spektakel_kunst_gesellschaft

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Die in diesem Band versammelten Texte bezwecken einen Austausch zwischen den — entgegen allen Ansprüchen und Bekundungen — üblicherweise fein säuberlich getrennten Sphären von Kunst und Gesellschaftskritik, sowie eine Debatte über die heutige Relevanz von emanzipativen Konzepten aus der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts. Eine Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis der Situationistischen Internationale bot und bietet dazu jegliche wünsch- und denkbare Gelegenheit. ISBN 3-935843-61-5 guy debord und die situationistische internationale stephan grigat, johannes grenzfurthner, günther friesinger (hg.) Grigat, Grenzfurthner, Friesinger (Hg.) Spektakel – Kunst – Gesellschaft

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Der vorliegende Band versammelt Vorträge, die auf dem gleichnamigen Symposium im Januar 2005 in der Kunsthalle Exnergasse im Werkstätten- und Kulturhaus (WUK) in Wien gehalten wurden. Sie werden durch weitere Beiträge zum Thema ergänzt. Die Vorträge mit den anschließenden Diskussionen bezweckten einen Austausch zwischen den – entgegen allen Ansprüchen und Bekundungen – üblicherweise fein säuberlich getrennten Sphären von Kunst und Gesellschaftskritik, sowie eine Debatte über die heutige Relevanz von emanzipativen Konzepten aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis der Situationistischen Internationale bot und bietet dazu jegliche wünsch- und denkbare Gelegenheit. Und so konnten sich auf der Veranstaltung Künstler über die ökonomie- und staatskritischen Grundlagen Guy Debords informieren; ökonomistisch bornierten Klassenkämpfern wurde verdeutlicht, dass es bei Fragen der Ästhetik wenig um Geschmack, aber viel um eine bessere Einrichtung der Welt geht; und ergraute Fans und Zeitgenossen der Situationisten, die Debord gerne gewürdigt und geehrt, nicht aber kritisiert gesehen hätten, konnten sich darüber empören, dass an der Kritischen Theorie von Marx und Adorno geschulte Referenten, ausgehend von eben solch einer Kritik an Debord, sich zu aktuellen politischen Fragen positionierten, anstatt sich mit einer Musealisierung der SI zu begnügen.

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Die in diesem Band versammelten Texte bezwecken

einen Austausch zwischen den — entgegen allen

Ansprüchen und Bekundungen — üblicherweise fein

säuberlich getrennten Sphären von Kunst und

Gesellschaftskritik, sowie eine Debatte über die

heutige Relevanz von emanzipativen Konzepten

aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Eine Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis

der Situationistischen Internationale bot und bietet

dazu jegliche wünsch- und denkbare Gelegenheit.

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guy debord und die situationistische internationale

stephan grigat, johannes grenzfurthner, günther friesinger (hg.)

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Guy Debord und die Situationistische Internationale erfahren inden letzten Jahren auch im deutschsprachigen Raum vermehrteAufmerksamkeit. In der Regel ging diese verstärkte Rezeptionmit einer Reduzierung der Anliegen Debords und andererSituationisten auf kunst-, kultur- oder auch medientheoretischeFragestellungen einher. Je größer die Begeisterung und dasInteresse für die kunst- und kulturkritischen Schriften Debordswurde, desto weniger Beachtung fand die Gesellschaftskritik, dieDebords Kunst- und Kulturkritik zugrunde liegt. Heute geht eszum einen darum, Debord und die SI in ihrem revolutionärenAnspruch ernst zu nehmen. Zum anderen geht es um die Kritikihrer Vorstellungen vor dem Hintergrund der gesellschafts-kritischen Diskussionen der letzten 20 Jahre.Dieser Band versammelt Vorträge, die auf dem gleichnamigenSymposium im Januar 2005 in der Kunsthalle Exnergasse in Wiengehalten wurden. Er wird durch weitere Beiträge ergänzt.

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Stephan Grigat, Johannes Grenzfurthner, Günther Friesinger (Hg.)Spektakel - Kunst - Gesellschaft Guy Debord und die Situationistische Internationale

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Dieses Projekt wurde großzügig von folgenden Institutionen unterstütztKulturabteilung der Stadt Wien, Wissenschafts- und ForschungsförderungStudienvertretung Politikwissenschaft der Universität WienStudienvertretung Doktorat der Universität Wien

Erste AuflageVerbrecher Verlag Berlin 2006www.verbrecherei.de

© bei den jeweiligen Autorinnen und AutorenGestaltung: Sarah LamparterTitelgestaltung: Thorsten Platz, SlothropDruck: Dressler, BerlinPrinted in Germany

ISBN: 3-935843-61-5

Der Verlag dankt Heike Joswig und Johanna Prediger.

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1 VORWORT

5 Biene Baumeister Zwi Negator – „SITUATIONISTISCHE

REVOLUTIONSTHEORIE“ – COMMUNISTISCHE AKTUALITÄT

UND LINKE VERBLENDUNG

37 Stephan Grigat – FETISCHISMUS UND WIDERSTAND. GUY

DEBORDS REZEPTION DER KRITIK DER POLITISCHEN

ÖKONOMIE UND DIE SCHWIERIGKEITEN DER

GESELLSCHAFTSKRITIK NACH AUSCHWITZ

79 Biene Baumeister Zwi Negator – PROLETARITÄT – KUNST –

SPRACHE. SITUATIONISTISCHE REKONSTRUKTION UND

AUFHEBUNG

131 Bernd Beier – ÜBER DAS UNBEHAGEN AN DER

KULTURINDUSTRIE. DAS ELEND DES STUDENTISCHEN

MILIEUS UND DIE BEWEGUNG DER FRANZÖSISCHEN

KULTURPREKÄREN

180 Eiko Grimberg – VERWIRKLICHEN UND WEGSCHAFFEN.

WAS DIE SI MIT DER KUNST WOLLTE

197 Thomas Ballhausen – LATENZ UND AKTUALITÄT.

MARGINALIEN ZU GUY DEBORD ALS LITERARISCHEM

MEDIENARBEITER

217 Alexander Emanuely – „MAN REICHE MIR EINEN ANDEREN

KOSMOS, ODER ICH KREPIERE.“ ÜBER EINSTEIN,

SURREALISMUS, SCHREIE UND CRAVAN

249 AUTOREN UND HERAUSGEBER

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VORWORT

Der vorliegende Band versammelt Vorträge, die auf dem gleich-namigen Symposium im Januar 2005 in der Kunsthalle Exner-gasse im Werkstätten- und Kulturhaus (WUK) in Wien gehal-ten wurden. Sie werden durch weitere Beiträge zum Themaergänzt. Das Wiener Symposium wurde vom Bureau für Phi-losophie sowie den Gruppen monochrom und Café Critiqueorganisiert. Die Vorträge mit den anschließenden Diskussion-en bezweckten einen Austausch zwischen den – entgegen al-len Ansprüchen und Bekundungen – üblicherweise fein säu-berlich getrennten Sphären von Kunst und Gesellschaftskritik,sowie eine Debatte über die heutige Relevanz von emanzipa-tiven Konzepten aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.Eine Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis der Situa-tionistischen Internationale bot und bietet dazu jeglichewünsch- und denkbare Gelegenheit. Und so konnten sich aufder Veranstaltung Künstler über die ökonomie- und staatskri-tischen Grundlagen Guy Debords informieren; ökonomistischbornierten Klassenkämpfern wurde verdeutlicht, dass es beiFragen der Ästhetik wenig um Geschmack, aber viel um einebessere Einrichtung der Welt geht; und ergraute Fans und Zeit-genossen der Situationisten, die Debord gerne gewürdigt undgeehrt, nicht aber kritisiert gesehen hätten, konnten sich dar-über empören, dass an der Kritischen Theorie von Marx und

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Adorno geschulte Referenten, ausgehend von eben solch einerKritik an Debord, sich zu aktuellen politischen Fragen posi-tionierten, anstatt sich mit einer Musealisierung der SI zu be-gnügen.

Die das Symposium veranstaltenden Gruppierungen, dieHerausgeber und die Autoren entstammen so unterschiedli-chen Theorietraditionen, dass die Formulierung gemeinsamerPositionen schwierig ist. Zwar teilen die Autoren des vorlie-genden Bandes einige Grundannahmen in ihrer Kritik, welcheeine Zusammenarbeit erst ermöglichen, dennoch entstammensie keineswegs einem einheitlichen Spektrum. Auf inhaltlicheVorgaben seitens der Herausgeber wurde daher weit gehendverzichtet.

Einigkeit besteht darin, dass es heute gegen kulturindustri-elle Vereinnahmungsversuche darum geht, Debord und die SIin ihrem revolutionären Anspruch ernst zu nehmen. Keines-wegs ging und geht es um eine „Indienstnahme Debords“, wiees im üblichen linksjournalistischen Unverstand in einem Be-richt zu dem Symposium hieß,1 sondern um eine Diskussionder Vorstellungen der Situationistischen Internationale vordem Hintergrund der gesellschaftskritischen Diskussionen derletzten 20 Jahre.

Maßgeblich vorangebracht wurde solch eine Diskussionzuletzt durch die Einführungsbändchen zur „Situationisti-schen Revolutionstheorie“ des Autorenkollektivs Biene Bau-meister Zwi Negator.2 Sowohl vom Autorenkollektiv als auchin den anderen Beiträgen der vorliegenden Textsammlung wirdversucht, einige jener Aspekte der situationistischen Kritik, diein der notwendigen Knappheit einer Einführung zu kurz kom-

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men mussten oder nicht vertieft werden konnten, aufzugrei-fen. Um den Band auch für Einsteiger in die Materie les- undnutzbar zu gestalten, liefern Biene Baumeister Zwi Negatoreingangs eine Kurzfassung ihrer Einführung in die situationi-stische Revolutionstheorie.

Die HerausgeberWien, Februar 2006

1 Kastner, Jens: Debord als Antideutscher. Eine Tagung zur Situationistischen Inter-nationale in Wien. in: Kulturrisse, Nr. 1, 2005; http://igkultur.at/igkultur/kulturris-se/1111399032/1111399586 (2. 1. 2006), vgl. auch analyse und kritik, Nr. 495, 2005

2 Biene Baumeister Zwi Negator: Situationistische Revolutionstheorie. Eine Aneig-nung. Vol.I Enchiridion. Stuttgart 2004; Biene Baumeister Zwi Negator: Situatio-nistische Revolutionstheorie. Vol. II: Kleines Organon, Stuttgart 2005

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„SITUATIONISTISCHE REVOLUTIONS-THEORIE“ – COMMUNISTISCHE AKTUA-LITÄT UND LINKE VERBLENDUNG

Biene Baumeister Zwi Negator

Kritik ist selbst als geschichtlich gewordenes Produkt zu be-greifen, und als immanente Kritik des Bestehenden kann sieweder passiv sein noch einen statischen Standpunkt einneh-men; vielmehr bewegt sie sich negativ und strategisch-dyna-misch im Bestehenden. Das Ausgangsproblem aller radikalenKritik des Bestehenden ist vom Marxschen kategorischen Im-perativ gestellt, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen derMensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, einverächtliches Wesen ist“1 Die radikale Kritik hat somit – wieHorkheimer es formulierte – das praktische „Interesse an derAufhebung des gesellschaftlichen Unrechts.“2 Wie kann diesespraktische Interesse theoretisch reflektiert werden, so dassKritik als eine strategische Intervention zur Geltung kommt?An welche Praxis kann radikale Kritik geschichtlich anknüp-fen? Wie ist sie in den bestehenden Verhältnissen weiterzu-treiben, auch wenn diese noch so ausweglos erscheinen? Dieunmittelbar vorgefundenen Verhältnisse, in denen sich diespontanen Praxisformen bewegen, können nur durch Kritikals Vermittelte und geschichtlich Gewordene erkennbar ge-macht werden. Dann müssen sie auch nicht weiter als Deter-

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minismus oder als auswegloses Verhängnis missverstandenwerden. Was heißt das in der Gegenwart? Kann und soll auf dieFortschreibung der bürgerlichen Zivilisierung der Welt alsDurchsetzung des Weltmarkts, auf die „zivilisatorische Missi-on des Kapitals“3 gesetzt werden, oder soll und kann auf dieFortschreibung der – wieder in Marxens Worten – „welthisto-rischen Mission des Proletariats“4 gesetzt werden? Auf beidenSeiten – sofern sie als vereinseitigt erscheinen und dadurch sichals vermittlungsloser Dualismus gegenüberstehen – wird derRückfall in die Barbarei der „Vorgeschichte“ verkannt, der so-wohl der einen wie der anderen „Mission“ innewohnt. Nachwie vor gilt Horkheimers Feststellung „wer vom Kapitalismusnicht sprechen will, der sollte vom Faschismus schweigen.“5

Spiegelbildlich dazu machte das Schweigen der revolutionärenArbeiterbewegung über den Antisemitismus Auschwitz mög-lich und macht Ähnliches weiterhin nicht unmöglich. Um die-sen erneuten Absturz in eine Barbarei dieses Ausmaßes zuvermeiden, muss dem Marxschen „kategorischen Imperativ“der Adornosche hinzugefügt werden, der eine Konkretisie-rung des ersteren darstellt. Adorno formuliert ihn nämlichzwingend unter den Bedingungen der Katastrophe, in der bis-her beide historischen „Missionen“ steckengeblieben sind, alsden von Hitler den Menschen aufgenötigten „kategorischenImperativ“, dass diese schon vor der Revolution, nämlich noch„im Stande ihrer Unfreiheit“, ihr Denken und Handeln so ein-richten sollen, „dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichtsÄhnliches geschehe.“6 Im „Stande ihrer Unfreiheit“: das be-deutet zugleich den stummen Zwang der Verhältnisse, dernicht nur Gegenstand einer „Kritik der politischen Ökono-

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mie“ ist, den die Marxsche Kritik eröffnet, sondern zugleichauch Gegenstand einer „Kritik der libidinösen Ökonomie“von der Freud und die linke Psychoanalyse handelt, sein muss.

Die situationistische Kritik gehörte zu den wenigen Vor-stößen, welche eine „Nordwestpassage“ zwischen diesen beidenKritiken zu finden beanspruchte (Konzept der „Psychogeogra-phie“). Sie ließ sich programmatisch auf die Bedingungen im„Stande der Unfreiheit“ des modernen kapitalistischen All-tagslebens ein. Darin ist sowohl ihre bisher uneingelöste Ak-tualität als auch das Hinterschreiten ihres eigenen Anspruchsangelegt. Hierbei lassen sich in der situationistischen Theorie-bildung vor allem zwei „blinde Flecken“ feststellen: das völli-ge Ausblenden des Ausmaßes der Katastrophe der Shoah, dersingulären deutschen Barbarei, und die theoretische und prak-tische Blindheit gegenüber dem stummen Zwang der herr-schenden Geschlechterverhältnisse, bzw. der Trennungen des„Geschlechts.“7 Dass diese „Ausfälle“ der SI nicht nachgese-hen werden können, ist nicht einer wie auch immer geartetenbloßen Political Correctness geschuldet, sondern der Enttäu-schung, dass sie hier selbst nicht ihren eigenen Ansprüchengenügt: die Kritik des Alltagslebens wird ohne eine Kritik sei-ner Reproduktion auf jeder Ebene der modernen gesellschaft-lichen Totalität (Stichwort: „Alltagsreligion“ Marx, Adorno)auf Grundlage der hetero-sexistischen Arbeitsteilung undTrennungen der Gesellschaft nicht zu haben sein. Noch weni-ger kann jene umfassende Niederlage fassen, die das revolu-tionäre Projekt im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts erlittenhat, wer sich dem Antisemitismus und der Shoah nicht stellenmag.

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Unsere Darstellung der situationistischen Revolutions-theorie ist deshalb entlang folgender Schritte einer Entfaltungder Kritik aufgebaut, die schließlich auch eine Kritik der situa-tionistischen Theorie selbst ermöglichen soll – wobei Kritikhier immer als doppelter Genitiv zu verstehen ist: als Kritik vonder SI als Subjekt und an der SI als Gegenstand: Zunächst wirdkurz die Frage behandelt, „wer und was die SI war“; im zwei-ten Teil wird nach der Aktualität der situationistischen Kritikgefragt, während der dritte Teil auf ihre Ausblendung der Sho-ah eingeht. Ihre Ignoranz der Geschlechterverhältnisse harrtleider immer noch einer darstellbaren Ausarbeitung im Prozesskollektiver Kritik.

WAS WAR DIE SITUATIONISTISCHE INTERNATIONALE?

Die SI ging Ende der 1950er Jahre aus verschiedenen Strö-mungen künstlerisch-experimenteller Gruppen sowie aus anti-künstlerischen Mitgliedern der Lettristischen Internationaleseit der westeuropäischen Nachkriegszeit hervor. Ihre Mit-glieder kamen überwiegend aus Frankreich, Dänemark, Belgi-en, England, den USA, Algerien, den Niederlanden und spä-ter Italien. Eine kurze Zeit lang gab es auch eine deutscheSektion, die allerdings „wegen erwiesener theoretischer Un-fähigkeit“ (Marcus) und wegen „Nationalsituationismus“8

schnell wieder ausgeschlossen wurde. Zur offiziellen Grün-dung der SI kam es 1957. Bis zu ihrer Selbstzerschlagung 1972bestand sie aus nicht mehr als 70 GenossInnen, davon gerade

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mal 7 Frauen. Ihr publizistisches Organ war die Revue „Inter-nationale Situationniste“, die sehr gezielt auch ihre ästhetischenMittel einsetzte. So erschienen, sich beim Stil des Industriede-signs bedienend, die einzelnen Ausgaben in metallicfarbenemEinband, jede Nummer in einem anderen Farbton; damals wardies für eine linke Zeitschrift Aufsehen erregend. Insgesamt er-schienen 12 Hefte.

Angetreten war die SI zunächst, die getrennten Sphärenvon Kunst und Politik zu überwinden und die Totalität desentfremdenden kapitalistischen Alltagslebens zu bekämpfen,unter anderem vermittels verschiedenster Formen von Schriftbis Comics. Ihre experimentellen und spielerischen Technikenbestanden speziell in der Entwendung, Zweckentfremdungund Plagiierung vorgefundener Formen von Kultur, vor allemder Werbung. Die SI versuchte durch Wort und Geste zurZerstörung des stumpfsinnigen Warenalltags beizutragen, sietrat insbesondere gegen die herrschende Architektur des ka-pitalistischen Urbanismus an. Dazu entwickelte sie ein expe-rimentelles Stützpunkteprogramm, in dem die sogenannten„Dérives“, das heißt ein Umherschweifen in großen Städten,und das Konzept der „Psychogeographie“ eine Schlüsselrollespielten, da sie die „Konstruktion von Situationen“ ermögli-chen sollten. Was Marx einmal als die „Situation …, die jedeUmkehr unmöglich macht“9 bezeichnet hat, nämlich die pro-letarische Revolution, inspirierte nicht nur die Namensgebungder SI, sondern stellte den strategischen Bezugspunkt für diegesamte Theorie und Praxis dieser „Experimentatoren- undTheoretikergruppe“ – wie sie sich selbst bezeichnete – dar. ImLaufe ihrer Entwicklung ging es ihr mehr und mehr um eine

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neue Form der revolutionären Theoriebildung, einer Kritikder modernsten Proletarität (nicht ohne sich allerdings ihrervorherigen kunstavantgardistischen Ansatzpunkte und Tech-niken zu bedienen). In den westlichen Gesellschaften schienschon damals Revolution unvorstellbar, war diese doch inmehr oder weniger abstoßenden „rohen“ Formen vermeint-lich in den „Ostblock“ und in die anti- und postkolonialen Re-volutionen der – damals so genannten – „unterentwickeltenLänder“ ausgewandert. Ein Jahrzehnt nach dem Zweiten Welt-krieg lief in den europäischen Industrieländern der kapitalisti-sche Wiederaufbau. Als ob nichts gewesen wäre, wurde inWesteuropa frisch-fröhlich ein nunmehr demokratischer Ka-pitalismus restauriert, wurden auf neuester fordistischerGrundlage in noch nicht gekanntem Ausmaß Waren produ-ziert und konsumiert. Der Weltmarkt wurde neu aufgerolltund mit Konsum-Gadgets überschwemmt, sogar die Religio-sität kehrte massiv wieder. Zugleich schien im Spektakel der„Blockkonfrontation“ die Geschichte in einer Scheinalternati-ve stillgestellt. Insgesamt waren die LettristInnen und später dieSituationstInnen in ihrer „Praxis der Theorie“ auf der Suchenach den Möglichkeitsbedingungen der Revolution. Sie warendabei natürlich nicht die Einzigen. Doch ihre Originalität be-stand darin, alle bisherigen Versuche und deren Mittel und Or-ganisationsformen radikal in Frage zu stellen. Sie bezeichnetensich selbst weniger als „Avantgarde“ denn als „enfants perdus“,das heißt als „verlorener Haufen“ im militärischen Sinne, aberauch darüber hinaus, weil nach den Niederlagen der klassi-schen Arbeiterbewegung und ihrer Organisationsformen, kein„Hauptheer“ mehr auszumachen war. Deshalb versuchte die SI

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gezielt die Organisationsfrage aus den Verknöcherungenfremdbestimmter „Repräsentation“ und der Trennung vonTheorie und Praxis frei zu sprengen. Angewidert war sie ei-nerseits vom theoriefeindlichen voluntaristischen Spontaneis-mus und andererseits von der attentistischen und rein kon-templativ oder instrumentell-pragmatisch betriebenen Kritikder verschiedenen linken Parteien und Sekten.

Das Ensemble von Konzepten zur „Konstruktion von Si-tuationen“ kulminierte in ihrem Leitspruch: „Die Revolutionist aufs neue zu erfinden – das ist alles!“10 Nach jahrelangem,relativ isoliertem, zugleich aber zunehmend publizitätswirk-samen Experimentieren und Intervenieren wurde die SIschließlich zur Impulsgeberin des Mai 1968, der im Kern eineBewegung von Besetzungen war, die sich zunächst auf Uni-versitäten, dann auf die wichtigsten Produktionsanlagen, Bü-ros sowie andere Institutionen ganz Frankreichs erstreckte.Die Kettenreaktion der verschiedenen Besetzungsstreiks ent-wickelte sich zum ersten „wilden“ Generalstreik der Ge-schichte und brachte erstmals eine hochindustrialisierte kapi-talistische Wirtschaft zum Stillstand, wobei die Staatsmachtwährend zweier Wochen von ihrer Handlungslähmung bis hinzu ihrer kurzfristigen Auflösung taumelte. In dieser eskalie-renden Situation wurde auch offiziell die Rolle der handvollSI-AktivistInnen, die sich mit anderen aktiven Revolutio-närInnen im „Komitee zur Aufrechterhaltung der Besetzun-gen“ (CMDO) zusammengeschlossen hatten, beim Weiter-treiben dieser proletarischen Bewegung hin auf eineAneignung der ganzen Gesellschaft als bemerkenswert emp-funden. Da die Selbstorganisation und das Bewusstsein in der

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Bevölkerung jedoch (auch nach der Einschätzung der SI) nochnicht für die von der SI angestrebte Selbstaufhebung des Pro-letariats hinreichte, kam es nach einem Monat zum Rollbackdurch Staat und linke Gewerkschafts- und Parteiapparate –wobei der Staatspräsident de Gaulle mit der Bereitschaft zurmilitärischen Intervention der in Deutschland stationiertenfranzösischen Rheinarmee kalkulierte. Die Geschichte der SIging danach in ihre letzte Phase über. Einerseits griff die diffu-se neue revolutionäre Stimmung in Europa vor allem auf Ita-lien über (Besetzungsstreiks, Jugendbewegungen usw.), so dassdie SI sich auf ihrer Konferenz in Venedig 1969 konzentriertauf eine revolutionäre Situation in Italien einstellte. Anderer-seits machte sich innerhalb wie außerhalb der SI zusehends ei-ne Haltung breit, die sich stillvergnügt mit der Anschauung,Anwesenheit und der Zustimmung zum Bild einer dem An-schein nach „erfolgreichen“, bereits bewährten Gruppe ausge-wiesener RevolutionsexpertInnen begnügen wollte, das dieneuentstandene, spektakuläre Vorstellung von moderner Re-volution zu bedienen schien. Wie es schließlich zur Selbstauf-lösung der SI 1972 kam, wurde von der Gruppe um Guy De-bord in dem Abschlussdokument „Die wahre Spaltung derInternationalen“ etwa so begründet: Erstens sollte der passivenAnschauung der SI als einer „Legende“ der organisatorischeBoden unter den Füßen weggezogen werden. Zweitens schätz-te die SI ohnehin inzwischen die weltweit um sich greifende„proletarische Subversion“ optimistisch ein: „Künftig sind dieSituationisten überall, und ihre Aufgabe ist überall.“11 Mit derSelbstzerschlagung ihrer Organisation versuchten die letztenSituationisten die Schlussfolgerung wahr zu machen, die sie

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schon nach dem Mai 1968 gezogen hatten: „Von jetzt an sindwir sicher, dass unsere Aktivitäten zu einem befriedigendenErgebnis führen: Die SI wird aufgehoben werden.“12 Der ausden versteinerten Verhältnissen nach dem 2. Weltkrieg, aus ih-rer Latenz hervorbrechende manifest proletarische Charakterder Bewegung zwischen ca. 1968 und spätestens 1977 in Eu-ropa ist heute fast vollständig entrückt und verdunkelt. DasProletariat scheint heute nicht viel mehr als ein Gespenst zusein, von dem nicht nur die herrschende Soziologie, sondernfast auch die gesamte Linke ihren endgültigen „Abschied“ ge-nommen hat. Selbst die Rede vom „revolutionären Proletari-at“ scheint nicht mehr als ein Spektakel zu sein, so wie JaquesDerrida das Wort „Gespenst“ (franz.: spectre) in der Bedeu-tung von sich auflösender Spektralität erklärt: als ein Aus-den-Fugen-geraten-Sein von etwas, das lange Zeit eine Welt und ei-ne Ordnung verkörperte.13 Debord selbst hat in einem spätenText von 1988 das Proletariat als fast vollständig zerstreut undaufgelöst, als ein machtfaktisches „Nichts“ konstatiert. Undheute scheint es, als hätte sich auch die Ansicht Adornos von1942 bestätigt: „Das teuflische Bild der Harmonie, die Un-sichtbarkeit der Klassen in der Versteinerung ihres Verhältnis-ses gewinnt darum nur jene reale Gewalt übers Bewusstsein,weil die Vorstellung, es möchten die Unterdrückten, die Pro-letarier aller Länder, als Klasse sich vereinen und dem Grauendas Ende bereiten, angesichts der gegenwärtigen Verteilungvon Ohnmacht und Macht aussichtslos scheint.“14 Längst gilt:die spektakuläre Warengesellschaft hat gründlich gelernt, aufdie proletarische Kritik in den 1960er und 70er Jahren zu rea-gieren, indem sie, etwa mittels spezialisierter Führungskräfte

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und Trendscouts in zerstückelter Form Momente der proletari-schen Subversion im Allgemeinen und der situationistischenKritik im Besonderen in sich aufnahm. Die kapitalistische Kul-turindustrie hat sich darüber modernisiert und kann damit je-den revolutionären Stachel sich immer wieder regender Subver-sion abbrechen. Die situationistische Kritik wurde rekuperiert,wie die SI einen derartigen Integrationsprozess, der in die Mo-dernisierung und Verstärkung des bestehenden Zustandesmündet, zu nennen pflegte. Seit dem Scheitern ihres letzten Auf-bäumens im Mai 1968 ist die proletarische Kritik in Westeuro-pa nunmehr gezwungen, sich neu zu formieren. Der übliche lin-ke Aktionismus sowie die Kampagnenpolitik, „Realpolitik“oder Organisationsbastelei (wie die sogenannte „Vernetzung“,„linke Bündnispolitik“ oder eine „neue Linkspartei“ usw.) ha-ben sich je länger je mehr als bloße Pseudopraxis erwiesen,durch welche die fällige „Praxis der Theorie“ nicht zu ersetzenist. Ein erneuter Anlauf dieser Kritik sollte nicht unter dem his-torisch erreichten Niveau bleiben, muss aber die situationisti-sche Phase hinter sich lassen. Die „situationistische Revoluti-onstheorie“ kann somit als ein historisches Beispiel für dieTragödie der bisherigen geschichtlich halbwegs bewussten pro-letarischen Kämpfe gelten, eine Tragödie, die im widersprüch-lichen Entstehen und anschließenden Scheitern, vor allem imVerdrängen bzw. Deformieren der Rudimente proletarischerSubversion und in der Enteignung von Geschichtsbewusstseinbesteht. Eine solche Konstatierung kann allerdings für dasProjekt einer kollektiven Kritik nur Grund sein, sich nicht derallseitigen Amnesie hinzugeben, sie vielmehr aufzukündigenund jetzt erst recht den Begriff Proletariat und „Klasse selber

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so nah zu betrachten, dass er festgehalten wird und verändertzugleich.“15 Diese Notwendigkeit veranlasste die Untersu-chung der situationistischen Kritik fast 40 Jahre nach dem letz-ten revolutionären proletarischen Anlauf in einer hochent-wickelten westlichen kapitalistischen Gesellschaft.16

AKTUALITÄT DER SITUATIONISTISCHEN KRITIK

Worin ist die Aktualität der situationistischen Kritik gegeben?Zunächst in einer Haltung von proletarisierten und prekari-sierten Menschen, die sich, unabhängig davon, ob und wie sichdie Lohnabhängigen als Klasse momentan gerade verhalten,bestimmte Kriterien auferlegen wollen, um sich zu einer Theo-retiker- und ExperimentatorInnengruppe für den Communis-mus zu assoziieren. Adorno begründete diese „Anweisung“ anden kollektiven Kritiker: „So nur vermag die Theorie, dieSchwere des historischen Daseins der Einsicht ins Gegenwär-tige zugute kommen zu lassen, ohne der Last resigniert selberzu erliegen.“17 Diese Kriterien drückten sich in den Forde-rungen der SI-Mitglieder an sich selbst ungefähr als folgendeFragen aus:

Wie lösen wir das Verhältnis von ästhetischer und gesam-trevolutionärer Praxis? Wie also betreiben wir die Kritik derTrennungen von Kunst, Kultur, Politik und Ökonomie? Wiegehen wir die Vermittlung von revolutionärer Theorie undPraxis an? Was folgt aus der Kritik von kopfloser, blinder, rou-tinemäßiger oder aktionistischer Pseudopraxis und kontem-plativer, doktrinärer oder akademischer Theorie? Wie behan-

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deln wir die Organisationsfrage? Was lernen wir daraus, dassder voluntaristische Spontaneismus, der Verzicht auf die revo-lutionäre Organisation schlechthin, wie auch alle hierarchi-schen Organisationsformen, welche „die Entfremdung (…) inentfremdeten Formen bekämpfen“18 wollen, schließlich im-mer zur Konterrevolution bzw. zum Scheitern geführt haben?

Mit dieser selbstkritischen Haltung, die eine unbedingteModernität einklagt, sind zugleich folgende Momente der si-tuationistischen Kritik unabgegolten, die als theoretische Un-tersuchungsaufgaben zu bewahren sind – wenngleich sie auchnicht einfach 1:1 übernommen werden können, sondern je-weils aktualisiert werden müssen: 1) die Kritik der spektaku-lären Warengesellschaft, 2) die Kritik der Proletarisierung derWelt, 3) die Kritik des alltäglichen Lebens, 4) die Kritik der Ge-schichte revolutionärer Anläufe und ihres Scheiterns.

Schließlich muss die situationistische Kritik selbst gründ-lich und ohne jegliche Illusion kritisiert werden, sie muss aufihre Begrenztheit und Zeitgebundenheit geprüft werden undes müssen vor allem ihre „blinden Flecken“ benannt werden.Um die situationistische Kritik zu aktualisieren, muss sie über-wunden werden, was eine kollektive Überprüfung ihrer so ge-nannten Revolutionstheorie nötig macht. Zunächst wird dasBewahrenswerte im vorläufigen Resultat zu betrachten sein.

KRITIK DES SPEKTAKELS

Die SI bezeichnet mit dem Ausdruck „Spektakel“ einen – ge-genüber dem klassischen Industriekapitalismus – seit Ende der

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1920er Jahre einsetzenden und spätestens nach dem ZweitenWeltkrieg global hegemonial durchgesetzten neuen Zustandallgemein-warenproduzierender Gesellschaften, das heißt desmodernsten Kapitalismus. Anknüpfend an die Marxsche Kri-tik der Wert- und Warenform, der fetischistischen gesell-schaftlichen Verhältnisse, arbeitet die SI mit ihrem Begriff desSpektakels die Bilddimension des „Wertspiegels“ in der Wert-formanalyse und seine gesellschaftlichen Auswirkungen sehrdeutlich heraus.19 Es ist dies eine Dimension der Wertverge-sellschaftung, innerhalb derer die Menschen die von ihnenproduzierten Bilder – wie zum Beispiel die Bilder möglicherLebensentwürfe – im milliardenfachen Tauschakt als Rollen-verteilung (aktiv-passiv) zirkulieren und in produktiver Kon-sumtion passiv konsumieren, anstatt ihr Leben als gesell-schaftliche ProduzentInnen bewusst aktiv zu gestalten. DasSpektakel erscheint zunächst in dem Moment, worin die Wa-re zur völligen Besetzung des gesellschaftlichen Lebens gelangtist. Auf der Ebene des Geldes ist das Spektakel das Geld, dasman nur anschaut, weil sich in ihm die Totalität des Gebrauchsgegen die Totalität abstrakter Vorstellungen ausgetauscht hat.Und schließlich ist es das Kapital im Stadium eines solchenGrads an Akkumulation, dass es zum Bild geworden ist: „Diegesamte (…) Gesellschaft ist nun sein Portrait.“20 Das Spekta-kel ist damit als die konkrete Verkehrung möglichen Lebens,als gespenstisch-eigenständige Bewegung des Unlebendigenzu begreifen, die sich der Reichtumsproduktion durch die le-bendigen GesamtarbeiterInnen gegenüberstellt: „Le mort saisitle vif!“ (dt.: „Der Tote packt den Lebenden!“)21 Im Spektakelwerden passive ZuschauerInnen der – letztendlich von ihnen

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selbst produzierten – Waren-Bilder hervorgebracht, die auf sie„hypnotisch“ und „betäubend“ zurückwirken. Die situationi-stische Kritik des Spektakels hat damit auch ein religionskriti-sches Moment: Religionshistorisch wirken im modernenSpektakel der Mythos, das Heilige und das Opfer, die ver-schiedensten Varianten des Fetischismus und die Universalre-ligionen in aufgehobener Form weiter. Die Spektakelkritiknimmt damit entschieden die radikale materialistische Religi-onskritik ab Feuerbach und Marx an der projektiven Mono-polgestalt, der entfremdenden und betäubenden Wirkung derReligion in modernster Form erneut auf. Innerhalb des Spek-takulären unterscheidet die situationistische Analyse zwischenunterschiedlichen historischen Formen: dem diffusen, demkonzentrierten und dem integrierten Spektakulären. Letztereshat sich seit der beginnenden Auflösung der Blockkonfronta-tion allmählich übergreifend durchgesetzt und taucht daher alsBegriff erst beim späten Debord auf. Das diffuse Spektakulärebezieht sich auf die kapitalistischen Akkumulationsregimes,welche die relativ „ungestörte“ Entwicklung des modernen Ka-pitalismus, wie zum Beispiel den consumer capitalism der west-lichen Industriegesellschaften verkörpern. Das konzentrierteSpektakuläre wiederum umfasst wesentlich den bürokratischenKapitalismus der „realsozialistischen“ Staaten, die offen-for-mellen Diktaturen und bürokratischen Regimes mit Partei-und/oder Führerkult. Dieses System kann „importiert“ wer-den als Technik der Staatsgewalt über rückständigere, halbst-aatliche Wirtschaften oder in bestimmten Krisenzeiten desfortgeschrittenen Kapitalismus. Beruhend auf dem Sieg derje-nigen Form, die sich als die stärkste erwiesen hatte, der diffu-

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sen Form, besteht das integrierte Spektakel – nun endgültig seit1989 – in der fein abgewogenen Kombination der beiden hi-storisch vorangegangenen. Es hat auf der Grundlage des dif-fusen Spektakulären die autoritären und manipulatorischenTechniken des konzentrierten Spektakels in sich aufgenom-men und stellt laut Debord die bisher perfekteste Mystifikati-onsstruktur dar.22 Die spektakuläre Bilderproduktion ist vonder kapitalistischen Warenproduktion keinen Moment ablös-bar. Das Spektakel ist ein durch Bilder vermitteltes gesell-schaftliches Verhältnis zwischen Personen, wobei durch dieVersachlichung und Verbildlichung das gesellschaftliche Ver-hältnis als Beziehung zwischen Menschen und zwischen Klas-sen verborgen wird.23 Basal und letztendlich ist das Spektakelals getrennte Produktion und Produktion von Trennungen zucharakterisieren, und in diesem Sinne die „Proletarisierung derWelt“ als die Trennung der ProduzentInnen von ihren gesell-schaftlichen Lebensbedingungen und die Subsumtion der In-dividuen unter die Teilungen der gesellschaftlichen Arbeit, un-ter die Norm ihrer Charaktermasken und role models.

KRITIK DER „PROLETARISIERUNG DER WELT“

Was kann Proletarisierungskritik heißen, wenn sie nicht ein re-gressiver romantischer Antikapitalismus sein soll? Die SI hatwie Wenige ihrer Zeit versucht, die Marxsche Analyse der mo-dernen Proletarität zu aktualisieren. Keineswegs nur zur Zeitder SI, gerade auch heutzutage ist die Kategorie „Proletariat“höchst umstritten. So hielt Adorno schon der Soziologenzunft

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listig entgegen: „Soziologen aber sehen der grimmigen Scherz-frage sich gegenüber: Wo ist das Proletariat?“24 Die realeDurchsetzung des kapitalistischen Entwicklungsprozesseskann einerseits als ein Zivilisationsfortschritt gegenüber vor-herigen Gesellschaftsformationen angesehen werden, da dieMenschen aus naturwüchsigen Gesellschaftszusammenhän-gen befreit werden. Andererseits und zugleich geht damit auchein „Prozess der Entmenschlichung“ einher: „Mit der Ver-wertung der Sachenwelt geht die Entwertung der Menschen-welt einher“, schreibt Marx.25 (So auch: Lukács, Adornoet.al.). Mit dieser doppelten Charakterisierung lassen sichweder ein Geschichtsoptimismus noch ein Geschichtspessi-mismus begründen, auch beruht sie keineswegs auf einemstatischen anthropologischen Menschenbild. Der mit derkapitalistischen Produktionsweise einhergehende Prozessder Klassenteilung besteht in seiner modernsten Form, demSpektakel, laut der SI in der endgültigen „Proletarisierung derWelt“26, das heißt in der Ermöglichung, aber zugleich auchVerunmöglichung, somit der Negierung der freien Entfaltungdes gesellschaftlichen Individuums, das sich als doppelt freieLohnarbeiterIn in eine existenziell widersprüchliche „Lebens-situation“ (Marx) gezwungen findet. Gemessen an den durchdie Entwicklung der Produktivkräfte sich ständig erweitern-den objektiven Möglichkeiten des materiellen und kulturellenLebensprozesses, im Gegensatz zur existenziellen Wirklich-keit des bloßen Überlebens in der Lohnabhängigkeit, fristenselbst die nicht pauperisierten Proletarisierten tatsächlich –auch inmitten des Überflusses und Komforts der Metropolen– ein elendes Dasein. Diese Art „Elend“ wird von der SI als

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„Armut im Reichtum“ bezeichnet. Der von Marx aufgewiese-ne Widerspruch zwischen „gesellschaftlichem Sein“ und „pro-letarisierter Existenz“ besteht in der Kluft zwischen dem po-tenziellen Reichtum und der Vielseitigkeit der menschlichenFähigkeiten einerseits und der emanzipativen Entwicklung ei-nes Bedürfnissystems andererseits. Diesem steht die monoto-ne Einseitigkeit gegenüber, das immer weiter gehende Parti-kularisiertsein, die relative bzw. auch absolute Armut, dieAbhängigkeit der proletarisierten Individuen und ein durchdie präformierten spektakulären Bilder weitgehend entfrem-detes Bedürfnissystem.

Das Proletariat bezeichnet (klassischerweise, und hierknüpft auch die SI an) einfach ökonomiekritisch die Gesell-schaftsklasse der Lohnabhängigen: diejenigen, die zwar recht-lich mit anderen Klassen und Schichten als freie und gleicheRechtssubjekte (StaatsbürgerInnen, WarenbesitzerInnen undPrivatleute) gleichgestellt sind; aufgrund ihrer Eigentumslo-sigkeit gegenüber den gesellschaftlichen Produktionsmittelnsind sie aber, da gezwungen ihre Arbeitskraft zu verkaufen, dievom Kapital ausgebeutete, weil unbezahlte Mehrarbeit lie-fernde Gesellschaftsklasse, das heißt: Mehrwert über den zurErsetzung ihres Lohns hinaus produzierten Wert. Da sie kei-ne Produktionsmittel besitzen und als Klasse vereinzelter mit-einander konkurrierender Individuen auch sonst unmittelbarkeine Möglichkeit haben, das gesellschaftliche Geschehen, diegesellschaftliche Raum-Zeit zu bestimmen, sind die Proletari-sierten zunächst ein gesellschaftliches Nichts. Denn sie sindeben bloße vereinzelte gegeneinander konkurrierende Einzel-ne, die ihrer gesellschaftlichen Reichtumsproduktion als einer

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fremden Macht unmittelbar ohnmächtig gegenüberstehen undausgeliefert sind. An diese seit Marx längst bekannte Bestim-mung ist hier deshalb zu erinnern, weil allgemein – geradeauch in der Linken – die ökonomiekritische harte Kategoriedes Proletariats ständig mit ihren historischen Phänotypenverwechselt wird. Auf vier der vielen Momente des Negations-prozesses, aus welchen die spektakuläre „Proletarisierung derWelt“ hervorgeht, soll hier kurz eingegangen werden:27

1) Hervorzuheben ist die Negation der Zeit zur freien Ent-faltung, die Marx disponible Zeit nennt, als welche er vor allemdie Zeit zur Entwicklung des gesellschaftlichen Individuumsund der individuellen Fähigkeiten nennt. Diese Möglichkeit istvon der spektakulären „Freizeit“, als kontemplativer Konsum-zeit, beschlagnahmt. Werden die Lohnabhängigen darin auchnoch zur „Aktivität“ stimuliert („Bewegt euch!“, „Fit for Fun“usw.), dann spricht die SI sogar von „der Arbeit an der Freizeit“.

2) Der Prozess, bei dem der arbeitende lebendige Menschzum Objekt und Anhängsel der Produktionsinstrumente, derTechnologie und der wissenschaftlichen Organisationsappara-te degradiert wird, ein Prozess, der sich in der industriellen Fa-brik noch in einer materiell-despotischen Form durchsetzte,greift im Spektakel in libidinös-verinnerlichter verbildlichterForm auf nahezu alle Lebensbereiche über.

3) Durch die verdinglichende Besetzung der menschlichenBedürfnisstruktur vermittels der Bilderzirkulation werdenselbst die „radikalen Bedürfnisse“ (Marx) in das individuellund gesellschaftlich Unbewusste verdrängt. Diese Begierden,die auf die Residuen und Reserven unverkürzter menschlicherMöglichkeiten abzielen und damit notwendigerweise auf die

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Überwindung der bestehenden, in Konkurrenz, Partikularitätund Entfremdung festgefahrenen Verhältnisse drängen, dieseBegierden werden in spektakulären Formen entäußert. Siewerden somit nur passiv-kontemplativ konsumiert, als Bildervon einem nichtgelebten Leben. Dieser Fetischismus der spek-takulären Warenproduktion verhüllt den Menschen die ob-jektive Möglichkeit, ihre Geschichte bewusst und aktiv zu ge-stalten, sie zu einer menschlichen Geschichte zu machen unddarin ihre Bedürfnisse gesellschaftlich selbst zu bestimmen.

4) Die Proletarisierten sind vom historischen Bewusstseinder Klassenkämpfe enteignet. Die Geschichtsschreibung istherrschende Geschichtsschreibung, welche die Klassenkämp-fe als treibendes Moment der Geschichtsentwicklung verhüllt,wie auch immer man diese bewertet. „Alle Geschichte heißtGeschichte von Klassenkämpfen, weil es immer dasselbe war,Vorgeschichte.“ (Adorno) Die Geschichte erscheint im Spek-takel einerseits „top down“, als in den Taten und Ideen der„großen“ Persönlichkeiten personifiziert. Andererseits er-scheint sie „from the bottom up“: umgestülpt als romanti-siert-mythisierte Sozialgeschichte der „kleinen Leute“ undihrer individuellen bzw. gemeinschaftsgebundenen Überle-benskulturen. Das historisch-gesellschaftliche Bewusstseinder proletarischen Anläufe und ihres Scheiterns ist damit indoppelter Weise in das gesellschaftliche Unbewusste ver-drängt. Die SI hat einen neuen Versuch gestartet, diese Klas-senkämpfe wieder ans Tageslicht zu bringen, ihre untergrün-dige Geschichte offen zu legen, um aus den Gründen desbisherigen Scheiterns der proletarischen Anläufe praktischeSchlüsse zu ziehen. Darauf wird weiter unten einzugehen sein.

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Wie kann nun dieser Enteignungs- und Verdrängungspro-zess umgekehrt werden? Marx schrieb, das Proletariat sei „re-volutionär oder nichts“. Die revolutionstheoretische Frage,welche die SI zu lösen versuchte, aber an der sie letztendlichscheiterte, lautet: Wie kann aus dem gesellschaftlichen Nichts-sein die Klasse des Bewusstseins werden? Der erste Bewusst-seinsschritt war ihrer Auffassung nach die Erkenntnis, dass dieProletarisierten zwar keine Macht über den Gebrauch ihresLebens haben, aber dass sie das zumindest „wissen“.28 Bei die-sem „Wissen“ (franz.: savoir: wissen, kennen und [erworbenesWissen anwenden] können) handelt es sich nicht um theore-tisch-reflexives Wissen, sondern um die eigene Einsicht in dieunmittelbare Ohnmacht. Um die Bewusstseinslagen der Pro-letarisierten besser zu begreifen, muss – so die SI – vor allemjene Sphäre kritisch untersucht werden, in welcher sich die Be-dürfnisse und die Begierden der Menschen am entschiedenstenausdrücken, und das ist die Ebene des Alltagslebens.

