzusehen ist, spielt Gott noch eine erhebliche

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Rolle. Turgot, der dem naturwissenschaftlichen Denken zugeneigtist und der als Physiokrat wie als Politiker zu den fortschrittlichstenMännern derselben Zeit gehört, kann sagen: »Ich bin kein Enzyklo-pädist, denn ich glaube an Gott. « Der Materialismus ist einem New-ton, der beim Aussprechen des Namens Gottes jedesmal den Hutlüftete, geradeso zu Dank verpflichtet wie einem Diderot oder La-mettrie. Nicht selten schränken Furcht und Konzessionen das Be-kenntnis zum Materialismus erheblich ein. Bacon z.B., stellt Fueterfest, »schloß bekanntlich halb aus Respekt, halb aus Ängstlichkeitund Furcht vor den letzten Konsequenzen die Religion von seinerphilosophischen Reform aus. « Komplizierter verhält es sich damitbei Descartes, dessen durch und durch mathematisch-naturwissen-schaftlich angelegtes Denken mit einer Erkenntnistheorie einher-geht, in der Gott noch eine Rolle spielt. Aber ebenso steht fest, daßDescartes, vom Schicksal Galileis gewarnt, sich in Holland vor derWelt versteckt hielt und seine Bücher unter falschem Namen heraus-gab, wie er sich überhaupt gedrängt sah, seine Werke nicht durcheine allzu starre rationalistische Haltung zu gefährden.Was die Sozialtheorie betrifft, verwickelten sich die Materialistendes 18. Jahrhunderts in den Widerspruch, neben der strengen kausa-len Begründung des historischen Prozesses durch Geographie undKlima dem Reich geistiger Freiheit eine besondere Sparte zuzuge-stehen. Am weitesten in der Entwicklung einer einheitlichen Sein-Denken-Theorie kamen noch Montesquieu und Voltaire, die aller-dings darin noch von Helvetius übertroffen wurden, dem einzigen,der bereits die Ursachen für die Bewegung der Gesellschaft nicht au-ßerhalb der sozialen Realität, sondern in ihr selbst zu suchen unter-nimmt und sich deshalb methodisch dem späteren Marxismus annä-hert; aber auch er gibt trotzdem noch dem Gedanken Raum, daß eseinen unabhängigen Bereich der Wahrheitsfindung und der sie er-möglichenden Vernunft gibt. War Helvetius eine Ausnahme, soblieben die übrigen materialistischen Sozialtheoretiker im prinzipiellnaturphilosophischen Denken befangen. Die Inkonsequenz, demGeist Freiheit zuzugestehen, blieb nicht aus. Noch in der zweitenHälfte des vorigen Jahrhunderts ist es vorgekommen, daß konse-quente Vertreter des mechanisch-naturwissenschaftlichen Materia-lismus ebenso konsequente historische Idealisten gewesen sind. DerMaterialist Haeckel war nicht nur ein glühender Verehrer der reak-tionären Politik Bismarcks, sondern auch von der autonomen ge-schichtsgestaltenden Rolle der großen Männer überzeugt. Engelsmacht sich über die verspäteten »Reiseprediger des Materialismus«lustig, und Marx äußert sich im »Kapital« auf die folgende Weise:»Die Mängel des abstrakt naturwissenschaftlichen Materialismus,