KRITIK DES ALLTÄGLICHEN LEBENS

Das alltägliche Leben bezeichnet die Sphäre des begrenzten,bornierten, banalisierten, dabei doch alle Sphären durchdrin-genden und selbst von allen Sphären durchdrungenen mensch-lichen „Werkeltaglebens“ (Marx). Es ist zugleich das Reichdiffuser, weitgehend unbewusster Unzufriedenheit und Stim-mungen von Unbehagen („etwas fehlt“; „das kann‘s doch nichtsein“ etc.), das heißt eine von den geahnten Möglichkeiten ent-fremdete Lebenswelt. Es ist der Bereich, in dem das Individu-

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um als ein seiner Gesellschaftlichkeit weitgehend beraubtes er-scheint (franz.: vie privée: a] Privatleben, b] beraubtes Leben).Das Individuum erscheint auf bloßes Familienleben, „Week-end“, Urlaub, „Freizeit“ usw. reduziertes Einzelwesen, dassich letztlich um die fremdbestimmte Arbeit dreht. Das All-tagsleben ist die gesellschaftliche Sphäre, in der sich die Men-schen meist dem Grundgefühl nach lediglich „vegetativ“ re-produzieren, was sich sprichwörtlich in der „Monotonie desAlltags“ ausdrückt. Des Weiteren stellt sich der moderne, bür-gerliche Alltag als ein „Tummelplatz“ von wenig bis unhinter-fragten Ideologien, Traditionen und Konventionen dar; zu-gleich allerdings auch als Bereich unmittelbarer, spontanerGesten, das heißt ständige Versuche, aus der Monotonie aus-zubrechen. Der Alltag zeigt sich bei näherer Betrachtung alsvermittelte Unmittelbarkeit, als etwas Gewordenes, sowieals Pseudokonkretheit, als Kreuzung unterschiedlichster, wi-dersprüchlicher Momente und ideologisch erstarrter Ent-wicklungstendenzen. Das bewusstseinsbildende Denken desmodernen Alltags ist zum einen abstrakt und zugleich un-mittelbarkeitsfixiert – im Gegensatz zu einem reflektierten,kritischen, weil konkret begreifenden Denken. Allerdingsbleibt das Alltagsdenken, das Alltagsbewusstsein auch etwasElementares: denn durch den spontanen Verstand des All-tagsdenkens bleiben auch alle „höheren“ Bewusstseinsfor-men (zum Beispiel wissenschaftliches oder künstlerischesDenken) notwendig geprägt. Letztendlich bringt die MarxscheFeststellung, in Bezug auf das unbewusst warenfetischistischeHandeln der modernen Menschen und ihre „Alltagsreligio-sität“ in der kapitalistischen Gesamtmystifikation getroffen, das

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ganze Dilemma des Alltagslebens in der hochvergesellschafte-ten bürgerlichen Produktionsweise, seine Leistung, seineKurzsichtigkeit und Borniertheit auf den Punkt: „Sie wissendas nicht, aber sie tun es.“29

Die SI setzte genau hier an, um die „Gesten“ der Menschenin ihrem Tun zu dechiffrieren. Hierin ist der strategische ideo-logiekritische Ansatzpunkt der situationistischen Revoluti-onstheorie zu sehen und lässt sich auch das situationistischeLeitmotiv der „Kritik der Geschichte“ verstehen. Denn – soauch Adorno: „Kulminiert in der Moderne, im kalten Elendder freien Lohnarbeit alle Unterdrückung, die Menschen jeMenschen angetan haben, so offenbart sich der Ausdruck desHistorischen selber an Verhältnissen und Dingen (…) als Spurvon altem Leiden.“30 Das unstillbare, unausrottbare Glücks-versprechen in der Gattungsgeschichte konnte in der Moder-ne bisher in der Regel nur als „pursuit of happieness“ konkur-rierender Warenbesitzer kanalisiert werden, oder es schlägtum in den Vernichtungsdrang gegen solche, denen der Mas-senwahn zuschreibt, dass sie „unser Unglück“ seien. DerKampf für das mögliche Glück, den die Ausgebeuteten immerwieder versuchten, verliert sich in diesem „Triumphzug derSieger.“31

KRITIK DER GESCHICHTE

In ihren historischen Analysen geht es der SI vor allem darum,„das Verfahren um die verlorene Geschichte wieder aufzu-nehmen, sie zu retten und wiederzufinden.“ Dies geschieht in

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vielen desillusionierenden Aufarbeitungen der Traumata revo-lutionärer Anläufe. In einer Formulierung unter dem Titel„Adresse an die Revolutionäre Algeriens und aller Länder“von 1965 bringt die SI ihre grausam-gründliche Bilanz derproletarischen Revolutionsanläufe im 20. Jahrhundert auf denPunkt: Für die Revolutionäre „ist es zuerst notwendig, dieNiederlage des gesamten revolutionären Projekts im erstenDrittel unseres Jahrhunderts in ihrem ganzen Ausmaß und oh-ne irgendeine tröstende Illusion zu erkennen, sowie ebensoseine offizielle Ersetzung, in jeder Region der Welt wie auch inallen Bereichen, durch einen verlogenen Schund, der die alteOrdnung nur verdeckt und ausstattet. Die Herrschaft desbürokratischen Staatskapitalismus über die Arbeiter ist dasGegenteil vom Sozialismus: Dieser Wahrheit hat der Trotzkis-mus nie ins Gesicht blicken wollen. Sozialismus gibt es nurdort, wo die Arbeiter selbst unmittelbar die gesamte Gesell-schaft verwalten; es gibt ihn weder in Russland noch in Chinanoch anderswo. Die russische und die chinesische Revolutionwurden von innen besiegt. Sie sind heute für das westliche Pro-letariat und die Völker der Dritten Welt ein falsches Modell, dasie in Wirklichkeit die Macht des bürgerlichen Kapitalismus,des Imperialismus ausbalancieren.“32 Mit diesem schonungs-losen Fazit führte die SI eine psychoanalytische Technik in dieGeschichtsaufarbeitung ein, die sich als bewusste „Trauerar-beit“ kennzeichnen lässt. Der Demoralisierung und Betäu-bung durch die Niederlagen der proletarischen revolutionärenAnläufe hielt die SI unbeirrbar die psychoanalytische Er-kenntnis entgegen, dass im Verdrängen die Wiederkehr desVerdrängten schon vorprogrammiert ist. Für die historische

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Bewusstmachung in der Arbeit des Erinnerns betont die SI dieKlärung der Fronten zwischen Repräsentation und Repressi-on auf der einen, der offiziellen Seite der Geschichte der Sie-ger (représentation konnotiert im Französischen den Charak-ter von Ersatz und Verdrängung; repression bedeutet imEnglischen politische Unterdrückung und psychische Ver-drängung), und den gesellschaftlichen Triebkräften der radi-kalen Bedürfnisse und des revolutionären Begehrens auf deranderen Seite, die in den Untergrund, in die Subversion ver-bannt und für lange Zeit verdrängt worden sind. So gibt sichdie SI selbst folgendes geschichtskritische Programm vor:„Man muss die klassische Arbeiterbewegung wieder illusions-los studieren lernen, und vor allem klaren Kopf bewahren ge-genüber den verschiedenen Arten der politischen und pseudo-theoretischen Erben, denn diese haben nur ihre Fehlschlägegeerbt. Die augenscheinlichen Erfolge dieser Bewegung sindihre fundamentalen Fehlschläge (der Reformismus oder dieErrichtung einer staatlichen Bürokratie), und ihre Fehlschläge(die Pariser Commune oder die Revolte in Asturien) sind bis-her ihre aufschlussreichsten Erfolge für uns und für die Zu-kunft.“33

FAZIT ZUR AKTUALITÄT DER SITUATIONISTI-SCHEN KRITIK

Die situationistische „Praxis der Theorie“ besteht eben nichtdarin, in positivistischer Weise eine Revolutionstheorie zuschreiben, diese der Welt zu präsentieren und die Menschen da-

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von missionarisch zu überzeugen. Sondern es geht ihr darum,das unbewusste, verdrängte, verloren geglaubte revolutionäreBegehren des gesellschaftlichen Individuums mit seiner sub-versiven Praxis innerhalb der spektakulären Warengesellschaftaufzuspüren, es illusionslos zu dechiffrieren und in einer kohä-renten Sprache auszudrücken. Das revolutionäre Forschungs-programm der SI lässt sich mit folgenden Fragen charakteri-sieren: Wie konnte es gesellschaftshistorisch zum Verdrängender revolutionären Begierden und zum Unsichtbarwerden desProletariats kommen? Welche gesellschaftlichen objektivenund subjektiven Mechanismen sind dabei am Wirken? Welchegesellschaftlichen Verhältnisse und Praxisformen verhinderntendenziell eine „Rückkehr des Verdrängten“ bzw. arbeitender Verdrängung zu?

Die SI versuchte die objektiven wie subjektiven Verdrän-gungsmechanismen zu entschlüsseln und zur Sprache zu brin-gen. Sie sah die Notwendigkeit einer Bedürfnistheorie in Ver-bindung einer Theorie moderner Subjektivität mit historischemKlassenbewusstsein, die eine Art revolutionärer Psychoanaly-se zur Grundlage haben muss. Und sie versuchte dem gesell-schaftlichen und historischen Verdrängungswiderstand durch„Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“ – so die Freud-sche Formel – entgegenzuarbeiten. Hierin kann die Aktualitätder situationistischen Kritik gesehen werden, da die zykli-schen Mechanismen und Formen, welche die objektive Mög-lichkeit einer proletarischen Revolution verhüllen, damals wieheute im wesentlichen dieselben geblieben sind, wie sich imVergleich von Adornos „Reflexionen zur Klassentheorie“ von1942 mit Debords Ausführungen 25 Jahre später in seinem

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Buch „Die Gesellschaft des Spektakels“ zeigt, die frappieren-de Ähnlichkeiten aufweisen. Daran zeigt sich aber auch zu-gleich der gravierende Ausfall der situationistischen Analyseder kapitalistischen Geschichte. Er besteht im Ausblendenoder Übergehen des gattungsgeschichtlichen Bruchs, welcherunmittelbar während und nach Adornos „Reflexionen zurKlassentheorie“ mit der Shoah eingetreten ist. Die Geschichteist seitdem nicht einfach als „Geschichte der Klassenkämpfe“weiterzutreiben, und die Gesten müssen hinsichtlich der pro-letarischen Ambivalenz dechiffriert werden. Eine „Kritik derGeschichte“ die sich diesem Bruch radikal stellt, wendet sichdamit in die Kritik der situationistischen Kritik selbst.

AUSBLENDUNG DER SHOAH IN DER SITUATIONISTISCHEN KRITIK

Die Shoah markiert einen Bruchpunkt, ab dem die Welt fürkonventionelles linkskommunistisches Denken nicht mehrentziffert wird; das gilt auch für die Situationisten, obwohl ihranalytisches „Instrumentarium doch in den Kämpfen gegendie Verstaatlichung der Arbeiterbewegung und die Zerschla-gung der Räte, gegen den Leninismus und seine Diktatur überdas Proletariat es ermöglicht hatte, sich auf die richtige Seite zuschlagen (anstatt auf die ‚Geschichte der Sieger‘).“34 Aber der„linke Kommunismus, der von der Shoah nichts wissen woll-te oder zumindest nichts, was er nicht immer schon ‚gewusst‘hätte, besiegelte mit dieser Borniertheit auf den überkomme-nen ‚Standpunkt der Arbeiterklasse‘ auch nur die historische

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Niederlage einer revolutionären ArbeiterInnenbewegung, vonwelcher der Antisemitismus nur in den seltensten Fällen ange-messen bekämpft worden war. Um weiterhin das bleiben zukönnen, was er war, musste der linke Kommunismus, und soauch die SI, verdrängen, was nicht in sein Geschichtsbild pas-sen wollte: die Shoah war und ist für ihn ‚kein Thema‘.“35 Sosteht dem bürgerlichen Standpunkt, der vom Antisemitismusreden und vom Kapitalismus schweigen will, nur seitenver-kehrt ein sogenannter „Klassenstandpunkt“ gegenüber, dernur vom Kapitalismus redet und von „Auschwitz und Ähnli-chem“ im Grunde schweigen will. Damit verunmöglicht ersich aber das, was doch gerade von der SI stets eingefordertworden war: das gesamte Ausmaß der Niederlage der Revolu-tion im 20. Jahrhundert wahrzunehmen. Der Linkskommu-nismus und auch noch die SI sind nach diesem Bruch selbst Teilder Verfallsgeschichte des Geschichtsbewusstseins geworden;ihre geschichtswirksamen Erkenntnisse für die Kapitalismus-kritik müssen für zukünftige revolutionäre Anläufe gegen sieund vor ihnen gerettet werden, indem die ganze Dimensionder Antisemitismuskritik nicht weiter unterschlagen wird, undwenn die Ignoranz der Kapitalismuskritik gegenüber der An-tisemitismuskritik nicht fortgeschrieben wird. „Viel zu oft ver-folgte das vermeintliche Klassenbewusstsein, ob ‚sozialrevolu-tionär‘ oder ‚marxistisch‘ geprägt, von seinem borniertenverdinglichten sogenannten ‚Arbeiterstandpunkt‘ aus mitGleichgültigkeit, wie die antisemitische Konterrevolution zutriumphieren drohte. (…) So gut wie nie nahm jene historischeGestalt des ‚Klassenbewusstseins‘ den Antisemitismus als An-griff auf sich selbst und damit auf die Möglichkeit der proleta-

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rischen Revolution wahr.“36 Denn sein Standpunktdenken be-greift das Proletariat nicht als ambivalenten Prozess. „Schondie Unempfindlichkeit, jene Kälte der modernen ArbeiterIn-nenbewegung gegenüber den Opfern der zeitgleich mit ihr im19. Jahrhundert aufkommenden modernisierten Form der Ju-denfeindschaft, verweist schmerzhaft auf das noch folgendeepochale Versagen vor dem Nationalsozialismus im 20. Jahr-hundert.“37 Die SI hat die revolutionäre Kohärenz zum Schlüs-selbegriff und zum Hauptkriterium ihrer theoretischen undpraktischen Kritik gemacht. Das heißt aber, dass die Kritik derTotalität des Unwahren seit der Shoah unwiderruflich die radi-kalste Antisemitismuskritik von der radikalsten Kapitalismus-kritik nicht mehr trennen kann. Die geschichtliche Katastrophebewirkt aber eine Stillstellung der Revolutionsgeschichte zu-sammen mit der Gattungsgeschichte der Menschheit, im Sinnevon Walter Benjamin: „Die Katastrophe ist, dass es ‚so weiter‘geht wie bisher“. Eine revolutionäre Kohärenz kann weder de-kretiert noch umstandslos fortgeschrieben werden: „Der Vor-hang der Kohärenz ist zerrissen. Was einmal eine Geschichte desFortschritts gewesen schien, welche durch die Klassenkämpfefrüher oder später zum guten Ende, der quasi unabwendbarenÜberwindung des Kapitalismus vorangetrieben werde“38 istfalsifiziert. Aufgrund der Niederlage des communistischenAnlaufs, auf dem historischen Trümmerfeld der doppeltenKonterrevolution (stalinistische und nationalsozialistische),wurde die Vernichtung der Jüdinnen und Juden im Zugriffs-bereich des eliminatorischen deutschen Antisemitismus mög-lich. Beide Ereignisse – das Abwürgen der revolutionären Ar-beiterbewegungen und die Vernichtung der Jüdinnen und

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Juden – fallen auseinander. Es kann nicht ohne weiteres gelin-gen, sie zusammenzudenken. Schon 1940 stellte Adorno einegigantische historische Verschiebung fest, als er an Horkhei-mer schrieb: „Oftmals kommt es mir vor, als wäre all das, waswir unterm Aspekt des Proletariats zu sehen gewohnt waren,heute in furchtbarer Konzentration auf die Juden übergegan-gen. Ich frage mich, ob wir nicht (…) die Dinge, die wir ei-gentlich sagen wollten, im Zusammenhang mit den Juden sa-gen sollten, die den Gegenpunkt zur Konzentration der Machtdarstellen.“39 Was die Begründer der kritischen Theorie „ei-gentlich hatten sagen“ wollen, waren die Bedingungen derMöglichkeiten für die Aufhebung der Macht des Kapitalsdurch ein revolutionäres Proletariat. Die Verschiebung derganzen Wucht der Konterrevolution und der Barbarei „allerbisherigen Gesellschaftsordnung“40 vom revolutionären Pro-letariat (nach dem Ersten Weltkrieg) als dem so genannten„Weltfeind“ auf die Juden (im Zweiten Weltkrieg) gelang NS-Deutschland in der Tat mit einer „deutschen Gründlichkeit“ohnegleichen, indem es das „Judentum“ als Phantasma für dieproletarische Weltrevolution und Subversion ebenso wie fürdie bürgerliche Weltzivilisation und kapitalistische Moderneeinsetzte und physisch zu vernichten begann. Die Katastro-phe, mit der Deutschland die Gattungsgeschichte zerriss, istsomit nicht allein die Niederlage der proletarischen Revoluti-on und auch nicht allein der Bruch der bürgerlichen Zivilisa-tion, sondern sie ist „überdeterminiert“, so wie der deutscheeliminatorische Antisemitismus in seinem wahnhaften „Anti-kapitalismus“ und „Antikommunismus“ zugleich „die Juden“überdeterminiert. Mit dieser Feststellung ist jedoch der Feti-

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schismus, den die Projektion und Fixierung auf das „Juden-tum“ darstellt, noch keineswegs enträtselt: sprechen Marx undAdorno von einer „Alltagsreligion“, so ist damit die Aufgabefür die Kritik der mörderischsten, bösartigsten pathologischenMassen-Fetischform erst gestellt, und von dieser Fragestel-lung aus ist auch das gesamte situationistische Projekt kritischzu beleuchten und zu hinterfragen, um einen erneuten Anlaufzur Beendigung der menschlichen Vorgeschichte nehmen zukönnen.

1 Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd.1. Berlin 1988 (1844), S. 385

2 Horkheimer, Max: Traditionelle und kritische Theorie. In: Ders: Kritische Theo-rie. Bd. II. Frankfurt/M. 1968, S. 190

3 vgl. Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. MEW 42, Ber-lin 1983 (1857/58), S. 322

4 Marx, Karl/Engels, Friedrich: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik.In: MEW 2, Berlin 1972 (1845), S. 37

5 Horkheimer, Max: Die Juden und Europa. In: Zeitschrift für Sozialforschung, Jg.8/1939 (Repr. 1980), S. 115

6 Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. In: Gesammelte Schriften (GS), Bd. 6.Frankfurt/M. 1997 (1966), S. 358

7 vgl. Biene Baumeister Zwi Negator: Situationistische Revolutionstheorie. Eine An-eignung. Vol.I Enchiridion. Stuttgart 2004, S. 217ff.

8 Situationistische Internationale (SI) 1958-1969. Gesammelte Ausgaben des Organsder Situationistischen Internationale. Bd. 2. Hamburg 1977, S. 34

9 Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In: MEW 8, Berlin 1960(1852), S. 118

10 Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten. Hamburg 1995, S. 91; Situa-tionistische Internationale 1958-1969. Gesammelte Ausgaben des Organs der Si-tuationistischen Internationale, Band 1, Hamburg 1976, S. 209

11 Situationistische Internationale: Die wirkliche Spaltung der Internationalen. Öf-fentliches Zirkular der Situationistischen Internationalen. Düsseldorf 1973, § 53

12 SI, Bd. 2, a. a. O., S. 364; Der Beginn einer Epoche, a. a. O., S. 28313 Derrida, Jacques: Marx‘ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die

neue Internationale. Frankfurt 2004, S. 47, 21114 Adorno, Theodor W.: Reflexionen zur Klassentheorie. In: GS 8, Frankfurt/M.

1997 (1942), S. 376

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15 ebd., S. 37716 vgl. Biene u. a.: Situationistische Revolutionstheorie, a. a. O.17 Adorno: Reflexionen zur Klassentheorie, a. a. O., S. 37418 Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin 1996, § 5019 Biene u. a.: Situationistische Revolutionstheorie, a. a. O., S. 45 ff.20 Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., § 1621 Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. MEW 23,

Berlin 1993 (1872), S. 15 22 vgl. Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., § IV ff.23 vgl. ebd., § 24 ff.24 Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben.

GS 4, Frankfurt/M. 1997 (1951), S. 22125 Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte. MEW 40, Berlin 1988

(1844), S. 511 26 Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., §26 27 vgl. Biene u. a.: Situationistische Revolutionstheorie, a. a. O., S. 101-107, wo ins-

gesamt zehn Momente aufgeführt sind.28 vgl. Der Beginn einer Epoche, a. a. O., S. 231 29 Marx: Das Kapital, a. a. O., S. 8830 Adorno: Reflexionen zur Klassentheorie, a. a. O., S. 37331 vgl. Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. In: Ders.: Illuminationen.

Frankfurt/M. 1977, S. 25432 Der Beginn einer Epoche, a. a. O., S. 18633 ebd., S. 115; SI, Bd. 1, a. a. O., S. 26334 Biene u. a.: Situationistische Revolutionstheorie, a. a. O., S. 220 35 ebd., S. 22036 ebd., S. 22137 ebd.38 ebd., S. 22239 Adorno Brief an Horkheimer 5.8.1940. In: Adorno, Theodor W./Horkheimer,

Max: Briefwechsel Band II, Frankfurt/M. 2004, S.8440 Marx, Karl/Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei. In: MEW 4,

Berlin 1972 (1948), S. 493

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FETISCHISMUS UND WIDERSTAND. GUY DEBORDS REZEPTION DER KRITIKDER POLITISCHEN ÖKONOMIE UNDDIE SCHWIERIGKEITEN DER GESELL-SCHAFTSKRITIK NACH AUSCHWITZ

Stephan Grigat

Guy Debord und die Situationistische Internationale erfuhrenin den letzten fünfzehn Jahren auch im deutschsprachigenRaum vermehrte Aufmerksamkeit. Am Beginn des 21. Jahr-hunderts werden Ausstellungen von ehemaligen Situationi-sten selbst im Massenblatt DB mobil angekündigt, in dem De-bord und seine Mitstreiter als Kostverächter präsentiertwerden, die „das Streben nach materiellem Überfluss“ verur-teilt hätten.1 Debords Hauptwerk „Die Gesellschaft des Spek-takels“ wurde neu aufgelegt und durch Ausstellungen wie je-ne in Wien Anfang 1998 oder jene in Karlsruhe 2001 wurde dasAugenmerk einer größeren Öffentlichkeit auf die Aktivitätender Situationisten gelenkt. In der Regel ging diese verstärkteRezeption mit einer Reduzierung der Anliegen Debords undanderer Situationisten auf kunst-, kultur- oder auch medien-theoretische Fragestellungen einher. Was Greil Marcus bereitsAnfang der achtziger Jahre konstatierte, traf um so mehr aufdie leise Renaissance der situationistischen Schriften seit Endeder neunziger Jahre zu: Das Spektakel ist „zu einer modischen

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Platitüde der Kritik geworden, zu einem unscharfen, inhalts-leeren Begriff. Er bedeutet nur, dass das Bild einer Sache die Sa-che selbst überlagerte. Kritiker benutzten dieses Klischeenicht, um nachzudenken (…), sondern um sich zu beklagen.“2

Je größer die Begeisterung und das Interesse für die kunst- undkulturkritischen Schriften Debords wurde, desto weniger Be-achtung fand die radikale Gesellschaftskritik, die DebordsKunst- und Kulturkritik zugrunde liegt. Beispielsweise kom-men sämtliche Beiträge auf den Themaseiten der linken öster-reichischen Zeitgeistpostille Malmoe zu den Situationisten oh-ne jeglichen Hinweis auf die Kritik der politischen Ökonomieaus.3 Michael Hardt und Antonio Negri integrieren DebordsAnalyse des Spektakels, welche „die beste Artikulation deszeitgenössischen Bewusstseins vom Triumph des Kapitals“4

und heute „angemessener und wichtiger denn je“5 sei, in ihrebenso vitalistisches wie antikommunistisches Geschwafel voneinem Empire,6 bei dem die Debordsche, aus der Kritik der po-litischen Ökonomie entwickelte Kategorie des Spektakels inden aufgeblasenen Begriffsapparat poststrukturalistischerTheoriebildung integriert wird, „dessen Verhältnis zum ärm-lichen Inhalt sich so ausnimmt, als wolle man eine Konserven-büchse mit der MP öffnen.“7

Setzt sich das Feuilleton oder die Sozialwissenschaft heutemit Debord auseinander, wird er vor allem als weitsichtiger Kri-tiker des Medienzeitalters rezipiert. Debord selbst hat daraufhingewiesen, dass die Ersetzung seines Begriffs „Spektakel“durch weitläufige Betrachtungen zum Mediensektor seinen In-tentionen nicht mehr entspricht, da dadurch die eigentlicheGrundlage des Spektakels, die kapitalistische Warenprodukti-

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on, nahezu zwangsläufig affirmiert wird.8 Gerade im Feuille-ton wird immer wieder versucht, den Kritiker des modernenWarenspektakels selbst zum kritischen Bestandteil des Spek-takels zu machen. Exemplarisch für solch eine Art der Be-schäftigung mit Debord kann Sebastian Reinfeld angeführtwerden, der nach der Beschäftigung mit Louis Althusser undNicos Poulantzas konsequenterweise im Umfeld der Grünengelandet ist und sich in der Zeitschrift der österreichischenGrünen Bildungswerkstätte für die „wunderschönen Texte“der Situationisten begeistert, ohne den in ihnen propagiertenradikalen Bruch mit der bürgerlichen Gesellschaft ernst zunehmen. Stattdessen macht Reinfeld sich vor dem Hintergrundsituationistischer Praktiken Gedanken über etwas, das De-bord Zeit seines Lebens verabscheut hat: „die besseren Kon-zepte und ihre zähe Umsetzung“,9 also konstruktive Opposi-tionsarbeit.

Es ist aber nicht nur der sympathische Hang zu destrukti-ver Kritik, der Debord stets vom Elend der Mainstream-Lin-ken abhob. Was ihn schon immer in Opposition zum oppor-tunistischen Scheinradikalismus des Marxismus-Leninismuswie auch zum sozialdemokratischen Reformismus setzte, warder Bezug auf die Marxsche Wert- und Fetischkritik, deren Im-plikationen im Mainstream-Marxismus fast hundert Jahre ig-noriert wurden und nur bei dissidenten Kritikern wie KarlKorsch oder dem jungen Georg Lukács, bei Adorno oder Wal-ter Benjamin Beachtung gefunden haben.

Im Folgenden geht es um das Debordsche Verständniseben dieser von Marx entwickelten Wert- und Fetischkritik. Essoll gezeigt werden, wie Debord diese Kritik zu einer Kritik

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des Spektakels fortführt. Dabei wird zum einen versucht, eini-ge problematische Punkte in der situationistischen Kritik anzu-sprechen und zum anderen Debord und der SituationistischenInternationale das Elend der realexistierenden Linken gegenü-ber zu stellen. Abschließend wird ein Aspekt behandelt, indem sich Debord und die SI leider kaum von der Mainstream-Linken unterschieden haben: das Verständnis des Zionismus.

DEBORD VS. ALTHUSSER

Debords Kritik sträubt sich gegen Vereinnahmungen. In derLinken machte er sich vor allem dadurch unbeliebt, dass er sichentgegen aller Moden weigerte, positiv auf irgendein existie-rendes staatssozialistisches Modell Bezug zu nehmen, gleich-zeitig aber auch sämtliche Kritiker und Kritikerinnen derStaatssozialismen auf‘s Korn nahm, sobald diese dem realenSozialismus einen ideellen als Identitätsersatz entgegensetzten.Debord gehörte schon früh zu den wenigen, die es schafften,sich sowohl gegen Stalin als auch gegen Trotzki und Lenin zuwenden. Er kritisierte das maoistische China wie auch die eu-ropäischen Maoisten und Maoistinnen, was einen deutlichenUnterschied zu jenen sehr deutschen Situationisten wie bei-spielsweise Dieter Kunzelmann markiert, der sich in seinenmitunter unfreiwillig dadaistisch anmutenden Invektieven garnicht oft genug – mal selbstironisch, mal ganz ernsthaft – aufdie Worte des Großen Vorsitzenden beziehen konnte.

Auch am Anarchismus oder dem Strukturalismus hatteDebord genügend auszusetzen. So zeigte sich dann auch ob

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dieser negativistischen Ausrichtung die konstruktiv gestimm-te deutschsprachige Linke weitgehend desinteressiert an derKritik und den praktischen Experimenten der Gruppe von si-tuationistischen Theoretikern und Antipolitikern, „die keineder zahlreichen linken Ikonen anerkannte, die Revolution neuerfinden wollte und jede populistische Verwässerung ihrerKritik zurückwies.“10

Debord hat mit seinem Versuch, die Marxsche Kritik desFetischismus und an ihr orientierte Theorien wie jener von Ge-org Lukács und Karl Korsch aufzugreifen, weiterzuentwickelnund zu einer zeitgemäßen Kritik fetischistischer, sich spekta-kulär darstellender Warenherrschaft zu verdichten neben derKritischen Theorie eine der wichtigsten Kritiken der bürgerli-chen Gesellschaft im 20. Jahrhundert geliefert und in Frank-reich früh eine fetischkritische Tradition begründet, die aller-dings in linksakademischen Diskussionen, die nicht nur inFrankreich stark von Louis Althusser und Étienne Balibar ge-prägt waren, kaum Einfluss gewinnen konnte. Der strukturaleMarxismus von Althusser und seinen Schülern und Schülerin-nen wurde vor allem im akademischen Marxismus bei weitemeinflussreicher als die kaum mit universitären Ansprüchenkompatible Kritik Debords.

Heute wird mitunter versucht, die zentralen Unterschiedezwischen dem althusserianischen Marxismus und der kriti-schen Theorie der Situationisten einzuebnen oder für ne-bensächlich zu erklären. Jost Müller meint etwa, Debord sei„seinen marxistischen (…) Zeitgenossen, etwa Louis Althus-ser (…), zweifellos näher (gestanden), als er einzugestehen be-reit war.“11 Als Beleg für diese Nähe kann aber lediglich die

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beiden eigene Ablehnung des dogmatisch gesetzten Basis-Überbau-Schemas des Marxismus-Leninismus angeführt wer-den. Die zentrale Differenz zwischen der AlthusserschenIdeologietheorie und der Debordschen Ideologiekritik hinge-gen wird dadurch beiseite gewischt, dass die Debordsche Ori-entierung an der Marxschen Fetischkritik als „Lukács pur“ de-nunziert wird. Die Spektakelkritik schleppe auf Grund ihrerOrientierung an Lukács „eine Reihe hilfloser Begriffe wie et-wa den des ‚falschen Bewusstseins‘ (…) weiter.“12 Man findetDebord irgendwie toll, nur den Kern seiner Kritik soll manbitte hinter sich lassen und die zentralen theoretischen Be-zugspunkte seiner Gesellschaftsanalyse offensichtlich fürüberholt erklären.

Da Versuche, die konstitutive Bedeutung der MarxschenFetischkritik für Debords Spektakelkritik zur Sprache zu brin-gen, auch aus anderer Richtung immer wieder mit dem Vor-wurf konfrontiert werden, „den Reichtum des situationisti-schen Experiments (…) in die dogmatische Armut einesHegelmarxismus“ zu zwängen,13 oder Debord in Absehungder klassenkämpferischen Implikationen insbesondere derfrühen situationistischen Theorie unzulässigerweise in einbösartiges Ungetüm namens „Neue Deutsche Wertkritik“ in-tegrieren zu wollen,14 soll im Folgenden nochmals kurz auf dieIgnoranz des strukturalen Marxismus gegenüber der Marx-schen Fetischkritik eingegangen werden, um die Differenz zuDebords Denken deutlich zu machen.

Althusser und an ihm orientierte Autorinnen und Autorenkritisierten Versuche, mittels der Marxschen Wertkritik gesell-schaftliche Totalität begreifen zu wollen. In diesem Punkt be-

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findet sich der strukturalistische Marxismus im Einklang mitdem empirisch und dem wissenschaftstheoretisch orientiertenMarxismus, sowie der neoricardianisch-marxistisch orientier-ten Ökonomie.15 In Ablehnung einer wegen dem Festhaltenan der Differenz von Wesen und Erscheinung als hegelianischangesehenen Marx-Interpretation wird in der Tradition Althussers den zu Beginn des „Kapitals“ entwickelten Kate-gorien wenig Aufmerksamkeit geschenkt und versucht, nichtnur die kapitalistische Gesellschaft, sondern auch die Strukturdes Marxschen Erklärungsversuchs dieser Gesellschaft aus den„Konjunkturen des Klassenkampfs“16 zu erklären. Gegenüberdem vermeintlich hegelianischen Marxismus wird eingewen-det, der Wert könne nicht als allgemeines Erstes im philoso-phischen Sinne oder als „Einheit stiftende(r) Ausgangspunkt“17

gedacht werden, von dem sich dann alles andere ableite. Dabeibezieht sich die Kritik an Ableitungsversuchen aus der Wert-kritik nicht nur auf Versuche, von Marx nicht behandelte Phä-nomene aus der Wertkritik heraus erklären zu wollen oder siezumindest mit dieser in Beziehung zu setzen. Selbst schon in-nerhalb der Kritik der politischen Ökonomie sei beispielswei-se der Begriff des Kapitals unmöglich aus dem der Ware abzu-leiten. Die Marxsche Theorie sei „endlich“. Sie habe einen„begrenzten Charakter“. Es mache keinen Sinn, „ihr Gegen-stände zu subsumieren, die sie ausdrücklich aus ihrem theore-tischen Feld ausgegrenzt oder deren theoretische Bestimmungsie stillschweigend offen gelassen“ habe.18 Da die Kategoriendes Werts und der Ware für den Klassenkampf und damit fürdas Verständnis der kapitalistischen Gesellschaft ohnehin nichtsonderlich relevant seien, ging Althusser so weit, zu empfeh-

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len, bei der „Kapital“-Lektüre die ersten Kapitel zu übersprin-gen.19

Gegen diese Konzeption lässt sich einwenden, dass auchund gerade im Klassenkampf die Warenförmigkeit und derFetischismus der Gesellschaft zum Ausdruck und zum Tragenkommen. Der Versuch einer Erklärung dafür ist von vornher-ein ausgeschlossen, wenn der Klassenkampf und die Klassen-widersprüche selbst für die Erklärung der Gesellschaft herhal-ten sollen.

Der ebenso subsumierende wie denunziatorische Begriffdes „Hegelmarxismus“, dem eine spekulative Vorstellung vonEinheit und Totalität angekreidet wird, hat sich schon längerals ein „Konstrukt seiner Kritiker erwiesen.“20 Gegen dieAlthusserianische Kritik muss an der Differenz von Wesenund Erscheinung gerade vor dem Hintergrund des Fetischis-mus festgehalten werden. Diese Differenz war auch für denspäten Marx entscheidend, allerdings gerade in kritischer Wen-dung gegen die affirmativen Aspekte der Philosophie Hegels.Würden die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge un-mittelbar zusammenfallen, wäre nach Marx alle Wissenschaftüberflüssig.21 Aber nicht nur Wissenschaft wäre überflüssig,auch emanzipative Veränderung würde unmöglich. Gerade dieDifferenz von Wesen und Erscheinung beinhaltet die Möglich-keit, die über aller Geschichte stehende naturhafte Dinglichkeitder kapitalistischen Produktionsweise als Schein zu erkennen,der im fetischistischen Bewusstsein, in „der Bewusstlosigkeitaller Beteiligten“22 seine Ursache hat. Demnach ist das Erken-nen der Differenz von Wesen und Erscheinung die Grundlagevon Veränderung, die mit dem Fetischismus bricht. Wird die-

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se Differenz geleugnet, enden auch ambitionierte marxistischeTheorien wie jene in der Tradition Althussers bei Positivismusund Affirmation.23 Schon Adorno wusste, dass „die Wesens-zusammenhänge – das, worauf es in der Gesellschaft eigentlichankommt – a priori vor der Erkenntnis geschützt“ sind, wennman „die Frage nach dem Wesen als Illusion, als ein mit derMethode nicht Einzulösendes tabuiert.“24

Die These, das Kapital könne nicht aus der Ware hergelei-tet werden, veranschaulicht die auch bei Althussers Lektüre-empfehlung zum Ausdruck kommende Ignoranz gegenüberder Warenförmigkeit der kapitalistischen Produktionsweise.Nicht nur, dass das Kapital sich erst logisch-begrifflich aus derWertförmigkeit der Arbeitsprodukte ergibt, sondern auch,dass alle zur stofflichen Erscheinung des Kapitals gehörendenElemente in der Form der Ware auftreten, zeigt sowohl dieMöglichkeit als auch die Notwendigkeit der Herleitung desKapitals aus der Ware. Marx selbst hat ausdrücklich daraufhingewiesen, dass der Begriff des Werts „dem des Kapitals vor-hergeht.“25 Auch wenn die Kategorie des Mehrwerts als zurBestimmung des Kapitals zugehörige nicht aus dem Wert inseiner bloßen Äquivalentform heraus entspringen kann, son-dern aus dem Produktionsprozess des Kapitals selbst ent-springen muss, wie Althusser unter Berufung auf eine Stelle inden „Grundrissen“ schreibt,26 ist die Voraussetzung eben die-ses Produktionsprozesses gerade die Wertförmigkeit dermenschlichen Arbeitsprodukte und die Warenförmigkeit dermenschlichen Beziehungen. Um den Begriff des Kapitals zuentwickeln, ist es daher nötig, vom Wert in seiner entwickel-ten Form aus der Bewegung der Zirkulation auszugehen,27 für

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dessen theoretisch „reine Entwicklung“ allerdings die Existenzeiner „auf das Kapital gegründete Produktionsweise unter-stellt“28 wird – eine Widersprüchlichkeit, die Althusser aufGrund seiner Nachvollziehung der Unterscheidung von Dar-stellungs- und Forschungsweise im Marxschen Werk29 eigent-lich hätte einleuchten müssen.

Gesellschaftskritik muss in all ihrer Vorläufigkeit und ih-rem fragmentarischen Charakter in der Tendenz immer als„Theorie der modernen Gesellschaft als Ganzer“30 angelegtsein oder als Beitrag zu einer solchen verstanden werden. Dasist nur zu gewährleisten, wenn gegen die von Althusser ge-prägte Theorietradition, die auf gesellschaftliche Widersprü-che und Kämpfe fixiert ist, der Wert als entscheidendes Mo-ment in der Herstellung und Vermittlung gesellschaftlicherTotalität in heutigen Gesellschaften begriffen wird. Der Wert-begriff ist keineswegs nur eine quantitativ-ökonomische Ka-tegorie, sondern muss als Wesensbegriff der bürgerlichen Ge-sellschaft gesehen werden, mit dem all ihre Erscheinungen inBeziehung gesetzt werden müssen. Die Kategorien der Wert-kritik sind nicht als ein Erklärungsmodell neben anderen zuverstehen. Auf Grund des Gegenstandes ihrer Kritik sind sieder „Beginn einer Reproduktion der gesamten, kapitalisti-schen Wirklichkeit im Wege des Denkens“.31

Allein dieses Festhalten am Begriff einer gesellschaftlichenTotalität bringt kritische Gesellschaftstheorie, sei es in derAdornoschen, sei es in der Debordschen Ausprägung, in Kon-flikt mit den akademischen Sachbearbeitern. Bei den univer-sitären Theorieverwaltern machte Debord sich durch seinekonsequente Kritik an der akademischen Wissensproduktion

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nachhaltig unbeliebt. So wie Marx seine Kritik schon früh vonder interesselosen Wissenschaft klar abgegrenzt hat, indem erpostulierte, dass die Kritik in ihrem Gegenstand ihren Feinderblickt, den sie „nicht widerlegen, sondern vernichten will“,32

so war sich Debord, der sich ähnlich wie Adorno nachdrück-lich gegen die Einteilung des Denkens in Wissenschaftsdiszi-plinen aussprach,33 über die zwangsläufige Unwissenschaft-lichkeit seines beabsichtigten praktischen Unterfangens imklaren: „Das Projekt, die Wirtschaft zu überwinden, von derGeschichte Besitz zu ergreifen, kann nicht selbst wissenschaft-lich sein, auch wenn es die Wissenschaft der Gesellschaft ken-nen – und zu sich zurückführen – muss.“34 Die modernen So-zialwissenschaften betreiben nur mehr eine „spektakuläreKritik des Spektakels“.35 Das akademische Denken des Spek-takels hat sich dadurch zu einer „allgemeinen Wissenschaft desfalschen Bewusstseins“36 herausgebildet.

Objektivität, die im positivistischen Wissenschaftsver-ständnis zu einer zentralen Kategorie zur Unterscheidungvon wissenschaftlichen Arbeiten und unwissenschaftlichen,subjektiven, polemischen, vermeintlich ideologischen Trak-taten stilisiert wurde und wird, ist der materialistischen Kri-tik fremd.

Den realen Gehalt von Objektivität hat Jean-Luc Godardtreffend beschrieben: „Objektivität – das sind fünf Minuten fürHitler und fünf Minuten für die Juden.“37 Anstatt sich auf ei-ne ohnehin nicht erreichbare Objektivität zu berufen, postu-liert der Materialismus die offene Parteilichkeit. Parteilichkeitund Totalität sind die „zentralen Kategorien einer revolu-tionären Theorie.“38

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Ebenso wie über die Unmöglichkeit von Objektivität istsich derartige Theorie über ihre eigene Unmöglichkeit be-wusst. Der Materialismus hätte zuallererst das Kapital zu er-klären. Eine Theorie über dieses „automatische Subjekt“39 istaber unmöglich, da es keinen vernünftigen Grund für seineExistenz anzugeben gibt, und vernünftige Theorien über einenunvernünftigen Gegenstand unmöglich sind. Die einzige theo-retische Wahrheit des Kapitals ist daher „seine praktische Ab-schaffung.“40 Der Materialismus kann daher keine Theorie imherkömmlichen Sinne bieten, sondern nur Kritik. Durch dieReflexion über den Gegenstand seiner Kritik erkennt der Ma-terialismus, dass er vor der Abschaffung des Kapitals „nicht zubeweisen (ist) und bloße Spekulation“ bleibt. Nach dieser Ab-schaffung „ist er überflüssig.“41

Vor dem Hintergrund seiner fetischkritisch fundierten Aka-demismus- und Wissenschaftskritik gelangt Debord zu einemWahrheitsbegriff, der im eklatanten Widerspruch zu jedem,schon von Alfred Sohn-Rethel kritisierten übergesellschaftli-chen und überhistorischen Wahrheits- und Erkenntnisbegriffsteht: „Die Wahrheit dieser Gesellschaft ist nichts anderes alsdie Negation dieser Gesellschaft.“42

Derartiges steht im schroffen Gegensatz zum Großteil derheutigen Linken, die in ihren poststrukturalistischen Ausprä-gungen jeglichen Begriff von Wahrheit für totalitär erklärt,und bei der Kritik und Negation kein hohes Ansehen ge-nießen, da man, anstatt Kritik zu üben, lieber Ansätze ver-gleicht und, anstatt ein „entfaltetes Existentialurteil“43 über dieGesellschaft zu sprechen, sich in affektiert-differenzierten Be-trachtungsweisen übt, die immer öfter in Geplapper enden.

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HENRI LEFEBVRE ALS STICHWORTGEBER

Debords Thesen zum Zustand der Warengesellschaft sind imJahre 1967 nicht im luftleeren Raum entstanden. Zum einensind sie vor dem Hintergrund der sich bereits ankündigendenEreignisse des Jahres 1968 zu verstehen. Zum anderen stehensie in einer bestimmten Theorietradition, die von Debordselbst deutlich dokumentiert wurde. Stark geprägt wurde ersowohl durch die Lektüre von Georg Lukács als auch durchdie Schriften Henri Lefebvres. Anfänglich standen die Situa-tionisten in engem Kontakt mit Lefebvre. Später wurde er Zieleiniger Polemiken von Debord und von anderen Mitgliedernder Situationistischen Internationale.44 Lefebvre orientiertesich stark an den „Ökonomisch-philosophischen Manuskrip-ten“ von Marx. Dementsprechend hat er in seinem Hauptwerkden Entfremdungsbegriff ins Zentrum seiner Überlegungengestellt. Lefebvre versucht aber, die Entfremdung immer wie-der auf den Fetischismus zu beziehen. Die Entfremdung ist fürLefebvre der umfassendere Begriff. Den von Marx analysier-ten Fetischismus betrachtet er als eine Unterform der Ent-fremdung. Bei Marx sieht er die Gefahr angelegt, die umfas-sende Entfremdung auf den Fetischismus der Ware, des Geldesund des Kapitals zu reduzieren, was zu der problematischenVermutung führe, die ganze Entfremdung könne „en bloc, miteinem Schlage durch einen historischen aber einmaligen Aktverschwinden“.45

Lefebvre reduziert die Marxsche Fetischkritik auf eineAnalyse dessen, was er ökonomische Entfremdung nennt. Spä-ter nennt er diese ökonomische Entfremdung auch Verdingli-

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chung.46 An anderer Stelle sieht er in der Marxschen Fetisch-kritik eine Art Quintessenz der früheren Entfremdungstheo-rie. Die Theorie und das Konzept der Entfremdung integrieresich in die spätere Kritik und gebe ihr so die philosophischeGrundlage: „Die Theorie der Entfremdung verwandelt sich ineine Theorie des Fetischismus“.47

Sowohl in der ursprünglichen Einleitung als auch in derEinleitung zur zweiten Auflage des ersten Bandes seinesHauptwerkes thematisiert Lefebvre immer wieder Aspektedes Fetischismus: „Diese Zerrissenheit offenbart, dass in derwachsenden Herrschaft des Menschen über die Natur die Na-tur selbst Macht über ihn gewinnt. Seine Produkte und seineWerke funktionieren wie Naturwesen. Er muss sie objektivie-ren, und die sozialen Objekte werden Dinge, Fetische, die sichwieder gegen ihn wenden.“48 In der ursprünglichen Einleitungwird der Begriff der Mystifikation als zentrale Kategorie einerKritik des Alltagslebens eingeführt. Anhand dieses Begriffszeigt Lefebvre, wie die verschiedenen ideologischen Vorstel-lungen im realen Leben begründet sind und wie daher Scheinund Wirklichkeit in der fetischistischen Gesellschaft zusam-menhängen. Lefebvre trennt jedoch den Begriff der Mystifi-kation von der Analyse des Fetischismus. Die Kritik der My-stifikation bedeutet bei ihm die Analyse des mystifiziertenBewusstseins, während er die Analyse des Fetischismus und derökonomischen Entfremdung, die nun offensichtlich nicht mehrsynonym gesetzt werden, sondern zwei unterschiedliche Din-ge bezeichnen sollen, unter der Kritik des Geldes subsumiert.

Die Theorie des Fetischismus gilt ihm als „Bindeglied zwi-schen der Ökonomie und der Philosophie“.49 Kategorien wie

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Entfremdung, Fetischismus oder Mystifikation seien einer-seits philosophische Ideen, andererseits ist die Theorie des Fe-tischismus zugleich „eine wissenschaftliche Theorie, die aus ei-ner Analyse der Tatsachen, aus einer Reihe von Induktionenim Bereich der ökonomischen Wissenschaft entstand.“50 FürLefebvre offenbart die Theorie des Fetischismus die „ökono-mische, alltägliche Basis der philosophischen Theorie der My-stifikation und der Entfremdung.“51 Für seine eigene Arbeitsieht Lefebvre die Theorie des Fetischismus als unentbehrlicheGrundlage an, da sie ihm ermöglicht, bei der Untersuchungund der Kritik des Alltagslebens „den Übergang der mensch-lichen Tätigkeiten (…) zu den ökonomischen ‚Sachen‘ zu ver-stehen“52 und den Fragen nachzugehen, warum die gesell-schaftliche Realität sich zwar als Unmittelbarkeit darstellt,aber keine Unmittelbarkeit ist, und wie die Dinge soziale Be-ziehungen zwischen Menschen zugleich verschleiern und den-noch enthalten können.

Implizit finden sich bei Lefebvre Ansätze, die Kritik desFetischismus über die Analyse des Waren-, Geld- und Kapi-talfetischs auszudehnen. So spricht er beispielsweise explizitvom „Fetischismus des Staates“.53 Er führt aus, dass gewisse„menschliche Produkte gegenüber der menschlichen Wirk-lichkeit als eine undurchdringliche, nicht beherrschte Natur(funktionieren), die von außen auf sein Bewusstsein und sei-nen Willen wirkt.“ Das sei in der Regel zwar nur scheinbar so,doch dieser Schein ist zugleich immer auch Realität. Nicht nurdie Ware, das Geld und das Kapital, sondern auch „der Staat,die Rechtsinstitutionen, die ökonomischen und politischenApparate, die Ideologien, (…) funktionieren als Wirklichkei-

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ten, die außerhalb des Menschen sind.“54 Sie stehen den Men-schen als eigengesetzliche Wirklichkeiten gegenüber, obwohlsie nur Produkte der Menschen sind.

Durch die zentrale Stellung, welche die Begriffe Entfrem-dung und Fetischismus in Lefebvres „Kritik des Alltagslebens“einnehmen, kann der nach dem 2. Weltkrieg aus der fran-zösischen KP ausgeschlossene Philosophieprofessor als einerder wichtigsten Stichwortgeber von Debord gelten. Seine Ori-entierung am jungen Marx, seine teilweise widersprüchlicheBegriffsverwendung wie auch seine Betonung der Unerläss-lichkeit der Kategorie der Totalität haben Debord nachhaltigbeeinflusst. Auch Lefebvres Hauptanliegen, die Orientierungauf den Alltag, wird von Debord fortgesetzt. Beide betrachtenden konkreten Alltag als jene Sphäre, in der die gesellschaftli-che Veränderung ansetzen muss. In der Alltäglichkeit des Le-bens der Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft materiali-siert sich der Fetischismus der objektiven Gedankenformenaus der Ökonomie. Daher soll er auch dort, im Alltagslebender bürgerlichen Subjekte, nach Lefebvre und Debord durch-brochen werden.

VOLLENDETER FETISCHISMUS

Debords Beschreibung der Totalität des Fetischismus und derWare beginnt in unmittelbarer Anlehnung an das Marxsche„Kapital“, dessen ersten Satz er paraphrasiert: „Das ganze Le-ben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produkti-onsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure

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Sammlung von Spektakeln.“55 Eine explizit feststehende De-finition des Begriffs Spektakel, von dem Emile Marenssin sag-te, dass er den Begriff der Ware nicht ersetzen kann, da er mehrbeschreibenden als erklärenden Charakter hat,56 gibt Debordin seiner Schrift von 1967 nicht. Er umkreist ihn vielmehr undbeschreibt ihn in seinen realen Erscheinungen und ex negati-vo. Im Begriff des Spektakels sind bei Debord der Begriff desKapitals, wenn auch gegenüber der Marxschen Herleitung invereinfachter Form, und Aspekte des Fetischismus aufgeho-ben: „Das Spektakel ist das Kapital in einem solchen Grad derAkkumulation, dass es zum Bild wird.“57

Er begreift das Spektakel als gesteigerte Form des Fetischis-mus: „Das Prinzip des Warenfetischismus ist es, (…), das sichabsolut im Spektakel vollendet, wo die sinnliche Welt durch ei-ne über ihr schwebende Auswahl von Bildern ersetzt wird,welche sich zugleich als das Sinnliche schlechthin hat aner-kennen lassen.“58 Marx hat die Verwandlung menschlicher Be-ziehungen in die Beziehungen von Dingen beschrieben. De-bord greift dies auf und beschreibt die Verwandlung dermenschlichen Beziehungen in die Beziehung zwischen Bil-dern, die den Menschen noch äußerlicher erscheinen als dieDinge. Anders als im postmodernen und poststrukturalisti-schen Denken aber, das dazu tendiert, alles in Bilder aufgelöstzu sehen und keine Realität mehr zu kennen, die in ihrer Ge-samtheit kritisiert werden könnte, bleibt das Bild bei Debordauf die gesellschaftliche fetischistische Totalität, auf die mate-rielle Realität rück bezogen.

Eine Formulierung, die als zusammenfassende Definitiondes modernen Spektakels gelesen werden kann, findet sich erst

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in Debords Text „Kommentare zur Gesellschaft des Spekta-kels“ aus dem Jahr 1988. Dort fasst Debord zusammen, was un-ter dem Begriff des Spektakels zu verstehen sei: „die Selbst-herrschaft der zu einem Status unverantwortlicher Souveränitätgelangten Warenwirtschaft und die Gesamtheit der neuen Re-gierungstechniken, die mit dieser Herrschaft einhergehen.“59

Ein Grundmoment des Marxschen Warenfetischs, die Substi-tuierung menschlicher Beziehungen durch die reale wiescheinhafte Beziehung von Dingen, ist bei Debord, auch wenner die Marxsche Analyse dieser Substituierung weder referiertnoch explizit reflektiert, konstitutiver Bestandteil des Spekta-kels: „Der fetischistische Schein reiner Objektivität in denspektakulären Beziehungen verbirgt deren Charakter als Be-ziehung zwischen Menschen und zwischen Klassen: eine zwei-te Natur scheint unsere Umwelt mit ihren unvermeidlichenGesetzen zu beherrschen.“60 So wie Lukács die rein kontem-plative, die nur betrachtende, anschauende Sichtweise des bür-gerlichen Denkens beschrieben und kritisiert hat,61 sieht De-bord die Menschen im Spektakel auf die Rolle von Zuschauernreduziert.

Das Kapital ist bei Debord nicht primär als selbstbewussteMacht, sondern als automatisches Subjekt gegenwärtig, als„sich selbst bewegende Wirtschaft“.62 Im Spektakel ist eineähnliche irre machende Gleichzeitigkeit von Wirklichkeit undverkehrtem Schein gegenwärtig wie sie Marx bereits in der ein-fachen Warenform aufgezeigt hat: „Das Spektakel, das dasWirkliche verkehrt, wird wirklich erzeugt.“63 Die Parallelezur Realabstraktion des Werts ist hier offensichtlich. AnselmJappe hat zu recht darauf hingewiesen, dass bei Debord das

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Spektakel „nicht nur eine Folge der Denkabstraktion, sondernvor allem der ‚Realabstraktion‘ ist, auch wenn Debord diesenUnterschied nicht ausdrücklich macht.“64 Während im Wertvon jeder Gesellschaftlichkeit abstrahiert wird, obwohl ernichts anderes als Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Ver-hältnisse wie auch ihre Vermittlung mit sich selbst ist, abstra-hieren die Bilder des Spektakels von allem Lebendigen, das De-bord als positiven Gegenpol zur spektakulären Herrschaftbetrachtet.

Dadurch, dass im Lebendigen der positive Gegenpol zurtoten, unmenschlichen Abstraktion gesehen wird, droht De-bord allerdings – ähnlich wie andere Situationisten, insbeson-dere Raoul Vaneigem, bei dem diese Tendenz sehr viel stärkerausgeprägt ist,65 und der dafür auch einige Kritik von Debordund dem italienischen Situationisten Gianfranco Sanguinettierntete – zeitweise in Vitalismus, Anthropologie und Lebens-philosophie abzugleiten.66 Wohl nicht zuletzt durch die Ab-sage an die Kunst, die mitunter notwendige Distanz zu er-möglichen vermag, steht Debord vor dem Problem, demSpektakel mit einem Konkretismus zu begegnen, der aber den-noch merkwürdig abstrakt bleibt. Denn was das Lebendigenun ausmacht, was also das demnach tote Spektakel negierensoll, bleibt selbstverständlich unklar. Dennoch postuliert De-bord ein vermeintliches richtiges Leben inmitten der falschenGesellschaft als subversive Strategie. Er überschätzt die Ver-pflichtung der an Emanzipation interessierten Menschen, jetztund hier anders zu leben und gelangt in seinem autobiogra-phischen „Panegyrikus“ zu einer bemerkenswerten Selbstein-schätzung, die sämtliche sich notwendigerweise ergebenden

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Ambivalenzen und Paradoxien einer revolutionären Existenzin der heutigen Gesellschaft ausblendet, ja negiert, wenn ertönt: „Ich habe jedenfalls bestimmt so gelebt, wie ich geforderthabe, dass man leben müsse“.67

Für Debord stand außer Frage, dass „in der wirklich ver-kehrten Welt das Wahre ein Moment des Falschen (ist).“68 Ba-siert die Gesellschaft auf einem falschen Prinzip, und ist diesesPrinzip in dem Sinne total, dass es alle Bereiche der Gesell-schaft durchdringt und strukturiert, so ist jede positiv gefassteAussage über diese Gesellschaft insofern immer falsch, als ihrdie Affirmation des falschen und verkehrenden Grundprinzipsder Wertform zugrunde liegt. Selbst der emanzipative Impulsverkehrt sich dadurch, ist er sich über die gesellschaftlicheStruktur, von der es sich zu emanzipieren gilt, nicht bewusst,in Affirmation: „Als Revolutionär war Debord Mathematiker;er bestand darauf, dass sich im Spektakel alle Dinge in ihr Ge-genteil verkehrten“.69

Das Spektakel ist die materielle Wiederkehr des Vorgängersdes Warenfetischs, der „materielle Wiederaufbau der religiösenIllusion.“70 Mit seinen selbstgeschaffenen Verfahrensformen istes ein „Pseudo-Heiliges“.71 Debord konstatiert Gemeinsamkei-ten zwischen Religion und Warenfetischismus, tendiert dabeiaber dazu, den Warenfetischismus nicht mehr im streng Marx-schen Sinne zu verstehen, sondern zu einem Begriff zu machen,in dem sich die fast libidinöse Beziehung von Menschen zu denin Warenform existierenden Dingen zeigt: „Wie bei demkrampfhaften Taumeln oder den Wunderheilungen der Schwär-mer des alten religiösen Fetischismus gelangt auch der Waren-fetischismus zu Momenten schwärmerischer Erregung.“72

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Das keynesianische Akkumulationsmodell mit seiner Bin-dung an den Massenkonsum fungiert bei Debord als Grund-lage für die Ausdehnung der fetischistischen Warenherrschaftvon der Produktion in die Sphäre der Konsumtion. Anders alsgroße Teile der kommunistischen und sozialistischen Linkenin Frankreich und auch in anderen Ländern, sah Debord imkeynesianischen Wohlfahrtsstaat nichts zu Verteidigendes. Inder sozialstaatlichen Alimentierung des Proletariats sah er viel-mehr einen integralen Bestandteil des modernen Spektakels.Neben die Entfremdung in der Produktion trete „der ent-fremdete Konsum“ als „eine zusätzliche Pflicht für die Mas-sen.“73 Der produzierte Überschuss an Waren erfordert vonden ihn Produzierenden „einen Überschuss an Kollaborati-on.“74

Bei Debord lassen sich Hinweise darauf finden, wie eineForschung, welche die Fetischisierung einzelner Waren unter-sucht, in Verbindung gebracht werden kann mit einer allge-meinen Kritik des Fetischismus. In der Regel führt die Kritikan der Überbewertung einer bestimmten Ware zur Affirmati-on der Warenförmigkeit der Gesellschaft. Die Rede vom „Fe-tisch Auto“ etwa rührt in keiner Weise an den Produktions-bedingungen, unter denen Autos als Waren hergestellt unddadurch mit Radiergummis, Eisbechern und Topfpflanzenvergleichbar werden. Wenn Debord hingegen vom „Spektakelder Automobile“75 spricht, zeigt er anhand einer bestimmten,in der kapitalistischen Gesellschaft zumindest in der zweitenHälfte des 20. Jahrhunderts ausgesprochen wichtigen Ware,die zerstörerische Kraft von Warenherrschaft im allgemeinenauf.

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Aber auch wenn Debord die Kritik an einzelnen Warenund dem jeweiligen Verlangen nach ihnen immer in eine allge-meine Kritik an der Warenförmigkeit der Dinge bettet, bleibtseine Selbstverständlichkeit, mit der er von der „Künstlich-keit“76 bestimmter Bedürfnisse spricht, problematisch. Mitseiner Abqualifizierung von „Pseudobedürfnissen“77 sugge-riert er, die eigentliche Bedürfnisstruktur menschlicher Indivi-duen zu kennen. Mit der Kritik angeblich falscher Bedürfnis-se geht eine unkritische Bezugnahme auf den Gebrauchswerteinher. Debord sieht den Gebrauchswert mit der fortschrei-tenden Entwicklung der Warengesellschaft zusehends ver-kümmern. Dem „tendenziellen Fall des Gebrauchswerts“78

auf der einen Seite, von dem auch Marenssin mehrfachspricht,79 stehen bei Debord die bereits vorhandenen Bedin-gungen für die autonome Herrschaft des Tauschwerts gegenü-ber, der nur zu seiner Durchsetzung des Gebrauchswerts be-darft habe. Der Gebrauchswert als immer schon und immernoch konstituierender Bestandteil der Ware gerät bei Debord,der keine explizite Unterscheidung zwischen einem historisch-emphatischen und einem trivialen Begriff des Gebrauchswertstrifft, sondern ihn immer schon stillschweigend im historisch-emphatischen Sinne begreift, aus dem Blick.

In einem merkwürdigen Widerspruch zu Debords Aus-führungen zum Spektakel als nochmals gesteigerter Form derMystifikation, als potenzierten oder vollendeten Fetischismus,der die Menschen zu Zuschauern degradiert, steht seine Be-zugnahme auf die Marxschen Ausführungen aus dem „Mani-fest der Kommunistischen Partei“. Debord schreibt, eine For-mulierung aus dem „Manifest“ direkt übernehmend: „Indem

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sie in die Geschichte geworfen sind, indem sie an der Arbeitund an den Kämpfen, aus denen diese Geschichte besteht, teil-nehmen müssen, sind die Menschen gezwungen, ihre gegen-seitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“80

Gleichzeitig beschreibt er ausführlich und eindrucksvoll, wiedie Augen der Menschen nur mehr auf das sich scheinbar völ-lig unabhängig von ihnen abspielende Spektakel gerichtet sind,dass also die Menschen ihre gesellschaftlichen Beziehungenkeineswegs mit „nüchternen Augen“ betrachten, sondern mitAugen, die vom Waren-, Geld- und Kapitalfetisch geblendetsind. Während bei Marx die Formulierungen des „Manifests“bezüglich der angeblichen Klarsichtigkeit der Menschen in derbürgerlichen Gesellschaft daraus erklärbar sind, dass er zu die-ser Zeit seine Werttheorie und die in ihr enthaltene Kritik desFetischismus noch nicht entwickelt hatte, bedient sich De-bord, der die Fetischkritik aus dem „Kapital“ kennt, je nachErfordernis beim frühen oder beim späten Marx – was an sichnoch nicht zu kritisieren wäre, aber dann problematisch wird,wenn sich die jeweiligen Textstellen inhaltlich widersprechen.

SPEKTAKEL UND STAAT

Debord denkt die Darstellung der Totalität der fetischistischenWarenwelt im Spektakel immer im Zusammenhang mit derpolitischen Gewalt, mit dem staatlichen Souverän: „Die ver-allgemeinerte Entzweiung des Spektakels ist untrennbar vommodernen Staat“.81 Debord konstatiert zwar eine Verselbst-ändigung der Ökonomie vom bewussten Handeln der Men-

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schen, aber eben keine Verselbständigung der Wirtschaft vomStaat in dem Sinne, dass der Staat wieder als positiv eingrei-fender Regulator angerufen werden könnte. Die spektakuläreGesellschaft basiert zwar auf Verselbständigungen, aber gera-de über diese Verselbständigungen konstituiert sie ihre Einheit.Debord reflektiert die notwendige Trennung der politischenGewalt von der Ökonomie, die sie zu garantieren hat, ohnediese Gewalt positiv aufzuladen oder für völlig autonom zu er-klären: „Wie die moderne Gesellschaft ist das Spektakel zu-gleich geeint und geteilt. Wie sie baut es seine Einheit auf derZerrissenheit auf.“82 Gegen das im staatsfetischistischen Mar-xismus gängige Ausspielen vom freien Markt gegen den Staatrichtet sich Debord mit dem Verweis auf die gegenseitige Ab-hängigkeit der beiden, die gesellschaftliche Totalität in der bür-gerlichen Gesellschaft konstituierenden Instanzen: „Von jederder beiden lässt sich sagen, dass sie die andere in der Gewalthat. Sie einander gegenüberzustellen, zu unterscheiden, worinsie vernünftig und worin sie unvernünftig sind, ist absurd.“83

Debords Kritik steht damit im scharfen Gegensatz zurheutigen staatsfetischistischen Linken.84 Seine Staatskritikgeht einher mit einer Kritik der Politik. Politik müsste sich aufWidersprüche in der spektakulären Gesellschaft beziehen. De-bord leugnet auch nicht, dass diese Widersprüche existieren,aber er desavouiert den Glauben an die systemtransformie-rende Kraft dieser Widersprüche: „Aber wenn der Wider-spruch im Spektakel auftaucht, wird ihm seinerseits durch ei-ne Umkehrung seines Sinnes widersprochen.“85 Die Totalitätist bei Debord zwar widersprüchlich, aber die Widersprüchesind der Totalität immanent. Daher ist auch die Politik, die der

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Widersprüche bedarf, selbst dem Spektakel immanent undweist nicht über es hinaus.

DAS PROLETARIAT IM SPEKTAKEL

Das, was Lukács als zugerechnetes Klassenbewusstsein kon-struiert, welches neben dem tatsächlichen – oder, wie Lukácssagt, psychologischen – Bewusstsein unabhängig von der Em-pirie existiert, tritt bei Debord als Forderung auf, als etwasnoch nicht Existierendes, erst noch zu Erfüllendes. Die Praxisdes Proletariats als revolutionäre Klasse kann für Debord„nicht weniger sein als das geschichtliche Bewusstsein, das aufdie Totalität seiner Welt wirkt.“86 Damit ist aber noch nichtsdarüber gesagt, ob das Proletariat als real existierende undzunächst nicht besonders revolutionäre Klasse dieses ge-schichtliche Bewusstsein auch hat. Dennoch bleibt für De-bord – zumindest noch in „Die Gesellschaft des Spektakels“ –das Proletariat jene Menschengruppe, die als Klasse die Eman-zipation zu verwirklichen, den Fetischismus zu durchbrechenund aufzuheben hat. Subjektiv sei das Proletariat „noch vonseinem praktischen Klassenbewusstsein entfernt.“87 Wennaber das Proletariat entdeckt, „dass seine geäußerte eigeneKraft zur fortwährenden Verstärkung der kapitalistischen Ge-sellschaft beiträgt, (…) entdeckt es auch durch die konkrete ge-schichtliche Erfahrung, dass es die Klasse ist, die jeder erstar-rten Äußerung und jeder Spezialisierung der Macht total feindist.“88 Debord ist Ende der 60er Jahre kritisch gegenüber demgegenwärtigen Proletariat, aber durchaus zuversichtlich für

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die Zukunft. Anders als in der Kritischen Theorie wird bei ihmdie Emanzipation noch mit dem Selbstbewusstsein des Prole-tariats zusammengedacht. Das Proletariat erschien Debordkurz vor den Ereignissen des Pariser Mai von 1968 als „einzi-ge(r) Bewerber um das geschichtliche Leben“.89 Erst später, inden 90er Jahren, erkannte er, auch wenn er sich von der Vor-stellung vom Proletariat als Vollender der Emanzipation nichtgänzlich verabschiedete, dass die Klassenherrschaft, wie er inder Vorrede zur dritten französischen Ausgabe von „Die Ge-sellschaft des Spektakels“ formuliert, „mit einer Versöhnunggeendet hat“,90 dass also das Proletariat, statt die Feindschaftzu Staat und Kapital zu entwickeln, auf die volle Integration indas fetischistische Warenspektakel gesetzt hat und die falscheTotalität der Gesellschaft nunmehr ohne Negation, ohne Ein-spruch existiert. In den „Kommentaren“ ist jener kritischePessimismus, der auch die Texte Adornos seit dem National-sozialismus prägte, in potenzierter Form und mit den in sol-chen Zusammenhängen kaum zu vermeidenden Übertreibun-gen anwesend: „Zum ersten Mal im modernen Europaversucht keine Partei oder Splittergruppe auch bloß vorzuge-ben, sie wolle es wagen, etwas von Belang zu ändern. (…) Esist ein für alle Mal geschehen um jene beunruhigende Kon-zeption, die mehr als zweihundert Jahre vorgeherrscht hat undderzufolge man eine Gesellschaft kritisieren oder ändern, siereformieren oder revolutionieren kann.“91

Die Vorstellung Debords, wie das Proletariat zu einem sy-stemtransformierenden Bewusstsein gelangen kann, war aberschon in den 60er Jahren beachtlich. So sehr er ein Freund derSpontanität war, so sehr war ihm doch bewusst, dass ein un-

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mittelbar und unreflektiert artikuliertes Unbehagen keines-wegs von sich aus über das Spektakel hinausweist. Er war sichim Klaren darüber, „dass die Unzufriedenheit selbst zu einerWare geworden ist.“92 Debord war seiner Zeit verhaftet, da ersich die Emanzipation nur als proletarische Revolution vor-stellen konnte, aber er war seiner Zeit insofern voraus, als erdie einzige Möglichkeit, dass die Revolution doch einmalWirklichkeit werden könnte, in der massenhaften Aneignungkritischer Gesellschaftstheorie sah: „Die proletarische Revo-lution hängt gänzlich von der Notwendigkeit ab, dass die Mas-sen zum ersten Mal die Theorie als Verständnis der menschli-chen Praxis anerkennen und erleben müssen. Sie fordert, dassdie Arbeiter zu Dialektikern werden und dass sie in die Praxisihr Denken einschreiben“.93

Noch wenige Jahre zuvor war die Begeisterung für spon-tane Protest- und Widerstandsaktionen bei den Situationistensehr viel ausgeprägter. Nach der ordnungsapologetischen undstaatsfetischistischen Kritik fast aller linken Strömungen anden Krawallen in Watts 1965 schwang sich die SituationistischeInternationale in der zehnten Nummer ihrer gleichnamigenZeitschrift zu einer vehementen Verteidigung der Riots auf. Sienahm die Aufständischen aber nicht nur einfach gegen die An-griffe der reformistischen und mit der Herrschaft fraternisie-renden Linken in Schutz, sondern deklarierte die ganze Ange-legenheit zu einer „Revolte gegen die Ware“ und bescheinigteden Plündernden, dass sie den „Tauschwert und die Waren-wirklichkeit“94 ablehnen. Den scheinbaren Subjektstatus derWare sahen sie im Riot aufgehoben: „Der Mensch, der die Wa-ren zerstört, zeigt dadurch seine Überlegenheit gegenüber den

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Waren.“95 Diebstahl erscheint den Situationisten als antikapi-talistischer, den Fetischismus der bürgerlichen Gesellschaftaufhebender Akt: „Sobald die Warenproduktion nicht mehrgekauft wird, wird sie kritisierbar (…). Nur wenn sie mit Geld(…) bezahlt wird, wird sie wie ein bewundernswerter Fetischrespektiert.“96 Die Problematik und die Ambivalenzen, die injedem spontanen Widerstand gegen die fetischistische Waren-herrschaft, der sich über Struktur und Funktionsweise vonÖkonomie und Politik nicht bewusst ist, enthalten sind, wirdnicht thematisiert. Die richtige Verteidigung der Respektlo-sigkeit gegenüber den Eigentumsverhältnissen wird hier zurfalschen Annahme, diese Respektlosigkeit impliziere von sichaus eine Kritik am Eigentum überhaupt. Der Dieb kritisiertaber nicht die Ware, sondern eignet sie sich an – eine Erkennt-nis, die in den siebziger Jahren auch im Umkreis der Situatio-nisten zu vernehmen war: „Der Diebstahl, auch wenn ihm dieVerteilung folgt, stellt den Kapitalismus überhaupt nicht inFrage; er ist im Gegenteil eine seiner Ausdrucksformen.“97

MANIPULATION UND SUBJEKTLOSE HERRSCHAFT

In den neunziger Jahren sah Debord nochmals eine Steigerungder Mystifikation. Aber gerade in seinen späteren Texten bleibtes stets merkwürdig unklar, ob der Mystizismus und Fetischis-mus der Warengesellschaft, ob die spektakuläre Gewalt nun inerster Linie einer subjektlosen Herrschaft geschuldet ist, oderpermanent durch bewusste Manipulation hergestellt wird. In

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den „Kommentaren“ wird immer unklarer, was mit dem „ge-neralisierte(n) Geheimnis“,98 das hinter dem Spektakel steht,genau gemeint ist. Es scheint zunehmend so, als ob in den„Kommentaren“ mit dem Geheimnis des Spektakels nichtmehr ein Geheimnis im Sinne des Fetischcharakters der Waregemeint ist, sondern ein von Geheimdiensten gehütetes spezi-elles Herrschaftswissen. Das Geheimnis des Fetischcharaktersder Ware, des Geldes und des Kapitals ist aber keines, das voneiner herrschenden Clique vor der Lüftung durch die absicht-lich in Unwissenheit gehaltenen Massen gehütet wird. DiesesGeheimnis kann nicht lüften, wer sich auf Ackermann undAgnelli, auf Schröder und Berlusconi einschießt, sondern nur,wer sich aus dem Interesse an Emanzipation die Kritik der po-litischen Ökonomie aneignet.

Debord droht in seinen späteren Texten von seiner aktua-lisierten, die Transformationen der Gesellschaft im 20. Jahr-hundert zumindest partiell reflektierenden Fetischkritik ausder „Gesellschaft des Spektakels“ zunehmend in Manipulati-ons- und zum Teil auch in Verschwörungstheorien abzuglei-ten: „Die Kritik der gesellschaftlichen Totalität des modernenKapitalismus tritt zugunsten einer traditionellen Manipulati-onstheorie in den Hintergrund.“99 Diese Manipulations- undVerschwörungstheorie lässt sich auch nicht dadurch rechtfer-tigen, dass es selbstverständlich Manipulation und Verschwö-rung real gibt, und Debord damit gerade in Frankreich und Ita-lien immer wieder konfrontiert wurde. Es käme gerade daraufan, diese in Beziehung zur fetischistischen Grundlage der Ge-sellschaft zu analysieren, was Debord nur noch in Ansätzenversucht.100

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ANTISEMITISMUS UND ZIONISMUS

Neben seiner unkritischen Bezugnahme auf das MarxscheFrühwerk bei gleichzeitiger weitgehender Ausblendung derImplikationen der Marxschen Wertformanalyse und ihrer Im-plikationen für einen Begriff des Kapitals besteht der größteMangel von Debords Kritik in seiner Ignoranz gegenüber demNationalsozialismus und seinem spezifischen Vernichtungs-antisemitismus. Diese Ignoranz wird in dem Band „Situatio-nistische Revolutionstheorie“ mit dankenswerter Deutlichkeitherausgearbeitet. Sie ist der leisen Tendenz zu Manipulations-theorien sicherlich nicht im Wege gestanden. Debord erörtertzwar in knappen Worten den Beitrag des Faschismus zur Her-ausbildung des modernen Spektakels, kann ihn aber nur mit ei-nem totalitarismustheoretischen Vokabular beschreiben. Diegleichzeitige Kritik an faschistischer und stalinistischer Herr-schaft zeigt zwar eine Parallele zu Adorno und Max Horkhei-mer auf, aber die Ausblendung des spezifisch nationalsoziali-stischen Antisemitismus markiert die entscheidende Differenzder Situationisten zur Kritischen Theorie. In Debords Haupt-werk, das „immerhin das Wesen der Gegenwart auf den Begriffzu bringen verspricht, findet sich kein Wort über Antisemitis-mus, Nazismus, Massenvernichtung.“101

Debords eingangs zitiertes erkenntniskritisches Diktum,dass die „Wahrheit dieser Gesellschaft nichts anderes (ist) alsdie Negation dieser Gesellschaft“102, ist in seiner Allgemein-heit ebenso richtig wie es nach dem Nationalsozialismus, derbarbarischen Negation der bürgerlichen Gesellschaft, durcheben diese Allgemeinheit falsch wird. Die Negation orientiert

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sich hier ausschließlich am Marxschen kategorischen Imperativaus dem Jahr 1844, nicht aber am Adornoschen, der in Reflexi-on auf die Katastrophe fordert, alles Handeln so einzurichten,dass Auschwitz sich nicht wiederhole. Die Situationistische In-ternationale teilte mit der von ihr so scharf kritisierten Linkendie Ignoranz gegenüber dem kapitalentsprungenen Antisemi-tismus, was ihr auch ein Verständnis des Zionismus, der Not-wehrmaßnahme gegen diesen Antisemitismus, von vornhereinunmöglich machte.

Der Zionismus und Israel waren weder für die SI noch fürDebord ein großes Thema. Dennoch gibt es einige Äußerun-gen dazu. Die Unterschiedlichkeit dieser Äußerungen weistgewisse Parallelen zur Entwicklung der deutschsprachigenLinken auf, die sich von einer prozionistischen Nachkriegs-linken hin zu einem antizionistischen Hetzkollektiv in den70er Jahren transformierte. Die anfänglichen Äußerungen derSI zu Israel zeugen keineswegs von einer hasserfüllten Ableh-nung des zionistischen Staatsgründungsprojekts, sondern set-zen sich zum einen durchaus wohlwollend mit der Kibbutz-Bewegung auseinander und versuchen zum anderen einelinkskommunistische Kritik am damals in Israel bestimmen-den sozialdemokratischen und linkssozialistischen Arbeiter-zionismus zu formulieren.103 Hier ist also keineswegs von ei-nem antisemitisch konnotierten Antizionismus zu sprechen,sondern es handelt sich sowohl um eine universalistische alsauch eine innerisraelische Kritik, da einige dieser frühen Aus-führungen von einem israelischen Mitglied der SI stammen:Jacques Ovadia, der Israel 1960 als „country in the making“charakterisiert.104 Spätestens während des Sechs-Tage-Kriegs

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fand jedoch auch die SI, zu der Ovadia auf Grund seines Aus-tritts 1961 nicht mehr gehörte, zu jenem unreflektierten Anti-zionismus, wie er seit dem für große Teile der Linken charak-teristisch ist.

Die Schrift, in der das am deutlichsten wird, unterscheidetsich aber dennoch grundlegend vom ordinären Antiimperialis-mus der vermeintlich radikalen wie der reformistischen Linkenund insbesondere auch von Dieter Kunzelmanns Nationalsi-tuationismus mit seinem offen artikulierten Antisemitismus.105

In „Zwei lokale Kriege“, einem Text, der im Oktober 1967 inder 11. Nummer des Organs der SI erschien und vermutlichvon dem aus Tunesien stammenden Mustapha Khayati verfas-st wurde, werden der Vietnamkrieg und der Sechs-Tage-Krieguntersucht. Auch in diesem Text ist linkskommunistische Kri-tik am sozialdemokratischen und linkssozialistischen Arbei-terzionismus mit seinen realsozialistischen Erscheinungsfor-men wie etwa der Einheitsgewerkschaft Histadrut zentralesAnliegen. Er beginnt mit einer Kritik am antiimperialistischenBedürfnis, das über jede Regung im Trikont entzückt ist, undsich für jede Form bewaffneter Auflehnung begeistert, so dieAntiimperialisten in Europa sie nur nicht selbst betreiben müs-sen. Khayati macht sich über das manichäische Denken des eu-ropäischen Antiimperialismus lustig, liefert eine knappe Kri-tik der leider bis heute hoch im Kurs stehenden LeninschenImperialismusvorstellung und formuliert seine Kritik an derUS-Außenpolitik nicht, wie man das gegenwärtig kennt, auseinem antiamerikanischen Ressentiment heraus, das sich überdie vermeintliche Primitivität US-amerikanischer Politikermokiert.

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Auch die Äußerungen in Bezug auf Israel unterscheidensich deutlich von jenen offen antisemitischen Pamphleten, wiesie kurz darauf in der deutschsprachigen Linken Mode werdensollten. Dennoch: Man merkt schon an der Sprache, dass eshier nicht mehr um eine wohlwollende Kritik an Fehlent-wicklungen in einer Gesellschaft geht. So ist in „Zwei lokaleKriege“ beispielsweise nicht von notwendigen Maßnahmender Israelis zum Zwecke des Selbstschutzes die Rede, sondernvon der israelischen „imperialistischen Expansion“. Aus derDiskriminierung der arabischen Israelis wird flugs eine „rassis-tische Verfolgung“ und die Proklamation des jüdischen Staates,die immerhin nach einem UNO-Beschluss und in Übereinkunftmit der institutionalisierten Weltgemeinschaft erfolgte, wirdzum „willkürlichen“ Akt umgelogen.106

Die SI spricht dem Zionismus jedes revolutionäre Potenti-al ab. Der bürgerlich-revolutionäre Charakter Israels, der ge-rade in seinem zionistischen Charakter begründet liegt,107

wird bei ihnen ebenso wenig thematisiert wie die zwar unge-wollte, aber doch offensichtliche Nähe des Zionismus zu Wal-ter Benjamins Vorstellungen einer negativen Geschichtsphilo-sophie und der Revolution als Akt einer „rächenden Klasse“.108

Diese Ignoranz ist nur möglich durch die völlige Ausblendungder Shoah. Der Vernichtungsantisemitismus verschwindet beider SI hinter allgemein reaktionären Entwicklungen, wenn sieschreiben: „Gewiss hat ihm (dem Zionismus, S. G.) die kon-terrevolutionäre Entwicklung im letzten halben Jahrhundertrecht gegeben, aber auf dieselbe Art wie die Entwicklung deseuropäischen Kapitalismus Bernsteins reformistischen Thesenrecht gab.“109

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Fragt sich nur, wem man so etwas vorwerfen soll? Hättensich Juden und Jüdinnen nach der Shoah mit dem Aufruf andas Proletariat begnügen sollen, nun wenigstens den Massen-mord als Anlass zu nehmen, endlich mit Staat, Kapital, Nati-on und vor allem Deutschland, also mit der Grundlage des mo-dernen Antisemitismus, ein für alle mal Schluss zu machen?Wenn man unter einer revolutionären Lösung die Etablierungder staaten- und klassenlosen Weltgesellschaft versteht, hat dieSI natürlich recht, wenn sie schreibt, dass die zionistische Be-wegung von Anfang an „das Gegenteil einer revolutionärenLösung dessen (war), was man die Judenfrage nannte.“110 Nurstand genau solch eine revolutionäre Lösung 1945 nicht auf derTagesordnung, schon gar nicht im arabischen Raum, in demsich die klerikalfaschistischen, monarchistischen und panara-bistisch-sozialistischen Regimes und Gruppierungen vielmehranschickten, den nationalsozialistischen Antisemitismus samtseines Vernichtungsprojektes unter veränderten Bedingungenfortzuführen.

Zu welchen fatalen Konsequenzen die Ignoranz gegenüberder antisemitischen Ideologie führt wird deutlich, wenn manjene Passagen aus „Zwei lokale Kriege“ liest, die sich mit derSituation im palästinensischen Mandatsgebiet vor der israeli-schen Staatsgründung befassen. Die pogromartigen Aus-schreitungen der arabischen gegen die jüdische Bevölkerung inden 30er Jahren fungiert bei ihnen als „bewaffneter Aufstand“,der glücklicherweise gegen das anfängliche Zögern der ara-bisch-nationalistischen Führer angezettelt worden sei. DasScheitern dieses zugleich antikolonialen wie antisemitischenAufstandes, der, wäre er erfolgreich gewesen, vermutlich die

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Vernichtung der europäischen Juden um die Ermordung jenerim Nahen Osten ergänzt hätte, und der zudem eine frühereGründung eines jüdischen Staates in Palästina, als dieser nochMillionen von Menschen das Leben hätte retten können, maß-geblich behindert hat, das Scheitern dieses Aufstandes also be-zeichnet die SI als – „Katastrophe“.111 So ist es auch kein Wun-der, dass sich die SI 1967, knapp sechs Jahre vor einer Situation,in der die Israelis eine abermalige Massenvernichtung im JomKipur-Krieg nur noch durch massive US-amerikanische Mi-litärhilfe abwenden können, dafür ausspricht, den israelischenStaat von einer „revolutionären arabischen Bewegung“ „auf-lösen“ zu lassen,112 also wohlgemerkt nicht von einer jüdisch-revolutionären oder wenigstens einer jüdisch-arabisch revolu-tionären.

In diesen Punkten kann die materialistische Kritik von De-bord und der SI genau gar nichts lernen, an nichts anknüpfen;da gibt es nichts zu retten. Der Antisemitismus tritt als eine all-umfassende Welterklärung auf. Er ist die denkbar barbarisch-ste Reaktionsweise auf den Zwang zu Kapitalproduktivitätund Staatsloyalität und zugleich die weitestgehende Einver-ständniserklärung mit diesem Zwang. Der Antisemitismus,auch in seiner geopolitischen Reproduktion als Antizionis-mus, ist der Todfeind der Emanzipation. Ob eine Beschäfti-gung mit der situationistischen Kritik zu seiner Bekämpfungwird beitragen können, ist ausgesprochen fraglich. Vor allemdeswegen, – und das markiert einen deutlichen Unterschiedzur Kritischen Theorie – da bei den Situationisten jene Fragen,die in heutigen Auseinandersetzungen zentral sind, wie dasVerhältnis von Zivilisation und Barbarei, die Bedeutung des

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Nationalsozialismus für die Kritik der postnazistische Welt,die Rolle des arabischen und islamischen Antisemitismus, garkeine Rolle gespielt haben.

In „Zwei lokale Kriege“ schreibt die SI im Hinblick auf denarabisch-israelischen Konflikt: „Wie immer kann der Krieg –wenn er kein Bürgerkrieg ist – den Prozess der sozialen Revo-lution nur einfrieren.“113 Mit der Rede vom „Einfrieren der Re-volution“ hat die SI natürlich recht, und sie unterscheidet sichauch in diesem Punkt wohltuend vom aktuellen geschichtsre-visionistischen Pazifismus mit seiner abstrakten Kriegsgegen-erschaft. Die Frage, die sich hier aber aufdrängt ist doch: warnicht die alliierte Gewalt gegen Deutschland nicht nur Bedin-gung für das Beenden des Mordens, sondern auch für die Her-stellung von Zuständen, in denen die Revolution zumindestwieder als denkmöglich erscheint, Geschichte also nicht zumStillstand gekommen ist? Daran anschließend stellt sich dieFrage, ob die Konstellation, dass nur noch eine militärische In-tervention von außen dem perspektivlosen Morden Einhalt ge-bieten kann, und die Grundbedingungen sozialer Revolution– sei es intendiert oder contre coer – wieder herstellen kann,keine einmalige Angelegenheit in der Weltgeschichte war. Mandenke nur an den Einmarsch vietnamesischer Truppen in PolPots Kambodscha oder den Sturz Idi Amins durch Truppendes dissoziationssozialistischen Tansania. Diese Ereignissekonnte die SI bei der Niederschrift von „Zwei lokale Kriege“selbstverständlich noch nicht kennen. Für die aktuellen De-batten sollte man sie aber im Auge behalten, insbesondere imHinblick auf die Notwendigkeit des militärischen Sturzes dertrikontinental-faschistischen Baath-Diktatur im Irak und einer

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möglichen zukünftigen Intervention im klerikalfaschistischenIran, bei der in erster Linie zu fordern wäre, dass Israel nicht al-leine die Lasten solch einer zur Verhinderung der Aufstockungdes iranischen Vernichtungspotentials mit Nuklearwaffen even-tuell notwendigen Intervention zu tragen hat.

1 DB mobil, Nr. 11, 2001, S. 742 Marcus, Greil: Lipstick traces. Von dada bis Punk. Eine geheime Kulturgeschich-

te des 20. Jahrhunderts. Reinbek 1996, S. 1023 vgl. Malmoe, Nr. 2, 2001, S. 22 ff.4 Hardt, Michael/Negri, Antonio: Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt/M.

2003 (2000), S. 4255 ebd., S. 2006 vgl. Kettner, Fabian: „Empire“. Neues in der Weltordnung von Michael Hardt und

Antonio Negri? in: Asta der Geschwister Scholl-Universität München (Hg.):Spiel ohne Grenzen. Zu- und Gegenstand der Antiglobalisierungsbewegung. Ber-lin 2004, S. 39 ff.

7 Nachtmann, Clemens: Adornos Orthodoxie. Das Fortbestehen der Revolutions-theorie nach ihrem Ende. in: Bahamas, Nr. 22, 1997, S. 44

8 vgl. Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin 1996 (1967), S. 1989 Reinfeld, Sebastian: Ein unabgeschlossenes Forschungsvorhaben. in: Planet, Nr.

4, 1998, S. 1410 Benl, Andreas: Eine Situation schaffen, die jede Umkehr unmöglich macht. Guy

Debord und die Situationistische Internationale. in: jour-fixe-initiative berlin(Hg.): Kritische Theorie und Poststrukturalismus. Theoretische Lockerungsü-bungen. Berlin – Hamburg 1999, S. 63. Zur Rezeption der Situationisten in derwestdeutschen Linken vgl. auch Orth, Roberto: Das 20. Jahrhundert verlassen. in:Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten. Hamburg 1995, S. 7 ff.

11 Müller, Jost: Die verstellte Einsicht des M. Debord. Spektakel, Metasprache undMarxismus aus der Sicht von heute. in: Subtropen – Supplement zur Jungle World,Nr. 37, 2001, S. 6

12 ebd.13 Seibert, Thomas: Die Gesellschaft des Spektakels, das Alltagsleben und die Kunst

der Entwendung. in: Arranca, Nr. 22, 2001, S. 3514 H.: Zur Kraft der situationistischen Kritik und ihrer Rezeption in Deutschland.

in: Wildcat, Nr. 62, 2002, S. 3215 vgl. Behrens, Diethard/Hafner, Kornelia: Totalität und Kritik. in: Behrens, Diet-

hard (Hg.): Gesellschaft und Erkenntnis. Zur materialistischen Erkenntnis- und

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neu 02.05.2006 10:45 Uhr Seite 73

Ökonomiekritik. Freiburg 1993, S. 98 f.16 Wolf, Frieder O.: Am „Kapital“ arbeiten! Einführende Notizen zu Althussers Ka-

pital-Text. in: Prokla, Nr. 50, 1983, S. 12717 ebd., S. 12818 vgl. Althusser, Louis: Marx‘ Denken im Kapital. in: Prokla, Nr. 50, 1983, S. 14119 vgl. kritisch dazu Lipietz, Alain: Vom Althusserismus zur „Theorie der Regulati-

on“. in: Demirovic, Alex/Krebs, Hans-Peter/Sablowski, Thomas (Hg.): Hege-monie und Staat. Kapitalistische Regulation als Projekt und Prozeß. Münster1992, S. 22

20 Behrens/Hafner, a. a. O., S. 99 und S. 12821 vgl. Marx, Karl: Das Kapital. Dritter Band, Buch III: Der Gesamtprozeß der ka-

pitalistischen Produktion. Marx-Engles-Werke (MEW), Bd. 25, Berlin 1973(1894), S. 825

22 Krahl, Hans-Jürgen: Konstitution und Klassenkampf. Zur historischen Dialektikvon bürgerlicher Emanzipation und proletarischer Revolution. Schriften, Redenund Entwürfe aus den Jahren 1966 – 1970. Frankfurt/M. 1977, S. 81

23 vgl. Nachtmann, Clemens/Müller, Elfi: Die wundersame Renaissance des LouisAlthusser. in: Bahamas, Nr. 18, 1995, S. 56. Einen Beleg für die Richtigkeit dieserKritik lieferte Frieder O. Wolf, der sich nach langem Bemühen um eine verstärk-te Althusserrezeption im deutschsprachigen Raum nun Sorgen um die „Mobili-sierung frischen Kapitals“ macht. vgl. Möller, Heiner: Metzger des Sozialstaats. in:Konkret, Nr. 9, 1996, S. 25

24 Adorno, Theodor W.: Soziologie und empirische Forschung. in: Ders.: Gesam-melte Schriften. Bd. 8, Frankfurt/M. 1997 (1957), S. 208 f.

25 Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. in: MEW 42, Ber-lin 1983 (1857 – 58), S. 177

26 vgl. Althusser, a. a. O., S. 14027 vgl. MEW 42, S. 18328 ebd., S. 17729 vgl. Althusser, a. a. O., S. 13230 Adorno, Theodor W.: Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt/M. 1995

(1950), S. 10931 Dahlmann, Manfred: Theorie oder Kritik. Eine erkenntnistheoretische Anmer-

kung. in: Kritik und Krise, Nr. 4/5, 1991, S. 1132 Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. in: MEW,

Bd. 1, Berlin 1988 (1844), S. 380, Herv. i. Orig.33 vgl. Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., S. 158 34 ebd., S. 67, Herv. i. Orig.35 ebd., S. 16836 ebd., S. 16737 zitiert nach Volksstimme, 6. 3. 1997, S. 338 Claussen, Detlev u. a.: Einleitung. in: Krahl, a. a. O., S. 8

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39 vgl. zum Begriff bei Marx Kuhne, Frank: „Automatisches Subjekt“ und lebendi-ge Subjekte. Zur Begründung der Kritik der heteronomen Bestimmtheit der Ge-sellschaft bei Marx. in: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge, 1996,S. 134 ff.

40 Initative Sozialistisches Forum: Der Theoretiker ist der Wert. Eine ideologiekriti-sche Skizze der Wert- und Krisentheorie der Krisis-Gruppe. Freiburg 2000, S. 39

41 ebd., S. 11142 Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., S. 170, Herv. i. Orig.; Die Debordsche Kri-

tik am bürgerlichen Wahrheits- und Rationalitätsbegriff findet sich auch bei Au-toren aus dem Umfeld der Situationistischen Internationale wieder. Emile Marenssin beispielsweise wendet sich nachdrücklich gegen einen Vernunftbegriff,der losgelöst von der eigenen kritisch-praktischen Intention existiert: „VomStandpunkt des Kapitals aus betrachtet, wird der Kommunismus die Gesellschaftdes Irrationalen sein, die Gesellschaft der Verrückten. (…) Die Rationalität desKommunismus wird die Irrationalität des Kapitalismus sein.“(Marenssin, Emile:Stadtguerilla und soziale Revolution. Über den bewaffneten Kampf und die Ro-te Armee Fraktion. Freiburg 1998 (1972), S. 110)

43 Horkheimer, Max: Traditionelle und kritische Theorie. in: Ders.: Traditionelle undkritische Theorie. Fünf Aufsätze. Frankfurt/M. 1995 (1937), S. 244

44 vgl. Marcus, a. a. O., S. 140 f.45 Lefebvre, Henri: Kritik des Alltagslebens. Grundrisse einer Soziologie der All-

täglichkeit. Frankfurt/M. 1987 (1946), S. 46346 vgl. ebd., S. 464 f.47 ebd., S. 9048 ebd., S. 8249 ebd., S. 18250 ebd., S. 18451 ebd., S. 182, Herv. i. Orig.52 ebd.53 ebd., S. 44154 ebd., S. 17355 Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., S. 1356 vgl. Marenssin, a. a. O., S. 13157 Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., S. 2758 ebd., S. 31 f.59 ebd., S. 19460 ebd., S. 2261 vgl. Grigat, Stephan: Was bleibt von Georg Lukács‘ „Geschichte und Klassenbe-

wußtsein“? in: Streifzüge, Nr. 2, 1999. Zur Problematik von Realität und Schein, diesich auch bei Debord auftut, wenn er stets von verborgenen und verschleierten rea-len Verhältnissen spricht, vgl. Grigat, Stephan: Die Realität des Scheins. Zu Ador-nos Kritik des Fetischismus. In: Grigat, Stephan (Hg.): Feindaufklärung und Re-

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education. Kritische Theorie gegen Postnazismus und Islamismus. Freiburg 200662 Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., S. 2763 ebd., S. 1664 Jappe, Anselm: Politik des Spektakels – Spektakel der Politik. Zur Aktualität der

Theorie von Guy Debord. in: Krisis, Nr. 20, 1998, S. 10965 vgl. Vaneigem, Raoul: An die Lebenden! Eine Streitschrift gegen die Welt der

Ökonomie. Hamburg 199766 vgl. Bruhn, Joachim: Der Untergang der Roten Armee Fraktion. Eine Erinnerung

für die Revolution. in: Marenssin, a. a. O., S. 25. Auch Jappe weist auf die „exi-stenzialistisch-vitalistischen Einschläge“ bei Debord hin. Politik des Spektakels,a. a. O., S. 120

67 Debord, Guy: Panegyrikus. Erster Band. Berlin 1997 (1989), S. 5568 Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., S. 1669 Marcus, a. a. O., S. 13570 Gesellschafts des Spektakels, a. a. O., S. 2071 ebd., S. 2372 ebd., S. 5473 ebd., S. 35; Zur Problematik des Entfremdungsbegriffs vgl. Grigat: Realität des

Scheins, a. a. O.74 ebd., S. 3675 ebd., S. 53. Die Abneigung gegen den zunehmenden Autoverkehr und dessen Im-

plikationen teilte Debord mit Adorno, der sich vehement gegen den Autoverkehrin der Umgebung der Frankfurter Universität wandte und die Staatsgewalt zumEinschreiten gegen die unbelehrbaren „Automobilisten“ aufforderte. vgl. Leser-brief in der FAZ vom 18. 7. 1962. in: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schrif-ten. Bd. 20.2, Frankfurt/M. 1997, S. 740 f.

76 ebd., S. 3777 ebd., S. 4078 ebd., S. 3879 vgl. Marenssin, a. a. O., S. 85 und S. 9180 Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., S. 6181 ebd., S. 22, Herv. i. Orig.82 ebd., S. 4583 ebd., S. 20484 vgl. Grigat, Stephan: „Danke Gerhard!“. Die Staatsfixiertheit der Linken und der

Konformismus oppositioneller Bewegungen. in: Hüttner, Bernd/Oy, Gott-fried/Schepers, Norbert (Hg.): Vorwärts und viel vergessen. Beiträge zur Ge-schichte und Geschichtsschreibung neuer sozialer Bewegungen. Neu Ulm 2005,S. 135 ff.

85 Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., S. 4586 ebd., S. 6487 ebd., S. 102

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88 ebd., S. 102 f.89 ebd., S. 72, Herv. i. Orig.90 ebd., S. 8. Der Begriff der Versöhnung bezieht sich an dieser Stelle auch auf „das

Schisma der Klassenherrschaft“, also die spektakuläre Arbeitsteilung zwischenOst und West, die sich ins integrierte Spektakel aufgelöst habe.

91 ebd., S. 21392 ebd., S. 4893 ebd., S. 10794 Niedergang und Fall der spektakulären Warenökonomie. in: Der Beginn einer

Epoche. Texte der Situationisten. Hamburg 1995, S. 176. Herv. i. Orig.95 ebd., S. 17796 ebd.97 Marenssin, a. a. O., S. 13298 Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., S. 20499 Benl, a. a. O., S. 75100 Anselm Jappe versucht bei seiner Ehrenrettung für Debords Spätwerk zwar ge-

rade solch ein Inbeziehungsetzen, begibt sich aber selbst auf problematischesTerrain, wenn er schreibt, dass gerade die scheinbare Abwesenheit geheim-dienstlicher Manipulation auf einen besonders effektiven Geheimdienstschließen läßt. vgl. Politik des Spektakels, a. a. O., S. 115. Einerseits entbehrt die-se Argumentation nicht einer gewissen Logik, andererseits kommt man nicht andem Problem vorbei, dass auch dem Paranoiker gerade die Unbeweisbarkeit ei-ner Weltverschwörung als Beleg für ihre Existenz und Allmacht gesehen wird.An anderer Stelle weist Jappe selbst auf Debords Nähe zu falschen Manipulati-onstheorien hin. ebd., S. 120

101 Bruhn, a. a. O., S. 24; vgl. auch Benl, a. a. O., S. 73 ff. Zu Parallelen und Diffe-renzen im Denken von Debord und Adorno vgl. Marcus, a. a. O., S. 162 und Jap-pe, Anselm: Sic transit gloria artis. Theorien über das Ende der Kunst bei Theo-dor W. Adorno und Guy Debord. in: Krisis, Nr. 15, 1995, S. 143 ff.