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der den geschichtlichen Prozeß ausschließt, ersieht man schon ausden abstrakten und ideologischen Vorstellungen seiner Wortführer,sobald sie sich über ihre Spezialität hinauswagen.« 88Marx und Engels, die gegen den heroisierenden Geschichtsidealis-mus anzukämpfen hatten, konnten weder bei der Beziehung vonKörper und Geist noch bei jener zwischen Geographie und Ge-schichte stehenbleiben, die beide, sobald man sie zu allgemeinentheoretischen Prinzipien erheben will, ihre mechanistische Schrankeoffenbaren. Ihr geschichtsphilosophischer Gedankengang läßt sichungefähr folgendermaßen zusammenfassen:Das Wesentliche an aller menschlichen Geschichte ist die gesell-schaftliche Tätigkeit. Diese Tätigkeit ist aber nichts Zufälliges undwird nicht willkürlich gesetzt, sondern hat ihr historisches Gesetz,dem sie unterworfen ist. Je nachdem, welche Mittel und damit wel-che Möglichkeiten und Grenzen für die Tätigkeit vorhanden sind,erhält sie ihren konkreten geschichtsgestaltenden Inhalt. Das gesell-schaftliche Grundelement aller Tätigkeit ist die Arbeit, die dieseMittel erzeugt. Marx lobt an der Hegelschen »Phänomenologie«,daß sie einmal die »Selbsterzeugung (! L. K.) des Menschen als einenProzeß faßt, die Vergegenständlichung (d. h. die Abhängigkeit vonder Gegenstandswelt, L. K.) als Entgegenständlichung (d. h. Tätig-keit, L.K.), als Entäußerung und als Aufhebung dieser Entäuße-rung, daß er (Hegel) also das Wesen der Arbeit faßt und den gegen-ständlichen Menschen, weil wirklichen Menschen als Resultat seinereigenen Arbeit begreift.«Aber auf welche Weise bringt es die Arbeit fertig, die Mittel für dieGestaltung des menschlichen Zusammenlebens zu schaffen? Sie tutes, indem sie die von ihr in Anwendung genommenen Naturkräfte,die Produktivkräfte, in der Form von Produktionsmitteln nutzbarmacht. Die Hervorbringung dieser Produktionsmittel ist von be-sonderer Bedeutung für die Entwicklung der menschlichen Bezie-hungen und für die Menschheitsgeschichte überhaupt. Das aller-wichtigste und von Marx am meisten betonte Moment in diesemProzeß ist aber die Gestaltung des Verhältnisses, das der Menschzum Menschen eingeht. Es wäre nun völlig verfehlt zu meinen, Marxlehrte, daß es die Produktionsmittel seien, die aus eigenem, gleich-sam wie in der Vorstellung des Wilden der Fetisch, die Art undWeise erzeugten, wie der Mensch sich zum Mitmenschen verhält. Eswurde bereits darauf hingewiesen, daß der Brennpunkt der marxisti-schen Anschauung die »durch den Kopf«, d. h. durch das Bewußt-sein hindurchgehende Tätigkeit ist. Ist diese Tätigkeit auch nichtwillkürlich, sondern von den Mitteln abhängig, die ihr die materielleKultur zur Verfügung stellt, und von den vorgefundenen Ver-

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hältnissen, die die Menschen zueinander bereits eingegangen sind,bestimmt, so sind es doch wiederum diese Mittel und diese Verhält-nisse selbst, die Objekt der menschlichen Tätigkeit bleiben. Der Zu-sammenhang von Produktivkräften, Produktionsmitteln und gesell-schaftlichen Verhältnissen subsumiert sich in der marxistischenTheorie unter den Begriff des »Materiellen« - nicht, wie oft fälschli-cherweise unterstellt, unter jenen der »Materie« -, woraus sich dieBezeichnung der materialistischen Geschichtsauffassung ableitet.Indem der Mensch als tätiges Wesen seine materielle Kultur fort-während umwälzt, und das heißt wiederum nicht unwillkürlich,sondern jeweils nach den vorgefundenen, durch die vorangehendeTätigkeit der Gesellschaft erzeugten, materiellen Bedingungen,schafft er gleichzeitig jene neuen Voraussetzungen für seine eigeneTätigkeit, durch die diese selbst in Form und Inhalt eine Verände-rung erfährt und so fort. Innerhalb dieses Prozesses artikulieren sichReflexionen und gedankliche Gebilde, die wir Ideologien nennenund die ihrerseits mit entscheidend bleiben für die Artikulation einerbestimmten, den gegebenen Verhältnissen angemessene Tätig-keit.Entsprechend der ständig zunehmenden Komplizierung der gesell-schaftlichen Beziehungen ist es selbstverständlich, daß sich auch dieideologischen Reflexionen in ständig wachsendem Maße komplizie-ren und die eigenartigsten und vielfältigsten Formen annehmen.Aber die gesellschaftliche und geschichtliche Funktion des Denkensbleibt immer dieselbe: das Denken dient letztlich der Selbsterkennt-nis des gesellschaftlichen Menschen, der Gesellschaft, der Klassenund Institutionen (z. B. des Staates), und es erfüllt die bewußte oderunbewußte Aufgabe, die Willensentscheidungen und Handlungenpraktisch möglich zu machen. Daß diese Selbsterkenntnis, die sichin wissenschaftliche, philosophische, religiöse, rechtliche, politischeusw. Formen kleidet, nicht immer, ja nur ausnahmsweise inhaltlichrichtig ist, bedeutet etwas ganz anderes und erfüllt eine gleichfallsideologische Funktion. Das ideologische Denken ist nichts anderesals das Werkzeug der dialektisch bestimmten gesellschaftlichen Tä-tigkeit, möge die Art und Weise, wie es sich manifestiert, noch so ab-strakt erscheinen. Diese Einbezogenheit des Denkens in den allge-meinen, materiell bestimmten gesellschaftlichen Prozeß berechtigt,von Materialismus zu sprechen.Trotz seiner funktionalen Ausrichtung auf die Selbsterkenntnis derGesellschaft zum Zwecke ihrer Gestaltung und Veränderung unddaher auf das im weitesten Sinne Praktische trifft das Denken nichtimmer, ja äußerst selten, die Wahrheit. Die Spaltung der Gesell-schaft in Klassen erzeugt völlig entgegengesetzte, den Ideologen nur