102 Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., S. 178103 vgl. Biene Baumeister Zwi Negator: Situationistische Revolutionstheorie. Eine

Aneignung. Vol. I. Stuttgart 2005, S. 227. In „Situationistische Revolutionstheo-rie“ werden erstmals die Schriften der SI zu Israel und zum Zionismus vor demHintergrund der materialistischen Diskussionen der letzten fünfzehn Jahre the-matisiert. Unverständlich bleibt dabei, warum mit Joachim Bruhns Schriften ge-rade einer der avanciertesten Versuche, das Verhältnis von Zionismus und mate-rialistischer Staatskritik zu bestimmen, ohne jede weitere Begründung als„Aussetzer“ bezeichnet und unter „Kurzschlüssen“ (ebd., S. 224) abgehandeltwird. Dazu passen auch die beim Autorenkollektiv leider obligatorischen Res-sentiments gegen die Negativität der Kritischen Theorie (vgl. kritisch dazuQuadfasel, Lars: Bedürfnis und Befreiung. Zur Kritik der Situationistischen Re-volutionstheorie. in: Phase 2, Nr. 17, 2005) Ebenso unverständlich bleibt, war-

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um die Autoren meinen, Moses Hess als Begründer des „communistischen Zio-nismus“ werde in „Israel bis heute nicht der Rede wert gehalten“ (http://www.alive-auslieferung.de/vlgrelaunch/docs/dok041113223001.pdf), wo doch in jederzweiten israelischen Stadt Straßen und Plätze nach ihm benannt sind, ihn jedesSchulkind kennt, und er in so gut wie jeder Darstellung der Geschichte des Zio-nismus prominent erwähnt wird.

104 Ovadia, Jacques: The First Signs of a Revolutionary Culture in Israel. in: Inter-nationale Situationniste, Nr. 4, 1960; http://www.cddc.vt.edu/sionline/si/isra-el.html

105 vgl. Kraushaar, Wolfgang: Die Bombe im jüdischen Gemeindehaus. Hamburg2005

106 Zwei lokale Kriege. in: Der Beginn einer Epoche, a. a. O., S. 210 ff.107 vgl. Bruhn, Joachim: Die Einsamkeit Theodor Herzls. Israel und die materialis-

tische Staatskritik. Freiburg (erscheint 2006); Grigat, Stephan: Das Dilemma derisraelischen Linken. Fragmentarisches über die Schwierigkeiten von Staatskritikim Staat der Shoahüberlebenden. in: Bruhn, Joachim/Dahlmann, Manfred/Nachtmann, Clemens (Hg.): Das Einfache des Staates. Gedenkbuch für Johan-nes Agnoli. Freiburg (erscheint 2006)

108 vgl. Biene Baumeister Zwi Negator, a. a. O., S. 230109 Zwei lokale Kriege, a. a. O., S. 210110 ebd.111 ebd., S. 212; Gerhard Hahnloser unterschlägt derartiges bei seiner Diskussion

dieses Textes und attestiert der SI „die genaue und schonungslose Kritik des de-spotischen, antiemanzipativen Charakters der propagierten ‚arabischen Einheit‘“sowie eine „geschichtsbewußte Kritik des Zionismus.“ (BundesrepublikanischerLinksradikalismus und Israel. Antifaschismus und Revolutionismus als Tragö-die und als Farce. in: Zuckermann, Moshe (Hg.): Antisemitismus – Antizionis-mus – Israelkritik. Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXXIII. Göt-tingen 2005, S. 203)

112 Zwei lokale Kriege, a. a. O., S. 214113 ebd., S. 213

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PROLETARITÄT – KUNST – SPRACHE. SITUATIONISTISCHE REKONSTRUKTION UND AUFHEBUNG

Biene Baumeister Zwi Negator

„Die einzige Kraft, von der die Situationisten etwas erwartenkönnen, ist dieses Proletariat, das, da theoretisch ohne Ver-gangenheit, gezwungen ist, alles ständig aufs neue zu erfinden,und von dem Marx sagte, es sei ‚revolutionär oder nichts‘.Wird es in unserer Zeit sein oder nicht? Wichtige Frage für un-seren Vorsatz: das Proletariat soll eben die Kunst realisieren.“1

Schon Anfang der 1960er Jahre provozierte die Situationis-tische Internationale (SI 1957-1972) die gesamte Linke (und ih-re Professoren) permanent mit einem Thema, das mit ihremImage als „KünstlerInnen-Avantgarde“ schwer zu vereinbarenscheint. Es war der „Zentralpunkt“ ihrer Klassentheorie,2 beidem sich die SituationistInnen „schmeicheln, verbissen eine‚Gesinnung des 19. Jahrhunderts‘ zu behalten. Die Geschich-te ist noch jung, und das proletarische Projekt einer klassenlo-sen Gesellschaft, obwohl es einen schlechten Anfang hatte, istimmer noch eine radikal neuere Fremdheit als alle Erfindun-gen (…), als die Milliarden Ereignisse, die am laufenden Bandvom Spektakel fabriziert werden. Trotz unseres ganzen‚Avantgardismus‘ und ihm zum Dank ist das die einzige Be-wegung, deren Rückkehr wir wünschen.“3

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Die „Soziologen aller Länder“ erhoben auch in Frankreichum 1960 das Haupt und verkündeten „das soziologisch-jour-nalistische Dogma vom Verschwinden des Proletariats, (…) dieSicherheit, dass die Arbeiter zufrieden und vollkommeneSpießbürger geworden seien“4, und die Linke betete es ihnenweitgehend nach. Angesichts der Vulgärökonomie seiner Zeithatte schon Marx bemerkt, so etwas sei freilich nicht aus denLehrbüchern in die Wirklichkeit, sondern aus der Wirklichkeitin die Lehrbücher gedrungen.5 Auch die SI diagnostizierte desöfteren, inwieweit aufgrund der spektakulären Warenproduk-tion und durch die Alltagsstrukturen des entwickeltsten Kapi-talismus tatsächlich „die Konfusion in einer Arbeiterklassenoch verstärkt“ wird, „die schon der schlimmsten Verdum-mung und Mystifizierung unterworfen wird, und dazubeiträgt, sie in diesem ‚reaktionären‘ Geisteszustand zu erhal-ten, der als Argument gegen sie benutzt wird.“6

Gewöhnlich setzt die Vorstellung von „Proletariat“ unmit-telbar am Erscheinungsbild einer historischen Gestalt der Ar-beiterklasse an. Die meisten werden immer noch den „Blau-mann“ assoziieren, selbstverständlich männlichen Geschlechts,mit dem Schraubenschlüssel in der Hand. Seit der Ära der SI(1957-1972) hat sich in der Soziologie die Doktrin vom „Ver-schwinden des Proletariats“ auf breiter Front durchgesetzt,7

so auch bei großen Teilen der Linken vor allem ab den 1980erJahren als „Abschied vom Proletariat“ (André Gorz, Aristi-de Zolberg, Manuel Castells e.a.). Hier wie dort wird eineMomentaufnahme von dem festgehalten, was in Wirklichkeitein historischer Prozess ist. Aus dieser Fixierung auf denzeitgemäßen Phänotyp resultiert die Gegensätzlichkeit: Glo-

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rifizierung versus Verwerfung. Woher kommt dieser starre,an vergangenen Gestalten der Arbeiterbewegung haftendeBlick, diese verabsolutierende Statik gegenüber der perma-nenten Neuzusammensetzung einer Gesellschaftsklasse, dieals „das neue Proletariat mehr und mehr fast die ganze Weltumfasst“? 8

Angesichts der sich ständig verändernden Klassenzusam-mensetzung des historisch-akzidenziellen Phänotyps „Prole-tariat“ wurde und wird es den meisten Linken so schwindeligwie allen Beteiligten von „Alice in Wonderland“ in Bezug aufPhänomenales: mal ist Es groß, mal klein, mal bunt, mal grau,mal verschwunden … – das die Veränderung generierende, zu-grundeliegende Regelsystem bleibt der kontemplativen Be-trachterin (Linke, Alice, Red Queen, Akademie …) ein Rät-sel. Auf dem Schachbrett der Klassenkonflikte gilt es erst eineStrategie zu finden, denn „All the Kings Men“9 können denMythos der immer siegreich kämpfenden Klasse einerseitsoder des fordistischen Humpty Dumpty der Integration an-dererseits nicht wieder zusammensetzen bzw. auf den gutenalten „Klassenstandpunkt“ zurückbringen. Wer auf der ande-ren Seite die „Substanz“ der Klasse einfach festhalten, fixierenmöchte,10 behält einzig das rätselhafte Grinsen der Phantom-katze11 vor Augen. Die SituationistInnen dagegen ließen sichauf keine Illusion der „zwei Wirklichkeiten“ ein – des empiri-stisch-positivistischen Phänotyps einerseits oder eines unver-änderlich „dahinterliegenden“ Wesens andererseits –, sondernbehandelten sie diese Ambiguität listig als „ein glücklichesMissgeschick, wie das zweideutige Grinsen der Tigerkatze derunsichtbaren Revolutionen.“12

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Damit setzten sie auf die ebenfalls zuerst von Marx heraus-gearbeitete Dialektik der bürgerlich-kapitalistischen Klassen-spaltung und -prozesshaftigkeit. In der Positivität der bürgerli-chen „besten aller möglichen Welten“ sind die Lohnabhängigengrundsätzlich der Verfügung über ihre individuelle und gesell-schaftliche Arbeit beraubt. Deshalb „bleiben sie irgendwie ra-dikal fremd“13 Sie werden ständig wieder ins soziale „Nichts“14

ihrer Ohnmacht zurückgeworfen: „Gemäß der zur Zeit imEntwurf begriffenen Wirklichkeit kann man diejenigen alsProletarier betrachten, denen es ganz und gar unmöglich ist,die gesellschaftliche Raum-Zeit zu verändern, die die Gesell-schaft ihnen zum Konsum zuteilt (auf den verschiedenen Stu-fen des erlaubten Überflusses und Aufstiegs). Die Herrschen-den sind diejenigen, die diese Raum-Zeit organisieren bzw.genug Spielraum für eine persönliche Wahl haben (auch z.B.wegen des wichtigen Fortbestandes alter Formen des Privatei-gentums).“15

In dieser Negativität können die Lohnabhängigen nurdurch die Subversion und Destruktion ihrer gesellschaftlichenEnteignung und Ausbeutung aus Objekten zu Subjekten wer-den. Das Proletariat wird deshalb als „die negative Seite desGegensatzes, seine Unruhe in sich, das aufgelöste und sich auf-lösende Privateigentum“ an den gesellschaftlichen Lebensbe-dingungen begriffen: zusammengefasst verkörpert „der Pro-letarier die destruktive Partei“.16 Obgleich „naturwüchsig“(Marx), ist dieser Prozess keinesfalls deterministisch progressiv,er kann jederzeit ins Regressive umschlagen. Nicht nur derbürgerliche Zivilisationsprozess hat seine barbarische Schat-tenseite, auch nach den ersten proletarischen Revolutionsan-

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läufen musste schon Marx hundert Jahre vor der SI feststellen:„Aber die gemütlichen Delusions und der fast kindliche En-thusiasmus, mit dem wir (…) die Revolutionsära begrüßten,sind zum Teufel. (…) Zudem wissen wir jetzt, welche Rolle dieDummheit in Revolutionen spielt und wie sie von Lumpen ex-ploitiert werden.“17

Auf der Ebene einer möglichen Bewusstwerdung der sichassoziierenden Proletarisierten dagegen bestimmt die SI ent-lang der gesellschaftlichen Raum-Zeit-Koordinaten in ihremtypisch minimalistisch formulierenden Stil: „Proletarier ist,wer keine Macht über den Gebrauch seines Lebens hat undwer das weiß.“18 Und: „Revolutionär ist eine Bewegung, diedie Organisation dieser Raum-Zeit sowie die künftigen Ent-scheidungsformen ihrer permanenten Neuorganisation radikalumgestaltet (und nicht eine Bewegung, die nur die Rechtsformdes Eigentums oder die soziale Herkunft der Herrschendenverändert).“19

Der situationistischen Theoriebildung wird momentanwieder neue Aufmerksamkeit zuteil, die wohl einem Bedürf-nis nach dem entspricht, was sie in ihren eigenen Begriffen„Kohärenz“ nannte. Dieses neue Kohärenzbegehren hat je-doch mit einer neuen Art von Sensibilität zu tun, einer gestei-gerten sinnlichen Wahrnehmung (Aisthesis), für die Notwen-digkeit der radikalen Umgestaltung der weltgesellschaftlichenReproduktionstotalität: Die Herstellung des Weltmarkts aufBasis der „Echtzeit“-Produktionsvernetzung hat weitere welt-kulturelle Möglichkeiten hervorgetrieben, in denen heute allespopulär ausgedrückt und von allen verstanden werden kann(Beispiel: Japan als Exportweltmeister für Pop-Design wie

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Manga), um die künstliche kapitalistische Trennung dieser To-talität in Sphären, als da sind Kunst und Kultur, Ökonomieund Politik, Theorie-Praxis und staatliche Ausbildungsanstal-ten, Forschungsinstitutionen etc., endlich aufzuheben. Genaufür diese Aufhebung waren die SituationistInnen klassisch-(post)moderne StichwortgeberInnen, und sie eröffneten ihrExperimentieren mit dieser Sphärensprengung gerade als de-zidiertes „Zurück zu Marx!“ in der Klassentheorie.20 So pas-sen sie bis heute weder in die Schublade der (post-)modernis-tischen „Künstler-Avantgarde“, angereichert mit Politik, nochin die „des Marxismus“ oder gar „Anarchismus“, angereichertmit Kunst. Aber genau deshalb wird die SI von den Kunst-bornierten für das eine und von den Politikanten für das an-dere gehalten. In beiden Fällen jedoch hat sich die vorherr-schende SI-Rekuperation längst auf das Kunstgeschichtslabelgeeinigt. In dieser Ablage scheint sie noch am ungefährlichsten(und polit-aktionistisch als harmlose „Kommunikations- undSpaßguerilla“ etc. verdaubar). Der Cut zwischen „Künstler-phase“ und „Revolutionarismus-Phase“ hilft da nicht, er ver-hackstückt nur die revolutionäre Kritik der SI, um sie der Weltder Trennungen, der Entfremdungen gewaltsam einzuverlei-ben. Präventiv hat sich die SI in ihrer Zeit gegen die Macht derTrennungen und gegen die Trennungen durch die Macht mitder einzigen Waffe gewehrt, die sie hatte, und mit der auch dieProletarisierten als Gesellschaftsklasse allein ihre Ohnmachtaufheben könnten: mit der Sprache der Begriffe (theoretischedialektische Vernunft) und der Bilderentwendung (ästhetischePraxis). Die situationistische Sprachkritik ist von ihrer Kritikder Klassengesellschaft bzw. Kritik der politischen Ökonomie

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ebenso unablösbar wie „die situationistischen Aktionsformengegen Politik und Kunst“.21 Der strategische Einsatz des Be-griffs der „Kohärenz“ durch die SI eröffnete seit Marx aufsNeue das Problemfeld, wie die Dialektik von „Praxis derTheorie“ und „Theorie der Praxis“ (SI) in Klassenkonfliktenfunktioniert und wie es um die prekäre Vermittlung von „Ge-schichte und Klassenbewusstsein“ bestellt ist, die „Puppe, dieman ‚historischen Materialismus‘“ nannte und „die heute be-kanntlich klein und hässlich ist und sich ohnehin nicht darfblicken lassen.“22

ZEIG MIR DAS PROLETARIAT!

Die SituationistInnen halten sich in ihrer Denunziation der ka-pitalistischen Klassenteilung zuallererst an die nüchterne öko-nomiekritische Bestimmung von Karl Marx: „Unter ‚Proleta-rier‘ ist ökonomisch nichts zu verstehn als der Lohnarbeiter,der ‚Kapital‘ produziert und verwertet und aufs Pflaster ge-worfen wird, sobald er für die Verwertungsbedürfnisse des‚Monsieur Capital‘ (…) überflüssig ist.“23

Die Fixierung von Soziologen oder Szenelinken auf die je-weilige ständig wechselnde Erscheinungsform, in der dieserunangenehme Grundtatbestand der modernen Weltgesell-schaft auftritt, und vor allem auf ihr jeweiliges „Verschwin-den“ entspricht naturgemäß auch einem gewissen doppeltenInteresse: einerseits ist die soziologische Leugnung der ent-sprechenden sozialen Widersprüche, vor allem aber ihrer Un-auflösbarkeit im Rahmen der Wert- und Warenform, für die

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Ideologenzünfte und für proudhonistische „Aussteiger“-Lin-ke bequem. Andererseits möchte verständlicherweise niemandgerne der eigenen „Lebenssituation“ ins Auge schauen,24 dassder permanente Zwang zum Verkauf meiner eigenen Arbeits-kraft mitsamt allen möglichen erniedrigenden Folgen im Grun-de eine Art moderner Sklaverei bedeutet.25 Also wird dieseExistenzbedingung und Daseinsform aus dem Massenbewusst-sein verdrängt: proletarisiert sind immer die anderen! DieserVerdrängung versuchte die SI entgegenzuwirken und warf daswirkliche Problem auf, nämlich – wie Adorno dies in analogerWeise fasste – „die Unsichtbarkeit der Klassen in der Verstei-nerung ihres Verhältnisses“ zu erklären.26 Auf das soziologi-sche und/oder bewegungslinke Spielchen „Zeigt‘s uns doch,das Proletariat!“ ließen sich die SituationistInnen erst rechtnicht ein.

Sie missverstanden sich nicht als außerproletarischen Teilder Gesellschaft, der angesichts des proletarisierten Teils „überihr erhaben ist“,27 das heißt nicht als staatliche Volkserzieheroder politische „Avantgarde“, als RepräsentantInnen „der Ar-beiterklasse“ oder als identitäre „Linke“ jenseits des Proleta-riats, und schon gar nicht als UniversitätswissenschaftlerIn-nen: „Wir sind keine staatlich anerkannten Denker“.28 Alleinschon deshalb verfielen sie in der Zeit jener Latenz der Klas-senkonflikte29 in der westlichen Welt der ersten Hälfte der1960er nicht der resignativen oder esoterischen Entwicklungirgendeiner institutionalisierten akademischen Theorie. Sie be-wegten sich vielmehr als enfants perdus“30 und communisti-sche „Theoretiker- und Experimentatorengruppe“. Sie begrif-fen sich als Teil des modernsten Proletariats (viele von ihnen

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kamen aus Migrantenfamilien), Leute also, die gerade als pro-letarisierte KünstlerInnen, Intellektuelle, JobberInnen und Ar-beitsverweigernde31 ihrer Lohnabhängigkeit als fundamentaler„Existenzbedingung“ ziemlich illusionslos ins Auge sehen.32

Indem sie sich der Kommodifizierung ihrer Arbeitskraft unddamit der kapitalistischen Verfügung über ihr Leben stellten,begriffen sie diese als „Daseinsformen, Existenzbestimmun-gen“, das heißt als wirkliche Kategorie33 und damit als exi-stenzielle Lebenssituation im gesellschaftlichen Sein. Diese Le-benssituation versuchten sie theoretisch und praktisch radikalzu kritisieren, was weder rein philosophisch noch soziolo-gisch zu machen ist: „Existenzbedingungen kann man nichtwiderlegen – man kann sich nur von ihnen befreien.“34

Die von Marx erstmals in der Kritik der politischen Öko-nomie bloßgelegte Existenzbestimmung der Warenprodukti-on – die historisch auf Grundlage der Klassentrennung in Pro-duktionsbedingungen-als-Privateigentum einerseits und WareArbeitskraft andererseits zur kapitalistischen Warenprodukti-on totalisiert ist – wird von ihm als „fetischistisch“ bezeichnet:in dieser Form ist die gesellschaftliche Produktion nicht trans-parent für die Produzierenden, sondern mystifiziert. DieseMystifikation, „die ‚Ware‘ – das einfachste ökonomische Kon-kretum“35, versucht die situationistische Kritik der kapitalisti-schen „Gesellschaft des Spektakels“ auch unter ihrem Aspektals „Rückspiegelung“ und Bilderproduktion genauer zu ana-lysieren, um sie mit ihrer Wurzel – der Klassentrennung – auf-lösen zu können. Jegliche Mystifikation (Geheimnisstruktur,Undurchsichtigkeit und Nichtkommunizierbarkeit) galt denSituationistInnen als erklärter Feind.

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Als Klassentheorie fußt die situationistische Spektakel-theorie explizit in der Marxschen Methode der „Kritik derpolitischen Ökonomie“, indem sie den gespenstischen Spie-gelungscharakter der kapitalistischen Mystifikationsstufenherausentwickelt.36 „Das Spektakel in seiner ganzen Aus-dehnung ist sein eigenes ‚Spiegelzeichen‘.“37

ZUR MYSTIFIKATION DER LOHNFORM

Um den Verdrängungsprozess der Klassenstrukturiertheit ausdem gesellschaftlichen und individuellen Bewusstsein, den So-zialwissenschaften und dem Alltagsbewusstsein näher zu be-leuchten, die Fixierungen des Common Sense zu begreifenund aufzulösen, sind die verschiedenen Mystifikationsebenenauf ihre fetischistische Grundform zurückzuverfolgen. Aus-gehend vom Resultat der Marxschen Darstellung können wirhier die „Mystifikation der Lohnform“ (Marx) zum Aus-gangspunkt nehmen. Sie verbirgt in perfekter Weise das Klas-senverhältnis als Grundverhältnis der Eigentumslosigkeit anden gesellschaftlichen Produktionsbedingungen und der dar-auf beruhenden Ausbeutung der Arbeitskraft im Verwer-tungsprozess. Aufgrund der Wertform nehmen die sich inein-ander spiegelnden gesellschaftlichen Praktiken und ihreResultate eine „gespenstische Gegenständlichkeit“ an, indemsie sich im gigantischen Bild eines gesamtgesellschaftlichen„Wertspiegels“ reflektieren, das den Menschen als ungeheureSammlung von Hieroglyphen gegenübertritt.38 Die Leistungder Spektakeltheorie, die zugrundeliegende Klassentrennung

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in den Spiegelungen sichtbar zu machen, die direkt an die Marx-sche Kritik der fetischisierten gesellschaftlichen Verhältnisseanknüpft, soll im Folgenden skizziert werden.

1) Die „Trinitarische Form“ als vollendeter SpiegelzauberVerborgen ist dieses Grundverhältnis der Klassentrennung

der modernen Gesellschaft im Augenschein der stofflichen-natürlichen Produktionsfaktoren, die in der klassischen Öko-nomie als die „trinitarische Form“ der angeblich selbständigen,harmonisch bei der Wertproduktion zusammenwirkenden„Produktionsfaktoren Boden, Kapital und Arbeit“ erschei-nen. Als „trinitarische Formel“ bezeichnen sie zugleich diedrei verschiedenen Einkommensquellen (Revenuen) „Boden-rente, Zins, Arbeitslohn“. Indem sich hinter diesen Revenuendie Klassenspaltung der Gesellschaft versteckt, „ist die Mysti-fikation der kapitalistischen Produktionsweise, die Verdingli-chung der gesellschaftlichen Verhältnisse, das unmittelbareZusammenwachsen der stofflichen Produktionsverhältnissemit ihrer geschichtlich-sozialen Bestimmtheit vollendet: dieverzauberte, verkehrte und auf den Kopf gestellte Welt, woMonsieur le Capital und Madame la Terre als soziale Charak-tere und zugleich unmittelbar als bloße Dinge ihren Spuk trei-ben.“39 Dieser Spuk treibt auch sein Unwesen in der Arbeit,die er „als Dritten im Bunde ein bloßes Gespenst“ sein lässt.40

Hier ist auch die Manie zu suchen, mit der Soziologen wie Lin-ke ständig nach einer festen Verkörperung „des Arbeiters“ alsgleichsames Körperbild einer Klasse verlangen, worüber sichschon die SI lustig machte: „Die Konsequentesten verbreitenalso ihre vervielfältigten Vorstellungen des Bewusstseins einer

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Klasse, in der sie fieberhaft nach ihrem Arbeiter Albert su-chen.“41 Madame la Terre, Monsieur le Capital, l‘ouvrier Al-bert – immer sollen gesellschaftliche Funktionen als Verkör-perungen von Natur aus, als Verpuppungen, als gespenstischeGegenständlichkeiten festgehalten und personifiziert wer-den.42 Wo kein Begriff von der Arbeit vorhanden ist, da stelltein Bild zur rechten Zeit sich ein. „Es ist klar, dass das Kapitaldie Arbeit als Lohnarbeit voraussetzt. Es ist aber ebenso klar,dass, wenn von der Arbeit als Lohnarbeit ausgegangen wird,so dass das Zusammenfallen der Arbeit überhaupt mit derLohnarbeit selbstverständlich scheint, dann auch als natürlicheForm der Arbeitsbedingungen, gegenüber der Arbeit über-haupt, das Kapital und die monopolisierte Erde erscheinenmüssen. (…) Fällt also die Arbeit mit der Lohnarbeit zusam-men, so fällt auch die bestimmte gesellschaftliche Form, wor-in die Arbeitsbedingungen nun der Arbeit gegenüberstehn,zusammen mit ihrem stofflichen Dasein.“43

2) Das elementare Spiegelungsverhältnis der Wertform-gleichung: Relative Wertform und Äquivalentform

Allen Erscheinungsformen, in denen Proletarität historischauftritt, liegt „das struktive Zentrum“ (Lukács und SI) dermodernen Gesellschaft zugrunde: die Wert- und Warenform.Das moderne Proletariat ist nicht anders zu begreifen als derProzess, in dem die lebendige Arbeitskraft einerseits von die-ser Formbestimmung erfasst und unter sie subsumiert wird.Als ungeheuer dynamischer Akkumulationsprozess anderer-seits reproduziert diese Warenform die gesellschaftliche Arbeitals allgemein gesellschaftliches Verhältnis von Lohnarbeit und

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Kapital. Der Inhalt des Verhältnisses von Proletarität und Ka-pital bleibt die erweiterte Reproduktion von Tauschwerten, al-so von Waren im weltgesellschaftlichen Maßstab und ihre„Produktion um der Produktion willen“ (Marx) als ungeheu-re Reichtumsproduktion, die das Proletariat sich selbst ge-genüber als fremde Macht anhäuft.

Das fetischistische Zusammenfallen von historisch verän-derlicher gesellschaftlicher Form des Verwertungsprozessesmit der dinglich festen Gestalt der gegebenen Arbeit und ihrerstofflichen „Faktoren“ entspricht der Grundstruktur derWertform überhaupt: die lebendige Arbeit erscheint als „Fak-tor“, Anhängsel der toten, vergegenständlichten Arbeit.

Gegenüber der „trinitarischen Formel“ zeigt Marx, dass nurdie Arbeitskraft wertschöpfend ist, auch wenn anschließend inerster Linie der „durch die jährlich neu zugesetzte Arbeit neuzugesetzte Wert“44 und das Neuwertprodukt nach divergie-renden und konkurrierenden Verteilungsverhältnissen, alsProfit, Grundrente und Arbeitslohn, auf die Kapitalisten-,Grundeigentümer- und Arbeiterklasse verteilt wird. Gegenü-ber der grundlegenden Ware-Geld-Mystifikation zeigt Marx,dass die Darstellung der Privatarbeiten in einem dinglichenGebrauchswert als ihrem gesellschaftlichen Vermittler, letztenEndes der Geldform, die Form eines „Wertspiegels“ besitzt.Damit wird ein Spiegelungsverhältnis erschlossen, das wieder-um nicht ohne den Doppelcharakter aller Arbeit zu begreifenist.

Denn die notwendige Metapher der Spiegelung verweistselbst auf ein Tätigkeitsverhältnis: Ein Spiegel ist nur dann einSpiegel, wenn in ihm ein Spiegelbild entsteht, sodass „Spiegel“

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und „Spiegelung“ das Produkt bzw. das Resultat eines Tunssind, nämlich des „Spiegelns“. Wer oder was tut das, was alsSpiegeln bezeichnet wird? Ist es der Spiegel, der das Ding sel-ber spiegelt? Oder spiegelt sich das Ding selber im Spiegel?Oder ist es die menschliche, sinnlich-gegenständliche Praxis,die im Spiegel des Dinges selber ansichtig wird?

Im eigentümlichen Spiegel der Äquivalentform wird nundie konkrete Arbeit der produzierenden Menschen – in ihreraktiven, sich spiegelnden Rolle als relative Wertform – zur Er-scheinungsform ihres Gegenteils, zu abstrakt-menschlicherArbeit zunächst passiv abgespiegelt.

3) Der Doppelcharakter der Arbeit als substanzielles Spie-gelungsverhältnis

Dabei ist zu beachten, dass die übliche dualistische Auf-fassung von einem bloßen Gegensatz von konkreter und ab-strakter Arbeit, welche die abstrakte Arbeit dabei mit einemnegativen Gefühlsakzent versieht, verkennt, „dass die abstraktmenschliche Arbeit zunächst Eigenschaft jeder konkret-nütz-lichen Arbeit ist: die Schneiderarbeit ist – Arbeit; die Tischler-arbeit ist – Arbeit etc.; die Art enthält ihre Gattung. Erst mitdem praktischen Ausschluss der Gattung über die Vernichtungdes Gemeineigentums durch Erzeugung des Privateigentumswird das Verhältnis des Konkreten zum Abstrakten so ver-kehrt, dass nunmehr die besondere Arbeitsart erst als Arbeitgilt, wenn sie als Repräsentantin von abstrakter Arbeit erwie-sen ist (über den Privataustausch). Sie ist dann auch nicht mehrkonkret, sondern das unter sein Abstraktum subsumierte Ein-zelne.“45 Dieser Ausschluss ist real, aber scheint logisch ge-

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nauso absurd, wie Marx an einem zoologischen Beispiel erläu-tert: In der Äquivalentform erscheint die aus dem Warenkorbausgeschlossene Ware (z.B. Gold), die als allgemeines Äquiva-lent fungiert, „als die Gattungsform des Aequivalents für alleanderen Waaren. Es ist als ob neben und ausser Löwen, Tigern,Hasen und allen anderen wirklichen Thieren, die gruppirt dieverschiednen Geschlechter, Arten, Unterarten, Familien usw.des Thierreichs bilden, auch das Thier existirte, die individu-elle Inkarnation des ganzen Thierreichs.“46 Damit würden al-le Tiere ein Tier zu ihrem Tierspiegel machen („der König derTiere“).47

4) Mit dem Wertspiegel ist ein hierarchisches Klassenver-hältnis gesetztDer Wert ist die historische Form, in der es möglich wird, ei-ne dem Inhalt nach bereits gesellschaftlich gewordene Pro-duktion trotz ihrer Form des Privateigentums an den Produk-tionsbedingungen dennoch als gesellschaftliche zu vermitteln.Er ist durchaus nicht nur irrational, schon gar nicht entziehter sich wissenschaftlich-theoretischem Begreifen, wie manchlinke Remystifikation behauptet, sondern ist lediglich ge-samtgesellschaftlich undurchschaut geblieben, nicht zuletztweil gewaltiges Interesse an der Aufrechterhaltung der kapita-listischen Klassengesellschaft an ihm hängt.48 Diese Vermitt-lung zwischen privater Form und gesellschaftlichem Inhalt derProduktion bedarf ihrerseits einer bestimmten historischenForm im gesellschaftlichen Handeln der Menschen.49 In derWertform, so Marx, haben wir den Ausdruck einer Gesell-schaftsformation vor uns, „worin der Produktionsprozess die

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Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozessbemeistert.“50 Warum ist das der Fall? Weil uns die Wertformüber die gegenständlich ausschließende Vorstellung des allge-meinen Äquivalents zeigt, dass die Gesellschaftlichkeit der Ar-beit als solche gegen die individuellen ArbeiterInnen und ihreProdukte als eine äußere Sache auftritt – und zwar als ein Ge-genstand, der in der Wirklichkeit doch nur eine besondere Artder Arbeit darstellt. Natürlich ist die hier gemeinte Gesell-schaftlichkeit nicht mehr die bornierter Gemeinwesen, son-dern die der universalen Gattung. Die Wertform reflektiertden Weltmarkt, aber nicht den Dorfanger einer sich selbstgenügenden Dorfgemeinschaft oder den heiligen Hain einerStammesversammlung (zu der auch kein Communismuszurückführt). Die Wertform ist also in einem der Ausdruckder gesetzten und der nicht wirklich (als bewusst handelndesSubjekt) bestehenden menschlichen Gattung. Die durch dieWertform widergespiegelte Bürgerlichkeit der ihr zu Grundeliegenden Produktionsweise erscheint in dem Umstand, dass dasGeld als Wertspiegel die anderen Waren von sich ausschließt, dasheißt die Existenz dieser Arbeitsprodukte als ebensolchenSpiegel negiert. Und das wiederum ist der Fall, weil die Ar-beitsprodukte selbst auf der Basis des Privateigentums bzw.Klasseneigentums erzeugt werden und einander gegenübertre-ten.51 Erst auf dieser Basis wird das Spiegelungsverhältnis zwi-schen den Menschen vereinseitigt, „monologisch“, verding-licht, verkehrt und schlägt in Entfremdung des Menschen vomMenschen um, was Marx schon früh durch die Kontrastierungmit dem Modell einer communistischen, nichtentfremdetenProduktionsweise zeigte: „Gesetzt, wir hätten als Menschen

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produziert: (…) Unsere Produktionen wären ebenso vieleSpiegel, woraus unser Wesen sich entgegenleuchtete. Dies Ver-hältnis wird dabei wechselseitig, von deiner Seite geschehe, wasvon meiner Seite geschieht. (…) Meine Arbeit wäre freie Le-bensäusserung, daher Genuss des Lebens. Unter der Voraus-setzung des Privateigentums ist sie Lebensentäusserung, dennich arbeite, um zu leben, um mir ein Mittel des Lebens zu ver-schaffen. Mein Arbeiten ist nicht Leben. (…) Nur als das, wasmeine Arbeit ist, kann sie in meinem Gegenstand erscheinen.(…) Darum erscheint sie nur noch als der gegenständliche,sinnliche, angeschaute und darum über allen Zweifel erhabeneAusdruck meines Selbstverlustes und meiner Ohnmacht.“52

5) Die Waren-Hieroglyphen als Spiegelschrift: die gemein-schaftliche Sprache der gesellschaftlichen Trennungen

Das „struktive Zentrum“ der warenproduzierenden Lohn-arbeitsgesellschaft hat die situationistische Spektakelkritikwieder freigelegt und zum Leitmotiv ihrer „Kritik der Tren-nungen“ in der kapitalistischen Reproduktionstotalität ge-macht. Da die Waren nur die dinglichen Repräsentanten dergesellschaftlichen Verhältnisse von Personen sind, drückt sichin ihrer Wertformgleichung x Ware A (( releative Wertform) =y Ware B (Äquivalentform)(das heißt der tatsächlichen Gleich-setzung zweier Waren im Warenverkehr) die gesellschaftlichePraxis der Menschen als konkurrierende PrivateigentümerInnenaus. So bedeutet die relative Wertform das aktive Subjekt, wel-ches in der Äquivalentform seine gesellschaftliche Werteigen-schaft spiegelt und ausdrückt (Wertausdruck = Wertspiegel).Die Äquivalentform bedeutet umgekehrt die passive Objekt-

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rolle in dieser gesellschaftlichen Beziehung, durch deren sach-liche Vermittlung die der Form nach private Produktion ihrengesellschaftlichen Charakter und Inhalt erst äußern, vergegen-ständlichen und damit realisieren kann. Die Realisierung desgesellschaftlichen Charakters der Produktion durch Vermitt-lung des Wertspiegels ist realer aber spiegelverkehrter Schein:„All das ist nicht mysteriös. Aber im Wertausdruck der Warewird die Sache verdreht.“53 Der Wertspiegel erst mystifiziertdie Verausgabung allgemeiner gleicher gesellschaftlich durch-schnittlich notwendiger menschlicher Arbeit durch seine Ge-genüberstellung ihrer Darstellung im Bilde eines konkretenGebrauchsding-Körpers (wie der Goldware, Geldware) „alsdie handgreifliche Verwirklichungsform abstrakt menschlicherArbeit.“54 Die Äquivalentform (der Wertausdruck, Wertspie-gel) ist somit die verkehrte, blinde, unbewusste Äußerungs-form des materiellen Lebensprozesses der Gesellschaft, dienoch nicht in der Lage ist, ihre Produktionsgesellschaftlichkeitbewusst auszudrücken, das heißt rational sprachlich-begriff-lich im direkten Verkehr der Menschen (ihrer unmittelbarengesellschaftlichen Übereinkunft, ohne Privatproduktion) zuvollziehen, und die ihr hochgradig gesellschaftliches Zusam-menwirken deshalb ‚sprachlos‘ indirekt durch ihr Handeln„hinter ihrem Rücken“, ohne Gesamtplan, das heißt waren-und geldvermittelt zum Ausdruck bringt: Die gesellschaftli-chen ProduzentInnen „wissen das nicht, aber sie tun es. (…)Der Wert verwandelt vielmehr jedes Arbeitsprodukt in einegesellschaftliche Hieroglyphe. (Hrvbg. BBZN) Später suchendie Menschen den Sinn der Hieroglyphe zu entziffern, hinterdas Geheimnis ihres eignen gesellschaftlichen Produkts zu

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kommen, denn die Bestimmung der Gebrauchsgegenstände alsWerte ist ihr gesellschaftliches Produkt so gut wie die Spra-che.“55 Die Hieroglyphe aller Hieroglyphen aber ist in Gesell-schaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herr-scht,56 das heißt in „Gesellschaften, in welchen die modernenProduktionsbedingungen herrschen,“57 die allgemeine Äqui-valentform und Geldform. In ihr spiegelt und kristallisiert sichalle gesellschaftliche Arbeit, drückt sich alle Aktivität des ma-teriellen Lebensprozesses der warenproduzierenden Gesell-schaft als in ihrem Bilde aus: im Geld (Gold als „die spezifischeÄquivalentware“ und letztinstanzlich immer noch gültigeWertmateriatur). Das aktive Handeln der produzierenden ge-sellschaftlichen Subjekte reflektiert sich und bricht sich, ver-kehrt sich, erstarrt in eine ihm gegenüberstehende fremdeMacht in der Form dieses höchsten dinglichen Wertausdrucks,dem Geldkristall. Diese „Verrücktheit“ der aktiv/passiv-Ver-kehrung, dass ein passives totes Ding-Objekt (Geld, Gold), dasdie gesellschaftliche Arbeit nur darstellt, abbildet, „zurück-spiegelt“ (Marx), das gesellschaftliche Subjekt der Produktionseiner bewussten gesellschaftlichen Aktivität „berauben“ kann(priver: frz. „berauben, entziehen“), bringt die „Gesellschaftdes Spektakels“ auf die Pointe: „Das Spektakel ist die andereSeite des Geldes: das abstrakte allgemeine Äquivalent aller Wa-ren. (…) Das Spektakel ist das Geld, das man nur anschaut.“58

In der Form des Kapitals schließlich, als sichselbstverwerten-der Wert, ist die gesellschaftliche Produktion in ein „automa-tisches Subjekt“, einen „Automaten als Subjekt“59 verkehrt.Die Sprachform der kapitalistischen Warenproduktion ist dieBildersprache, in der alles Tun in Bildern verdinglicht ist. „Das

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Spektakel ist das Kapital, das einen solchen Akkumulations-grad erreicht, dass es zum Bild wird.“60 Damit lässt sich „dasSpektakel“ bestimmen als der gesellschaftliche „Ort desgetäuschten Blicks und des falschen Bewusstseins; und die Ver-einigung, die es bewirkt, ist nichts anderes als eine offizielleSprache der verallgemeinerten Trennung.“61 Die Trennung derProduzentInnen von ihren Produktions- und Lebensmittelnfällt zusammen mit der Trennung der Individuen voneinanderin Privatsubjekte; die Klassentrennung ist mit der Trennungder gesellschaftlich produzierenden PrivateigentümerInnen ge-setzt. „Der zerstückelte Leib“ des Proletariats fällt im „Traum-schlaf“ seiner Passivität,62 seines Objektseins, das heißt imÜberlebensalltag der Lohnarbeit, mit der ungeheuren Samm-lung hieroglyphischer Bilder zusammen. Es sind die warenför-migen Objektivationen und „Innervationen“ (Nervenimpulsedes Kollektivs)63 der GesamtarbeiterIn, aus deren Totalität(aber nur in den Monaden dechiffrierbar) als Spiegelschrift undBilderrätsel die potenzielle Macht, Geschichtsmächtigkeit alsaktives gesellschaftliches Subjekt zu lesen ist.64

DIE SITUATIONISTISCHE SPRACHKRITIK ALS BEDINGUNG IHRER PROLETARITÄTSKRITIK

Die von uns bis hierher versuchte Rückführung der situatio-nistischen Kritik auf die Kritik der politischen Ökonomie inihrer klassischen Marxschen Formulierung ersparte die SI sichund uns. Sie fasste nicht jedes Mal wieder „schwerfällig zu-sammen, was Marx über die Ware sagt“, und vermied es schon

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aus ihrem Stilempfinden heraus, „pedantisch an längst Be-kanntes zu erinnern.“65 Aber es sollte deutlich gemacht wer-den, dass die SI an die Marxsche Engführung von Bild-, Sprach-und Ökonomiekritik direkt wieder angeknüpft hat. In der dis-kursiven Ausdrucksform der wertförmigen Produktionsweisefindet sie die erstarrte Machtstruktur des Klassenverhältnisses:die gesellschaftliche Logik der Wertformgleichungen (Gleich-setzung im und durch das Handeln der Menschen) regelt dieökonomisch-gesellschaftlichen Praktiken ähnlich, wie die Syn-tax und Semantik die Verbal- und Textsprache (Interaktion imSprachhandeln der Menschen) regeln. Wie im Wertspiegel dasgesellschaftliche Handeln der Menschen und ihre Produkteverdinglicht werden, so versucht der sprachliche Ausdruck die-ses Handelns, die ideologische Grammatik der herrschendenGesellschaft, die Bedeutungen und Beziehungen der Worte zuverdinglichen, das heißt zu fixieren.66 Die Sprache des Kapitalsversucht über die des Werts hinaus nicht nur die Beziehung frei-er und gleicher Rechtssubjekte (Wareneigentümer) als gleich-sam naturgegebene festzuklopfen, sondern den Verwertungs-prozess ideologisch zu reproduzieren. Sie verdunkelt undnaturalisiert damit zugleich das grundlegende Klassenverhält-nis und seinen Zweck, die Produktion um der Produktion wil-len und zwar von Tauschwerten.67 Wertausdruck und trinitari-sche Formel drücken sich also ubiquitär im Sprachhandeln dermodernen Menschen als Worte und Bilder der hieroglyphi-schen Spiegelschrift der kapitalistischen Warenproduktionaus:68 als die „offizielle Sprache des Spektakels“.69

Bei der Strukturanalogie von fremdbestimmten Lohnarbei-terInnen und ideologisch determinierten Worten, Sätzen und

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Bedeutungen kann die situationistische Sprachkritik besondersaggressiv ansetzen. Sie versucht die Sprache der spektakulärenWarenproduktion schon auf der Ebene der Verbal- und Text-sprache, der herrschenden Semantik und Syntax, zu kippen, zuzertrümmern und experimentell in Bewegung zu bringen (einProgramm, mit dem im 20. Jahrhundert Dada begonnen hat-te, und das die LettristInnen, VorläuferInnen der SI, zu erneu-ern und zu radikalisieren versuchten). „Jede revolutionäre Pra-xis hat das Bedürfnis nach einem neuen semantischen Feld undder Bestätigung einer neuen Wahrheit gefühlt.“70

Die „Macht“ wird von der situationistischen Sprachkritikaus der erweiterten Reproduktion des verkehrten Subjekt-Ob-jekt-Verhältnisses versuchsweise in die Dynamik von Kampfund Krieg der Klassen getrieben.71 Die SI stellt die Machtfrageschon in der Sprache, wie sie die Machtfrage zwischen den Klas-sen neu stellt. Denn die bestehende „Koexistenz der Worte“ mitder herrschenden Macht der spektakulären Warenproduktionist der SI zufolge „vergleichbar mit der Beziehung, die die Pro-letarier“ mit ihr eingehen: Sie „arbeiten für die herrschende Or-ganisation des Lebens“, sind „fast immer beschäftigt, im vollenSinn und Unsinn ganztägig benutzt“, sind entfremdet usw.72

Die Worte sind in der herrschenden Sprache in den Dienst dergesellschaftlichen Produktionsweise gestellt. Zerstückelt undspektakulär zusammengesetzt erscheinen sie in verkehrter feti-schistischer Form: „In der Organisation der Sprache ist es zu ei-ner solchen Verwirrung gekommen, dass die von der Macht er-zwungene Kommunikation sich als Lug und Trug entpuppt.“73

Die SI führt damit aus den Ansätzen der diskursborniertenSprachkritik hinaus74 und spitzt sie direkt auf Proletarität und

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Praxis zu. „Indem die Sprachspezialisten behaupten, dass ‚dieWirklichkeit in der Sprache liegt‘, oder dass ‚die Sprache nuran sich selbst und für sich selbst betrachtet werden kann‘,schließen sie daraus auf die ‚Objektsprache‘ und die ‚Sach-worte‘ und ergötzen sich am Lob ihrer eigenen Verdingli-chung. Das Modell des Dings wird vorherrschend, und nocheinmal findet die Ware ihre Verwirklichung, ihre Dichter. DieTheorie des Staates, der Ökonomie, des Rechts, der Philoso-phie, der Kunst, alles hat jetzt diesen Charakter einer vorsorg-lichen Apologie.“75 Und die situationistische Sprachkritikscheut den Analogieschluss zwischen der historischen Stelleder „gefesselten Worte“, der „Worte und ihrer Arbeitgeber“und der historischen Stelle der proletarischen Kämpfe nicht:der Kampf um die Begriffe ist Dimension des Klassenkriegs,die darin rekuperierten „Worte sind wie die Waffen der Parti-sanen, die auf einem Schlachtfeld zurückgelassen wurden: siefallen in die Hände der Konterrevolution; und wie Kriegsge-fangene sind sie dem Regime der Zwangsarbeit unterwor-fen.“76 Die Sprachkritik der SI war insofern strategisch, als sieaus der historischen Defensive des revolutionären Proletariatsheraus die „Wiederkehr des Verdrängten“ zur Sprache brach-te, in einer Zeit, wo das revolutionäre Vermögen dieser Klasseendgültig begraben schien. Sie berief sich auf „die irreduziblenMomente“ des historischen Seins des „Erlebten“ in den Kämp-fen.77 Unter der Verschüttung durch die „ungeheure Waren-sammlung“, die zugleich als ungeheuerste Ansammlung vonBildern, Lebens- und Sprachklischees, Kultur- und Kunstpro-dukten erscheint, „drückt unser Wörterbuch das Qualitativeund den möglichen und noch abwesenden Sieg aus, das Ver-

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drängte der modernen Geschichte (das Proletariat) und dieRückkehr des Verdrängten.“78

Wie die SI „Proletariat“ als „das Negative in der Moderne“wiederfindet, so die kritische Sprache in der Moderne79 als„den aufrührerischen Stil der Negation.“80 Immer geht es ihrdabei um Aneignung, Plagiat, Entwendung, Zweckentfrem-dung etc. Da die SI nie von einer „Abschaffung der Arbeit“phantasiert, sondern mit Marx nüchtern feststellt, dass es sichbei der Aufhebung der Proletarität um die Emanzipation derArbeit und aller Arbeitenden handelt,81 fasst sie die zu befrei-ende Sprache auch nicht als Heideggersches „prison-house oflanguage“,82 sondern als Dimension der „Revolution im Dien-ste der Poesie“83. Sprache wird situationististisch als Ensemblealler Kulturobjektivationen begriffen und nicht als bloß refe-renzlose Zeichen, „Zeichen von Zeichen“, zusammenbrechen-de Signifikantenketten usw.