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ausnahmsweise zum Bewußtsein kommende Interessen; und da dieWahrheit nur eine sein kann, ist ihre Verschleierung mit Hilfe geradedieses auf Selbsterkenntnis ausgerichteten ideologischen Denkensunvermeidlich. Dabei ist zu beachten, daß auch die falsche Selbst-erkenntnis, die die Wahrheit verfehlt, gleichzeitig auch historischwirkliche Selbsterkenntnis in dem Sinne ist, als überhaupt erst durchsie das konkrete geschichtliche Handeln bestimmter Klassen ermög-licht wird und diese Klassen sich als Klassen geschichtlich konstitu-ieren. Auf dieses komplizierte Ideologieproblem kann in diesemRahmen nicht eingegangen werden; in den vorangehenden Ausfüh-rungen haben sich einige wesentliche Beispiele von selbst ergeben.Marx nennt das sich von der Wahrheit entfernende, aber geschichtli-che Notwendigkeit erlangende Denken »falsches Bewußtsein«. Ei-nes der großartigsten Ziele des Marxismus ist daher die Befreiung desDenkens im Dienste der Befreiung des Menschen. Auch darin of-fenbart sich der humanistische Charakter des Marxismus.Wie die bisherigen Ausführungen beweisen, überschreitet die Theo-rie des Historischen Materialismus nirgends die Grenzen mensch-lich-denkender Aktivität, nirgends ist ein Rückfall in den naturme-chanischen oder biologisch-mechanischen Materialismus zu beob-achten. So kann Marx sagen: »Die Wurzel für den Menschen ist derMensch selbst.« Dieses großartige Programm hat zum erstenmal inder Geschichte seine widerspruchslose theoretische Verwirklichunggefunden. Wie sehr der Marxismus jedem Mechanismus und jedemnaturhaften, den Menschen zum Objekt unmenschlicher Vorgängedegradierenden Materialismus gerade entgegengesetzt ist, beweistdie Kritik, die Marx an jener Seite der bürgerlichen Vorstellungsseiteübt, die als Verdinglichung erscheint. (Wir haben dieses ideologi-sche Phänomen der bürgerlichen Gesellschaft in dieser Schrift aus-führlich analysiert.) In seinen Frühschriften bereits formuliert Marxseinen Standpunkt dahin, daß er nur die folgenden zwei Möglichkei-ten der »menschlichen Tätigkeit« zuläßt: die eine ist »die Bearbei-tung der Natur durch den Menschen« und die andere »die Bearbei-tung des Menschen durch den Menschen«. Selbst da, wo Marx dieAnalyse objektiver, die menschliche Tätigkeit scheinbar transzen-dierender, »unmenschlicher« Mächte in Angriff nimmt, bleibt dieTätigkeit des Menschen die einzige Grundlage für die Begreifbarkeitdieses Faktums und das heißt, die mittels des Bewußtseins sich akti-vierende Tätigkeit. Zwar sagt Marx, daß der Zustand, in dem sich dieMenschen befinden, »nicht freiwillig, sondern naturwüchsig ist,nicht als ihre eigene vereinte Macht, sondern als eine fremde, außerihnen stehende Gewalt, von der sie nicht wissen woher und wohin,die sie also nicht mehr beherrschen können, die im Gegenteil nur

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eine eigentümliche, vom Wollen und Laufen der Menschen unab-hängige, ja dieses Wollen und Laufen erst dirigierende Reihenfolgevon Phasen und Entwicklungen durchlaufen«. Aber wie erklärtMarx sofort diesen Zustand? Als eine Artdes Zusammenwirkens derIndividuen, die durch die Arbeitsteilung, also durch eine Form dermenschlichen Tätigkeit selbst entstanden ist; auch hier ist also diemenschliche Tätigkeit die letzte Ursache, die Marx zur Erklärungder Gesellschaft und ihrer gesetzlichen Strukturen heranzieht. In derKonsequenz dieser Ansicht geht Marx so weit, daß er z. B. - als Bei-spiel unter vielen- im »Kapital« erklärt, man sehe es dem Gold oderSilber nicht an, daß es als Geld ein gesellschaftliches, also auf tätigemVerhalten der Menschen zueinander beruhendes Produktionsver-hältnis darstellt. Wie in seinem reifsten Werk lobt Marx bereits in»Philosophie und Nationalökonomie« an Feuerbach, daß dieser»das gesellschaftliche Verhältnis des >Menschen zum Menschen<ebenso zum Grundprinzip der Theorie macht«, d.h. nirgends hinterdie menschliche bewußtseinsgebundene Tätigkeit zurückgreift; dasbedeutet nirgends auf geographische, klimatische oder biologischeoder gar physikalische (wie etwa Holbach und Lamettrie) Ursachen.Ideologisch betrachtet, ist somit auch von dieser Seite her das marxi-stische System als ein humanistisches zu verstehen. Denn in keinemanderen System wird mit der gleichen Energie an der humanisti-schen, allein vom Menschen ausgehenden und zu ihm zurückkeh-renden Linie der Betrachtung festgehalten wie im marxistischen, inkeinem anderen System wird mit der gleichen Konsequenz derMensch zum Maß aller Dinge gemacht. Auch das unverwüstlicheGespenst aller älteren naturalistischen Gesellschaftsbetrachtung, dieäußere Natur, erscheint im Marxismus ins Menschliche aufgehoben- möge auch noch neuerdings ein Hans Barth Marx vorwerfen, daßer die geographischen Umstände nicht genügend berücksichtige.Plechanow drückt dies ganz im Sinne der marxistischen Auffassungso aus: »Indem der Mensch durch seine Arbeit auf die Natur außerihm wirkt, bewirkt er die Veränderung seiner eigenen Natur.« 89( Unter der Natur des Menschen ist hier nicht seine unveränderlichebiologische und anthropologische, sondern seine historische ge-meint.) In der Einleitung von »Zur Kritik der politischen Ökono-mie« formuliert Marx seine Auffassung über das Verhältnis desMenschen zur Natur folgendermaßen: »Alle Produktion ist Aneig-nung der Natur von seiten des Individuums innerhalb und vermittelseiner bestimmten Gesellschaftsform.«90Sollte nichtsdestoweniger heute jemand noch immer auf die Ideekommen, die Lehre des Marxismus, sei es als dogmatischer Marxist,sei es als bürgerlicher Kritiker, naturalistisch oder mechanistisch zu