Die „Wiederkehr des Verdrängten“, das heißt die Negati-on der Negation durch Proletariat und Sprache, kann sich nurals Aneignung der gesellschaftlichen Raum-Zeit in Praxis um-setzen. Die situationistische Sprach- und Kunstkritik versuchtdie Beschränkung auf bloße „Überbauphänomene“ aufzubre-chen und ästhetische wie sprachliche Vermittlungen aus bloßerIdeologie zur „Waffe der Kritik“ und zur „Kritik der Waffen“in der gesellschaftlichen Basis, dem ganzen alltäglichen Lebenzu machen. Sie bringt einen historisch-emphatischen Begriffvon „Sprache“ erneut in Anschlag: Sprache nicht als bloße„Information“, sondern als entgrenzte Kommunikation in derBedeutung von „bewaffnetem Dialog“ und revolutionärer„Poesie“, die nicht bei papierenen „Anweisungen“ bleibt, son-

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dern sich im gesellschaftlichen Raum materiell zu vergegen-ständlichen sucht.84 Denn „was ist die Poesie anderes als der re-volutionäre Moment in der Sprache, der sich als solcher nichtvon den revolutionären Momenten der Geschichte und der Ge-schichte des persönlichen Lebens trennen lässt?“85

DIE „FLÜSSIGE SPRACHE DER ANTIIDEOLOGIE“86

UND DAS AUFBRECHEN DER HERRSCHENDENGESELLSCHAFTLICHEN RAUM-ZEIT

Das Schicksal des Surrealismus schien gezeigt zu haben, wieschnell die Praxis von „Poesie“, „Revolution“, „Kunst“ undSprache selbst zu Ideologie erstarren kann, wenn sie als ge-trennte Domänen nicht wirklich aufgehoben werden: das sur-realistische Programm, Kunst und Alltagsleben „im Diensteder Revolution „zusammenzuführen, war spätestens nach demZweiten Weltkrieg gescheitert. Die SI dagegen stieß sich als Er-gebnis der lettristischen Auseinandersetzungen von der Fixie-rung der Surrealisten auf die Bilderwelten der visuellen Kün-ste ab und kehrte die Parole um in das Programm: „DieRevolution im Dienste der Poesie“87. Das bedeutet für die SIdas Gegenteil der Phrase „Die Phantasie an die Macht!“ (dieman ihr nach 1968 rekuperatorisch angehängt hat). Umge-kehrt soll die Macht des ästhetischen Vermögens der Menschenals Aufhebung der Kunstsphäre durch die Verwirklichung dernicht eingelösten Kunstversprechen gesellschaftlich zur Gel-tung gebracht werden: „Nehmt eure Träume und macht sie zurRealität“.88

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Im Sinne der Rimbaudschen „Entgrenzung“89 setzte die SImit ihrer Alltagskritik praktisch als Kritik des kapitalistischenUrbanismus an.90 Die Konzeption hatte sie schon in der lettri-stischen Vorphase ausgehend von Ivan Chtchegloffs Entwurfder Methode einer „Psychogeographie“ in Verbindung mit derTechnik der „dérives“ entwickelt, das heißt ein Umherschwei-fen in den Stadtlandschaften, um die psychologischen Wirkun-gen sowie die communistischen Umgestaltungsmöglichkeitendes vorfindlichen Urbanismus zu erforschen. Zusammen mitdem „Détournement“ (Entwendung, Zweckentfremdung, Pla-giat) führte die SI diese Techniken in mediale „Aktionsformengegen Politik und Kunst“ kohärent zusammen.91

Das situationistische Postulat, „alles neu zu erfinden“, hatweder mit den diversen konstruktivistischen Spielarten nochmit poststrukturalistischer „Dekonstruktion“ zu tun, sondernist am ehesten mit Walter Benjamins Auffassung von der Ak-tualisierung des Unabgegoltenen der Geschichte der Besiegtenin „der konkret-geschichtlichen Situation (…) des Jetztseins(Wachseins!)“ und vom „dialektischen Bild“ verwandt: „DieKonstruktion setzt die Destruktion voraus“.92 Um inmittender spektakulären Zeit der Pseudo-Ereignisse (Moden) „dasrevolutionäre Projekt einer klassenlosen Gesellschaft, einesverallgemeinerten geschichtlichen Lebens“ und „das Pro-gramm einer totalen Verwirklichung des Communismus“ wie-der scharf zu machen wie einen Blindgänger, bezieht die SI im-mer wieder die Aktualität der Pariser Commune auf dieModerne der Sixties, insbesondere des Urbanismus, „als einpositives Experiment, dessen ganze Wahrheit noch nicht ent-deckt und vollendet ist.“93 Die durch und durch geschichtsbe-

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wusste Entwendung und Zweckentfremdung der aktuellenFormen und Moden des Urbanismus teilt die SI mit dem Pos-tulat Walter Benjamins: „diese dialektische Durchdringungund Vergegenwärtigung vergangener Zusammenhänge ist dieProbe auf die Wahrheit des gegenwärtigen Handelns. Dasheißt: sie bringt den Sprengstoff, der im Gewesenen liegt (unddessen eigentliche Figur die Mode ist) zur Entzündung.“94 Diesituationistische Technik des Détournement re-konstruiertzum Beispiel die vorfindbaren Comix im Unterschied „zurPop-art, welche die Comix zerstückelt. Wir haben es im Ge-genteil darauf abgesehen, den Comix ihre Größe und ihren In-halt wiederzugeben.“95

Als strategische Momente zur „Konstruktion von Situa-tionen“ sollen diese Techniken allen damit spielerisch Experi-mentierenden als kohärente Assoziation ermöglichen, „sicherst den revolutionären Ausgangspunkt zu schaffen, die Situa-tion, die Verhältnisse, die Bedingungen, unter denen allein diemoderne Revolution ernsthaft wird.“96 Mittels solcher ent-wendenden, experimentellen Wiederaneignung und Herstel-lung von Kohärenz könnten sich auch die Proletarisiertenselbst als gesellschaftliches Subjekt rekonstruieren, das heißtsich aus ihrem Objektstatus, der Situation passiver Betrach-terInnen spektakulärer Vergegenständlichungen (Architektur,Werbeästhetik, visuelle Medien etc.) aktiv emanzipieren undihre Ohnmacht überwinden.

Durch diese Strategie des Spielens würde sich ein raum-zeit-licher Aneignungsspielraum entlang der Taktik von „Stütz-punkten“ (SI) eröffnen, wo schon im Hier und Jetzt die fremd-bestimmte Arbeit angegriffen und dagegen die Perspektive von

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„travail attractif“ (Fourier, Marx) sinnlich evident aufgerissenwird. Dabei geht es nicht um ein Sich-Einrichten in tempo-rären Wohlfühlzonen, sondern um ein bewusst katastrophisti-sches Beschleunigungskonzept.97 In der Taktik des Einander-zuarbeitens von sinnlich evokativer Zweckentfremdung derspektakulären Bilder (Destruktion) und Versprachlichung derverdrängten und vorbewussten „inneren“ Bilder kann aus je-der Situation heraus eine Selbstorganisierung zur revolutionä-ren „Klasse des Bewusstseins“ begonnen werden. Bedingungfür eine Konstruktion der revolutionären Situation ist zualler-erst das Lesenlernen, das Dechiffrieren der hieroglyphischengesellschaftlichen Praxisformen und ihre Deutung als Theo-riebildung.

Durch die „Praxis der Theorie“ und schließlich „die Theo-rie der Praxis, (…) indem sie zu praktischer Theorie wird“98

könnten die Leute ihre unbewusste Angst überwinden „vorder unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke“(Marx). In dieser historisch-praktischen Spannung, in der sichdie SI lediglich als bewusstes, versprachlichendes Element be-greift, ist sie „also weder eine politische Bewegung noch eineSoziologie der politischen Mystifikation. Sie beabsichtigt, derhöchste Grad des internationalen revolutionären Bewusstseinszu sein. Deshalb bemüht sie sich darum, die Verweigerungsta-ten und die Zeichen der Kreativität, welche die neue Gestaltdes Proletariats umreißen, und den unerbittlichen Willen zurEmanzipation zu erhellen und zu koordinieren.“99

Die situationistische Kritik hat damit einen Konstrukti-onshorizont sichtbar gemacht. Der globale Handlungsspiel-raum, den die „Konstruktion von Situationen“ eröffnet, for-

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dert nun die theoretische Konzentration auf das vertrackteSubjekt-Objekt-Verhältnis im proletarischen Sein und Be-wusstsein. Wie kann das Bewusstsein der potenziellen Subjek-te zum „übergreifenden Moment“ für das gesellschaftliche Seinwerden, wie es Marx ausgedrückt hätte?100

PROLETARIAT ALS OBJEKTIV NICHTVERFÜGENDEKLASSE UND SUBJEKTIV „DIE DAS WISSEN“

Was steht der Entwicklung zur „Klasse des Bewusstseins“ sub-jektiv entgegen?101 Um das zu enträtseln, erforschte die SI inihrer Zeit die objektive Macht-/Ohnmacht-Konstellation inder „gesellschaftlichen Raum-Zeit“ (SI). Sie tat dies jedochnicht als Standpunktdenken, sondern umgekehrt als „negativeVerortung“.

Historisch wie logisch zeigt die Spektakelkritik in einersubjektivitätstheoretischen Entfaltung der Kritik der politi-schen Ökonomie das Proletariat als den Prozess der Negation(in) der modernen Gesellschaft, Negation des nichtkapitalisti-schen Eigentums und „Negation der Negation“ als historisch-ökonomische Tendenz. Durch die Subsumtion unters Kapitalwird die Arbeitskraft zur Ware, die „Proletarisierung derWelt“ (SI) vollendet sich mit dem Weltmarkt.102 Der Prozessder doppelten Negation – a) durch das Kapital und b) im Wi-derspruch zum Kapital, beides als das allgemeine Gesetz derkapitalistischen Akkumulation –103 ist „die Schattenseite“ derWeltbürgergesellschaft und als Tendenz „die wirkliche Bewe-gung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“.104 Die Situatio-

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nistInnen verorteten sich existenziell und deshalb auch sub-jektiv als Bestandteil dieses Negativen, dieser „Schattenseite“der modernen Gesellschaft.105

Sie bezogen schon aufgrund ihrer Selbstbezeichnung kein-erlei „Klassenstandpunkt“, der als fester archimedischer Punktzu nehmen wäre, von dem aus das spiegelbildliche Ideal einer„Gesellschaftsordnung“ erziehungsdiktatorisch durchsetzbarsei, nach deren Bilde es die Menschen „zu modeln“106 gälte. Siebestimmten ihr Theorie/Praxis-Verhältnis situationsbezogenzwischen den Spannungspolen der condition prolétarienne, dasheißt der als Ware Arbeitskraft objektiv vorgefundenen indi-viduellen „Lebenssituation“ (Marx) einerseits und der Aufhe-bung dieser Situation im gesellschaftlichen Maßstab anderer-seits, das heißt der Zielbestimmung, dass sich diese besondereKlasse von Menschen als Klassifizierte selbst „abschafft“, in-dem sie die Klassentrennung der Gesellschaft insgesamt ab-schafft. Diese Ausgangssituation als Partikel einer Masse lohn-abhängiger Individuen – und sonst nichts – teilten dieSituationistInnen mit dem Proletariat. „Das Kapital hat fürdiese Masse eine gemeinsame Situation (Hrvbg. BBZN), ge-meinsame Interessen geschaffen“,107 so schon Marx. Durchdas Kapitalverhältnis werden die Individuen als disponible„Masse“ zur Klasse an sich, negativ, als eine zunächst unbe-stimmte Proletarität gemacht, das heißt zur Klasse aller, dievom Eigentum an den gesellschaftlichen Produktionsbedin-gungen ausgeschlossen sind und die gegeneinander um denVerkauf ihrer Arbeitskraft an jene Eigentümer konkurrierenmüssen. Diese Marxsche Bestimmung ist in der situationisti-schen Klassenanalyse aufgehoben und fokussiert: „Der Zweck

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der hier nachvollzogenen Scheidelinie zwischen denen, die dieRaum-Zeit organisieren (sowie den ihnen unmittelbar dienen-den Agenten) und denen, die diese Organisation erleiden müs-sen, ist es, der kunstvoll gesponnenen Kompliziertheit derFunktionen- und Lohnhierarchien zwei deutlich festgelegtePole zu geben, da jene Hierarchien vermuten lassen sollen, dasses an beiden Enden einer äußerst dehnbar gewordenen sozialenKurve kaum mehr wirkliche Proletarier oder wirkliche Ei-gentümer gibt.“108

Aus der Latenz dieser widerspruchsgeladenen Situationenentwickeln sich aber unweigerlich immer wieder manifeste Be-strebungen und Konflikte mit dem Ziel der Aufhebung dieser„Trennungen“ (SI). Historisch gebrochen und diskontinuier-lich, aber notgedrungen immer erneut „findet sich diese Mas-se zusammen, konstituiert sie sich als Klasse für sich selbst.“109

Entgegen dem Vorwurf, dass diese Ebene der Auseinanderset-zungen ökonomistisch und „trade-unionistisch“ sei, resü-mierte die SI noch zuletzt ganz nüchtern und unoriginell: „DieArbeiter haben für ihren unerlässlichen ökonomischen Kampfein unmittelbares Bedürfnis nach Zusammenhalt. Die Erfah-rung, wie sie diesen Zusammenhalt selbst herstellen können,beginnen sie in den großen Klassenkämpfen zu machen, die füralle im Konflikt befindlichen Klassen immer zugleich auch po-litische Kämpfe sind. In den täglichen Kämpfen jedoch – demprimum vivere der Klasse -, die lediglich Kämpfe ökonomi-scher und professioneller Natur zu sein scheinen, haben dieArbeiter diesen Zusammenhalt zunächst durch eine bürokra-tische Führung erhalten, die sich in diesem Stadium in derKlasse selbst rekrutiert hat.“110 Diese kadermäßigen Reprä-

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sentationen der Proletarisierten führen als ihre Argumentationund Legitimation naturgemäß immer „den Klassenstandpunkt“ins Feld, schon aufgrund ihrer Funktionärsargumentation, dieeben nur als betrieblich-gewerkschaftliche „Standpunktvertre-tung“ im Clinch mit der „Kapitalseite“ funktioniert, sowie auf-grund ihrer eigenen konservativen Ideologie der Besitzstands-wahrung des Erreichten und des Erhalts ihrer Positionen.

Aber auch mit dem flexibleren „Arbeiterstandpunkt“-Den-ken etwa des Operaismo111 hatten die SituationistInnen nichtsam Hut, weil ihnen das Bild von dem „subalternen“, mit seiner„Arbeitercommunity“ mystifizierten „neuen Arbeitertyp“112,dem „Massenarbeiter“, der immer und überall gegen „die Ar-beit“ und für „Alles“ kämpfe, fern lag. Leider ging die SI demzeitgleich entstandenen klassischen Operaismus aus dem Weg,der meinte, dass je länger je mehr „der Hass gegen die Arbeit“das Kapital schon von selbst in die Flucht über den ganzenErdball jagt.113 Dagegen kam es den SituationistInnen alleinauf die Selbstausbildung der Proletarisierten zur „Klasse desBewusstseins“ an.114 Erst ihr selbst angeeignetes und ange-wandtes, durch nichts und niemanden ersetzbares Wissen kön-ne die Mehrheit der ArbeiterInnen schließlich zur Klasse-an-und-für-sich als revolutionärer Macht zusammenschließen:115

zur ungeteilten communistischen Rätemacht. Die SI betonte: „Wie bekannt, neigen wir keineswegs zu ir-

gendeiner Art Proletkult. Es handelt sich dabei um ‚Dialekti-ker gewordene‘ Arbeiter, wie sie es massenweise bei der Aus-übung der Macht der Räte werden müssen. Andererseits abersind immer noch und immer wieder die Arbeiter die zentraleKraft, die den Lauf der Geschichte zum Stillstand bringen

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kann und unerlässlich dafür ist, deren gesamte Grundlage neuzu erfinden.“116

Die Übergangstheorie der SI ging mit Marx von der Not-wendigkeit der Durchsetzung einer communistischen Pro-duktion und Verteilung im Weltmaßstab aus, welche „die ge-neralisierte Selbstverwaltung“117 erfordert, als „die endlichentdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befrei-ung der Arbeit sich vollziehen könne“,118 das heißt die der Rä-te bzw. der Commune. Hierbei scheute sie keineswegs dasSchreckwort von der unabdingbaren „anti-staatlichen revolu-tionären Diktatur des Proletariats“.119

Die Spannung von der gewöhnlichen ohnmächtigen Le-benssituation der vereinzelten Einzelnen im kapitalistischenAlltag hin zu der angestrebten klassenlosen und staatenlosen„Befreiung der menschlichen Geschichte“120 ist eine Span-nung zwischen zwei historischen Situationen, in der sich dieProletarisierten in den geschichtlichen Kämpfen immer wiederneu befinden, solange die kapitalistischen Verhältnisse nichtüberwunden sind. Hier gilt es auch immer wieder, aktiv sichvom individualisierten Überleben als bloße Klasse an sich inder „Armut im Reichtum“ (SI)121 zum Organisierungsgrad derKlasse für sich selbst heranzuarbeiten, sich „im geschichtlichenKampf (…) die Herausbildung der proletarischen Klasse alsSubjekt“ zum Zweck und Ziel zu setzen, „bis die Situation ge-schaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht“.122

Durch ihre prinzipielle Orientierung ohne Standpunkt hat-te die SI „das Projekt einer permanenten Revolution auf nichtzu erschöpfende Weise entworfen. Unsere Lage ist die zwi-schen zwei Welten: die eine erkennen wir nicht an, während die

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andere noch nicht existiert. Es kommt darauf an, den Zusam-menstoß vorzubereiten. Das Ende einer Welt zu beschleuni-gen, die Katastrophe, bei der die Situationisten die ihrigen er-kennen werden.“123

DIE „WIEDERKEHR DES VERDRÄNGTEN“ IN DER KLASSENAMBIVALENZ

Die SI konnte nur deshalb mit dem Katastrophischen in derGeschichte124 spielen, weil sie die Katastrophe (hebräisch: Shoah)125 des 20. Jh. und der bisherigen Gattungsgeschichteausblendete. Die Chiffre Auschwitz bezeichnet nicht irgend-eine historische Katastrophe unter den zahlreichen anderender Geschichte, sondern den Untergang der historischen Mög-lichkeit, dass als menschliche Gattungsgeschichte angesichtsdieses ihres Bruchs „es ‚so weiter‘ geht“126, ebenso bezeichnetsie den fälligen Untergang aller Vorstellungen der revolu-tionären Arbeiterbewegung von bruchlosem Weitermachennach ihrem historischen Versagen. Sie setzte den Akzent nurabstrakt auf die Möglichkeit und Notwendigkeit der Klassedes Bewusstseins und weigerte sich, über das jeder Zeit mög-liche Umschlagen vom „progressiven Menschenpack“127 in„regressives Pack“, in den virtuellen, mörderischen Mob desproletarisierten „Volks“ mit seinen gebündelten Idiosynkra-sien überhaupt zu sprechen.

Die SI verkannte damit, was Adorno im Angesicht der be-ginnenden Shoah diagnostiziert hatte: die gigantische epocha-le Verschiebung, die mit der ab 1933 in Deutschland gelingen-

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den antisemitischen Verdunkelung und Verdrängung des Pro-letariats als „den Gegenpunkt zur Konzentration derMacht“128 und seine Ersetzung durch „den Weltfeind Juden-tum“ als den Gegenpunkt und das Vernichtungsobjekt der ka-pitalistisch-proletarisch verklammerten „Volksgemeinschaft“zustande gebracht worden war. Damit übersah die SI auch diedoppelte Abspaltung: a) Ein Teil des Weltproletariats spaltetesich von diesem konterrevolutionär ab, nämlich als die „deut-sche Revolution“ des NS: im Bild der „Prolet-Arier“ (FranzNeumann). b) Durch die Unterwerfung unter die Identität„der gute deutsche Arbeiter“, „der anständige deutsche Bür-ger“ und „aktive Volksgenossen“ als Selbstbild spalteten sie so-zialpsychologisch das Bild vom revolutionären Proletariat aussich selber endgültig ab (Subversion, Revolution, Kosmopoli-tismus, Marxismus, Intellektualität, kritische Zersetzung desBestehenden – kurz: Negativität) und projizierten es als Wahn-bild auf „die Juden“, um es – überblendet mit dem Wahnbildvon den „Geldmenschen“, „dem Finanzjudentum“ und derabstrakten Arbeit sowie aller „Nichtarbeit“, also der Vorstel-lung von der Bourgeoisie und der ganzen unbegriffenen Wi-dersprüchlichkeit des Kapitalismus – in Gestalt der als „jü-disch“ selektierten Menschen physisch zu vernichten. Dasmassenmörderisch-spektakuläre Bild vom „Weltjudentum“war stets „antikapitalistisch“ und anticommunistisch überde-terminiert, der Antisemitismus als moderne Weltanschauung indiesem Bilde „systematisch“ in sich geschlossen.

Die kritische Theorie der „Frankfurter Schule“ geriet imBann des historischen Erkenntnisschocks angesichts dieser mo-dernen massenpsychotischen Verblendung tendenziell in eine

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resignative und religioide Lähmung. Obwohl sie (auf esoteri-sche, verkümmernde Weise) weiterhin die Möglichkeiten fürproletarische, communistische Revolution reflektierten,129

wurden Adorno und Horkheimer als institutionalisierte Den-ker viel fataler auf die Seite des bürgerlichen Gewaltmonopolsgetrieben, als sie bei Gründung des „Instituts für Sozialfor-schung“ je beabsichtigt hatten.

Die situationistische Kritik der „Gesellschaft des Spekta-kels“ könnte mit ihrem Analyseinstrumentarium aus diesemBann „des Verhängnisses“ und der Verblendungsgeschlossen-heit im bisherigen Resultat der Gattungsgeschichte einenAusweg aufzeigen. Die SI selbst entwickelte dieses Instru-mentarium zwar nur äußerst rudimentär in Hinblick auf „denFaschismus“ im Allgemeinen und gar nicht in Bezug auf diedeutschen Zustände im Besonderen, wie sie im NS und im eli-minatorischen Antisemitismus gipfelten. Aber mit der kriti-schen Theorie in der Variante von Adorno hat sie die Aus-gangsbasis gemeinsam: sie fußt auf der kritischen Theorie des„Historischen Materialisten“ Walter Benjamin. Während je-doch Adorno am Schluss nahezu verzweifelnd die „Metaphy-sik im Augenblick ihres Sturzes“130 beschwor, wendete die SIdas Benjaminsche Postulat einer „negativen Theologie“ in demihr eigenen Denkstil eines revolutionären „Chiliasmus“ kon-sequent in historisch-materialistischer Richtung.131 Ohne dassdie Benjaminschen Thesen „Über den Begriff der Geschichte“jemals explizit erwähnt werden (die aber seit 1947 bereits inFrankreich bekannt waren), treten deren wesentliche Motivein der situationistischen Geschichtstheorie immer wieder her-vor, so die Kritik am fortschrittsgläubigen Warten auf „die re-

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volutionäre Situation“ in der Tradition der organisierten Ar-beiterbewegung, deren Attentismus Benjamin angesichts ihresendgültigen historischen Fiaskos 1940 die jüdisch-communi-stische Haltung in der Marx-Linie, „im Eingedenken“ der un-abgegoltenen revolutionären Möglichkeiten des bisher besieg-ten Proletariats „als die rächende Klasse“ entgegensetzt: „Marxhat in der Vorstellung der klassenlosen Gesellschaft die Vor-stellung der messianischen Zeit säkularisiert. Und das war gutso.“132 Benjamins Theorie vom „dialektischen Bild“ als „dasZeichen einer messianischen Stillstellung des Geschehens, an-ders gesagt, einer revolutionären Chance im Kampfe für dieunterdrückte Vergangenheit“,133 wurde von der SI auf ihre ei-gene Weise entfaltet.

In ihrer Kritik der spektakulären Warenproduktion alskulturindustrieller Bilderproduktion, der verkehrten Totalitäteiner zutiefst in Klassen getrennten modernen Gesellschaftbegreift sie den fetischistischen „Verblendungszusammen-hang“ ganz ähnlich wie Adorno:134 „In der wirklich verkehr-ten Welt ist das Wahre ein Moment des Falschen“.135 So kanndie hypnotische Verkehrung vom proletarisierten Objekt instatsächlich volksgemeinschaftlich aktivierte „Subjekt“ im„konzentrierten Spektakulären“ des NS ähnlich begreifbarwerden, wie es Adorno wegbereitend schon mit seiner Analy-se „Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischenPropaganda“136 (dt.1951) gelang, und was Benjamin im Ansatzschon 1936 mit seiner Erkenntnis von der „Ästhetisierung derPolitik“ andeutete, vermittels derer die faschistisch formierte„Menschheit (…) ein Schauobjekt (…) für sich selbst gewor-den“ sei.137

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Das „dialektische Bild“ bezeichnet die Möglichkeit desAufsprengens jener scheinbar geschlossenen fetischistischenSubjekt-Objekt-Verkehrung: das Zerschlagen des gigantischen„Wertspiegels“ und das Enträtseln der gesellschaftlichen Ver-hältnisse der Menschen als sachlichen „Hieroglyphen“. Denndie massenmörderische, modern-kannibalische Hieroglyphe,die es zu enträtseln und deren gesellschaftliches Substrat esendlich zu zerschlagen gilt, erfordert „die Dialektik im Still-stand“. Dies ist das historische Stillstellen für die Erkenntnis,die ein gesellschaftliches Erwachen aus dem Albtraum der Vor-geschichte ermöglichen kann, indem es deren Dialektik be-greift: „Dialektik im Stillstand – das ist die Quintessenz derMethode.“138 Das fixierte Bild ist dagegen zugleich seine ge-sellschaftliche Enthistorisierung, Mythologisierung, und zu-gleich sein historistisches Einfrieren, ein archaisches Bild.139

Nur „dialektische Bilder (…) sind echte (d.h.: nicht archaische)Bilder; und der Ort, an dem man sie antrifft, ist die Spra-che.“140 Wie der Spiegel des Perseus kann nur noch diese dia-lektische Form der historischen Reflexion, begriffen „als eineGefahrenkonstellation“ (Benjamin), dem Bann des Anblicksder Katastrophe entkommen, indem sie Abbildung und Be-griffssprache zugleich suspendiert und gebrochen offen hält –damit das ungeheuerliche Haupt der gesellschaftlichen Natur-wüchsigkeit doch abgeschlagen werden kann.

Als aktualisierendes Forschungsprogramm wäre die Spek-takeltheorie der SI – nicht gegen die Kritische Theorie Ador-nos, sondern als deren überlebensfähiger „siamesischer Zwil-ling“ und „Wiederkehr des Verdrängten“ – in einer kollektivenKritik aufzugreifen, zu retten und weiterzuentwickeln für die

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Reflexion dessen, was die SituationistInnen selber noch aus-blendeten:141 die katastrophale Verschiebung innerhalb desverkehrten „identischen Subjekt-Objekt“ Lohnarbeit-und-Kapital in den fetischistischen Gestaltungen der modernstenantisemitischen Alltagsreligion. Im Selbstbild der „aktiven“Volksgemeinschaftlichkeit konnte – und kann jederzeit wieder– die revolutionäre Proletarität, das Negative zum Bestehen-den, als Feindbild abgespalten und „eliminiert“ werden. Dieser„Verblendungszusammenhang“ ist aber nicht bloß geschichts-fatalistisches „Verhängnis“ der resultativen Wirklichkeit nach(dann hätte Hitler doch recht behalten), sondern auflösbar dermateriellen und psychosozialen Möglichkeit nach – allerdingseinzig und allein durch so etwas wie „die Klasse des Bewusst-seins“, und durch keine andere Macht dieser Welt. Diese bil-det sich aus in den Kämpfen, in denen sie sich in die aktuelleGefahrenkonstellation begibt und in diesen ihren historischenBlick „im Jetzt der Erkennbarkeit“ schärft, genau im Begreifen,der Entwendung und Destruktion der herrschenden, spek-takulären Bilder. „Entscheidend ist weiterhin, dass der Dialek-tiker die Geschichte nicht anders denn als eine Gefahrenkon-stellation betrachten kann, die er, denkend ihrer Entwicklungfolgend, abzuwenden jederzeit auf dem Sprunge ist.“142

Um sich vom Pol und Sog der Vermobbung und Abspal-tungen in der gegenseitigen Konkurrenz weg zu bewegen hinzur Selbstorganisierung als „die Klasse des Bewusstseins“, gäl-te es dann die situationistische Konstruktion der „lesendenund Dialektik lernenden“143 ArbeiterInnen aufzugreifen. „Le-sen“ in der situationistischen Bedeutung von umfassenderSelbsttätigkeit bei der Dechiffrierung und Realisierung der

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„Träume“, „Gesten des revolutionären Begehrens“ im moder-nen Proletariat, den Kulturobjektivationen seines „Traum-schlafs“ heißt dann experimentelles und assoziiertes Aufbre-chen des kapitalistischen Alltags und Aufhebung der Kunst alsgetrennter Sphäre und Sphäre der Trennung. Das Lesen bein-haltet damit die sinnlich-evokative und performative Vermitt-lungsarbeit, die mit der theoretisch-begrifflichen einhergehenmuss, und daraus resultierend die Freisetzung der ästhetischen„Welt produktiver Triebe und Anlagen“144 in den gesellschaft-lichen Individuen. Assoziieren sich diese auf welthistorischem,cosmopolitischem Terrain, hören sie auf ihre Proletarität weiterzu verdrängen und „national“ bzw. rassistisch-projektiv undvor allem latent bis manifest antisemitisch von sich selbst ab-zuspalten (virulent im staats-partei-sozialistischen Kosmos der„nationalen Arbeiterklassen“ als gern geschürtes Ressentiment„gegen Kosmopolitismus=Zionismus“ etc.). Indem sich dieSituationistInnen von vornherein als „Internationale“ organi-sierten, sowie durch ihre global angelegte „Stützpunkte“-Kon-zeption, die zuweilen in ihrem spielerischen Als-Ob vor demKokettieren mit Größenwahn nicht zurückschreckte,145 be-zogen sie sich jedenfalls direkt auf die erste Internationale Ar-beiterassociation. Deren Leistung hatte Marx darin zusam-mengefasst, „die Gesamtarbeiterklasse zu einem Bunde zuvereinigen und zum ersten Mal den herrschenden Klassen undihren Regierungen die cosmopolitische Macht des Proletariatsfühlbar zu machen“146. Nur dann kann es ihnen auch möglichsein, von den spektakulären Fixierungen im Bild einer bloßenMob-Multitude sich zu lösen und sich als geschichtsmächtigeGesellschaftsindividuen neu zu erfinden.

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Die Kategorie „Proletariat“ ist somit – situationistisch be-griffen – nicht mehr und nicht weniger als ein Ort der Ausein-andersetzung. Diesen Ort gilt es zunächst grausam-gründlichzu rekonstruieren, um in diesem Prozess als „Klasse des Be-wusstseins“ alle spektakulären Bilder und die offizielle Spra-che von „der Klasse“ zu dechiffrieren um sie zu destruieren.Die „Klasse des Bewusstseins“, die sich erst in dieser „Arbeitdes Begriffs“ selber konstituiert, kann nur die historischeÜberwindung dieser ökonomisch bedingten und alle Lebens-bereiche strukturierenden Klassifizierung von Menschen zumZiel haben. Dazu werden keine politischen Labels mehrbrauchbar sein. „In der bestehenden Ordnung, wo das Dingden Platz des Menschen einnimmt, ist jede Etikettierung kom-promittierend. Das Etikett aber, das wir uns ausgewählt haben(„situationistisch“, Anm. BBZN), (…) wird im übrigen dannverschwinden, wenn jeder von uns zum vollberechtigten Si-tuationisten geworden und kein Prolet mehr ist, der für dasEnde des Proletariats kämpft.“147

Das Dilemma, die „Spaltung“ der kritischen Theorie fürden Communismus bleibt bis heute äußerst schmerzhaft offen:das Unvermögen, jeweils das Verdrängte, die emanzipativeMöglichkeit eines revolutionären Proletariats einerseits unddie barbarische Möglichkeit von „Auschwitz und ähnlichem“andererseits, historisch in Hinblick auf „das Werk der Befrei-ung“148 zusammenzudenken.

1 Situationistische Internationale 1958-1969. Gesammelte Ausgaben des Organs derSituationistischen Internationale, Bd. 1. Hamburg 1976, S. 13

2 Wir unterscheiden zwecks Vereinfachung der Darstellung hier die situationistischeKlassentheorie von der konkreten Klassenanalyse der SI. Letztere umfasst eine Ski-zze der Klassenzusammensetzung im „consumer capitalism“ zu Anfang der 1970er

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Jahre und Reflexionen zur Facharbeiterschicht, zur leninistischen Legende von der„Arbeiteraristokratie“, zur Metamorphose des „Kleinbürgertums“ und vor allemzur Schicht der „Führungskräfte“ und ihrer Habitus-Hierarchie. Sie nimmt darin– allerdings mit unvergleichlicher Tiefenschärfe – die Ergebnisse um einige Jahrevorweg, mit denen der Soziologe Bourdieu etwas später Furore machte. Diese SI-Klassenanalyse letzter Hand ist übrigens kaum bekannt, auch kaum zugänglich (Si-tuationistische Internationale: Die wirkliche Spaltung der Internationalen. Öffent-liches Zirkular der Situationistischen Internationalen. Düsseldorf 1973, S.64-78), sieist auf diesem knappen Raum nicht darstellbar. Wir beschränken uns deshalb aufden Kern der situationistischen Klassentheorie: die Kategorie „Proletariat“.

3 Situationistische Internationale (SI) 1958-1969. Gesammelte Ausgaben des Or-gans der Situationistischen Internationale. Bd. 2. Hamburg 1977, S. 320

4 ebd.5 Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Marx-Engels-Wer-

ke (MEW), Bd. 42, Berlin 1983 (1857/58), S. 256 SI, Bd. 2, a. a. O., S. 2597 vgl. Adorno, Theodor W. u. a.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziolo-

gie. Neuwied – Berlin 1969; zusammengefasst in: Adorno, Theodor W.: Gesell-schaftstheorie und empirische Forschung. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd.8, Frankfurt/M. 1997, S. 538-546

8 SI, Bd. 1, S. 2669 „All the Kings Men“ ist der Titel eines Zeitschriftenartikels der SI, in dem sie auf

„Alice in Wonderland“ anspielend den Entwurf einer situationistischen Sprachkri-tik unternimmt. („All the King‘s horses and all the King‘s men / couldn‘t putHumpty Dumpty in his place again.“ Carroll, Lewis: Through the Looking Glass,And what Alice found there. In: Alice‘s Adventures in Wonderland. Baltimore 1971,S. 268. Es geht um die Bedingungen der Definitionsmacht: „That‘s a great deal tomake one word mean,“ Alice said in a thoughtful tone. „When I make a word do alot of work like that,“ said Humpty Dumpty, „I always pay it extra.“ ebd., S. 274)

10 Die SituationistInnen kannten beispielsweise Hegels Bestimmung der Substanzia-lität als „die absolute Formtätigkeit“, das heißt – im neueren Sprachgebrauch – alsein sich historisch entwickelndes Dispositiv. Sie hatten gelernt, dass die Kritik derpolitischen Ökonomie ohne die Marxsche Bestimmung der Arbeit als „Substanzdes Wertes“ überhaupt nicht möglich ist usw. (Zu dieser klassischen Terminologie,auf die die SI zurückgreift, siehe Biene Baumeister Zwi Negator: SituationistischeRevolutionstheorie. Vol. II: Kleines Organon, Stuttgart 2005, S. 224f.)

11 The Cheshire Cat: eine sphinx-artige getigerte Katze, bei der sich Alice Orientie-rung zu holen versucht. Lewis, a. a. O., S. 87-91, 112ff.

12 SI, Bd. 2, a. a. O., S. 28613 ebd., S. 3714 „Die Arbeiterklasse ist revolutionär oder sie ist nichts.“ MEW 31, S. 446; siehe

auch SI, Bd. 1, a. a. O., S. 13

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15 SI, Bd. 2, a. a. O., S. 18; Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten. Ham-burg 1995, S. 160

16 Marx, Karl/Engels, Friedrich: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kri-tik. In: MEW 2, Berlin 1972 (1845), S. 37

17 Marx an Engels 13.2.1863, MEW 30, S. 32418 Der Beginn einer Epoche, a. a. O., S. 23119 ebd., S. 160; SI, Bd. 2, a. a. O., S. 1820 Dies war ein Grund mehr, die erste deutschsprachige Gesamtdarstellung der

situationistischen Theorie genau als Herausarbeiten ihres unbekannten (bzw.bestgehassten) Gesichts zu konzipieren: der situationistischen Hegel-Marx-Freud-Lukács-Benjamin-“Orthodoxie“. Siehe: Biene Baumeister Zwi Negator. Situa-tionistische Revolutionstheorie. Eine Aneignung. 2 Bände. Stuttgart 2004 und 2005

21 SI, Bd. 2, a. a. O, S. 279; Der Beginn einer Epoche, a. a. O., S. 242, Herv. BBZN22 Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. Opitz, Michael (Hg): Walter

Benjamin. Ein Lesebuch. Frankfurt/M. 1996, § 1 23 Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. MEW 23,

Berlin 1993 (1872), S. 64224 Der Begriff „Lebenssituation“ geht auf den frühen Marx zurück. vgl. Marx/En-

gels: Die heilige Familie, a. a. O., S. 36f.25 Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. MEW

25, Berlin 1973 (1894), S. 82726 Adorno, Theodor W.: Reflexionen zur Klassentheorie. In: Ders.: GS 8, Frank-

furt/M. 1997 (1942), S. 376. So auch: „Die verlogene Leugnung der Klassen be-wog die verantwortlichen Träger der Theorie, den Klassenbegriff selber als Lehr-stück zu hüten, ohne ihn weiterzutreiben. Damit hat die Theorie sich Blößengegeben, die Mitschuld tragen am Verderb der Praxis. Die bürgerliche Soziologiealler Länder hat sie sich weidlich zunutzegemacht.“ ebd., S. 381

27 Marx, Karl: Thesen ad Feuerbach. In: MEW 3, Berlin 1978 (1845), S. 5f.28 SI, Bd. 2, S. 8729 vgl. Silver, Beverly: Forces of Labour. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit

1870. Berlin – Hamburg 2005, S. 178, 162, 165f., 200f. sowie Graphiken S. 161, 17830 „enfants perdus“ (franz.: „verlorene Kinder“; ursprünglich militärischer Termi-

nus): verlorener Haufen, verlorener Posten, versprengte Kontingente hinter denfeindlichen Linien.

30 Devise schon der ganz jungen PräsituationistInnen: „Ne Travaillez Jamais“ (Graf-fito Paris 1953, dokumentiert in der SI-Revue N°8/1963 und N°12/1969 (SI, Bd.2, S. 51, 341)

32 So wie Marx bei der Herausentwicklung der „Arbeit sans phrase“ schon feststell-te: „Die Gleichgültigkeit gegen die bestimmte Arbeit entspricht einer Gesell-schaftsform, worin die Individuen mit Leichtigkeit aus einer Arbeit in die andreübergehn und die bestimmte Art der Arbeit ihnen zufällig, daher gleichgültig ist.Die Arbeit (…) hat aufgehört als Bestimmung mit den Individuen in einer Be-

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sonderheit verwachsen zu sein. Ein solcher Zustand ist am entwickeltsten in dermodernsten Daseinsform der bürgerlichen Gesellschaften – den Vereinigten Staa-ten.“ Marx: Grundrisse, a. a. O., S. 38f.

33 Damit knüpften sie erkenntniskritisch wieder an Marx an, der Kategorien als Aus-druck von „Daseinsformen, Existenzbestimmungen“ (ebd., S. 40) fasst, nicht alsbloße Denkkategorien. vgl. Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., §2

34 SI, Bd. 2, a. a. O., S. 18535 Marx, Karl: Randglossen zu Adolph Wagners „Lehrbuch der politischen Öko-

nomie“. In: MEW 19, Berlin 1973 (1879/80), S. 36936 vgl. SI, Bd. 2, a. a. O., S. 378ff. Die Metapher des „Spiegels“ (vgl. Marx: Das Ka-

pital, Bd. 1, a. a. O., S. 67, Fußnote 18,94) ist hierbei entscheidend und kann garnicht überschätzt werden. Schon etymologisch ist im Wort „Spektakel“ der Spie-gel und das Gespenst enthalten (lat. speculum: Spiegel; spectaculum: Schauplatz,Zuschauerplatz, Theater, Schauspiel, Anblick; spectrum: Bild in der Seele, Vor-stellung; franz. spectacle: Anblick, Schauspiel, Rummelplatz; spectre: Gespenst,Schreckbild) und wird von der situationistischen Kritik methodisch eingesetzt.

37 Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., § 21838 Marx: Das Kapital, Bd. 1, a. a. O., S. 8839 Marx: Das Kapital, Bd. 3, a. a. O., S. 83840 ebd., S. 82341 SI, Bd. 2, a. a. O., S. 27942 Marx über die Äquivalentform, das heißt den Wertausdruck, „Wertspiegel“, der

„als Wertkörper …, als Materiatur menschlicher Arbeit,“ als „die gemeinsameWertgestalt dieser Welt“ benutzt wird: „Ihre Körperform gilt als die sichtbare In-karnation, die allgemeine gesellschaftliche Verpuppung aller menschlichen Ar-beit.“ Das Kapital, Bd. 1, a. a. O., S. 67, 81

43 Marx: Das Kapital, Bd. 3, a. a. O., S. 83344 ebd., S. 88445 Ruben, Peter: Über Methodologie und Weltanschauung der Kapitallogik. In: So-

zialistische Politik, Nr. 42, 1977, S. 5046 Marx, Karl: Das Kapital (Urausgabe 1867). Hildesheim 1980, S. 2747 „Es ist mit solchen Reflexionsbestimmungen überhaupt ein eigenes Ding. Dieser

Mensch ist z. B. nur König, weil sich andre Menschen als Untertanen zu ihm ver-halten. Sie glauben umgekehrt Untertanen zu sein, weil er König ist.“ Marx: DasKapital, Bd. 1, a. a. O., S. 72, Fußnote 21. In Asien gilt das Tiersymbol „Drache“als König der Tiere. Dieses Fabeltier ist als Herrscher der Tiere aus allen Tierenzusammengesetzt. Der chinesische Kaiser galt als Sohn des Drachen.

48 Zusammenfassend Marx: Randglossen, a. a. O., S. 375: „dass der ‚Wert‘ der Warenur in einer historisch entwickelten Form ausdrückt, was in allen anderen histo-rischen Gesellschaftsformen ebenfalls existiert, wenn auch in anderer Form, näm-lich gesellschaftlicher Charakter der Arbeit, sofern sie als Verausgabung ‚gesell-schaftlicher‘ Arbeitskraft existiert. Ist ‚der Wert‘ der Ware so nur eine bestimmte

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historische Form von etwas, was in allen Gesellschaftsformen existiert,“ so Marx,dann kann es weder darum gehen, „den Wertbegriff zu beweisen“ oder überhauptvon einem „Begriff“ Wert auszugehen, noch diesen – etwa als „das Tauschprin-zip“ – zum negativen Gott oder Satan oder unerklärlichen gesellschaftlich-histo-rischen Wahnsinn oder Verhängnis der Natur-Geschichte zu perhorreszieren,sondern seinen rationalen gesellschaftlichen Inhalt aus dieser historisch be-schränkten, irrationalen Form (Wert- und Warenform) zu emanzipieren: die wirk-liche Bewegung, die den bestehenden Zustand aufhebt. vgl. Gesellschaft des Spek-takels, a. a. O., §73, 74

49 Die Wertform des Arbeitsprodukts ist die abstrakteste, aber auch allgemeinsteForm der bürgerlichen Produktionsweise, die hierdurch als eine besondere Art ge-sellschaftlicher Produktion und damit zugleich historisch charakterisiert wird.Versieht man sie daher für die ewige Naturform gesellschaftlicher Produktion, soübersieht man notwendig auch das Spezifische der Wertform, also der Warenform,weiter entwickelt der Geldform, Kapitalform usw.“ Marx: Das Kapital, Bd. 1, a.a. O., S. 95, FN 32

50 ebd., S. 8751 vgl. Marx, Karl/Engels, Friedrich: Manifest der kommunistischen Partei. In:

MEW 4, Berlin 1972 (1848), S. 7652 Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte. MEW 40, Berlin 1988

(1844), S. 462f. 53 Marx: Das Kapital, Bd. 1, a. a. O., S. 7254 bd., S. 72f.55 ebd., S. 8856 ebd., S. 4957 Gesellschaft des Spektakels, a. s. O., § 158 ebd., S. 4959 Marx: Das Kapital, Bd. 1, S. 69, 44260 Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., § 3461 ebd., § 4; vgl. auch § 3862 vgl. Benjamin, Walter: Das Passagenwerk. Frankfurt 1982, S. 490-494ff.63 ebd., S. 80164 Marx’ programmatischer Hinweis, für die moderne Revolution komme es in der

Subjektivität „nur“ darauf an, „dass man die Welt ihr Bewusstsein innewerden lässt,dass man sie aus dem Traum über sich selbst aufweckt, dass man ihre eigenen Ak-tionen ihr erklärt. (…) Es wird sich dann zeigen, dass die Welt längst den Traumvon einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewusstsein besitzen muss, um siewirklich zu besitzen.“ (MEW 1, S. 346) ist sowohl als Präambel bei Walter Benja-min dem Versuch zu einer „Theorie des Erwachens“, der mit Adorno skrupulösdiskutierten „Passagen“-Arbeit, vorangestellt, wie es der Schluss ist, an denLukács mit seinem ganzen revolutionstheoretischen Hauptwerk heranführt (vgl.Lukács, Georg: Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins II. In: Ders.: Werke,

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Bd. 14, 1986, S. 730). Für die situationistische Revolutionstheorie war es ab IvanChtchegloffs „Formular für einen neuen Urbanismus“ (1953, 1958) geradezu dasAlpha und Omega: „der Ausgangspunkt des Traumes liegt in der Wirklichkeit,und in ihr verwirklicht er sich.“ (SI, Bd. 1, a. a. O., S. 20; Der Beginn einer Epo-che, a. a. O., S. 54; vgl. auch Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., § 21, 164

65 SI, Bd. 2, a. a. O., S. 38066 Dass diese Analogie nicht als Gleichsetzung (Analogieschluss) der menschlichen

Sprache überhaupt mit den Formen, die sie in der kapitalistischen Interaktion an-nimmt bzw. ausdrückt, misszuverstehen ist, zeigt historisch-genetisch Lukács,insbesondere an der Subjekt-Objekt-Beziehung und an der treibenden Wider-sprüchlichkeit der Kategorien Allgemeines, Einzelnes und Besonderheit (Werke,Bd. 14, Darmstadt und Neuwied 1986, II, S. 87-90, 170-182). vgl. Rossi-Landi,Ferruccio: Sprache als Arbeit und als Markt. München 1972

67 vgl. Gesellschaft des Spektakels, § 7. Sprachform ist hier Ausdruck der gesell-schaftlichen Wertform, nicht aber die Wertform selbst sprachlicher, also „not-wendiger“ und bewusster Ausdruck. Ganz im Sinne von Marx, der die beliebteideologische Verkehrung richtig stellt: „Das Geld mit der Sprache zu vergleichenist nicht minder falsch. Die Ideen werden nicht in die Sprache verwandelt, so dassihre Eigentümlichkeit aufgelöst und ihr gesellschaftlicher Charakter neben ihnenin der Sprache existierte, wie die Preise neben den Waren. Die Ideen existierennicht getrennt von der Sprache.“ Marx: Grundrisse, a. a. O., S. 96

68 Konzentriert zum Beispiel in zeitgemäßen Wortprägungen wie „Ich-AG“, „Hu-mankapital“, „Geld arbeitet“, „Geld regiert die Welt“ etc. „Immer noch bleibt dieSprache die notwendige Vermittlung des Bewusstwerdens der Welt der Entfrem-dung (Hegel würde von der notwendigen Entfremdung sprechen)“, so die SI 1966in „Die gefesselten Worte (Einleitung zu einem situationistischen Wörterbuch)“.SI, Bd. 2, a. a. O., S. 200; Der Beginn einer Epoche, a. a. O., S. 193

69 Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., § 770 SI, Bd. 2, a. a. O., S. 195; Der Beginn einer Epoche, a. a. O., S. 189; zur Zerschla-

gung der informationsbürokratischen Syntax: ebd., S. 197f; S. 191f.71 So wie Lewis Caroll‘s „Alice“ – zeitgleich mit Marx und entwendet von der SI –

die diskursive Ökonomie kritisiert, indem sie sich auf das Spielfeld der Schach-Strategie „hinter dem Spiegel“ versetzt.