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interpretierten, dann sei ihm das Wort Lenins entgegengehalten:»Der kluge Idealismus steht dem klugen Materialismus näher als derdumme Materialismus.« Wie überhaupt das letzte Wort, das hier zusprechen ist, das ist, daß die sowohl methodologische wie geistesge-schichtliche Leistung des Marxismus darin besteht, den uralten Ge-gensatz zwischen einseitigem undialektischem Materialismus undebenso einseitigem undialektischem Idealismus dialektisch in einneues System aufgehoben zu haben. Von der ideologischen Perspek-tive betrachtet, bleibt der Marxismus für die Gegenwart wie für einenoch erhebliche Zeit in die Zukunft hinein die Ideologie der progres-siven Elite.

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Anmerkungen

1 H. Marcuse, Kultur und Gesellschaft I, 11 1973, S. 115 f.2 Vgl. L. Kofler, Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, 5 1974.3 Z.B. Karl Joel, Wandlung der Weltanschauung.4 H. E. Holthusen, Kritisches Verstehen, 1961, S. 96.5 W Hauff, Die Bettlerin vom Pont des Arts, Meyers Klassiker-Ausgabe,

Werke III, S. 271.6 D. Diderot, Jakob und sein Herr, 1953, S. 244.7 Ebenda, S. 239 f.8 Ebenda, S. 246.9 J. A. Gontscharow, Oblomow, 1960, S. 69.

10 J. Locke, Zwei Versuche über die Regierung, 1906, S. 104.11 H. Marcuse, Vernunft und Revolution, 1962, S. 110.12 K Marx, Nationalökonomie und Philosophie, Frühschriften, Ausgabe

Kröner, 1. Band, 1932, S. 336. Eigene Kursivsetzung.13 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 5 1949, S. 133-150.14 F. Schiller, Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen (niederge-

schrieben 1793/94), 3. und 6. Brief.15 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 5 1949, S. 149.16 A. M. Knoll, Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht, 1962,

S. 26 f. und passim.17 J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 1962, S. 116 f. - Aus-

führliches Material zu dieser Frage in meiner Schrift: Zur Geschichte derbürgerlichen Gesellschaft, 5 1974.

18 Zitiert nach Habermas, ebenda, S. 125 f.19 G.T. di Lampedusa, Der Leopard, 1962, S. 307.20 Zitiert nach J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 1962,

S. 24 f.21 Hervorragend Hippolyte Taine (1828-1893), Die Entstehung des moder-

nen Frankreich, 1936.22 K Marx, Die heilige Familie, Frühschriften, Ausgabe Kröner, 1. Band,

1932, S. 377.23 K Marx, Das Kapital, 1. Bd., 1947, S. 186.24 Ebenda S. 81.25 Ebenda.26 Ebenda.27 G. Lukacs, Geschichte und Klassenbewußtsein, 1923, S. 95.28 Ebenda, S. 100.29 H. H. Holz, Der französische Existentialismus, 1958, S. 17.30 J. P. Sartre, Ist der Existentialismus ein Humanismus? 1947, S. 14.31 G. Anders, Kafka pro und contra, 1951, S. 27.32 H. Marcuse, Eros und Kultur, 1957, S. 102.33 L. Kofler, Ende der Philosophie, Dortmund 1961 (Kulturamt) und: Dia-

lektik der Kultur, Frankfurt/M. 1972.34 J. P. Sartre, Materialismus und Revolution, in: Drei Essays, 1963, S. 52 ff.35 Diesen Sachverhalt habe ich an verschiedenen Stellen meines Schrifttums

ausführlich analysiert.36 Zum Begriff dieser Dialektik vgl. meine Schrift: Aggression und Gewis-

sen.

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37 P. A. Baran, Unterdrückung und Fortschritt, 1966, S. 87 ff.38 Sozialist. Kurier, Oktober 1964.39 G. Anders, Kafka pro und contra, 1951, S. 27.40 Th. W. Adorno und P. v. Haselberg, über die geschichtliche Angemes-

senheit des Bewußtseins, in: Akzente, Heft 6, 1965.41 Leo Kofler, Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, 5 1974.42 G. F. W Hegel, Phänomenologie des Geistes, 5 1949, S. 141.43 Th. W Adorno und M. Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, 1947,

S. 22 und 40 f.44 F. Tomberg, Utopie und Negation, in: Das Argument, Juli 1963.45 Th. W. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, 1956, S. 32 f.,

193 f. und andere.46 Leo Kofler, Der proletarische Bürger, 1964; ders., Der asketische Eros,

1967.47 G. Lukäcs, Die Theorie des Romans, Vorwort von 1962.48 Th. W Adorno, Eingriffe, 1963, S. 23.49 Ebenda.50 F. Weltz, Der Arbeiter und sein Aufstieg, in: Neue Gesellschaft (theoret.

Organ der SPD), Januar/Februar 1965, S. 543 f.51 Ebenda.52 Th. W Adorno, Stichworte 2, Frankfurt/M. 1969, S. 50.53 H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, 1967, S. 159 ff.54 Ebenda, S. 166 f.55 Ebenda, S. 166.56 Ebenda, S. 168.57 Ebenda, S. 172.58 Ebenda, S. 140 ff.59 Vgl. L. Kofler, Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, 5 1974,

S. 64 f.60 K. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, 1967, S. 169.61 Zum Begriff des Formalen in der Anthropologie vgl. L. Kofler, Aggres-

sion und Gewissen, München 1973.62 Ebenda.63 Vgl. dazu L. Kofler, Der asketische Eros, Wien 1967, 1. Abschnitt.64 K Marx, Nationalökonomie und Philosophie, Köln 1950, S. 175.65 M. Nadeau, Geschichte des Surrealismus, Reinbek b. Hamburg 1965,

S. 41.66 H. Mayer, Zur deutschen Literatur der Zeit, Reinbek b. Hamburg 1967,

S. 50.67 G. R. Hocke, Manierismus in der Literatur, Reinbek b. Hamburg 1959,

S.153.68 Vgl. zu dieser Unterscheidung Näheres bei L. Kofler, Das asketische

Eros, 1967, 1. und 2. Abschnitt; ders., Perspektiven des revolutionärenHumanismus, Reinbek b. Hamburg 1968, 1. und 2. Abschnitt.

69 E. R. Curtius, Kritische Essays zur europäischen Literatur, Bern 2 1954,S.294.

70 Ebenda.71 H. Mayer, Zur deutschen Literatur der Zeit, Reinbek b. Hamburg 1967,

S. 214 ff.72 Ebenda, S. 216.73 K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Frühschriften,

Ausgabe Kröner, 1. Bd., 1932, S. 264.74 Ebenda, S. 287.75 M. A. Knoll, Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht, 1962.

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76 K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Frühschriften,Ausgabe Kröner, 1. Bd., 132, S. 263.

77 Ebenda, S. 265.78 M. Reding, Der politische Atheismus, 1957, S. 126.79 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1964.80 W. Emrich, Der Terror des Mystischen im technischen Zeitalter, in: Spra-

che im technischen Zeitalter, Heft 4, 1962, S. 326.81 Der Spiegel, 1966, Nr. 18.82 Kölner Stadtanzeiger, 6./7. November 1972, S. 13 - Ähnlich Rheinischer

Merkur, 27. Juli 1956 und C. Czernetz, Wohlstandskriminalität, in: Ar-beiterzeitung, Wien 19. Oktober 1956.

83 G. W. F. Hegel, Rechtsphilosophie, § 234.84 K Marx, Zur Kritik der politischen CSkonomie, Berlin 1951, S. 241.85 Vgl. dazu L. Kofler, Aggression und Gewissen, München 1973.86 L. Kofler, Jesus und die Ohnmacht, in: Marxismus und die Sache Jesu,

Matthias Grünewald-Verlag, München 1974.87 Mehr darüber in meiner Schrift: Geschichte und Dialektik, 3 1974.88 K Marx, Das Kapital, 1. Bd., 1947, S. 389.89 N. Plechanow, Beiträge zur Geschichte des Materialismus, Berlin 1946,

S. 130.90 K Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Ausgabe 1909, S.XVIII.

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