72 Gegen den Herrn-der-Worte „Humpty Dumpty“ – „auf diesem Gebiet ein so-zialer Unternehmer“ – fordert die SI zur Revolte auf: „Verstehen wir gleichzeitigdie Dienstverweigerung der Worte, ihre Flucht und ihren offenen Widerstand, die-se Begleiterscheinungen der gesamten modernen Literatur, (…) als Symptom dergesamtgesellschaftlichen revolutionären Krise.“ SI, Bd. 2, a. a. O., S. 37; Der Be-ginn einer Epoche, a. a. O., S. 161

73 ebd.74 Für die Bornierung der „sprachphilosophischen Wende“ wurde Heideggers

Aphorismus paradigmatisch: „Die Sprache ist das Haus des Seins. Die Denken-

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den und Dichtenden sind die Wächter dieser Behausung.“ Heidegger, Martin: DasWesen der Sprache. In: Ders.: Unterwegs zur Sprache. Pfullingen 1959, S. 166. DieSI bricht aus diesem bewachten „Haus“ ebenso aus wie „Alice hinter dem Spie-gel“, indem sie die Figuren als Machtzeichen in der Albtraumwelt eines Schachspielsbloßstellt. Gegen Heideggers „schwachsinnigen Mystizismus des Seins“ als „Rededer Macht, die als einzig mögliche Bezugswelt, als universelle Vermittlung betrach-tet wird“: SI, Bd. 2, a. a. O., S. 195; Der Beginn einer Epoche, a. a. O., S. 189; sowiezu Heidegger dem NS-“Schöngeist“: seine „dunkle Zersplitterung der Sprache (…)mit dem einzigen Motiv, Spiegelfechterei zu betreiben.“ SI, Bd. 2, a. a. O., S. 212

75 ebd., S. 19776 ebd., S. 19977 „Unter der Kontrolle der Macht bezeichnet die Sprache immer wieder etwas an-

deres als das Erlebte. Gerade darin besteht also die Möglichkeit einer vollständi-gen Kritik.“ ebd., S. 37

78 ebd., S. 20079 Die SI zählt de Sade, Lautréamont, Rimbaud, Baudelaire, James Joyce, Lewis

Carroll und andere als klassisch-moderne Vorläufer auf, wendet sich aber gegenihre antiquarische Wiederbelebung. vgl. ebd., S. 196f.

80 Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., § 204, 20581 „Die wirkliche Aneignung der arbeitenden Worte kann nicht außerhalb der An-

eignung der Arbeit selbst verwirklicht werden. Die Herstellung der befreitenschöpferischen Aktivität wird gleichzeitig die Herstellung der wahrhaften, end-lich befreiten Kommunikation sein, und die Transparenz der menschlichen Be-ziehungen wird an die Stelle der Armut der Worte unter dem alten Regime der Un-durchsichtigkeit treten. Die Worte werden nicht aufhören zu arbeiten, solange dieMenschen damit nicht aufgehört haben.“ Der Beginn einer Epoche, a. a. O., S. 194;SI, Bd. 2, S. 200f.

82 So entstellte Jameson ironisch Heideggers Diktum (siehe oben) im Titel seiner„marxistisch-hermeneutischen“ (Jamson) Kritik der sprachphilosophischen Wen-de und ihrer daraus entwickelten „projections“. Jameson, Fredric: The Prison-House of Language. Princeton, N.J. 1972

83 SI, Bd. 2, a. a. O., S. 39; Der Beginn einer Epoche, a. a. O., S. 163. Umkehrung dersurrealistischen Formel „le surrealisme au service de la révolution“ (Zeit-schriftentitel).

84 „Wir schlagen die wirkliche Befreiung der Sprache vor, denn wir nehmen uns vor,sie in der Praxis einzusetzen, die frei von jeder Beschränkung ist.“ ebd., S. 200; 193

85 ebd., S. 37ff.; 162 ff. Die situationistische „Denunziation eines totalen Ver-schwindens der Poesie in den alten Formen“ geht einher mit der „Ankündigungihrer Rückkehr in unerwarteten und wirksamen Formen.“ (ebd., S. 42; 165) Ähn-lich wie für Adorno, so „handelt es sich heute für die S.I. um eine Poesie zwangs-läufig ohne Gedichte.“ ebd. S. 39; 163

86 Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., § 209

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87 SI, Bd. 2, a. a. O., S. 39; Der Beginn einer Epoche, S. 16388 Als Graffito in Censier (Annex der Sorbonne) sogar dokumentiert als „Le rêve

est réalité.“ Direkte Anspielung auf Ivan Chtchegloff und auf Marx‘ „Traum voneiner Sache“ (siehe Anmerkung 64). Siehe Wandinschriften in: Claassen, Emil-Maria/Peters, Louis-Ferdinand: Rebellion in Frankreich. Die Manifestation dereuropäischen Kulturrevolution 1968. München 1968, S. 144

89 Aus der Belagerung der Pariser Commune knapp entronnen, schreibt der sech-zehnjährige Rimbaud programmatisch: „Ich werde ein Arbeiter sein: das ist dieÜberlegung, die mich hier zurückhält, auch wenn ein furchtbarer Zorn mich indie Schlacht von Paris treibt – wo ja noch immer so viele Arbeiter sterben (…)Jetzt arbeiten? Niemals, niemals. Ich streike! (…) Ich will ein Poet sein, und icharbeite an mir, um aus mir einen Seher zu machen: (…) Es geht darum, durch einEntgrenzen aller Sinne im Unbekannten anzukommen.“ Brief 13.5.1871. In:Rimbaud, Arthur: Seher-Briefe = Lettres du voyant. Mainz 1990, S. 10f.

90 Gründung des „Büro für unitären Urbanismus“ durch Raoul Vaneigem und At-tila Kotanyi in Bruxelles 1959.

91 Ausführliche Erläuterung dieser Konzepte siehe: Biene u. a. , a. a. O.92 Benjamin: Das Passagenwerk, a. a. O., S. 494f., 58793 SI, Bd. 2, a. a. O., 45694 Benjamin: Das Passagenwerk, a. a. O., S. 495. Siehe die Comix-Zweckentfrem-

dung in SI-Revue N°12/1969 mit Sprechblase: „Seht euch die Pariser Commu-ne an. Das war die Diktatur des Proletariats.“ SI, Bd. 2, a. a. O., S. 368f.

95 ebd., S. 28296 Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In: MEW 8, Berlin

1960 (1852), S. 11897 Zu dieser Konzeption siehe SI, Bd. 1, a. a. O., S. 278f.98 Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., § 9099 SI, Bd. 2, a. a. O., S. 112100 Marx: Grundrisse, a. a. O., S. 29101 Die SI hat diese Frage im Unterschied zu Marxisten-Leninisten, Rätisten, Ope-

raisten und sonstigen Ökonomisten am meisten interessiert, weshalb sie von die-sen Strömungen schlicht als „subjektivistisch“ verachtet wird, ein Bild, das wie-derum der bürgerlichen Rekuperation als „Situationismus“-Image einer„Künstler-Bohème“ in die Hände spielt.

102 Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., § 26103 Marx: Das Kapital, Bd. 1, a. a. O., S. 653f.104 Marx, Karl/Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie. In: MEW 3, Berlin 1969

(1845/46), S. 35105 Ihre Selbsteinschätzung 1972 war zugleich ernüchternd und maßlos, wie diese

wirkliche Negationstendenz selbst: „Die S.I. war lediglich darin erfolgreich, daßsie ‚die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt‘, ausgedrückthat und daß sie sie auszudrücken verstanden hat, das heißt, daß sie es verstanden

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hat, damit zu beginnen, bei dem subjektiv negativen Teil des Prozesses, seiner‚Schattenseite‘, seiner eigenen unbekannten Theorie Gehör zu verschaffen, derTheorie, die diese Seite der sozialen Praxis hervorbringt, und die sie zunächstnicht kennt. Die S.I. gehörte selbst zu dieser ‚Schattenseite‘. Letztlich handelt essich daher nicht um eine Theorie der S.I., sondern um die Theorie des Proleta-riats.“ (SI: Die wirkliche Spaltung, a. a. O., § 3) Wer allerdings eine proletarischeErhebung wie die „Bewegung der Besetzungen“ (1968 in Frankreich) nicht nurjahrelang vorausgesehen, sondern maßgeblich mitgestaltet hatte, durfte so spre-chen. Näheres zum Verlauf und Charakter des Mai 1968 und der Rolle der SI,siehe Viénet, René: Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzun-gen Paris 1968, Hamburg 1977

106 Marx/Engels: Manifest der kommunistischen Paratei, a. a. O., S. 474107 Marx, Karl: Das Elend der Philosophie. In: MEW 4, Berlin 1972 (1846/47), S. 181108 SI, Bd. 2, a. a. O., S. 18f.109 Marx: Das Elend der Philosophie, a. a. O., S. 180110 SI: Die wirkliche Spaltung, a. a. O., § 35111 Zur operaistischen Schule der „Klassenzusammensetzung“ siehe Wright, Steve:

Den Himmel stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus. Berlin 2005112 Vgl. zum Beispiel als ein von „wildcat“ übersetztes Dokument dieser Mytholo-

gie: Revelli, Marco: Schichtwechsel. in: TheKla15/1992. Dass sich im Operaismuszur Zeit der SI ein „die Massenarbeiter“ überhöhender Spontaneismus ständig miteinem leninistischen bzw. bakuninistischen Elitismus in der Organisationsfrageverschränkte (vgl. Wright, a. a. O.), was auch zur Überschätzung der Rolle vonStudentInnen und technischer Intelligenz wie „der Intellektuellen“ insgesamtführte, musste die SI zutiefst abstoßen. Für sie waren leninistische oder auch baku-ninistische Modelle indiskutabel und die StudentInnen als „künftige Führungs-kräfte“ ebenso wenig vertrauenswürdig wie die SpezialistInnen und IdeologIn-nen des Kapitals insgesamt. Wohl aus dem selben Grunde mag die SI strikt derTheoriebildung eines Hans-Jürgen Krahl in der BRD der ausgehenden 1960er ausdem Wege gegangen sein.

113 vgl. Silver, a. a. O., S. 8f. Gleichzeitig hinterschritt die SI inhaltlich diese Ein-schätzung der elementarsten Kampfebene von Arbeiterunruhe keineswegs. Siepropagierte immer wieder Untersuchungen „über den ständigen Widerstand derArbeiter (gegen die ganze Organisation dieser Arbeit), über die Entpolitisierungund die Interesselosigkeit gegenüber den Gewerkschaften, die zu Mechanismender Integration der Arbeiter in die Gesellschaft und zu zusätzlichen Instrumen-ten in der ökonomischen Waffenkammer des bürokratisieren Kapitalismus ge-worden sind. (…) In demselben Maße, wie die alten Formeln der Opposition ih-re Wirkungslosigkeit oder, noch öfter, ihr völliges Aufgehen in einer Teilnahmean der gegenwärtigen Ordnung enthüllen, breitet sich die unreduzierbare Unzu-friedenheit unterirdisch aus und unterhöhlt das Gebäude der Gesellschaft desÜberflusses. Der ‚alte Maulwurf‘, von dem Marx (…) spricht, wühlt immer noch.

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Sein Gespenst erscheint an allen Ecken unseres vom Fernsehen durchdröhntenLuftschlosses“. Der Beginn einer Epoche, a. a. O., S. 113; SI, Bd. 1, a. a. O., S. 260f.

114 vgl. Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., § 88; SI: Die wirkliche Spaltung, a. a.O., § 19

115 vgl. ebd., § 46116 SI, Bd. 2, a. a. O., S. 406f.117 ebd., S. 408ff.118 Marx bei Debord, Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., § 116, vgl. Marx, Karl:

Der Bürgerkrieg in Frankreich. In: MEW 17, Berlin 1973 (1871), S. 342119 Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., § 179; SI, Bd. 2, S. 456ff. „Hier muß die große

Mehrheit der proletarischen Klasse alle Macht innehaben und ausüben, indem siesich in Form von beschließenden und ausführenden Versammlungen-in-Perma-nenz organisiert, die nirgends auch nur irgendetwas von der Form der alten Weltund den Kräften, die jene verteidigen, fortbestehen lassen.“ (SI: Die wirklicheSpaltung, a. a. O., § 47) „Wenn sich die Arbeiter frei und ohne Vermittler ver-sammeln können, um ihre wirklichen Probleme zu erörtern, beginnt der Staatsich aufzulösen.“ ebd., § 19

120 I, Bd. 2, a. a. O., S. 7; vgl. Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., § 178. Nicht nurhier argumentiert die SI auffällig benjaminianisch im Sinne der Thesen „Über denBegriff der Geschichte“.

121 Diese Schlüsselformel der SI bezeichnet nicht den gewöhnlichen Pauperismus,sondern die Dialektik der affluent society, dass „der Umfang und die Wucht dergoldenen Kette, die der Lohnarbeiter sich selbst bereits geschmiedet hat“ (Marx:Das Kapital, Bd. 1, a. a. O., S. 646) und die zugleich als consumerism funktioniert,keineswegs den „stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ (ebd., S. 765)der Lohnsklaverei aufhebt.

122 Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., § 90123 SI, Bd. 1, a. a. O., S. 278f.124 Zum Begriff des „Katastrophischen“ siehe Benjamin: Das Passagenwerk, a. a. O.,

S. 591ff.125 Der hebräische Begriff Shoah, der sich nicht „eindeutschen“ lässt, bedeutet „die

Katastrophe“ im Sinne von „das Verderben, der Untergang“. Er wurde seit 1942bereits von der Jewish Agency in einer offiziellen Erklärung verwendet. vgl. En-zyklopädie des Holocaust. Frankfurt 1993, Bd.1, S. XVIII

126 Benjamin: Das Passagenwerk, a. a. O., S. 592127 So nennt Marx gelegentlich die proletarisierte Mobilmasse. (vgl. Grundrisse, a.

a. O., S. 404) So auch schon über die Sklavenhalteroligarchie im nordamerikani-schen Sezessionskrieg (Brief an Engels 5.7.1861. In: MEW 30, S. 186): „In einemTeil der ‚poor whites‘ fanden sie den mob, der ihnen die Zuaven ersetzte.“ (Zu-aven: französische Kolonial-Hilfstruppen der bonapartistischen Staatsclique.)

128 Adorno Brief an Horkheimer 5.8.1940. In: Adorno, Theodor W./Horkheimer,Max: Briefwechsel, Bd. II, Frankfurt/M. 2004, S. 84

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129 vgl. neuerlich Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Diskussion über Theo-rie und Praxis. In: Horkheimer, Max: Werke, Bd. 13, Nachtrag zu Band 13.Frankfurt/M. 1986 (1956)

130 Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. GS 6. Frankfurt 1997 (1966), S. 400.Solidarisch möchte er hierin noch mit Hegels Denkrichtung aufs Ganze hin sein,denn: „das Absolute (…), wie es der Metaphysik vorschwebt, wäre das Nichti-dentische, das erst hervorträte, nachdem der Identitätszwang zerging.“ Und „ih-re Gestalt von Hoffnung“ sieht Adorno noch darin: „Kant hat in der Lehre vomtranszendenten Ding an sich jenseits der Identifikationsmechanismen davon et-was aufgezeichnet.“ (ebd., S. 398) Da aber schließlich „Metaphysik in die Mi-krologie einwandert“ als Zuflucht vor der Totale, wäre sie laut Adorno nur noch„möglich allein als lesbare Konstellation von Seiendem.“ (ebd., S. 399) Hier triffter sich mit der historisch-materialistisch aufgehobenen negativ theologischenMethode von Benjamin, will aber um jeden Preis die „negative“ Theologie selbstfesthalten und eben nicht aufheben. „Solches Denken“ ist bei Adorno in die So-lidarität mit der Metaphysik eingewandert. Es will unübersehbar, unüberhörbarund utopisierend auf „Versöhnung“ der Klassenindividuen in der ersehnten„Nichtidentität“ des „Vereinzelten“ hinaus, während dagegen der säkularisierteMessianismus bei Benjamin die tatsächliche historische „Erlösung“ der Klassen-Vorgeschichte durch geschichtsaneignende Sprengung ihres Klassencharakterszu denken versucht: „Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende, un-terdrückte Klasse selbst. Bei Marx tritt sie als die letzte geknechtete, als dierächende Klasse auf, die das Werk der Befreiung im Namen von GenerationenGeschlagener zu Ende führt.“ (Über den Begriff der Geschichte, a. a. O., XII. –Vgl. zum Beispiel auch Briefwechsel mit Horkheimer. In: Benjamin: Das Passa-genwerk, a. a. O., S. 588f., 593) Das ist der Unterschied ums Ganze zwischen re-ligioidem geschichtsphilosophischem Hang zur Metaphysik einerseits und einemhistorischen Materialismus andererseits, welcher wie Marx die Emanzipation desgesellschaftlichen Individuums anstrebt und zu diesem Zweck auch die Theolo-gie in seinen Dienst zu nehmen versteht. „Der echte Begriff der Universalge-schichte ist ein messianischer.“ (Benjamin: Das Passagenwerk, a. a. O., S. 608)Benjamin beabsichtigt diesen Messianismus (als Vorstellung von der religiösen„Erlösung“ und „Versöhnung“ des Individuums) historisch materialistisch, wieer es bei Marx sieht, als Klassenemanzipation aufzuheben, die erst Emanzipati-on der Individualität von Klassifizierung und ihrem Unglück möglich macht:„Dem Begriff der klassenlosen Gesellschaft muss sein echtes messianisches Ge-sicht wiedergegeben werden, und zwar im Interesse der revolutionären Politikdes Proletariats selbst.“ (Benjamin Werke I,3:1231ff). In diesem Sinne gebrauchter „Theologie“ als notwendige Hilfsmethode, jedoch gerade nicht um diese umihrer selbst willen zu retten: „Mein Denken verhält sich zur Theologie wie dasLöschblatt zur Tinte. Es ist ganz von ihr vollgesogen. Ginge es aber nach demLöschblatt, so würde nichts was geschrieben ist, übrig bleiben.“ (Benjamin: Das

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Passagenwerk, a. a. O., S. 588) Für ihn ist die theologische Methode nicht mehrals „der Kommentar zu einer Wirklichkeit (… Ausdeutung in den Einzelheiten)“(ebd., S. 574). Adornos Denken dagegen „ist solidarisch mit Metaphysik im Au-genblick ihres Sturzes“ (Negative Dialektik, a. a. O., S. 400), das heißt, auch dieTheologie bleibt das letzte Wort seiner Negation des Bestehenden. Zum Ver-hältnis des messianischen Moments und der Aufhebung des Theologischen imhistorischen Materialismus bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno siehedie hervorragende Untersuchung von Hering, Christoph: Die Rekonstruktionder Revolution. Walter Benjamins messianischer Materialismus in den ThesenÜber den Begriff der Geschichte. Frankfur/M. 1983.

131 Zum Spiel der SI mit der chiliastischen Figur und Geschichte des Untergrundsvgl. Marcus, Greil: Lipstick Traces. Von Dada bis Punk. Eine geheime Kultur-geschichte des 20.Jahrhunderts. Reinbek bei Hamburg 1996

132 Benjamin, Walter: Paralipomena / Notizen zu: Über den Begriff der Geschich-te. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I, 3. Frankfurt/M. 1986, S. S.1231f.

133 Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, a. a. O., These XVII; vgl. zum Bei-spiel SI, Bd. 1, a. a. O., S. 263-266; Der Beginn einer Epoche, a. a. O., S. 115-118

134 vgl. Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., § 4, 34, 50135 ebd., § 9136 Adorno, Theodor W.: Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen

Propaganda. in: Dahmer, Helmut (Hg): Analytische Sozialpsychologie. Frank-furt/M. 1980, Bd. 1, S. 318

137 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzier-barkeit. Frankfurt 1977, S. 42ff.

138 Benjamin: Das Passagenwerk, a. a. O., S. 1035139 vgl. ebd., S. 576f.; und über das Archaische im modernen Spektakulären: Gesell-

schaft des Spektakels, a. a. O., § 23, 62, 109140 Benjamin: Das Passagenwerk, a. a. O., S. 577141 Wie dieses Ausblenden auf seiten der jungen LettristInnen und SituationistIn-

nen als „psychischer Selbstschutz“ historisch zu verstehen – wenn auch nicht hi-storisch-moralisch zu rechtfertigen – ist, wird in „Situationistische Revolutions-theorie“ I, S. 194f. diskutiert.

142 Benjamin: Das Passagenwerk, a. a. O., S. 578143 Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., § 123; SI, Bd. 2, a. a. O., S. 406f.; SI: Die wirk-

liche Spaltung, a. a. O., § 45-48144 Marx: Das Kapital, Bd. 1, S. 381145 Zum Beispiel „eine Art Anti-Nato“, „Technik des Weltcoups“ etc.; SI, Bd. 2, a.

a. O., S. 59, 80146 Marx, Karl: Ein Komplott gegen die Internationale Arbeiterassoziation. In:

MEW 18, Berlin 1962 (1873), S. 439147 SI, Bd. 2, a. a. O., S. 113f.148 Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, a. a. O., These XII

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ÜBER DAS UNBEHAGEN AN DER KULTURINDUSTRIE. DAS ELEND DES STUDENTISCHEN MILIEUS UND DIEBEWEGUNG DER FRANZÖSISCHENKULTURPREKÄREN

Bernd Beier

Die Kunst ist tot, dekretierten die modernen Avantgarden, vonden Dadaisten bis zu den Situationisten. Doch wie ein Zombiewankt sie weiter durch die Gesellschaft des Spektakels. DieAufhebung der Kunst im alltäglichen Leben, jene „‚Nord-westpassage‘ der Geographie des wahren Lebens“1, ist auf ne-gative Weise verwirklicht: in der „hohnlachenden Erfüllungdes wagnerschen Traums vom Gesamtkunstwerk“2 . Das tri-umphierende Spektakel programmiert die Gestaltung der ge-samten Umwelt mittlerweile so weit, dass hie und da bereitsvon einem „Totalkunstwerk“ die Rede ist3, was an den „tota-len Staat“ Carl Schmitts erinnert.

Fassen wir mit Debord die Kultur als „die allgemeine Sphä-re der Erkenntnis und der Vorstellungen des Erlebten der inKlassen geteilten Gesellschaft“, als jene „Fähigkeit zur Verall-gemeinerung, die getrennt besteht, als Teilung der intellektu-ellen Arbeit und als intellektuelle Teilung der Arbeit“4, sokommt dennoch eine „relativ unerwartete Komplikation“ hin-zu: „Die moderne ‚Kultur‘“, so schreibt Jean-Pierre Baudet, in

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den achtziger Jahren ein Weggefährte Debords, „ist nicht mehroffen eine Klassenkultur, nicht einmal mehr eine Klassenkul-tur mit universalistischer Bestimmung, sondern die Monströ-sität einer ‚Warenkultur‘ (wesentliches Element des Spekta-kels). Man kann folglich nicht mehr von Klassenkultur reden,und man ist veranlasst, von Kultur des Systems zu sprechen,d.h. von kultureller Ware.“5

Entsprechend ist Kulturindustrie „intellektuelle Produkti-on und Konsumtion unter den Imperativen von Warenförmig-keit und der zugehörigen Verwaltungsförmigkeit“6, das heißtunter der Fuchtel von Kapital und Staat.

„Die durch und durch zur Ware gewordene Kultur mussauch zur Star-Ware der spektakulären Gesellschaft werden“,schrieb Debord 1967 und fügte hinzu: „Clark Kerr, einer derfortgeschrittensten Ideologen dieser Tendenz, hat errechnet,dass der komplexe Produktions-, Distributions- und Kon-sumprozess der Kenntnisse schon 29 % des amerikanischenNationalprodukts jährlich mit Beschlag belegt; und er siehtvoraus, dass die Kultur in der zweiten Hälfte dieses Jahrhun-derts die treibende Rolle in der Wirtschaftsentwicklung spie-len wird, die in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts vom Au-tomobil und in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhundertsvon der Eisenbahn gespielt wurde.“7

Diese Tendenz ist von der jüngsten Entfaltung der Gesell-schaft des Spektakels in vollem Umfang bestätigt worden, wo-bei die „imperialistische Bereicherungsbewegung“ der Kultur,die „gleichzeitig der Niedergang ihrer Unabhängigkeit ist“8,durch die rekuperierten Momente der Kontestationsbewegungeine besondere Note erhielt. Bereits in der Folge der Revolten

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von 1968 war eine erstaunliche Ausweitung des Kulturbegriffszu verzeichnen, die insbesondere in Deutschland, der alten„Kulturnation“, um sich griff. Dort hatte sich die revolutionä-re Arbeiterbewegung nie von ihrer fast kampflosen Niederla-ge gegen den Nationalsozialismus erholt, und deshalb lag inder BRD die Versuchung für einen Teil der Rebellen nahe, sichin ihrer relativen Isolation als „Gegenkultur“ in Form einer„Szene“ zu organisieren. Das hatte einen großen Nachteil: DieKritik der gesellschaftlichen Totalität, die das qualitative Mo-ment jeder revolutionären Phase ist, wurde eingegrenzt, mehrund mehr zog sich die Kritik in die Sphäre des kulturellenÜberbaus zurück. Zu der etablierten Kultur gesellte sichzunächst eine „Gegenkultur“, die später, mit dem Rückgangder Revolte, zur „Alternativkultur“ verkam. In den achtzigerJahren begannen sich die „Kulturen“ wie Karnickel zu ver-mehren: politische Kultur, Diskussionskultur, Unternehmens-kultur, Esskultur, Beziehungskultur, jedes x-beliebige gesell-schaftliche Phänomen wurde als kulturelles begriffen. Und esfehlt nicht an Ideologen, die mittlerweile die Warenprodukti-on selbst als „Gesamtkunstwerk“9 verstanden wissen wollen,wie der Philosoph Peter Koslowski, der dreist postuliert:„Wirtschaften heißt kulturschöpferisch tätig sein!“10

Auch in Frankreich ist diese Tendenz bekannt. Im gängi-gen positiven und lobhudelnden Diskurs habe die Generali-sierung des Kulturbegriffs ihre Vollendung gefunden, schreibtJean-Pierre Baudet, „da ja künftig sehr wenige Umstände, Ver-haltensweisen und, vor allem, Dummheiten existieren, von de-nen man nicht hört, dass sie ‚kulturell‘ seien oder ‚das ist ihreKultur‘ (das Tragen des Tschador und die interne Organisati-

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on eines Unternehmens; ein Getränk mit Kohlensäure und dasTätowieren am Hintern; die Aggression auf offener Straße undder Gebrauch des Handys; die Homo-Ehe und die Comics;und der ganze Rest ebenso)“.11 Damit wolle man sagen, dassall das nicht mehr diskutiert werden dürfe, weil es ja einen„kulturellen Wert (Kultur als Wert)“12 habe. Unter dem Deck-mantel der Kultur ist man somit zu einer „unerwarteten undeigentlich unglaublichen Verwechslung von Knechtschaft undFreiheit“13 gekommen. Und es handelt sich dabei nicht um„die spezifische Macht dieser oder jener Ideologie, sondern umdie universelle Macht der Warenform und der Mentalität, diesie als ‚materialisierte Ideologie‘“14, wie Debord das Spektakelbezeichnete, verbreitet.

Aber die neue Organisationsweise der Gesellschaft desSpektakels, die sich durch die so genannte dritte technologi-sche Revolution, die Entwicklung der Mikroelektronik, er-gibt, verschärft die generelle gesellschaftliche Krise auch imHinblick auf die Kulturindustrie. Diese Krise hat sich exem-plarisch in der Bewegung der französischen Intermittents du spectacle manifestiert, der nur mit Unterbrechungen beschäf-tigten Spektakelproduzenten, die im Folgenden als „Kultur-prekäre“ bezeichnet werden.

Beginnen die in der spektakulären Kulturproduktion Be-schäftigen zu revoltieren, wie in Frankreich im Frühjahr undSommer 2003, steht potenziell die gesamte Gesellschaft zurDisposition – zumal, wenn sich die Kämpfe der Spektakelpro-duzenten in einem Umfeld allgemeinerer Unruhe abspielen.Denn die Kulturproduktion ist ein für die Kritik besonders an-fälliger Sektor der Gesellschaft: Dort wird die Ideologie her-

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gestellt, die Bilder, die Überlebensstile, der ganze Ersatz für dasrichtige Leben, das in der falschen Gesellschaft nicht gelebtwerden kann. Wird diese Produktion unterbrochen, setzt un-vermeidlich ein gesellschaftliches Rumoren ein, beschnüffelndie Verwalter dieses Sektors das Phänomen, dass die Arbeiterder spektakulären Kultur, Kommunikation und Informationdie Arbeit verweigern, und versuchen, es auf ihre Weise zu er-klären.

Doch das Bewusstsein der in der Kulturproduktion Be-schäftigten hinkt regelmäßig dem ruinösen gesellschaftlichenGang der Dinge hinterher. Jaime Semprun schrieb bereits 1976in „Précis de recuperation“ zu Recht: „Während unter denSpezialisten der Repression zweifellos Leute existieren, dieüber die Gefährlichkeit der gegenwärtigen gesellschaftlichenKrise klar genug sehen, unterhalten die Lohnabhängigen derKultur und der spektakulären Information mehr als irgendwersonst Illusionen über ihren eigenen Bluff und finden in den Bil-dern reformistischer Ausrichtung und euphorischer Neue-rung, die sie selbst serienmäßig herstellen, ein tröstliches Mo-tiv.“15

Nicht einmal die Veränderungen, denen das Kunstwerkund die Tätigkeit der Kulturproduzenten durch die Entfaltungneuester Reproduktionstechniken unterworfen sind, hält siedavon ab. Walter Benjamin hatte bereits 1936 den Verlust der„Aura“ des Kunstwerks mit den zu seiner Zeit neuen Repro-duktionstechniken (insbesondere der filmischen) zu erklärenversucht. Die technische Reproduktion hätte um 1900 „einenStandard erreicht, auf dem sie nicht nur die Gesamtheit derüberkommenen Kunstwerke zu ihrem Objekt zu machen und

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deren Wirkung den tiefsten Veränderungen zu unterwerfen be-gann, sondern sich einen eigenen Platz unter den künstlerischenVerfahrensweisen eroberte“16. Insbesondere das „Hier undJetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an dem Orte, andem es sich befindet“17 fällt bei der Reproduktion aus, und„das Hier und Jetzt des Originals macht den Begriff seinerEchtheit aus“18. Während aber die manuelle Reproduktiondes Echten als Fälschung abgestempelt wurde, das Echte also„seine volle Autorität bewahrt, ist das der technischen Repro-duktion gegenüber nicht der Fall“19. Denn sie erweist sich als„dem Original gegenüber selbständiger“20 und kann „das Ab-bild des Originals in Situationen bringen, die dem Originalselbst nicht erreichbar sind“21. Die „geschichtliche Zeugen-schaft“ des Echten gerät dadurch ins Wanken, die Folge ist ei-ne bislang unbekannte „Erschütterung der Tradition“ und eineUmwälzung der sozialen Funktion der Kunst: „ihre Fundie-rung auf Politik“22 anstelle ihrer Fundierung auf das tradierteRitual. Gegen die technisch aufgerüstete „Ästhetisierung derPolitik“23, welche die Nazis betrieben, um den „Mythos, derdie Teilnahme an einer Gemeinschaft verlangt, die durch ar-chaische Pseudo-Werte definiert ist: die Rasse, das Blut, denFührer“24, gewaltsam wieder auferstehen zu lassen und dieMassen nach ihrer Vorstellung zu formen, schlug Benjamindeshalb als kommunistische Maßnahme die „Politisierung derKunst“25 vor.

Nicht nur die objektiven Veränderungen, sondern auch diebewusste Intention der Dadaisten, die Aura zu zerstören,spielte eine wichtige Rolle. Die Dadaisten drückten ihren An-ti-Werken „mit den Mitteln der Produktion das Brandmal der

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Reproduktion“ auf26 und ruinierten damit die individuelleVersenkung des Kunstbetrachters in das überkommene aura-tische Kunstwerk, die nach Benjamins Konzeption ein Merk-mal der vorhergehenden Ära war.

Mit den neuen Reproduktionstechniken, die sich durch dieDigitalisierung ergeben, stellen sich diese Probleme auf höhe-rer Stufenleiter: Nicht nur ist jedes Werk, von Musikstückenüber Bilder oder Filme bis hin zu Büchern, in digitalisierterForm beliebig oft reproduzierbar – und zwar nicht nur vondenjenigen, die, wie es zu Benjamins Zeiten noch der Fall war,über teure und unhandliche Reproduktionsapparaturen ver-fügen, sondern von jedem, der einen Computer besitzt. Zudemsind die digitalisierten Werke potenziell von jedem, der überZugang zum Internet verfügt, an jedem Ort und zu jeder Zeitabrufbar. Dadurch erhält das Original mitsamt seiner „ge-schichtlichen Zeugenschaft“ einen weiteren schweren Schlag:Wie soll, wenn das Original nicht verfügbar ist, die digitali-sierte Reproduktion auf ihre Übereinstimmung mit dem Ori-ginal überprüft werden? Die berühmten Fälschungen etwa, dieunter Stalin an Fotografien vorgenommen wurden, sind unterden Bedingungen der Digitalisierung umso leichter durch-führbar.

Doch auch die „künstlerische“ Tätigkeit ist großen Verän-derungen unterworfen. Sie entfernt sich weiter von ihremhandwerklichen Ursprung, der moderne „Schöpfer“ hat sichin immer weiteren Bereichen seiner Tätigkeit der neuesten Re-produktionstechnologien zu bedienen, die sich wie bereits die,von denen Benjamin sprach, „einen Platz unter den künstleri-schen Verfahrensweisen“ erobern. Bereits an der computerge-

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stützten Animation, mit deren Hilfe weite Bereiche der Film-industrie umgekrempelt und unzählige Statisten und Trick-filmzeichner arbeitslos gemacht werden, wird das Ausmaß derVeränderungen offensichtlich.

Aber der „Kampf zwischen Tradition und Neuerung, derdas innere Entwicklungsprinzip der Kultur der geschichtli-chen Gesellschaften ist“27, ist auf dem Gebiet der Kunst mitt-lerweile in einem seltsamen Immobilismus erstarrt. Der Ein-satz neuer Technologien in einer neuen „Medienkunst“ führtkeineswegs über traditionelle künstlerische Inhalte hinaus: DieReproduktion des Alten findet nur mehr technologisch aufge-rüstet statt. „Obgleich experimentell in ihren Mitteln, sind dieInhalte der Medienkunst oft von der Anpassung an Aus-drucksformen geprägt, die in den traditionellen Medien schondurchgespielt wurden“,28 wird in dem Buch „Digitaler Schein,Ästhetik der elektronischen Medien“ traurig festgestellt. Ananderer Stelle wird konstatiert: „Mit hohem technischen Auf-wand zeigen Computergraphiken und Computeranimationenmeist nur Bilder oder Bildfolgen, deren Herkunft aus der tradi-tionellen Kunst, vor allem aus dem Surrealismus, unschwer ab-zulesen ist und (die) daher thematisch keine neue Ästhetik zumAusdruck bringen, sondern nur andere Produktionsmittelbenützen.“29

Oder es heißt, auch im Hinblick auf die Tendenz der Ver-schmelzung von Werbung und Kultur: „Bezeichnend für die‚neue Sensibilität‘, die aus dem Interface mit der Technik ent-steht, sind aber wohl die Musikvideos, eine Mischung aus sti-listischen Eigenschaften der Werbung, dem experimentellenFilm und den Metamorphosen des Surrealismus.“30

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Dieser endlose Bezug auf den Surrealismus ist ein weitererBeleg für die These, die Debord bereits 1967 aufstellte: „DerDadaismus und der Surrealismus sind die beiden Strömungen,die das Ende der modernen Kunst kennzeichneten. (…) Siesind, wenn auch nur auf eine relativ bewusste Weise, Zeitge-nossen des letzten großen Ansturms der revolutionären pro-letarischen Bewegung; und das Scheitern dieser Bewegung, dassie gerade im künstlerischen Feld, dessen Hinfälligkeit sie pro-klamiert hatten, eingeschlossen hielt, ist der Hauptgrund fürihre Immobilisierung. (…) Der Dadaismus wollte die Kunstwegschaffen, ohne sie zu verwirklichen; und der Surrealismuswollte die Kunst verwirklichen, ohne sie wegzuschaffen. Dieseitdem von den Situationisten erarbeitete kritische Positionhat gezeigt, dass die Wegschaffung und die Verwirklichung derKunst die unzertrennlichen Aspekte ein und derselben Auf-hebung der Kunst sind.“31 Die Befreiung der Sinnlichkeit, diein der modernen Kunst lediglich als Versprechen präsent ist,soll im alltäglichen Leben einer befreiten Gesellschaft ver-wirklicht werden.

Die Situationisten waren ihrerseits „Zeitgenossen“ einesneueren „großen Ansturms der revolutionären proletarischenBewegung“, in dem ihre Konzeption der Revolution sich Bahnbrach. Im revolutionären Mai 68, als der erste wilde General-streik der Geschichte stattfand, ließen sich ihre Parolen überallan den Wänden lesen, und sie versuchten, gegen alle Fraktioneneiner bankrotten bürokratischen Linken, der antistaatlichenMacht der Räte zum Durchbruch zu verhelfen. Ihre Konzep-tion der Aufhebung der Kunst im alltäglichen Leben wurde inden Wirren in Angriff genommen, wenn auch nur für kurze

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Zeit. Der Mai ‘68 war der Beginn einer neuen Epoche insoweit,als die Zeit wieder revolutionär wurde.

Doch das Scheitern dieser Bewegung und die spätestensmit der Niederlage der revolutionären Bewegungen in Italien,Spanien und Polen zu Beginn der achtziger Jahre einsetzendeEpoche der Restauration hat das Schicksal der früheren künst-lerischen Avantgarden in einem gewissen Sinne auch der si-tuationistischen Kritik zuteil werden lassen. Seit den großenAusstellungen in New York, Paris und London Ende derneunziger Jahre werden die Hervorbringungen der Situationi-sten, explizite Antikunstwerke, die dem Verschwinden gewid-met waren, ins Museum verfrachtet und in den Kunstkanon in-tegriert. Auf diese Weise soll die Attacke der Situationisten aufdie Kunst rekuperiert werden. Nur ihr größtes und schönstesAntikunstwerk, die revolutionäre Situation des Mai ‘68, die siegemeinsam mit Millionen Revoltierender verwirklichten, istnicht museumstauglich. Es gilt daher, jede Erinnerung daranzu verfälschen. Daran arbeiten unentwegt die einschlägigenSpezialisten, Historiker, Soziologen, Psychologen und anderepolizeiliche Denker der Herrschaft.

Die handelnde Kritik erfasste 1968 sämtliche Bereiche derGesellschaft, was das Merkmal einer einschneidenden gesell-schaftlichen Umwälzung ist. Auch die Kulturproduktion wur-de nicht verschont. Doch kaum hatten einige modernistischeSpektakelproduzenten, um zu zeigen, dass auch ihnen die mo-derne Kritik nicht fremd war, großmäulig das Ende des Ro-mans, das Ende des Films usw. verkündet, machten sie sichdaran, genau diese Formen nach altem Muster zu reproduzie-ren. Baudet erklärt zu Recht: „In einer Epoche, in der alle Rol-

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len und alle gesellschaftlichen Funktionen von Misstrauen er-fasst und mit Schande bedeckt waren, wie es in der Zeit nach‘68 der Fall war, war einzig der Künstler noch unvorsichtig ge-nug, seinen Berufsstolz zu affirmieren, sich als ‚Schöpfer‘ auf-zuspielen: ein weiterer Beweis, dass jenes Milieu, noch vor sei-ner gegenwärtigen medialen Karikatur, buchstäblich mit demherrschenden System verschmolzen ist.“32

DIE NACHHUT IM MAI ‘68

Exemplarisch hatten sich die Situationisten bereits vor derMai-Revolte die Studenten vorgenommen, um deren Rolleund gesellschaftliche Funktion einer modernen Kritik zu un-terziehen. „Ohne große Gefahr, uns zu irren, können wir be-haupten, dass der Student in Frankreich nach dem Polizistenund dem Priester das am weitesten verachtete Wesen ist.“33 Mitdiesen wenig versöhnlichen Worten begann die Broschüre„Über das Elend im Studentenmilieu“, welche die Situationi-stische Internationale in Zusammenarbeit mit einigen Studen-ten aus Strasbourg verfasst hatte. Mit dieser Broschüre, die infast 20 Sprachen übersetzt wurde, wurde die Kritik der Situa-tionisten in einem gesellschaftlichen Bereich bekannt gemacht,der in den USA und in Deutschland bereits schweren Er-schütterungen ausgesetzt war.

Zur gegenwärtigen und zukünftigen Rolle des Studentenwird trocken festgestellt: „Die Inszenierung der Verdingli-chung zum Spektakel innerhalb des modernen Kapitalismuszwingt jedem eine Rolle in der generalisierten Passivität auf.

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Der Student entgeht diesem Gesetz nicht. Es ist eine proviso-rische Rolle, die ihn auf die endgültige vorbereitet, die er alspositives und bewahrendes Element im Warensystem erfüllenwird. Nichts anderes als ein Einführungsritus. (…) Der mo-derne Kapitalismus bewirkt zwangsläufig, dass der größte Teilder Studenten ganz einfach zu kleinen Kadern wird (…) Ge-genüber dem elenden, leicht vorauszusehenden Charakter die-ser mehr oder weniger nahen Zukunft, die ihn für das schmach-volle Elend der Gegenwart entschädigen soll, zieht der Studentes vor, sich seiner Gegenwart zuzuwenden und sie mit illusori-schem Prestige auszuschmücken.“35

Kein Wunder ist es also, dass der Student zu Kompensie-rungen aller Art neigt: „Wie ein stoischer Sklave glaubt derStudent sich umso freier, je mehr alle Ketten der Autorität ihnfesseln. Genau wie seine neue Familie, die Universität, hält ersich für das gesellschaftliche Wesen mit der größten ‚Autono-mie‘, während er doch gleichzeitig und unmittelbar von denzwei mächtigsten Systemen der sozialen Autorität abhängt:der Familie und dem Staat. Er ist ihr ordentliches und dank-bares Kind. Nach derselben Logik eines untergeordneten Kin-des hat er an allen Werten und Mystifikationen des Systems teilund konzentriert sie in sich. Was einst den Lohnabhängigenaufgezwungene Illusionen waren, wird heute zu einer von derMasse der zukünftigen kleinen Kader verinnerlichten und ge-tragenen Ideologie.“36

Grundsätzlich nimmt die Kritik der Situationisten die mo-dernsten Formen der Entfremdung ins Visier. Die Universitätbefindet sich in einer Krise, in der „ganz einfach die Schwierig-keiten einer verspäteten Anpassung dieses besonderen Produk-

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tionssektors an die Umwandlung des gesamten Produktionsap-parates zum Ausdruck“37 kommen. Das hat schwerwiegendeFolgen: „Die Überreste der alten Ideologie einer bürgerlich-liberalen Universität werden in dem Augenblick nichtssagend,in dem ihre gesellschaftliche Basis schwindet. Die Universitätkonnte sich in der Epoche des Freihandelskapitalismus undseines liberalen Staates als autonome Macht verstehen, da er ihreine gewisse marginale Freiheit gewährte. Sie hing in Wirk-lichkeit eng von den Bedürfnissen dieser Art von Gesellschaftab: der privilegierten studierenden Minderheit eine angemes-sene Allgemeinbildung zu vermitteln, bevor sie sich wieder indie herrschende Klasse einreiht.“38 Aber diese Zeiten sind end-gültig vorbei, auch wenn die Professoren, die nostalgisch an ih-rer alten Funktion hängen, lächerlicherweise „ihre Altertüm-lichkeit der Technokratisierung der Universität entgegen“39

setzen.Diese Technokratisierung wird aber gerade von den „Mo-

dernisten der Linken“ propagiert, die „eine ‚Reform der Uni-versitätsstruktur‘ und eine ‚Reintegrierung der Universität indas Gesellschafts- und Wirtschaftsleben‘ fordern, d.h. ihre An-passung an die Bedürfnisse des modernen Kapitalismus“40,heißt es in der Broschüre weiter. „Weit davon entfernt, diesengeschichtlichen Prozess zu kritisieren, der einen der letzten re-lativ autonomen Sektoren des gesellschaftlichen Lebens denForderungen des Warensystems unterwirft, protestieren unse-re Fortschrittsjünger gegen Verspätungen und Stockungen aufdem Weg zu seiner Verwirklichung. Sie sind die Befürworterder zukünftigen kybernetisierten Universität, die sich hier unddort ankündigt.“41

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Und die heute, fast 40 Jahre nach der Veröffentlichung desManifests, gesellschaftlich durchgesetzt ist. Zum Studentenhingegen heißt es weiter: „Im kulturellen Spektakel findet derStudent ganz natürlich seinen Platz als respektvoller Schülerwieder. Nahe am Ort der Produktion, aber ohne ihn jemals zubetreten (…), entdeckt der Student die ‚moderne Kultur‘ alsbewundernder Zuschauer. In einer Epoche, in der die Kunst totist, bleibt er nahezu allein den Theatern und Filmclubs treu undder gierigste Konsument ihres Leichnams, der tiefgekühlt undzellophanumhüllt in den Supermärkten an die Hausfrauen ver-teilt wird.“42

Doch nicht allein der passive Konsum kultureller Warencharakterisiert den Studenten, denn er „freut sich mehr als alleanderen, politisiert zu sein. Er ignoriert bloß, dass er hierandurch dasselbe Spektakel teilhat. So eignet er sich all die lächer-lichen Überbleibsel einer Linken wieder an, die schon vor mehrals vierzig Jahren durch den ‚sozialistischen‘ Reformismus unddie stalinistische Konterrevolution vernichtet wurde.“43 ImÜbrigen aber kommt es beim Studenten „auf einen Archaismusmehr oder weniger nicht an. So glaubt er, dass er allgemeineIdeen über alles haben muss, geschlossene Weltanschauungen,die seinem Bedarf an Unruhe und asexueller Promiskuität ei-nen Sinn geben. Hintergangen durch die letzten Fieberanfälleder Kirche stürzt er sich deshalb auf das Gerümpel der Gerüm-pel, um den verwesten Kadaver Gottes anzubeten und sich andie zerfallenen Überbleibsel der vorgeschichtlichen Religion zuklammern, die er seiner und seiner Zeit würdig glaubt.“44

Auch an diesem Punkt ist die Kritik der Situationisten vonbemerkenswerter Aktualität. Allerdings hat bei dem Studen-

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ten, vor allem dem linken, eine Verschiebung stattgefunden:Seit die lateinamerikanische „Befreiungskirche“, in die er inden achtziger Jahren irreale Hoffnungen auf Gesellschaftsver-änderung projizierte, weitgehend dem Vergessen anheim ge-fallen ist, fällt er vor jedem selbsternannten Mullah auf dieKnie. Wer, wenn nicht der Student, lauscht heutzutage auf denspektakulären Treffen der NoGlobals ergriffen islamischenStars wie Tariq Ramadan, um jeden des „Rassismus“ zu be-zichtigen, der die islamische Konterrevolution kritisiert? Wer,wenn nicht der Student, halluziniert wie der erstbeste daher-gelaufene Foucault über die subversiven Qualitäten einer „po-litischen Spiritualität“45? Der Staat hingegen hat schon seitlangem die Nützlichkeit islamischer Kleriker für die parapoli-zeiliche und ideologische Kontrolle der verarmten Jugendlichenin den westlichen Vorstädten erkannt und setzt sie entsprechendein. Aber auch bei diesen spektakulären NoGlobal-Treffen be-stätigt sich nur, was die Situationisten bereits 1964 konstatierten:„Der Verzicht auf die Kritik der Religion stellt zwangsläufigden letzten Höhepunkt des Verzichts auf jede Kritik dar.“46

Was aber die Revolte auf dem studentischen Gebiet betrifft,stellten die Situationisten fest, dass der Student „gegen nichtsrebellieren (kann), ohne gegen seine Studien zu rebellieren,und er spürt die Notwendigkeit dieser Rebellion wenigernatürlich als der Arbeiter, der spontan gegen seine Lage rebel-liert. (…) Seine extreme Entfremdung kann nur durch die Kri-tik der ganzen Gesellschaft kritisiert werden. Keinesfalls kanndiese Kritik auf dem studentischen Gebiet vollzogen werden:Der Student als solcher maßt sich einen Pseudowert an, derihm verbietet, sich seiner wirklichen Enteignung bewusst zu

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werden, und er bleibt damit auf dem Gipfel des falschen Be-wusstseins.“47

Soweit die Kritik des Studentenmilieus im Jahr 1966. Derinternationale Skandal, den diese Broschüre und die Aktionen,mit denen die Kritik verstärkt wurde, hervor rief, war be-trächtlich.

In „Über unsere Ziele und Methoden im StrasbourgerSkandal“ schrieben die Situationisten: „Wir wollen eigentlich,dass die Ideen wieder gefährlich werden“48, was in der Mai-Re-volte eine schöne Bestätigung fand. Danach wurde die Kritikin der Zeitschrift der Situationisten weitergetrieben. In demArtikel „Der Beginn einer Epoche“ heißt es zu dem Studentenund seiner Rolle im Mai ‘68: „Mit Sicherheit hat es für seineVerwirrung und seine Revolte eine Rolle gespielt, dass seineoptimale Beschäftigung ökonomisch nicht gesichert war undvor allem in Frage stand, ob die ‚Privilegien‘, die ihm die ge-genwärtige Gesellschaft anzubieten vermag, wirklich wün-schenswert sind. Gerade darum werden doch die Studentenzum gierigen Vieh, das in der Ideologie des einen oder ande-ren bürokratischen Grüppchens sein Qualitätssiegel findenmöchte. Der Student, der sich als Bolschewist oder siegreicherStalinist – d.h. als Maoist – sehen möchte, spielt auf zwei Kla-vieren. Falls sich die Macht nicht nach seinen Wünschen ändert,rechnet er damit, als Führungskraft des Kapitalismus lediglichaufgrund seiner Studien irgendein Fragment der Gesellschaftverwalten zu können. Für den Fall, dass sein Traum Wirklich-keit wird, sieht er sich noch ruhmvoller als ‚wissenschaftlich‘garantierter Verwalter auf einer noch höheren Stufe der politi-schen Führung.“49

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Da sein Traum keine Wirklichkeit wurde, war der Studentzunächst auf die schmähliche Funktion als Führungskraftzurückgeworfen. Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen an-geblich rebellischen Studenten und angeblich integrierten Ar-beitern aber schrieben die Situationisten: „Auch die Arbeiterverbringen ihr Leben mit dem Konsum des Spektakels, derPassivität, der Lügen der Welt der Ideologien und der Waren.Darüber hinaus machen sie sich jedoch über die konkreten Be-dingungen und den Preis, die ihnen in jedem Augenblick ihresLebens durch die Produktion all dessen aufgezwungen wird,weniger Illusionen als irgend jemand sonst. Aus all diesenGründen bildeten die Studenten im Mai 1968 als sozialeSchicht, die ebenfalls in der Krise steckt, nichts anderes als dieNachhut der gesamten Bewegung.“50 Das ist natürlich ein un-verdaulicher Brocken für alle, die die 68er-Bewegung als „Stu-dentenbewegung“ verstanden wissen wollen, um jede Erinne-rung an den „wilden“ Generalstreik mit Fabrikbesetzungen zutilgen. Es besteht kein Zweifel daran, dass es sich dabei meistum ehemalige Studenten handelt, die ihre eigene Rolle in denUnruhen in ein mystifizierendes Licht tauchen wollen.

Der schonungslose Umgang aber der Situationisten mitden Rollen und Funktionen, welche die Gesellschaft des Spek-takels ihren Insassen zur Verfügung stellt, ermöglicht eine ent-mystifizierende Kritik auch der Bewegungen, die sich heutzu-tage, in einer Epoche der Restauration, entfalten.

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DER AUSGEFALLENE GENERALSTREIK

Doch trotz der restaurativen gesellschaftlichen Tendenzenzeigt sich in Frankreich im Jahr 2003, wie schnell die Gesell-schaft von plötzlichen Eruptionen erschüttert werden kann.Ende März brechen Streiks in den Schulen aus, beginnend inärmeren Regionen wie Seine-St.Denis, und zwar gegen ein De-zentralisierungsgesetz der Regierung. Insbesondere soll derZentralstaat demnach nicht mehr als Arbeitgeber von Dienst-leistungspersonal in den Schulen (überwiegend Arbeiter, Sozi-alarbeiter, Berufsberater, Ärzte) fungieren; dieses soll von denDepartements übernommen und von den Regionen und Kom-munen bezahlt werden, was ca. 100 000 Stellen betrifft. Daslöst bei den Lehrern unter anderem die Befürchtung aus, dasswegen der unterschiedlichen Finanzkraft der Regionen dieschulische Ausbildung hierarchisiert wird.

Schnell weiten sich die Lehrerstreiks im ganzen Land aus.Ende April entbrennt zudem ein Konflikt um die Renten imöffentlichen Dienst. Vor allem soll die Beitragszeit von 37,5auf 40 Jahre hochgesetzt werden, was im Privatsektor in denJahren zuvor bereits stufenweise durchgesetzt wurde. Manmuss länger arbeiten, weil man ja auch länger lebt: Mit diesemArgument versucht die Regierung – ungeachtet der Steige-rungen der Produktivität -, die Rentenreform zu verkaufen.Die Gruppe Temps critiques kommentiert: „Wie kann manschroffer sagen, dass das Rentensystem nur so lange lebens-fähig ist, wie die Individuen nicht oder nicht zu lange davonprofitieren? Und tatsächlich funktionierte das System, das amRande der ‚Glorreichen Dreißig Jahre‘ installiert wurde, mit

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einem perfekten Zynismus: Jenseits des öffentlichen Dienstesund seiner Spezialregelungen wurde die Rente mit 65 Jahrenauf Arbeiter (zu dieser Zeit 40 bis 50 Prozent der aktiven Be-völkerung) angewandt, deren durchschnittliche Lebensdauerum die 60 Jahre betrug.“51

Auch die Lehrer trifft diese geplante Neuregelung. Siekämpfen sozusagen an zwei Fronten gleichzeitig und stellenden harten Kern der Streikbewegung im öffentlichen Dienstdar. Die Organisation des Streiks findet überwiegend in Basis-versammlungen statt, die teils branchenübergreifend sind.

Im Mai treten zudem die Eisenbahner in den Streik. Damithat die Bewegung die Grenze des unmittelbaren Interessen-kampfes überschritten: Die Rentenreform berührt die Interes-sen der Eisenbahner nicht, die einer Sonderregelung unterwor-fen sind. Allerdings scheitert der Versuch von radikalerenEisenbahnern, den Streik über den Aktionstag vom 13. Mai, einerster Höhepunkt der Proteste, hinaus auszudehnen. An die-sem Tag sind landesweit zwischen einer Million (so die Poli-zeiangaben) und zwei Millionen (Gewerkschaftsangaben)Menschen auf der Straße, mit hoher Streikbeteiligung auf demEnergiesektor, bei Post und Telekom, bei diversen landesweiterscheinenden Tageszeitungen, bei Radio France und demFernsehsender France 3. In einigen Bahnhöfen kommt es in derFolge zu handfesten Auseinandersetzungen mit Bürokratender der KP nahestehenden Gewerkschaft CGT, die eine „wil-de“ Fortsetzung des Streiks nicht dulden wollten. Aber dieseForm der „Autonomie“ bleibt eingeschränkt. Zwar verbreitetsich der Ruf nach einem Generalstreik sehr rasch in den Ver-sammlungen und auf den immer größer werdenden Demon-

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strationen, doch die Taktik der CGT, auf einzelne Aktionstagehin zu mobilisieren, setzt sich durch. Und außerhalb der Akti-onstage ist der Streik, abgesehen von den Schulen, minoritär.

Im Mai ruft außerdem die globalisierungskritische Bewe-gung zu Protesten gegen ein G8-Gipfeltreffen in Evian auf.Gewisse absurde Züge sind dabei nicht zu übersehen. Bereitsin der Phase der Vorbereitung des Gegengipfels traf sich derfranzösische Staatspräsident, Jacques Chirac, mit 20 NGO.Bei dieser Gelegenheit erklärte der Vorsitzende von AttacFrankreich, Jacques Nikonoff, dem Staatspräsidenten „im Na-men von Attac“ die „totale Unterstützung für Ihre Tätigkeit,ebenso wie die des Außenministeriums, gegen den Krieg imIrak“ und sagte: „Sie haben für den Frieden, gegen eine uni-polare Welt, für die Respektierung des internationalen Rechtsgearbeitet, und wir begrüßen Ihren politischen Mut. Sie habensehr zum Glanze Frankreichs beigetragen.“ Doch eine Klei-nigkeit trübt den Glanz der „Grande Nation“: „Wir weisen dieInnenpolitik zurück, die von den G8-Ländern, insbesondereFrankreich, auf dem Gebiet der Renten, der Beschäftigung, derGesundheit, der Ausbildung durchgeführt wird. Diese Politikbleibt vollständig inspiriert vom angelsächsischen Liberalis-mus.“52 In der Frage der Konkurrenz zwischen dem „altenEuropa“ und den Vereinigten Staaten um die Hegemonie imNahen Osten ergreift Nikonoff also mit nationalistischer Ver-ve Partei für den französischen Staat, im innenpolitischenKonflikt um Renten usw. dient ihm der „angelsächsische Li-beralismus“ als Sündenbock.

Auf dem Gegengipfel wird zudem eines klar: Bis auf dieGewerkschaftsaktivisten, insbesondere die von der linksalter-

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nativen Gewerkschaft Sud und der anarchosyndikalistischenCNT, können die Altermondialisten, wie sich die Anhängerder globalisierungskritischen Bewegung in Frankreich be-zeichnen, mit den Streiks nicht viel anfangen. Die GruppeTemps critiques bemerkt dazu: „Auf Initiative der Leitungender Gewerkschaftsorganisationen und der Assoziationen ist inden Generalversammlungen der Anti-G8-Dörfer von Anne-masse die Verbindung mit der Bewegung gegen die Rentenre-form diskutiert worden. Auf globale Weise zeigte sich, dassdiese Verbindung von den Beteiligten nicht wirklich für ent-scheidend gehalten wurde, weil die Ziele dieses Kampfes nicht‚umfassend‘ genug seien, nicht die ganze ‚Menschheit‘ beträ-fen. Aber ohne wahrzunehmen, dass diese Forderung nachUniversalität ins Wasser fällt, wenn die Mehrheit der ‚Alter-mondialisten‘ letztlich das Wesentliche der Kapitalisierung derWelt akzeptiert, außer… wenn sie vom ‚Liberalismus‘ durch-geführt wird!“53

Auch wenn die Altermondialisten weit davon entferntsind, der Streikbewegung entscheidende Impulse zu geben,macht sich in der Regierung Unruhe breit. Ende Mai ver-schiebt sie die geplante Universitätsreform auf den Herbst, umzu vermeiden, dass neue Unruheherde entstehen. Im Übrigenspielt sie auf Zeit. Sie rechnet damit, dass die Mobilisierungenim öffentlichen Dienst Anfang Juli, zu Beginn der Sommerfe-rien, enden werden.

Die so genannte kommunistische Partei ihrerseits erreichtmit einem Aufruf zu einem „Bürgerforum“, der am 3. Juni beieinem weiteren Aktionstag verteilt wird, den Gipfel der Ideo-logisierung, zu einer Zeit, in der auf den Demonstrationen die

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Abschaffung der Regierungsprojekte – und keineswegs derenNeuverhandlung – sowie der Generalstreik im Zentrum ste-hen: „Eine große Mehrheit der Lohnabhängigen will, dass dieRegierung ihre Projekte zurückzieht, um mit den Sozialpart-nern wirkliche Verhandlungen für eine andere Reform zueröffnen. Es ist Zeit, die verfügbaren enormen Reichtümer be-reit zu stellen, die heutzutage in der Spekulation und in den Fi-nanzprofiten vergeudet werden.“ Schließlich gehe es bei der„Volksmobilisierung“ (mobilisation populaire) darum, „unse-re Schule und unsere Renten vor den Mächten des Geldes zuretten“, was die Regierung mit ihrer „unverantwortlichen Po-sition“ nicht sehen wolle. Volksmobilisierung gegen die „Fi-nanzspekulation“ und die „Mächte des Geldes“, die unsereSchule und unsere Renten bedrohen: Weiter so, Volksgenos-sen! Die ehemaligen Stalinisten präsentieren sich, nachdem ih-nen aus unerfindlichen Gründen ihr großartiger autoritärerPseudo-Sozialismus abhanden gekommen ist, als eine Mi-schung aus Attac – gegen Spekulation und Finanzmärkte, fürBürgerrevolte – und verantwortlicher Sozialpartnerschaft.Doch sie haben insofern leichtes Spiel, als die Inhalte desKampfes in dem engen Rahmen gewerkschaftlicher Forderun-gen bleiben und die Versammlungen sich als unfähig erweisen,einen Generalstreik zu organisieren.

DIE REVOLTE DER KULTURPREKÄREN

Anfang Juni tritt ein drittes Element in die Auseinanderset-zungen ein, die so genannten Intermittents du spectacle, die

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Kulturprekären. Sie sind nicht fest angestellt; sie arbeiten inder Regel an Projekten, die zeitlich befristet sind. Die Zeitender Beschäftigung wechseln sich ab mit Zeiten der Beschäfti-gungslosigkeit, in denen neue Projekte vorbereitet werden.

Nach Angaben von Pierre-Michel Menger, Forscher amCentre national des recherches scientifiques (CNRS), hat sichdie Situation auf dem entsprechenden Segment des Arbeits-markts folgendermaßen verändert54: In den zehn Jahren von1993 bis 2003 ist die Anzahl der Unternehmer um 125 Prozentgestiegen, die Zahl der Arbeitsverträge um 190 Prozent, die derLohnabhängigen aber lediglich um 94 Prozent (auf insgesamtrund 100 000), das Gesamtvolumen der Arbeit, das sie untersich aufteilen, um 48 Prozent. Menger schreibt: „Die Verant-wortung des Unternehmers im Hinblick auf die Karriere sei-ner prekären Lohnabhängigen hat sich in einem Bassin vonHunderttausenden vertraglicher Transaktionen pro Jahr auf-gelöst. Und die Aufwendungen für die Arbeitslosenallokatio-nen sind schneller gestiegen als die Lohnmasse.“55

Lassen wir die angebliche „Verantwortlichkeit“ des Un-ternehmers für die Karrieren „seiner“ Untergebenen einmalbeiseite, so wird aus Mengers Artikel klar, dass es sich um ei-nen hochgradig zersplitterten Arbeitsmarkt mit Klitschenpro-duktion und hoher Fluktuation von immer mehr Arbeitskräf-ten handelt, die sich um ein Arbeitsvolumen balgen, das mitdem Wachstum der Anzahl der Arbeitskräfte nicht Schritt hält.

Für die Kulturprekären gelten in Frankreich Sonderrege-lungen, die ihnen trotz ihrer prekären Lage Ansprüche auf Ar-beitslosenunterstützung einräumen. Diese Sonderregelungen,die Annexe VIII und X, die von der Regierung nunmehr ange-

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griffen werden, sahen folgendes vor: Konnte ein Kulturprekä-rer 507 Stunden Beschäftigung innerhalb von 12 Monaten nach-weisen, so hatte er für die Zeiten der Nichtbeschäftigung in-nerhalb eines Jahres Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung.Kein Wunder also, dass unter den von Menger beschriebenenBedingungen in den Kassen der Unedic (lokale Arbeitsämter)ein ständig anwachsendes Defizit zu verzeichnen ist. Die Re-gierung sieht sich deswegen veranlasst, eine „Reform“ vorzu-nehmen.

Barabara Serré-Becherini, eine Videocutterin, die sich ander Bewegung bis Juli 2003 beteiligt hat, schreibt im Hinblickdarauf: „Um einen Beitrag zu leisten, das Loch in der Kasse derUnedic zu stopfen, (…) wird im August 2002 das Aufkommender Beschäftigten- und Unternehmerbeiträge verdoppelt; imDezember predigt der ‚Roigt-Klein-Bericht‘ die ‚Neuver-handlung‘ der berühmten ‚Annexe VIII und X‘, indem er zahl-lose ‚Missbräuche‘ anprangert. Das bedeutete, an einen SektorFeuer zu legen, der sich oft für die Aufrechterhaltung ‚seiner‘Annexe eingesetzt hat, und schnell mobilisieren die Gewerk-schaften (in erster Linie die CGT, nicht aber die ultramino-ritären ‚gelben Gewerkschaften‘ wie die CFDT) über ihredürftigen Truppen hinaus, bevor sie die Parole vom ‚General-streik des Theaters, des Kinos und der audiovisuellen Medien‘für den 25. Februar 2003 lancieren, der weitestgehend befolgtwird.“56

Aber durch diese punktuelle Aktion kann das Regierungs-projekt natürlich nicht verhindert werden, und erst kurz vorder „Neuverhandlung“ der Annexe VIII und X entwickeltsich ernsthafter Widerstand. Während die CGT-spectacle eine

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Demonstration der Kulturprekären für den 11. Juni vorberei-tet, organisieren unabhängig von der CGT Anhänger derGruppe PAP57 und der anarchosyndikalistischen CNT inschneller Folge Aktionen im Sektor des Spektakels.

Die Aktivisten handeln als Minderheit und auf dem über-aus zersplitterten Terrain der kulturellen Produktion, was ei-nen kollektiv geführten Interessenkampf schwierig macht. Inder ersten Phase geht es daher vor allem darum, mit weiterenUnzufriedenen in Kontakt zu kommen und die eigenen For-derungen zu propagieren. Das Mittel dazu sind insbesondereBesetzungen, bei denen Versammlungen mit anfangs oft nur 25oder 30 Beteiligten abgehalten werden, um mit anderen Kul-turprekären zu diskutieren.

In dieser ersten Phase unterbrechen die Aktivisten in Thea-tern die Vorstellungen, um dem Publikum Flugblätter mit deneigenen Forderungen vorzulesen. Stundenweise besetzen sieTheaterfoyers, um einen Treffpunkt für Versammlungen, einenRaum mit Computer und Telefon oder zumindest einen Tischfür das Auslegen von Flugblättern und Broschüren auszuhan-deln. Ein Studio von Radio Europe 1 wird okkupiert, um – er-folglos – eine halbe Stunde Sendezeit zu fordern. Bei einer Ak-tion in den Redaktionsräumen der Tageszeitung Libérationkann zumindest der Abdruck eines Artikels zur Problematikder Kulturprekären durchgesetzt werden. Das Ziel all dieserAktionen ist es, die Kampfbedingungen zu verbessern.

Nach dem ersten Höhepunkt der Proteste am 13. Mai, dernicht für eine „wilde“ Ausweitung der Streiks genutzt werdenkonnte, kommt es am 10. Juni, einem weiteren Aktionstag mitGroßdemonstration, in Paris zu einer Eskalation. Während in

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der Nationalversammlung über die Rentenreform diskutiertwird, nebeln die Flics die Place de la Concorde am gegenüberliegenden Ufer der Seine, wo die Demonstration enden soll,mit Tränengas ein. Einige hundert Demonstranten liefern sichmit ihnen eine Straßenschlacht. Aber der Großteil der De-monstration wird vom Ordnerdienst der CGT umgeleitet, da-mit er nicht in die Auseinandersetzungen verwickelt wird. Et-wa 1000 bis 2000 Demonstranten ziehen von der Place de laConcorde los in Richtung Opéra Garnier, ein Teil von ihnenplatzt in die Aufführung von Mozarts Cosi fan tutte. Die Po-lizei räumt die Oper und sperrt etwa 60 Protestierende – Ge-werkschafter, Lehrer, Kulturprekäre: ein Querschnitt der Be-wegung – über Nacht ein.

Tags darauf demonstrieren unter Leitung der CGT rund3000 Kulturprekäre gegen das Projekt zur Einschränkung ih-rer Arbeitslosenbezüge. Doch langsam, aber sicher läuft derBewegung gegen die Schul- und Rentenreform die Zeit davon.Anfang Juli beginnen die Sommerferien, und dann sind die Ak-tivitäten nicht weiter aufrechtzuerhalten. Die Durchschlags-kraft der Aktionstage ist begrenzt. Zwar wird auf größerenVersammlungen von Kulturprekären mit einigen hundert Be-teiligten im Juni mehrere Male für den „sofortigen und täglicherneuerbaren Generalstreik“ auf dem Sektor des Spektakelsvotiert, doch die CGT schafft es, einen Beginn des Streiks vordem 26. Juni – dem Tag der Unterzeichnung des „neuverhan-delten“ Statuts der Kulturprekären – zu verhindern, schreibtBarbara Serré-Becherini und fährt fort: „Dementsprechendwird die CGT beschuldigt, den von der Regierung aufge-zwungenen Zeitplan zu respektieren, der den Konflikt mit den

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Kulturprekären auf die Zeit nach dem Abitur verschiebt. Aufeiner branchenübergreifenden Versammlung im DépartementSeine-Saint Denis, an der ich zu jener Zeit teilnahm, fordernLehrer, Postangestellte, Beschäftigte aus dem Krankenhausund andere aus dem öffentlichen Dienst zum x-ten Mal ver-geblich, für jenen berühmten unbegrenzten Generalstreik zuvotieren, der damals in allen Köpfen war. Und der nur dank derLügen der Gewerkschafter (die eine Wiederaufnahme desStreiks versprechen, ‚die dem Mai ‘68 würdig ist‘) vermiedenwird.“58

In Anbetracht der nahenden Sommerferien und des aus-bleibenden Generalstreiks versucht eine Minderheit der strei-kenden Lehrer noch, die Aktionsformen zu radikalisieren. EinBoykott der Abiturprüfungen soll die Regierung zum Nach-geben bewegen. Doch der geplanten Radikalisierung derKampfform entspricht keine Radikalisierung der Inhalte, wieTemps critiques analysieren59: Das Abitur verhindern zu wol-len, führt nicht dazu, es auf den Versammlungen zu kritisieren.Doch wenn die Lehrer für die Aufrechterhaltung des Abitursund der gegenwärtigen Formen der Bewertung sind, werdensie es auch nicht behindern. Und genau das geschieht: EinBoykott des Abiturs bleibt aus, zu Beginn der Sommerferienversandet die Bewegung gegen die Schul- und Rentenreform.In der Anhänglichkeit der Lehrer an die Egalität der Instituti-on Schule, die sie durch das Dezentralisierungsgesetz gefähr-det sehen, und an den nationalen Charakter der Diplomedrückt sich nach Ansicht von Temps critiques eine eher jako-binische politische Überzeugung aus. Und der Widerspruchzwischen der formellen Autonomie der Bewegung und der ja-

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kobinischen politischen Überzeugung verhindert jede weiter-gehende Perspektive.

Die Kulturprekären bleiben somit zunächst allein auf wei-ter Flur zurück. Aber ihre Bewegung kommt erst jetzt richtigin Schwung. „In der Nacht des 26. Juni wird, wie vorhergese-hen, das neue Protokoll über das Statut der Kulturprekären ge-gengezeichnet, dank der Kollaboration des Gewerkschaftsap-parats CFDT (gegen die Stimme der CFDT-Gewerkschafterselbst!), einige Stunden nach einer Demonstration in Paris mitmehr als 10.000 Personen. Vom nächsten Tag an reorganisiertsich die Masse, die an den Versammlungen und den Aktionender CGT beteiligt war und zu der nun zahlreiche Neuankömm-linge stoßen, spontan außerhalb jeder Gewerkschaft und bildetdie ‚Koordination der Intermittents und Prekären – Île deFrance‘ (‚CIP-IdF‘). Diese Selbstorganisation der IM istzunächst Folge ihrer (relativen) Radikalisierung, aber auch derTreffen und Aktionen, die in den vorangegangenen Wochenohne die CGT von PAP und der CNT-spectacle organisiertworden waren.“60

Die Bezeichnung als „Koordination der Intermittents undPrekären“ reflektiert eine politische Strategie, die insbesonde-re von den Assoziierten Prekären von Paris vertreten wird. DieKoordination soll nicht allein den Interessenskampf der Kul-turprekären gegen die Verschlechterung ihrer Sonderregelun-gen führen, vielmehr soll sie prinzipiell offen sein für alle, dieprekären Beschäftigungs- und Überlebensbedingungen unter-worfen sind und sich gegen diese wehren wollen. Die Kultur-prekären stellen in den Augen der Assoziierten Prekären nurein Beispiel dar für die generelle Prekarisierung, der immer

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mehr Arbeiter unterworfen sind. Insofern soll über den Ab-wehrkampf der Kulturprekären hinaus versucht werden, dieSonderregelungen potenziell auf alle Prekären auszuweiten;die andere politische Klammer soll die Forderung nach einemgarantierten Einkommen darstellen, unter der auch Arbeitslo-se und Sozialhilfeempfänger sich in die Auseinandersetzungenintegrieren sollen. Aber diese – die Grundkategorien des Ka-pitalismus wie Geld, Arbeit, Staat affirmierende – Strategiefunktioniert nicht. Man wird sehen, warum.

Zunächst aber schwappt eine Welle direkter Aktionendurch den Sektor des Spektakels. Auf den Vollversammlungender Pariser Koordination sind hunderte von Kulturprekärenversammelt, oft finden nach dem Ende der Versammlung Ak-tionen statt, die von der Aktionskommission vorbereitet wur-den. Eine Aufführung in der Comédie francaise wird sabotiert,indem Hunderte vor dem Gebäude laut klatschen und Parolenrufen, an einem Abend wird das Lido blockiert, am einem an-dern Kinos, wilde Arbeitsniederlegungen finden statt oder In-terventionen in TV-Lifeshows. In der Provinz etablieren sichnach dem Pariser Muster weitere Koordinationen, insgesamt28 werden es sein. Zudem werden die großen kulturellen Som-merfestivals bestreikt und fallen ins Wasser – ein harter Schlagfür die Tourismusindustrie, die vor allem in der Provinz vondiesen kulturellen Spektakeln abhängig ist.61

Doch die direkte Demokratie in der Pariser Koordinationwährt nur kurze Zeit. „Schnell organisiert sich die Koordina-tion in ‚Kommissionen‘, die gehalten sind, der Generalver-sammlung Rechenschaft von ihren Aktivitäten abzulegen (…):In einigen dieser Kommissionen werden die Neigungen von

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Künstlern und Politikern zur Paranoia, zum Egozentrismus,zum Sektenwesen, zur aktivistischen Meritokratie etc. Gestaltannehmen, die mehr und mehr Leuten missfallen werden“62,schreibt Barbara Serré-Becherini. „Eine ‚Kommission Vor-schläge-Forderungen‘ wird sofort zum Ziel von Manövern derGarantiertes-Einkommen-Politiker, und die Schaffung einer‚kommissionsübergreifenden Kommission‘, die aus jederKommission je einen Repräsentanten vereint und über die Ta-gesordnung der Versammlungen entscheidet, lässt schnell vor-aussehen, dass bestimmte Entscheidungen von einer kooptier-ten Minderheit getroffen werden könnten, zum Schaden derbesten demokratischen Willensäußerungen. Als die Aktivistender ersten Tage erschöpft ihre Mandate niederlegen, werden sievon den Künstlern und den Politikern ersetzt, die der direktenDemokratie und der Souveränität der Versammlung ein Endebereiten werden: In der zweiten Hälfte des Juli wird so hinterdem Rücken der Versammlung eine ‚Kommission Beziehun-gen zu den Abgeordneten‘ geschaffen, und man munkelt, dassdie schauerliche so genannte sozialistische Partei die ‚bran-chenübergreifende Kommission‘ unterwandert. In den Ver-sammlungen muss man künftig schon dafür kämpfen, dass vorden Abstimmungen überhaupt eine Debatte stattfindet.“63

Auch inhaltlich regrediert die Bewegung. Unwiderspro-chen wird bereits Ende Juni auf einer Vollversammlung der Pa-riser Koordination zur Verteidigung der „exception culturellefrancaise“, der berühmten „französischen kulturellen Aus-nahme“, aufgerufen, das Instrument des französischen Staatszur Programmierung seiner Kulturpolitik. Und im Juli spiegeltein Text der „commission lien-Europe“ (etwa: Kommission

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Verbindung-Europa) das ganze Elend affirmativen Denkens wi-der: „Liebes Publikum, liebe Künstler und Bühnentechniker!Wir, Künstler und Bühnentechniker aus Frankreich, wendenuns heute an Sie, denn wir sind in einer Notstandssituation: Am26. Juni wurde ein vom französischen Arbeitgeberverband (Me-def) initiierter Vertragsentwurf, der unsere berufsspezifische Ar-beitslosenversicherung betrifft, von drei minderheitlichen Ge-werkschaften unterzeichnet. (…) Doch die Logik, auf die sichdieser Vertragsentwurf stützt, ist nicht nur ein ‚französischesProblem‘, sie geht viel weiter: Es ist eine Logik der Kulturver-marktung, die die Produktion materiellen Reichtums zum ein-zigen Wert erhebt (…) Sie ist auch Symptom einer politischenTendenz, die ganz Europa betrifft, das bis jetzt die so genann-te ‚europäische kulturelle Ausnahme‘ bewahrt hat. Diese ‚kul-turelle Ausnahme‘ besteht darin, durch Gesetze der Europa-konvention das Prinzip der Subventionierung von Kultur zuschützen, und wehrt sich dagegen, die Kultur als einfachesHandelsgut zu betrachten. Trotzdem existiert in vielen eu-ropäischen Ländern immer noch so gut wie keine soziale Ab-sicherung für Künstler. (…) Wir rufen Sie alle auf, Sie alle, diewie wir das Theater lieben, Sie alle, die wie wir denken, dassdie Produktion menschlichen und intellektuellen Reichtumsein Grundwert ist, den es zu verteidigen gilt – wir rufen Sie auf,solidarisch zu sein mit dem Kampf der Künstler für den Schutzder Kreation und der in ihr Wirkenden, in Frankreich wie inallen anderen Ländern Europas auch.“64

Natürlich handelt es sich bei diesem Text um einen Ver-such, die Bewegung zu internationalisieren, aber lediglich als„Kampf der Künstler für den Schutz der Kreation und der in

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ihr Wirkenden“, was ein wenig an Appelle zum Schutz be-drohter Tierarten erinnert. Verschwunden sind die Prekärenaußerhalb der spektakulären Kulturproduktion, welche dieKoordination ihrem Namen nach ja auch organisieren will.Die „französische kulturelle Ausnahme“ wird großzügig zur„europäischen“ erklärt und als „Subventionierung von Kul-tur“ verstanden – kein Gedanke an die Kritik des Spektakelsund der Kommodifizierung der „Kultur“; vielmehr erinnert dieder Europakonvention untergeschobene Absicht, die Kulturnicht „als einfaches Handelsgut“ zu betrachten, an die allmo-natlich von Le Monde diplomatique verbreitete staatsfetischi-stische Ideologie: der „regulierende“ Staat als Bündnispartnerim heldenhaften Kampf gegen den angelsächsischen Ultralibe-ralismus, Hollywood und den amerikanischen Kulturimperia-lismus. Im Übrigen wird der „Produktion materiellen Reich-tums“ umstandslos die „Produktion menschlichen undintellektuellen Reichtums“ entgegengesetzt, während beidedoch von der Logik der Ware kommandiert werden.

„In dieser Periode“, schreibt Barbara Serré-Becherini,„können alle Debatten in der strategischen Frage zusammen-gefasst werden: Soll man angesichts der Unflexibilität der Re-gierung die Aktionen radikalisieren, indem man sie anderen imKampf befindlichen Sektoren öffnet? Oder soll man eher ver-suchen, die Gunst der Öffentlichkeit und der Kulturwelt zugewinnen? Anfangs denkt die übergroße Mehrheit, dass diesebeiden Strategien zusammen verfolgt werden können, und wirsind nur einige vereinzelte Individuen, die versichern, dass derEinheitsdiskurs über die ‚Rettung der französischen Kultur‘jede praktische Solidarität mit den anderen Sektoren außerhalb

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einer pseudo-privilegierten sozialen Nische, für welche die‚französische Kultur‘ speziell bestimmt ist, verhindert: Diegroße Masse der Bevölkerung, und insbesondere die anderenprekären Arbeiter, war nicht im geringsten von der ‚Zukunft‘dieser verfaulten Ware betroffen.“65

Zwar teilen nicht alle diese Sichtweise, aber „die ‚kulturel-le‘ Strategie wird regelmäßig durch Interventionen von Leh-rern verstärkt, die sich, als Publikum der Theatersäle und Fest-ivals, mit den Forderungen der Kulturprekären solidarischerklären. Im Vertrauen auf diese Unterstützung gelingt es denKünstlern nach und nach, ihre Ideologie durchzusetzen. Sieverteidigen eine vorgeblich ‚engagierte‘, ‚wahre Kultur‘ gegendie Angriffe einer ‚Massensubkultur‘, der sie misstrauen (ichhabe nie begriffen, wo diese ‚engagierten Künstler‘ die Gren-ze ihres Misstrauens ziehen. Der Inhalt ihrer ‚Werke‘ – die oh-ne die Subventionen des Kulturministeriums oder zumindestder Stadt Paris nicht existieren würden – überschreitet seltenden Moralismus eines Einführungskurses in Staatsbürgerkun-de).“66

Auch auf der Ebene der Aktionsformen sind gewisse De-fizite zu verzeichnen. Temps critiques bemängelt, dass in demStreik „nie die Kritik der Tätigkeit als solcher ausgedrücktwurde“, und analysiert: „Was ins Auge gefasst wurde, war so-mit nicht die Abschaffung des Spektakels als getrenntermenschlicher Tätigkeit, sondern seine Suspendierung. (…) dieKulturprekären haben ein weiteres Mal die Erfahrung ge-macht, dass es nicht möglich ist, die ‚Öffentlichkeit‘ hinter denForderungen und Aktionen zu sammeln, ohne die Existenzdes Spektakels selbst aufzulösen, ohne mit bestimmten Funk-

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tionen und Rollen zu brechen. Angesichts von Reaktionen wie‚Amüsiert uns und haltet die Klappe!‘, die eine Nichtanerken-nung des Künstlers als menschliches Individuum signalisieren,kann dieser dann mehr oder weniger bewusst antworten:Wenn ihr mir diese Anerkennung verweigert, werdet ihr kei-nen Zugang zu meiner Kunst haben. Alle Welt verbleibt dannin der ursprünglichen Trennung, der des Tauschvertrags zwi-schen Verkäufer und Käufer, Schaffenden und Konsumen-ten.“67

Zumindest in anderer Hinsicht aber enthält die Bewegungder Kulturprekären auch sprengende Momente. Barbara Serré-Becherini bemerkt: „Die endlosen Debatten, ob die Blockadebestimmter ‚Off‘-Festivals oder ‚engagierter‘ Theaterauf-führungen nun angemessen sei, die manchmal von den Direk-toren und Organisatoren selbst abgeschnitten wurden (…),die Frage, ob man die Öffentlichkeit mit Hohngelächter emp-fangen sollte oder nicht, wenn sie ihre Unzufriedenheit kund-tat, des Spektakels beraubt zu sein, sind der Beweis, dass dieBewegung der Kulturprekären auch eine illusionslose Revoltegegen die sehr simple Perspektive ausgedrückt hat, mehr ar-beiten zu müssen, um weniger Geld zu verdienen: Auf dieserelementaren Grundlage hätte sich die Bewegung explizit als‚sommerliche‘ Folge der sozialen Bewegung des Frühjahrs ent-wickeln können und müssen.“68

Diese hier vorgestellte „elementare Grundlage“ beschränktdie Kritik jedoch auf die ökonomischen Zumutungen der kul-turellen Warenproduktion, auf die Verteilung des Mehrwerts.Insofern stellt sie auch einen Rückzug vor den subjektivenMängeln der Bewegung dar. Das kommt nicht von ungefähr,

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denn „das Gesetz des Schweigens zu brechen, das die Produk-tionsweise der ‚Kultur‘ verdeckt, d.h. den kulturellen Markt zusabotieren, erscheint vielen als ‚selbstmörderisch‘… So siegtdie ‚kulturelle‘ Strategie schließlich schnell, unter der Führunglinker Künstler und der Vertreter eines Garantierten Einkom-mens. Daher der beschleunigte Verfall der Bewegung der Kul-turprekären, vom lächerlichen Happening (…) über die Trans-formation der Koordination der Intermittents und Prekärender Île de France in einen Verein nach dem Gesetz von 1901 biszur letzten Forderung nach einer ‚Debatte über die Zukunftder Kultur‘ auf einer öffentlichen TV-Kette zur besten Sende-zeit… All das, um letztlich nichts zu erreichen: Was also konn-ten die Kulturprekären bei der Sabotage der ‚Kultur‘ verlieren,was sie nicht mit ihrer feigen ‚kulturellen‘ Strategie verlorenhaben?“69

Im Hinblick auf die angeblich subversiven Qualitäten derKultur oder auch der Kunst aber ist zu konstatieren: „So prä-sentiert sich die ‚Kultur‘ (oder die ‚Kunst‘) nicht nur als eineIdeologie von Possenreißern, sondern auch als ein Deckman-tel der Mäßigung. Die Situationistische Internationale (da indieser Geschichte sich so viele, explizit oder insgeheim, aufGuy Debord und seine Genossen beziehen) folgerte dennochvor bereits vierzig Jahren, dass es in der Perspektive der Sub-version dieser Gesellschaft perfekt vergeblich ist, sich einer‚künstlerischen‘ Logik zu verschreiben, als sie alle ihre Mit-glieder ausschloss, die noch diese Illusion teilen konnten: unddas in einer Epoche, in der die künstlerische ‚Avantgarde‘-Ak-tivität noch nicht allein das reine Plagiat, oder bestenfalls dieplatten Imitationen, der zeitgenössischen Scharlatane war!“70

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DAS NACHSPIEL

Im August findet erneut ein Treffen der globalisierungskriti-schen Bewegung statt. 250 000 Personen treffen sich auf demLarzac, wo Mitte der siebziger Jahre die Errichtung einesTruppenübungsplatzes verhindert wurde. Jacques Nikonoffbleibt es vorbehalten,71 das Totenlied auf die Bewegung vomFrühjahr 2003 anzustimmen, indem er versichert: „Tatsächlichist Larzac 2003 das wichtigste Treffen, das bis zu diesem Tagein Frankreich von den Altermondialisten verwirklicht wurde.Eine Macht ist geboren. Das Larzac 2003 bezeugt die Konti-nuität der sozialen Mobilisierung des Frühlings und bekräftigtdas Aufsteigen der altermondialistischen Bewegung als größe-rem Akteur in der Debatte von sozialen und politischenIdeen.“ Nebenbei erinnert er an „die positive Rolle, die derStaat spielen könnte“.

Die Rolle des linksradikalen Hofnarren auf dem Larzacübernimmt José Bové, dem die französische Justiz einen veri-tablen Märtyrerstatus verschaffte, als sie ihn im Juni brachialverhaften und für einige Wochen ins Gefängnis sperren ließ.Bei dem Treffen auf dem Larzac ruft er auf vollständig illu-sionäre Weise zu einem „brennenden Herbst“ auf: Ab 6. Sep-tember solle die Bewegung auf die Straße gehen, um gegen einTreffen der Welthandelsorganisation im mexikanischen Can-cún, gegen Privatisierungsvorhaben der französischen Re-gierung usw. zu demonstrieren. Einige Tausend folgen demAufruf, aber die von Gewerkschaftern angekündigte „Wie-deraufnahme des Streiks, die dem Mai ‘68 würdig“ sein soll-te, bleibt selbstverständlich aus: Ist die Dynamik einer Streik-

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bewegung erst einmal gebrochen, lässt sie sich nicht einfach aufKnopfdruck wieder herstellen. Und so bezeugt das spekta-kuläre Treffen auf dem Larzac weder die Nikonoffsche „Kon-tinuität der sozialen Mobilisierung“, noch trägt es zu einemBovéschen „brennenden Herbst“ bei.

Immerhin veranschaulicht im Februar 2004 ein „Appelcontre la guerre à l‘intelligence“72, der innerhalb kurzer Zeitvon mehr als 20.000 Kopfarbeitern unterschrieben wurde, dassdie Unruhe im Bereich der intellektuellen Produktion weiterbesteht. Aber dieser Aufruf hat keine praktischen Konse-quenzen, und inhaltlich ist er von mehr als zweifelhafter Qua-lität.

Nachdem die Verfasser des Appells lang und breit erklären,dass einer Universität ohne Kredit nichts näher stehe als einstillgelegtes wissenschaftliches Labor, einem Kulturprekärenein prekärer Doktorand, einem Architekten ein Anwalt oderein Arzt, dessen Freiheit zur Ausübung seines Berufs mehrund mehr eingeschränkt werde, einem Arbeitslosen ohne wei-teren Anspruch auf Arbeitslosenallokation ein Künstler aufSozialhilfe, einem Lehrer seine Schüler, nachdem sie also allesund jedes miteinander vermengten, stellen sie großartig fest:„All diese Sektoren des Wissens, des Forschens, des Denkens,des sozialen Bandes, Produzenten von Kenntnissen und deröffentlichen Debatte sind heute Objekt massiver Angriffe, dieeinen neuen Anti-Intellektualismus des Staats enthüllen. Wirerleben die Umsetzung einer extrem kohärenten Politik. EinerPolitik der Verarmung und der Prekarisierung aller Räume, diefür kurzfristig unproduktiv, nutzlos oder dissident gehaltenwerden, der ganzen unsichtbaren Arbeit der Intelligenz, aller

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Orte, an denen sich die Gesellschaft denkt, träumt, erfindet,pflegt, beurteilt, repariert.“

Dieser angebliche „Anti-Intellektualismus des Staats“ istaber nichts anderes als die Entwicklung des Kapitalismusselbst: Die neuen Produktivkräfte, die durch die dritte indus-trielle Revolution zur Verfügung gestellt werden, entwerten ei-nen großen Teil der geistigen Fähigkeiten, auf eine ähnlicheWeise, wie früher das handwerkliche Geschick durch die in-dustrielle Produktion entwertet wurde. Auf die Entwertungder Handarbeit folgt die Entwertung der Kopfarbeit, und dasunter den Bedingungen der Massenarbeitslosigkeit, wie sie sichin den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern in den ver-gangenen dreißig Jahren durchgesetzt hat. Das sorgt für eineBeunruhigung unter den Führungskräften, der Metamorpho-se des selbständigen städtischen Kleinbürgertums aus dem 19.Jahrhundert, das lohnabhängig wurde und nunmehr von Ar-beitslosigkeit bedroht ist. Als Kompensation für diese Ent-wicklung stellt die spektakuläre Gesellschaft die Ideologie der„Selbstverwirklichung“ in und durch die Arbeit zur Verfü-gung, die insbesondere bei den Kulturprekären, die sich gerneals „kreativ“, „schöpferisch“, „unabhängig“ und „flexibel“ be-zeichnet sehen, auf fruchtbaren Boden fällt.

So ist bei ihnen eine ähnliche Grenze festzustellen wie beiden Lehrern, die das Abitur boykottieren wollten, ohne es zukritisieren: Die eigene Tätigkeit, die eigene Rolle und Funkti-on in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung wird von der Kritikweitgehend ausgenommen, die Kritik der Arbeit bleibt rudi-mentär. Was umso bedauerlicher ist, als der Kulturprekäre ineinem gewissen Sinn ein Modell des Arbeiters der Zukunft ist,

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wie Menger beschreibt: „In den gegenwärtigen Repräsentatio-nen steht der Künstler neben einer möglichen Verkörperungdes Arbeiters der Zukunft, mit der Figur des erfinderischen,mobilen Professionellen, störrisch gegenüber Hierarchien, we-sentlich motiviert, gehalten in einer Ökonomie des Ungewis-sen und den Risiken individueller Konkurrenz und den neuenUnsicherheiten beruflicher Laufbahnen stärker ausgesetzt; (al-les verläuft, als ob) die Kunst ein Prinzip der Fermentation desKapitalismus geworden sei“.73

Gerade die radikale Kritik dieser neuen Rolle und Funkti-on, welche die Gesellschaft des Spektakels dem „Künstler“ zu-gedacht hat, könnte einem Interessenskampf der Kulturpro-duzenten, der ansonsten leicht Gefahr läuft, in der Isolation zuverenden, eine universalisierbare Dimension verleihen. Gene-rell gilt für die Streikbewegungen im Bereich der Reprodukti-on der kapitalistischen Gesellschaft zwar die Prognose von„Temps critiques“: „(…) in dieser Gesellschaft, in der dieKenntnisse, die Information, die Kommunikation, die Kultur,die Technowissenschaften die Hauptfaktoren in der ‚Schaffungvon Wert‘ sind, werden die Lohnabhängigen der Reprodukti-on, die die kapitalistische Dynamik umkehren, sich notwendi-gerweise in der ersten Linie künftiger revolutionärer Erschüt-terungen finden.“74 Aber die Anhänglichkeit der Kopfarbeiteran die middle class-Ideologien von „kreativer“ Arbeit und„Autonomie“ im Dienste des Warenfetischs stellt ein nicht zuunterschätzendes Hindernis dafür dar.

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DIE REZEPTION DER STREIKBEWEGUNG IN DEUTSCHLAND

War bereits bei den Kämpfen der französischen Kultur-prekären die Fetischisierung der „französischen kulturellenAusnahme“ mit ihrem impliziten Bezug auf den Staat ein maß-gebendes Element zur Neutralisierung radikaler Kritik, sostellt sich das Problem in der „deutschen Kulturnation“ indoppelter Schärfe. Zu Recht hatte bereits vor 160 Jahren Marxfestgestellt: „In Frankreich genügt es, dass einer nichts sei, da-mit er alles sein wolle. In Deutschland darf einer nichts sein,wenn er nicht auf alles verzichten soll“, womit er das Problemzunächst auf der individuellen Ebene fasste, um fortzufahren:„In Frankreich ist die partielle Emanzipation der Grund deruniversellen. In Deutschland ist die universelle Emanzipationconditio sine qua non der partiellen.“75

Die Wahrheit dieses Ausspruchs ließ sich im Spätsommer2004 in den Protesten gegen die Hartz IV-Reformen erneut be-wundern. Das partielle Interesse – Weg mit den Hartz-IV-Re-formen – wurde bereits auf den ersten Demonstrationen, dieüberwiegend in Ostdeutschland statt fanden, von der Parole„Wir sind das Volk“ konterkariert. Ein Appell an die Verwal-ter des Staats ersetzte den Interessenskampf. Noch bevor sichein partielles Interesse Geltung verschaffen konnte, waren dieProtestierenden bereits in den höchsten Höhen der Abstrak-tion angelangt.

Von diesem gesellschaftlichen Umfeld sind auch die Dis-kussionen unter deutschen Linken und Kulturprekären ge-prägt. Die Bewegung der Intermittents in Frankreich wurde

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von ihnen eifrig rezipiert, und am 1. Mai 2005 wurde ein „Eu-romayday“ organisiert, der den Startschuss zu Mobilisierun-gen gegen die generelle Prekarisierung der Überlebens- undArbeitsverhältnisse geben sollte. Aber mangels nennenswerterInteressenkämpfe blieben die entsprechenden Demonstratio-nen am 1. Mai klein, und von einer Dynamik in der Mobilisie-rung konnte keine Rede sein.

Symptomatisch für die Debatten unter deutschen Kultur-prekären ist ein Interview mit der Gruppe „kpD/kleines post-fordistisches Drama“, bestehend aus Brigitta Kuster, IsabellLoreley, Marion von Osten und Katja Reichard. Sie haben „15Leute in Berlin“ („inklusive uns selbst“) interviewt, „die nichtnur kulturelle Produkte, sondern auch kritische Diskurse undgesellschaftspolitische Handlungsfelder erarbeiten“76. Eine„Standardfrage“ lautete: „Sollten Kulturproduzentinnen sichauf Grund ihrer gesellschaftlichen Vorzeigerolle mit anderensozialen Bewegungen zusammentun, um an neuen Formender Organisierung zu arbeiten?“77 Mit den Interviews sollte„das Verhältnis zwischen der Prekarisierung der jeweiligenLebensverhältnisse und der Widerspenstigkeit von Kultur-und Wissensproduktion“78 untersucht werden.

Statt über die generelle „Widerspenstigkeit von Kultur-und Wissensproduktion“ zu grübeln, das heißt über die Wi-derspenstigkeit des Spektakels, ließe sich ebenso gut über dieWiderspenstigkeit des Gefängnisses sinnieren, das seine ge-sellschaftliche Funktion ebenso gut erfüllt wie das Spektakel.Und die Widerspenstigkeit dieser Kulturproduzentinnenscheint von einem ähnlichen Kaliber zu sein wie die von Ge-fängniswärtern, die über die Prekarisierung ihrer Arbeitsver-

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hältnisse klagen, ohne einen Gedanken an ihre gesellschaftli-che Funktion zu verschwenden. „Der Wunsch nach Konti-nuität (der Arbeit) war der am meisten formulierte“, stellen siefest79. „Die Arbeit sickert in dein Leben“, beschreibt eine In-terviewte, aber, so stellt kpD fest, „ein ‚gutes Leben‘ sickertscheinbar nicht genug in unsere Arbeit, wodurch diese dannwiederum zu etwas transformiert werden könnte, mit demman kollektiv zufrieden wäre“.80 Zudem scheinen die Gedan-ken der Interviewten durch das Spektakel bereits dermaßenstark geprägt zu sein, dass sie in ihrem „Vorstellungshorizontkaum alternative Lebenskonzepte“81 auffinden.

Die Perspektive aber, „gutes Leben“ und ihre eigene ent-fremdete Arbeit im Spektakel zum Zwecke kollektiver Zufrie-denheit zu versöhnen, ist bedauerlicherweise allem, was anKritik der Kunst, der Ideologie, des Spektakels, der Arbeit, desStaats, des Kapitals in den letzten 200 Jahren auf theoretischerwie praktischer Ebene hervorgebracht wurde, radikal entge-gengesetzt. Sie spüren deutlich, dass sie als prekäre Kopfarbei-ter nicht glücklich sind, wollen aber als Kulturproduzenten an-erkannt werden. Das unglückliche Bewusstsein alsspektakuläre Kopfarbeiter kompensieren sie durch die phan-tastische Vorstellung einer gesellschaftlichen „Vorzeigerolle“,auf deren Grundlage sie sich auch noch mit anderen Arbeiternorganisieren wollen, anstatt diese Rolle mitsamt den in ihrsteckenden Mystifikationen theoretisch wie praktisch zu kri-tisieren: Selten hat sich der Anspruch auf eine gesellschaftlicheFührungsrolle, und sei es nur auf dem Gebiet der pseudoradi-kalen Kontestation, derart verschämt dargestellt. Darin zeigtsich erneut jener „bescheidene Egoismus, welcher seine Be-

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schränktheit geltend macht und gegen sich geltend machen lässt“, der dazu führt, dass in Deutschland „jede Sphäre derbürgerlichen Gesellschaft (…) ihre Niederlage erlebt, bevor sieihren Sieg gefeiert, ihre eigne Schranke entwickelt, bevor sie dieihr gegenüberstehende Schranke überwunden, ihr engherzigesWesen geltend macht, bevor sie ihr großmütiges Wesen geltendmachen konnte, so dass selbst die Gelegenheit einer großenRolle immer vorüber ist, bevor sie vorhanden war“. 82

Diese Beschränktheit der Kritik aber hat in der spezifi-schen Verfasstheit der „deutschen Kulturnation“ ihren Kul-minationspunkt. Das „integrierte Spektakuläre, das heute da-zu tendiert, sich weltweit durchzusetzen“83, findet in seinerdeutschen Form, in jener Form, die das Staatssubjekt Kapitalin Deutschland in der Folge der friedlichen „deutschen Revo-lution“ von 1989 angenommen hat, eine besondere Qualität.

Die Vormachtstellung im Augenblick der Installierung desintegrierten Spektakulären schien Debord zufolge Frankreichund Italien zugefallen zu sein, und zwar „durch das Zusam-menspiel einer Reihe von historischen Faktoren“: „die bedeu-tende Rolle der stalinistischen Partei und Gewerkschaft impolitischen und geistigen Leben, die schwache demokratischeTradition, die lange Monopolisierung der Macht durch eineRegierungspartei, die Notwendigkeit, überraschend aufgetre-tener revolutionärer Kontestation ein Ende zu bereiten“.84

In Deutschland aber, das in Ost wie West von einer über-aus „schwachen demokratischen Tradition“ und der „langenMonopolisierung der Macht durch eine Regierungspartei“ ge-prägt war, haben sich die zwangsdemokratisierten Nachfolgerder nazistischen Konterrevolution mit den Erben der stalinis-

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tischen Konterrevolution aus der DDR zur Verwaltung derwarenproduzierenden Gesellschaft vereinigt. Es handelte sichalso hierzulande nicht um die Fusion einer Partei der Machtmit einer Partei der Opposition, wie kläglich deren Rolle alsoppositionelle Kraft, geschweige denn als revolutionäre, auchimmer ausgesehen haben mag. Die DDR-Stalinisten warennicht Opposition wie die so genannten kommunistischen Par-teien im restlichen Westeuropa, sondern unmittelbar als Staats-partei organisiert, und zudem waren und sind sie ebenso wieihre feindlichen Brüder aus dem Westen zutiefst vom deut-schen Nationalismus geprägt, der aus einer romantisch-völ-kischen, gegen die Aufklärung und gegen die französischeRevolution gerichteten Tradition stammt. Das von der büro-kratischen Klasse in der DDR ebenso wie von der herrschen-den Klasse der BRD immer wieder beschworene gemeinsame„kulturelle Erbe“ – von Luther bis Bismarck – erleichterte denOstbürokraten die Integration in die großdeutsche „Kultur-nation“.

Die wiederum speist sich aus den trüben Quellen der„deutschen Kultur“ als Ausdruck einer imaginierten deut-schen Volksseele. Das zeigte sich bereits im 19. Jahrhundert, alsin den ökonomisch fortgeschrittenen Nationen England undFrankreich die Weltausstellungen für das Establishment zu„Wallfahrtsstätten zum Fetisch Ware“85 wurden, während inDeutschland den Platz des entsprechenden WallfahrtsortesBayreuth eingenommen hat, wo bis heute zum Entzücken desdeutschen Establishments alljährlich Richard Wagners mysti-sches Germanentum zelebriert wird, und sei es in einer vor-geblich ironisierten Form wie bei den infantilen Inszenierun-

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gen von Christoph Schlingensief in den vergangenen Jahrenunter rot-grüner Regentschaft.

Die Ideologie von der „deutschen Kulturnation“ aber hat-te und hat vor allem eine kompensatorische Funktion. Im 19.und zu Beginn des 20. Jahrhunderts bemäntelte sie die ökono-mische wie politische Rückständigkeit Deutschlands und warein Placebo für das deutsche Bürgertum, das seine politischeEmanzipation der Kollaboration mit den feudalen Mächten op-ferte. In Krisenzeiten eignet sich die „deutsche Kultur“ perfektdazu, mit ihren romantisch-kulturellen „Werten“ aus vorkapi-talistischen Zeiten dem durchmarschierenden Kapitalismus einmystifiziertes Bild der Vergangenheit entgegenzusetzen, um je-de den Verhältnissen angemessene, moderne Kritik zu neutrali-sieren. Das ist ein Verfahren, das die sich traditionell regressiv-antikapitalistisch gebärdende deutsche Intelligenzija zu einergewissen Perfektion gebracht hat, vom „Kulturpessimismus“im ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur so genannten Kon-servativen Revolution in der Weimarer Republik. Mal ist es dieStändegesellschaft, mal ein puritanisches Preußentum, mit demdie Intelligenzija dem Kapitalismus zu Leibe rücken will.

So ist es in den heutigen Krisenzeiten wenig überraschend,dass sich auch in den Debatten deutscher Dichter und Denkererneut ein regressiver „Antikapitalismus“ Bahn bricht, dernach bewährtem Muster alle Übel der Warenproduktion demspekulativen Finanzkapital, dem „raffenden“ im Gegensatzzum ehrlich „schaffenden“, deutschen Kapital, und den USAals Protagonisten eines schmarotzenden „Heuschrecken“-Ka-pitalismus zuschreibt, um den sozialen Frieden zu retten undim deutschen Nationalismus die Rettung vor einer mystifi-

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zierten Globalisierung zu suchen. Ergänzt wird dieses Szena-rio von deutschen Kulturschaffenden in zweierlei Hinsicht: inder um sich greifenden Forderung nach einer „Deutschquote“im Radio, mit der ihnen der deutsche Staat unliebsame Kon-kurrenz aus aller Welt vom Hals halten soll, und im ungenier-ten Ranschmeißen an jenen rot-grünen Neo-Nationalismus,der die deutsche Kulturnation als gut bewaffnete „Weltfrie-densmacht“ gegen den US-amerikanischen „Kulturimperialis-mus“ in Anschlag bringt, was bereits schöne, in den deutschenNationalfarben schillernde Popbands hervorgebracht hat, diebei den großen parastaatlichen Spektakeln wie „Live Aid“ imFernsehen zu bewundern sind.

Ist die deutsche Ideologie auf diese Weise runderneuert,stellt sich für jede kritische Strömung die Frage nach den Kon-sequenzen, die daraus zu ziehen sind. Eine Antwort, die derAktualisierung bedürfte, formulierte Richard Huelsenbeck,nachdem der deutsche Kulturbetrieb die Massaker des ErstenWeltkriegs mit seinem Gesäusel von Geist, Kultur und Inner-lichkeit begleitet hatte. Damals stellte Huelsenbeck fest, dassvon Seiten der Dadaisten „zum ersten Mal aus der Frage: Wasist die deutsche Kultur? (Antwort: Dreck) die Konsequenz ge-zogen worden ist, nun mit allen Mitteln der Satire, des Bluffs,der Ironie, am Ende aber auch mit Gewalt gegen diese Kulturvorzugehen. Und zwar in gemeinsamer großer Aktion.“86

1 Debord, Guy: Vorwort zur vierten italienischen Ausgabe (1979), in: ders.: Die Ge-sellschaft des Spektakels. Berlin 1996, S. 289

2 Adorno, Theodor W./ Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt amMain, 13. Auflage, 1998 (1944), S. 148

3 Rötzer, Florian (Hg.): Digitaler Schein, Ästhetik der elektronischen Medien. Frank-furt am Main, 1991, S. 29

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4 Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin, 1996 (1967), S. 157)5 Anders, Günther: Thèses sur la théorie des besoins, Post-Scriptum du traducteur,

Jean-Pierre Baudet, 20.07.2003,www.geocities.com/nemesisite/besoin.anders.htm

6 Steinert, Heinz: Schöne neue Kulturindustrie. März 2004, www.links-netz.de/T_texte/T_steinert_ki.html

7 Gesellschaft des Spektakels, aaO., S. 1668 ebd., S. 1579 vgl. Digitaler Schein, a. a. O., S. 2610 Koslowski, Peter: Wirtschaft als Kultur. Wirtschaftskultur und Wirtschaftsethik in

der Postmoderne. Wien, 1989, S. 13. Zitiert nach: Digitaler Schein, a. a. O., S. 7211 Thèses sur la théorie des besoins, Post-Scriptum du traducteur, a. a. O.12 ebd.13 ebd.14 ebd.15 Semprun, Jaime: „Précis de Recuperation, illustré de nombreux exemples tirés de

l‘histoire récente“. Paris, 1976, S. 3516 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzier-

barkeit (1936). Zitiert nach: Charles Harrison/Paul Wood (Hg.): Kunsttheorie im20. Jahrhundert, Ostfildern/Ruit, 2003, Band 1, S. 639, Hervor. i. O.)

17 ebd.18 ebd.19 ebd., S. 64020 ebd.21 ebd.22 ebd., S. 64123 ebd., S. 64624 Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., S. 9425 Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, a. a. O., S. 64626 ebd., S. 64427 Gesellschaft des Spektakels, S. 15828 Digitaler Schein a. a. O., S. 1129 ebd., S. 1230 ebd., S. 3431 Die Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., S. 164 f., Hervor. i. O.32 Thèses sur la théorie des besoins, Post-Scriptum du traducteur, a. a. O.33 Situationistische Internationale: Über das Elend im Studentenmilieu, betrachtet

unter seinen ökonomischen, politischen, psychologischen, sexuellen und beson-ders intellektuellen Aspekten und über einige Mittel, diesem abzuhelfen. Ham-burg 1977 (1966), S. 5

34 ebd., S. 6 f., Hervor. i. O.35 ebd., S. 7, Hervor. i. O.

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36 ebd., S. 7 f., Hervor. i. O.37 ebd., S. 938 ebd.39 ebd.40 ebd.41 ebd., S. 9 f.42 ebd., S. 11, Hervor. i. O.43 ebd., S. 12, Hervor. i. O.44 ebd., S. 1345 Foucault, Michel: Was wollen die Iraner?, in Nouvel Observateur, Ausgabe vom

16. Oktober 1978. Zitiert nach: Merkur 671, März 2005, S. 21646 Situationistische Internationale 1958-1969. Gesammelte Ausgabe des Organs der

Situationistischen Internationale, Band 2. Hamburg, 1977. S. 10247 Elend im Studentenmilieu, a. a. O., S. 14. Hervor. i. O.48 Situationistische Internationale 1958-1969, a. a. O., S. 277, Hervor. i. O.49 ebd., S. 33750 ebd., Hervor. i. O.52 Temps critiques: Retraites à vau-l‘eau et vies par défaut, contre le capital: assaut!,

1. Juni 2003, http://membres.lycos.fr/tempscritiques52 www.attac.info/g8evian/index.php?NAVI=1016-112883-14fr53 Temps critiques: The show must go on! Interventions No. 3, November 2003,

http://membres.lycos.fr/tempscritiques54 Pierre-Michel Menger: Intermittents: une autre réforme. http://www.cip-

idf.org/article.php3?id_article=171455 ebd.56 Serré-Becherini, Barabara: Lettre aux Amis de Nemesis, www.geocities.com/ne-

mesisite/lettrebsb.htm.htm. Eine auf Deutsch übersetzte, gekürzte Fassung findetsich unter dem Titel „Kritik der kulturellen Strategie“ in: The Planet Nr. 01, Bei-lage zur Wochenzeitung Jungle World, Dezember 2004

57 Précaires Associés de Paris, Assoziierte Prekäre von Paris: im Dezember 2002 ge-gründete postoperaistische Gruppe mit Kontakten unter anderem zu der linksal-ternativen Gewerkschaft Sud und der Arbeitslosenorganisation AC!; die Gruppetritt für ein garantiertes Einkommen ein

58 Lettre aux Amis de Nemesis, a. a. O.59 vgl. Temps critiques: Qualifier la grève pour catalyser les luttes, 1. Juli 2003,

http://membres.lycos.fr/tempscritiques60 Lettre aux Amis de Nemesis, a. a. O.61 Politiker und Medien schwadronieren angesichts solcher Aktionen gerne von

„Geiselnahme“. Das Publikum werde von den Künstlern, die Schüler von denstreikenden Lehrern und die Passagiere von streikenden Transportarbeitern alsGeisel genommen.

62 Lettre aux Amis de Nemesis, a. a. O.

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63 ebd.64 Commission lien-Europe: Liebes Publikum!, 16. Juli 2003, http://www.cip-

idf.org/article.php3?id_article=13565 Lettre aux Amis de Nemesis, a. a.. O., Hervor.i.O.66 ebd., Hervor.i.O67 The show must go on! a. a. O.68 Lettre aux Amis de Nemesis, a. a. O., Hervor. i. O.69 ebd.70 ebd.71 Libération, Ausgabe vom 18. August 200372 in: Les Inrockuptibles, Ausgabe vom 18. Februar 200473 Menger, Pierre-Michel: „Portrait de l‘artiste en travailleur. Métamorphoses du ca-

pitalisme“, Seuil, 2003. Zitiert nach The show must go on!, a. a. O., Fußnote 3. ZuRecht wird an dieser Stelle Mengers Konzeption kritisiert: „Auch wenn die Be-schreibung des Prozesses scharfsinnig bleibt, teilen wir doch nicht seine Inter-pretation, die in dieser ‚Fermentation‘ letztlich positive ‚Enzyme‘ sieht, weil sie‚Autonomie‘ und Vektoren von ‚Kreativität‘ schaffen… die beiden hauptsächli-chen Faktoren der kapitalisierten Gesellschaft! Umso aktivere Faktoren, solangekeine historische Bewegung diese Tendenzen dialektisch fasst, um aus ihnen Waf-fen der Kritik zu machen.“

74 Qualifier la grève pour catalyser les luttes, 1. Juli 2003, a. a. O.75 Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. in: Deutsch-französi-

sche Jahrbücher (1844), Leipzig, 1981, Seite 163, Hervor. i. O.76 Prekäre Subjektivierung, Interview mit der Gruppe kpD/kleines postfordisti-

sches Drama. www.malmoe.org/artikel/verdienen/889. „Kleines postfordistischesDrama“ ist zugleich ein „Projekt“, das „zuletzt im Kunstverein München zu se-hen war“, heißt es dort.

77 ebd.78 ebd.79 ebd.80 ebd.81 ebd.82 : Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. A. a. O., S. 162 f., Hervor. i. O.83 s. Guy Debord: Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels. in: Die Gesellschaft

des Spektakels, a. a. O., S. 199 f., Hervor. i. O.)84 ebd., S. 20085 Benjamin, Walter: Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts. in: Gesammelte

Schriften, Band V 1, Frankfurt a.M., 1991, S. 50. Zitiert nach: Phase 2, Nr. 17, 2005,S. 56

86 Huelsenbeck, Richard: En avant Dada: Die Geschichte des Dadaismus (1920). in:Kunsttheorie im 20. Jahrhundert, a. a. O., Band 1, S. 306

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VERWIRKLICHEN UND WEGSCHAFFEN.WAS DIE SI MIT DER KUNST WOLLTE

Eiko Grimberg

I.

Am 13. Oktober 1952 wurde im Pariser Salle des Societes Sa-vantes Guy Debords Film „Hurlement pour de Sade“ vorge-führt. Die Premiere hatte bereits im Juni im „Avantgarde-Film-club“ stattgefunden. Allerdings hatten die Betreiber des Kinosdie Vorführung kurz nach Beginn abgebrochen. Auch diezweite Vorführung war von tumultartigen Szenen begleitet.

„Geheul für de Sade“ hat mit 90 Minuten Spielfilmlänge –und kommt gänzlich ohne Bilder aus. Von fünf Personen wer-den Textfragmente, Anspielungen und Belanglosigkeiten inForm entwendeter, das heißt nicht gekennzeichneter und neukontextualisierter Zitate vorgetragen. Die Stimmen sind ton-los, die Sprecher und Sprecherinnen wirken abwesend. Es gibtkeinerlei Nebengeräusche. Während der Dialoge ist die Lein-wand weiß, in den Textpausen schwarz. Das Ende des Filmsbildet eine 24-minütige Schwarzphase.

Das fehlende Kommunikationsangebot und die Abwesen-heit von Bild und Farbe machen „Geheul für de Sade“ auf denersten Blick zu einem unversöhnten Glanzstück moderner Ra-dikalität. Es lässt sich mit Theodor W. Adorno als ein autono-

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mes, sprich einer eigenen inneren Logik folgendes Werk cha-rakterisieren. Anders als Adorno will Debord nicht die Auto-nomie der Kunst als Ort des Nichtidentischen bewahren. Sieist ihm nicht Ziel, sondern Mittel zum Zweck. Produktionendieser Art begreift er als äußerste Spitze der Negation derKunst, der auf anderer Ebene eine neue Positivität folgen muss.

Gleich zu Beginn des Films kontert eine Stimme die Frage,ob er oder sie mit Francoise geschlafen habe mit einem kurzenAbriss der 50 jährigen Geschichte des Kinos. „Geheul für deSade“ wird hierbei in eine Tradition avantgardistischer Filmewie „Das Cabinett des Doktor Caligari“, „Panzerkreuzer Po-temkin“ und „Ein andalusischer Hund“ gestellt. Daraufhinsagt eine dritte Stimme: „Kurz vor Beginn der Vorstellungsollte Guy-Ernest Debord auf die Bühne steigen und ein paareinführende Worte sprechen. Er hätte ganz einfach gesagt: ‚Esgibt keinen Film. Das Kino ist tot – es kann keinen Film mehrgeben – gehen wir, wenn Sie wollen, zur Diskussion über‘“.1

Neben der in der historischen Avantgarde beliebten Stra-tegie, das Ende von diesem oder jenem zu konstatieren und et-was Neues, radikal Verschiedenes anzukündigen, zeigt sich imletzten Zitat noch etwas anderes: Der Film an sich ist nichtwichtig, er dient vor allem der Konstruktion einer Situation.Anders als im Warenspektakel, der „illusorischen Repräsenta-tion des Nicht-Erlebten“ wie es in der „Gesellschaft des Spek-takels“2 heißt, haben die Zuschauer durch die herbeigeführteEnttäuschung die Rolle der Konsumenten verlassen und sindso über konventionelle Rezeptionsmuster hinausgegangen.3

Das Publikum zeigte sich schon während der Vorführungaufgebracht bis erbost. Seine Erwartungen wurden nicht er-

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füllt; die Besucher bekamen für ihr Eintrittsgeld weder Unter-haltung noch Sinnproduktion. In den langen Schwarzphasensind sie auf sich selbst zurückgeworfen und müssen zu Ak-teuren werden, ihr Reden wird de facto zum Off-Ton desFilms.

Der in „Geheul für de Sade“ diagnostizierte Tod des Kinos(und das Ende der Avantgarde) fällt mit der Enttäuschung derZuschauer in eins. Die Enttäuschung entsteht in einem dop-pelten Sinn: als Frustration und Aufhebung der Täuschung.Die Konstruktion einer Situation von kurzer Dauer war somiterfolgreich. An anderer Stelle wird die Situation als Gegenteildes Kunstwerks definiert, das seinerseits nur der Aufwertungund Bewahrung des Augenblicks verpflichtet sei. Jede Situati-on hingegen enthielte „ihre Negation“ und ginge so „unver-meidlich ihrer eigenen Umkehrung entgegen“.4

II.

Auf einem als „Konferenz von Aubervilliers“ bezeichnetenTreffen im Dezember 1952 wird festgelegt, wie die Lettristi-sche Internationale (die Vorgängerin der SI) generell mit derKunst umzugehen gedenkt. Die Mitglieder sind aufgefordert, bei der Darstellung eigenerkünstlerischer Werke äußerste Zurückhaltung zu üben, jedem,der unter eigenem Namen ein kommerzielles Werk veröffent-licht, droht der Ausschluss. Weiterhin ist allen bis zur Auf-stellung genauer Kriterien untersagt, eine „reaktionäre Moral“zu unterstützen. Und unter Punkt zwei des Protokolls ist zu

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lesen: „Der nächste Schritt besteht in der Aufhebung derKunst.“5

In der der Aufhebung vorausgehenden Phase wird der Er-werb künstlerischer Strategien und deren Kritik als Teil derlettristischen Praxis bestimmt. Die auf Buchstaben reduzierteDichtung, welcher der Lettrismus seinen Namen verdankt, diemetagrafische Erzählung, sowie Filme ohne Bilder sollten ei-ne „tödliche Inflation im Bereich der Künste“6 forcieren. Dasschnelle Altern ästhetischer Erneuerungen, das Absterben vonKunstformen, die sich erschöpft haben, zieht nicht notwendigihr tatsächliches Verschwinden nach sich. Die Situationistensehen sich in den 50er Jahren konfrontiert mit führenden Per-sönlichkeiten der Vorkriegsavantgarde, wie André Breton undPaul Eluard, der sie jegliche Legitimation absprechen. DieNachkriegsperiode stehe für das allgemeine Scheitern gesell-schaftlicher Veränderungsversuche und sei gekennzeichnetvon einer Stagnation sozialer Kämpfe sowie kultureller Re-stauration. Die unvollständige Befreiung 1944 leiste allerortender Reaktion Vorschub. Die abstrakte Malerei wird ebenso wiejeder Versuch der Anknüpfung an die historischen Avantgar-debewegungen als Teil dieser Reaktion gesehen. In der Phasedes Übergangs sind selbst die Situationisten nicht vor Fehlerngefeit. Sie mögen zwar das Aufhängen von Bildern ebenso wieeinen Gedichtband für ein historisch überlebtes Relikt halten,solange jedoch keine anderen Mittel zur Verfügung stehen,wird auf Bekanntes zurückgegriffen. Debord formuliert es ineinem Text, der mit „Ein Schritt zurück“ betitelt ist, so: „JedeBenutzung des Rahmens, den der intellektuelle Kommerz ge-genwärtig bietet, tritt der ideologischen Begriffsverwirrung

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Terrain ab und das bis in unsere Reihen hinein. Andererseitsaber können wir nichts unternehmen, ohne anfänglich diesemmomentanen Rahmen Rechnung zu tragen.“7 Der Entwick-lung neuer Strategien steht zur Entwendung und Aneignungdas gesamte Arsenal künstlerischer Mittel zur Verfügung. Al-lerdings nicht, um die Negation der bürgerlichen Vorstellungvon Genie und Kunst voranzutreiben, diese sei ohnehin passé.Marcel Duchamps schnurbärtige Mona Lisa sei von gleichemInteresse wie da Vincis Original. Respekt gebe es weder vordem einen noch dem anderen Gemälde. Dabei spielen Fragendes Geschmacks oder der Sympathie keine Rolle. DuchampsVerfremdung sei ein bereits historischer Akt und habe das Ob-jekt der Kritik (das „Meisterwerk“) verloren.

In einem zeitgenössischen Interview merkt Bertolt Brechtan, er habe Dialoge von Theaterstücken mit dem Ziel der Ver-einfachung und damit einhergehenden pädagogischen Vermit-telbarkeit gekürzt. Eine Form der Entwendung, die von denSituationisten einerseits begrüßt, andererseits zurückgewiesenwird, da sie immer noch zu viel Respekt vor den bürgerlichenKulturerzeugnissen und deren Copyright erkennen lasse. In„Die Entwendung: Eine Gebrauchsanleitung“ heißt es dazu:„Es sei hier klipp und klar gesagt, daß auf diesem GebietSchluss gemacht werden muß mit jeder Vorstellung persönli-chen Eigentums. Das Auftreten anderer Notwendigkeiten läßtdie „genialen“ Werke der Vergangenheit hinfällig werden. Siewerden zu Hindernissen, zu furchtbaren Gewohnheiten. Esgeht nicht darum, ob wir diese Werke mögen oder nicht. Wirmüssen darüber hinausgehen.“8

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III.

Wie Peter Bürger in der „Theorie der Avantgarde“ ausführt,übernimmt die Neoavantgarde (die Kunstströmungen der 50erund 60er Jahre) die undankbare Rolle, die historische Avant-garde zu musealisieren, das heißt zu institutionalisieren undsomit ihre genuin avantgardistischen Intentionen zu negierenund künftig zu verunmöglichen. Alle Bemühungen um eineAufhebung der Kunst werden zu künstlerischen Veranstal-tungen, die unabhängig von den Absichten ihrer ProduzentenWerkcharakter annehmen.9 Die hier als affirmativ beschriebe-ne Rolle der Neoavantgardebewegungen war der SI durchausbewusst. Sie sah die Lösung in der eigenen Negation: wir „sinddie Organisatoren der Abwesenheit jener ästhetischen Avant-garde, auf die die bürgerliche Kritik wartet und der sie – im-mer wieder enttäuscht – bei der erstbesten Gelegenheit zu hul-digen bereit ist.“10 Die Verortung innerhalb der „Tradition“künstlerischer Avantgardebewegungen verbot sich aus zweiweiteren Gründen. Im armseligen Streit der Zeitgenossen „be-züglich sich experimentell dünkender Malerei oder Musik“und in ihrem „burlesken Respekt für alle möglichen Export-Orientalismen“ sahen sie den Beweis für das Abdanken „jenerAvantgarde der bürgerlichen Intelligenz, die noch vor 10 Jah-ren konkret den Untergang und die Überwindung des ideolo-gischen Überbaus der ihren Rahmen abgebenden Gesellschaftbetrieb“.11 Auch ließ das Scheitern der politischen und künst-lerischen Avantgarde vor dem Faschismus kein direktes An-knüpfen an die Vorkriegszeit zu. Ernüchtert wird festgestellt,dass die weitgehenden Forderungen, sowie die praktischen

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Mittel, diese durchzusetzen in der historischen Situation ver-sagten und die mit ihnen verbundenen Hoffnungen enttäuschtwurden.

Die Praxis der Situationistischen Internationale wäre ohneihre surrealistischen Vorläufer nicht möglich gewesen. Zu sehrähneln sich die verschiedenen ästhetischen Strategien. So kanndas „objet trouvé“ der Surrealisten als eine einfache Form dersituationistischen Zweckentfremdung („détournement“) unddas Flanieren als eine Vorbild des Umherschweifens („dérive“)gesehen werden. Eine entscheidende Kategorie der Surreali-sten ist die des Ennui, der Langeweile, wie sie das literarischeIch in Louis Aragons „Le Paysan de Paris“ erlebt. Die Weige-rung, sich den Zwängen der gesellschaftlichen Ordnung zu fü-gen, bedingt den Verlust praktischer Handlungsmöglichkei-ten. Durch das Fehlen der sozialen Stellung entsteht einzeitliches und räumliches Vakuum: die Langeweile. Diese istpositiv konnotiert, als Entbindung der Zeit von gesellschaftli-chen Aufträgen. Sie ist eine Grundbedingung für die Trans-formation des Alltagslebens, auf die später noch einzugehensein wird.

Schon in einem der ersten Texte der SI12 nimmt die Kritikder künstlerischen Avantgarde eine zentrale Stellung ein: Diehistorische Rolle des Dadaismus war es, dem herkömmlichenVerständnis der Kultur den tödlichen Stoss versetzt zu haben.Die vollkommen negative Selbstdefinition trug allerdings zurraschen Auflösung der dadaistischen Bewegung bei. Ein An-liegen des Surrealismus, der als legitimer Nachfolger des Da-daismus verstanden werden kann, war es, dem vermeintlichenNihilismus desselben neue Formen der konstruktiven Aktion

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entgegenzusetzen. Unter Anwendung Freudscher Psychoana-lyse und der Übertragung ihrer Methoden auf Malerei, Film,Literatur und das Alltagsleben unterliefen sie das bürgerlicheVernunftdiktat. Das Irrationale wurde zur Waffe gegen dieVerwertungslogik der kapitalistischen Gesellschaft, die dasAuseinanderklaffen ihrer Moral- und Wertvorstellungen undder Wirklichkeit kaum zu kaschieren vermochte. Mit der In-tegration in den Kunstmarkt und der damit einhergehendenMusealisierung ist diese Waffe entschärft worden. Die Einbin-dung des Unbewussten – die écriture automatique, die Strate-gie der automatischen Transkription des Unbewussten – in dieKunstproduktion und die Betonung der souveränen Strukturdes Begehrens sind die eigentlichen Verdienste der Surreali-sten, mithin auch Grund ihres Scheiterns. Denn der zugrundeliegende Irrtum ist die Idee des unendlichen Reichtums undder subversiven Kraft des Unbewussten. Oder wie Freud esausdrückte: „Alles was bewußt ist, nutzt sich ab. Was unbe-wußt ist, bleibt unveränderlich. Aber wenn es einmal befreitist, zerfällt es dann nicht seinerseits?“13 Hierin mag auch einGrund für den Hang zu Okkultismus und Spiritismus einigerEpigonen des Surrealismus liegen. In der „Gesellschaft desSpektakels“ fasst Debord die Kritik der historischen Avant-garde zusammen: „Der Dadaismus wollte die Kunst weg-schaffen, ohne sie zu verwirklichen; und der Surrealismus woll-te die Kunst verwirklichen, ohne sie zu wegzuschaffen. Dieseitdem von den Situationisten erarbeitete kritische Positionhat gezeigt, dass die Wegschaffung und die Verwirklichung derKunst die unzertrennlichen Aspekte ein und derselben Auf-hebung der Kunst sind“.14 An der Konzeption der SI zur

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Konstruktion von Situationen lässt sich zeigen, wie weit ihreKritik an der historischen Avantgarde und der Neoavantgar-de gediehen war. Nicht die künstlerische Äußerung des Ein-zelnen zählt, sondern die soziale Konstruktion von Situatio-nen, die nicht auf Kunst, sondern das Leben zielt. Die zuschaffende Situation zeichnet sich „durch die kollektive Or-ganisation einer einheitlichen Umgebung und des Spiels vonEreignissen als ein konkret und mit voller Absicht konstruier-tes Moment des Lebens“ aus.15 Die Situation setzt für einenMoment das so genannte Naturhafte, den bekannten Gang derDinge außer Kraft. Das vermeintlich Natürliche offenbart sichals Täuschung. Zum anderen ist die Situation nur von be-grenzter Dauer, eine zweite Enttäuschung stellt sich ein. In die-ser doppelten Enttäuschung liegt die Sprengkraft der Situati-on, ihr subversiver Gehalt. Das Begehren überlebt seineBefriedigung. Eine Situation zu schaffen, die jede Umkehr ver-unmöglicht, wäre das eingelöste Versprechen der Avantgarde.

IV.

Die Konstruktion der Situation verortet sich im alltäglichenLeben – nicht in der Kunst. Das Alltagsleben nimmt in der Kri-tik der SI eine zentrale Stellung ein, wenn auch nur in seinerNegation. So schreibt Debord, „das alltägliche Leben zu stu-dieren wäre ein vollkommen lächerliches Unternehmen; eswäre vor allem dazu verurteilt, nichts von seinem Thema zuverstehen, hätte man nicht ausdrücklich vor, dieses alltäglicheLeben mit dem Ziel zu studieren, es zu verändern“.16

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Alltag ist die Wiederkehr des Immergleichen. Der Kreislaufvon Arbeit, Reproduktion und Freizeit gibt ihm eine zeitlicheStruktur, die Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz, Periphe-rie und Zentrum eine räumliche. Das französische vie privéeist doppeldeutig, zum einen meint es Privatleben, aber auch dasgeraubte oder beraubte Leben. In der Debordschen Lesartzeigt sich darin nicht die positive Deutung nach der das Pri-vatleben dem öffentlichen entwendet oder auch abgetrotztwurde, sondern es ist das Leben selbst, das abhanden gekom-men ist. „Die Leute sind, soweit es nur geht der Kommunika-tion und der Selbstverwirklichung beraubt worden. Man soll-te sagen der Möglichkeit, persönlich ihre eigene Geschichte zumachen“.17 Es ist aber auch der Ort der Erfahrung von Mo-notonie und Langeweile und des sich daraus speisenden Un-muts. So lässt sich die Kritik des alltäglichen Lebens auch an-dersrum verstehen, als die Kritik, „die das alltägliche Lebenüber all das souverän ausüben würde, was ihm unnütz äußer-lich ist“.18 Im Alltag werden die doch sehr unterschiedlichenKategorien Spektakel und Kulturindustrie als Statthalter undRepräsentanten althergebrachter Ideologien sich zunehmendähnlich. Mittel und Zweck werden im Spektakel zur Deckunggebracht und offenbaren seinen tautologischen Charakter:„Was erscheint, das ist gut; was gut ist, das erscheint“.19 DieRealität beruft sich auf ihren realistischen Charakter, außer-halb Liegendes wird nicht mehr denkbar. Das Spektakel kolo-nisiert so das Alltagsleben und stellt sicher, dass die Bedürf-nisse der Menschen einzig durch seine Vermittlung befriedigtwerden können. Insofern kann die Revolutionierung des all-täglichen Lebens, will sie der Falle des Spektakels entgehen

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„ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit, sondern nur aus derZukunft entnehmen.“20 Die Veränderung des Alltagslebens,die Überwindung der Sphärentrennung ist für die Situationi-stische Internationale Vorbedingung und Folge des Abster-bens der autonomen Stellung der Kunst.

V.

Nach Theodor W. Adorno ist die Kunst in der bürgerlichenGesellschaft notwendig autonom und trägt damit den Makelideologischer Verzerrung in sich: sie lässt ihre gesellschaftlicheBedingtheit nicht erkennen. Ihr Autonomiestatus scheint ahis-torisch, übergesellschaftlich und damit natürlich. Autonomiemeint hier nicht die falsche, das heißt positivistische subjekti-ve Einbildung des Künstlers, unabhängig vom gesellschaftli-chen Dasein zu produzieren. Wohl aber ist die Scheidung desProduzenten von den Produktionsmitteln am Künstler nahe-zu vorbeigegangen. So gewinnt sein Produkt, das Werk imGegensatz zur schäbigen Profanität anderer Waren, den Statusdes Besonderen, des Autonomen. In der bürgerlichen Gesell-schaft erscheint die Kunst als Sphäre zweckfreien Schaffensund interesse- und begrifflosen Wohlgefallens.

Peter Bürger weist nach, dass die Trennung der Kunst vonder Alltagspraxis erst mit der bürgerlichen Gesellschaft ein-tritt. Die Kunst dient hier der Darstellung des bürgerlichenSelbstverständnisses, Produktions- und Rezeptionsebene sindvoneinander geschieden. Die Autonomie beschreibt die ge-schichtliche Herauslösung der Kunst aus lebenspraktischen

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Bezügen. Eine nicht zweckrational gebundene Sinnlichkeit hatsich im Bürgertum herausbilden können, da dieses zeitweisevom Druck unmittelbarer Daseinsbewältigung befreit ist.„Erst nachdem im Ästhetizismus die Kunst sich gänzlich ausallen lebenspraktischen Bezügen gelöst hat, kann einerseits dasÄsthetische sich ‚rein‘ entfalten“, die Kunst nach ihrer Ver-wirklichung drängen, „wird aber andererseits die Kehrseite derAutonomie, die gesellschaftliche Folgenlosigkeit, erkenn-bar“.21

Die Kategorie der Autonomie lässt nicht zu, den Gegen-stand als einen historisch gewachsenen und damit gesell-schaftlich bestimmten zu erfassen. Die Autonomie der Kunstwird zu ihrem Wesen hypostasiert. So verbinden sich im Be-griff der Autonomie Momente der Wahrheit und Unwahrheit.Diese Einheit von kritischer Intention und affirmativer Wir-kung trifft auch auf den Status der Kunst in der Voravantgar-dezeit zu. Nach Herbert Marcuse können in der Kunst all je-ne Bedürfnisse und Wünsche Eingang finden, die aus demAlltag der warenproduzierenden Gesellschaft verdrängt wur-den. Die Rolle der Kunst ist eine antagonistische: Zum einenentwirft sie das Bild einer besseren Gesellschaft und protestiertdamit gegen das schlechte Bestehende. Indem sie allerdings dasUtopische im Schein der Fiktion verwirklicht, verunmöglichtsie die reale Veränderung. Kritische Intention und affirmativeWirkung bilden eine Einheit.22 Für Adorno hingegen beziehtdie Kunst ihre Gegenposition zur Gesellschaft erst und aus-schließlich als autonome. Gerade Formen hermetischer Dich-tung, abstrakter Malerei oder l‘art pour l‘art beziehen ihreKraft aus ihrer Autonomie und ihrem asozialen Charakter. Es

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gibt „nichts Reines, nach seinem immanenten Gesetz durch-gebildetes, das nicht wortlos Kritik übt“.23 Das Kunstwerk hatkeinen Nutzen, weder zur Wissensbildung noch zu unmittel-barem Genuss, noch zu direktem Praxiseinsatz. „Fürs Herr-schaftslose steht nur ein, was sich jenem (dem Tausch) nichtfügt; für den verkümmerten Gebrauchswert das Nutzlose.Kunstwerke sind die Statthalter der nicht länger vom Tauschverunstalteten Dinge“.24

Selbstverständlich schützt der Autonomiestatus die Kunstnur bedingt vor ideologischem Missbrauch. Zum einen da derStatus selbst ideologisches Produkt ist, zum anderen, wie GerdMattenklott richtig darlegt, führt das Primat des Formalen undseine völlige inhaltliche Unbestimmtheit im Ästhetizismus zueiner Vakanz, „die jeder ideologischen Anreicherung Raumbietet“.“25 Resümierend kommt Peter Bürger zur Frage, obangesichts der falschen Aufhebung des Autonomiestatus, bei-spielsweise in Form kulturindustrieller Konfektionierung, ei-ne wirkliche Aufhebung überhaupt wünschenswert sei, oderob nicht vielmehr die Distanz der Kunst zur Lebenspraxis al-lererst den Freiraum garantiert, innerhalb dessen Alternativenzum Bestehenden denkbar werden.

VI.

Die (Anti-)Praxis der historischen Avantgardebewegungenkann als Form der Selbstreflexion und -kritik der Kunst be-schrieben werden. Wie die SI negiert die Avantgarde nicht denStil vorausgegangener Strömungen, sondern die Institution

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Kunst als eine von der Lebenspraxis geschiedene Ebene. Insti-tution meint hier den Produktions- und Distributionsapparat,einschließlich der geläufigen Formen der Rezeption. Damit er-ledigt sie wesentliche Bestimmungen des Autonomiestatus.Radikaler hat es Lucien Goldmann formuliert: „Genau wie dasRecht, die Ökonomie oder die Religion wird die Kunst als au-tonome, von den übrigen Gebieten des gesellschaftlichen Le-bens getrennte Erscheinung in einer klassenlosen Gesellschaftverschwinden müssen. Wahrscheinlich gibt es keine vom Le-ben getrennte Kunst mehr, weil das Leben selbst einen Stil, ei-ne Form hat, in der es den ihm passenden Ausdruck findet.“26

In einer Gesellschaft der Sphärentrennung kann weder einepolitische noch künstlerische Avantgardegruppe als separateexistieren, wenn sie ihrem Anspruch auf Einheit von Kunstund Alltagsleben gerecht werden möchte. Gleichwohl ist Tren-nung eine Bedingung der Möglichkeit von Kritik (als einesäußeren Standpunktes) und Garant unmöglicher Veränderung.So ist auch Debords Einschätzung vom Verschwinden derKunst zu verstehen, wenn er schreibt: „Je grandioser ihr An-spruch (der Anspruch der Kunst) ist, umso mehr liegt ihrewahre Verwirklichung jenseits von ihr. Diese Kunst ist not-wendig Avantgarde und diese Kunst existiert nicht. IhreAvantgarde ist ihr Verschwinden“. 27

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1 Debord, Guy: Geheul für de Sade. in: Ders.: Potlatch. Berlin 2002, S. 3102 Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin 1996, S. 1603 Vgl. den Beitrag von Jappe, Anselm: Sic transit gloria artis. Theorien über das En-

de der Kunst bei Theodor W. Adorno und Guy Debord. in: Krisis, Nr. 15, 1995,S. 143, dem dieser Vortrag viele Anregungen verdankt.

4 Der Sinn im Absterben der Kunst. in: Der Beginn einer Epoche. Texte der Situa-tionisten. Hamburg 1995, S. 72

5 Mension, Jean-Michel: Wir haben unsere unfertigen Abenteuer gelebt. Berlin2002, S. 54

6 Debord, Guy/Wolman, Gil J.: Warum Lettrismus. in: Potlatch, a. a. O., Berlin2002, S. 148

7 Debord, Guy: Ein Schritt zurück. in: Potlatch, a. a. O., S.2278 Guy Debord, Gil Wolman, „Die Entwendung: Eine Gebrauchsanleitung“, in:

ebd. S. 321.9 vgl. Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde. Frankfurt/M. 197410 Der Sinn im Absterben der Kunst. in: Der Beginn einer Epoche, a. a. O., S. 7211 Debord, Guy: Der grosse Schlaf und seine Kunden. in: Potlatch, a. a. O., S. 9012 Rapport über die Konstruktion von Situationen und die Organisations- und Ak-

tionsbedingungen der internationalen situationistischen Tendenz. in: Der Beginneiner Epoche, a. a. O., S. 30

13 zit. nach Rapport über die Konstruktion von Situationen, a. a. O., S. 3114 Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., S. 16415 Definitionen. in: Der Beginn einer Epoche, a. a. O., S. 5116 Debord, Guy: Perspektiven einer bewussten Änderung des alltäglichen Lebens.

in: Der Beginn einer Epoche, a. a. O., S. 9817 ebd., S. 10218 ebd.19 Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., S. 1720 Anleitung für den Kampf. in: Der Beginn einer Epoche, a. a. O., S. 9221 Bürger, a. a. O., S. 2922 vgl. Marcuse, Herbert: Über den affirmativen Charakter der Kultur. in: Ders.:

Kultur und Gesellschaft 1. Frankfurt/M. 196523 Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Frankfurt/M. 1992, S. 33524 ebd., S. 37925 zit. n. Bürger, a. a. O., S. 4626 zit. n. Der Sinn im Absterben der Kunst, in: Der Beginn einer Epoche, a. a. O., S.

6927 Gesellschaft des Spektakels, a. a. O., S. 164

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LATENZ UND AKTUALITÄT. MARGINALIEN ZU GUY DEBORD ALSLITERARISCHEM MEDIENARBEITER

Thomas Ballhausen

„Im übrigen, lieber Oheim, wird man das Gute und Schlimme,was diese Revolution uns bereitet, nach ihrer Gesamtheit undnicht nach der Anarchie und Zügellosigkeit zu beurteilt haben,die in diesem Augenblick herrschen und die einen Zustand bil-den, der zu gewaltsam ist, um von Dauer zu sein. Sie wissenbesser als ich, dass der Zwischenzustand und Durchgang zwi-schen zwei Revolutionen immer schlimmer ist als die Lage, dieman gerade verlassen hat, so unerträglich sie auch sein mag.“

Mirabeau in einem Brief vom 15. Oktober 1789

„The kids are diggin‘ up a brand new hole / Where to put thedeadbeat mom / Grandpa‘s happy watching video porn / Withthe closed-caption on / And father knows best / About suicideand smack / Well, hee hee hee“

Eels: Cancer For The Cure

Die Aktualität der Arbeiten Guy Debords (1931 – 1994) scheintevident. Er hat ein vielfältiges und facettenreiches Werk hinter-lassen, das dem Duktus der französischen Avantgarden inKunst und Literatur, vielleicht auch gegen seinen Willen, voll

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entspricht. In seinen Schriften sind all die magisch anmuten-den Aspekte der Moderne enthalten: das Unerwartete, dasBizarre, die offenbarende Lesweise und Decodierung des ur-banen Lebens- und Kulturraums.1 In seinen überlieferten Ar-beiten, von den lettristischen Bulletins bis zu den späten Me-moiren, ist dabei eine bemerkenswerte Kontinuität in Poetikund Themenwahl festzustellen: Angesiedelt zwischen denpoetisch-poetologischen Fixpunkten der Zweckentfremdung(détournement), des Umherschweifens (dérive) und der Aus-einandersetzung mit dem Begriffskomplex des zu kritisieren-den Spektakels einer bequemen Passivgesellschaft entfaltet De-bord seine spielerische literarische Arbeit.

Die Zweckentfremdung ist dabei als gezielte Neuverwen-dung etablierter Elemente zu verstehen, bei der jedes entspre-chende Element seiner (eigentlichen) Wichtigkeit und Bedeu-tung enthoben und zugleich durch Reorganisation in einenneuen organisatorischen, ganzheitlichen Zusammenhang ein-gegliedert wird. In diesem Spiel mit der Gleichzeitigkeit desUngleichzeitigen beginnen sich die beiden Bedeutungsebenenpalimpsesthaft zu überlagern, eine Transparenz der Sinne undSinnhaftigkeiten tritt zutage. Die Indienstnahme des Depotsder gegebenen Elemente einer zu kritisierenden Gesellschaftbzw. Kultur wird dabei zum ironischen Konterangriff, indemeben die vorhandenen Angebote entgegen ihrer vorgesehenen,zumeist passiven Ausrichtung überarbeitet und mit parodisti-schem Vorzeichen versehen, in das zu sabotierende Systemwieder eingespeist werden. Dieses Re-Investment gegen dieSystemkohärenz findet sich bereits in den von Debord mit-formulierten Ansätzen der „Lettristischen Internationale“,

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manifestiert sich dort als Teil der „Generallinie“: „Das Ziel derLettristischen Internationale ist die Schaffung einer leiden-schaftlichen Struktur für das Leben. Wir experimentieren mitVerhaltensweisen, Formen von Dekor, Architektur, Urbanis-mus und Kommunikation, die geeignet sind, anziehende Si-tuationen hervorzurufen. Dies ist der Gegenstand permanen-ter Kontroversen zwischen uns und vielen anderen, dieletztendlich bedeutungslos sind, weil wir um ihren Mechanis-mus und dessen Abgenutztheit wissen. Die Rolle der ideolo-gischen Opposition, die wir einnehmen, ist notwendig das Er-gebnis geschichtlicher Bedingungen. Uns kommt lediglich dieAufgabe zu, daraus mehr oder minder hellsichtig Nutzen zuziehen und uns, im gegenwärtigen Stadium, ihrer Zwänge undGrenzen bewusst zu sein. In ihrer letzten Entwicklungsphasesind die von uns angestrebten kollektiven Konstruktionen nurmöglich nach dem Verschwinden der bürgerlichen Gesell-schaft, der Art ihrer Güterverteilung und ihrer moralischenWerte. Wir werden zum Untergang dieser Gesellschaft unse-ren Beitrag leisten, indem wir mit der Kritik und der totalenUntergrabung ihres Begriffs von Vergnügen fortfahren undnützliche Schlagworte in die revolutionäre Aktion der Masseneinbringen.“2

Auch das Umherschweifen sollte zu den erwähnten Ver-änderungen und Unterminierungen beitragen. Dabei ist mitdiesem Begriff aber weniger ein zufälliges Treiben abseits desklassischen Reisevorhabens oder des bürgerlichen Spazier-gangs umrissen, als vielmehr ein zielloses, magisch anmuten-des Nachspüren der vorhandenen Ströme und Einflüsse derstädtischen Geographie und ihrer entsprechenden Ausfor-

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mung, zum Beispiel Architektur oder Dekor, definiert. Das lei-denschaftsbetonte Strömen ist auf die zufälligen Begebenhei-ten und Begegnungen angewiesen, ohne seiner konservativ an-mutenden, natürlichen Einschränkung möglicher Zufälle zuerliegen. Zu diesem Zweck erfolgt eine Neukombination ge-gebener Orientierungshilfen, etwa alter Karten, Aufnahmenoder schriftlicher Aufzeichnungen. Mittels der ergangenen Ex-perimentsituationen wird das Nachreichen einer bislang ver-missten Kartographie verborgener Einflüsse ermöglicht, lässtman – also auch Debord – doch mit dem Gestus pataphysi-scher Gelassenheit eben jenen Zufall für sich arbeiten. Dabeiverpflichtet sich Debord als Autor aber keiner karnevalisti-schen Strategie temporär begrenzter Schrankenaufhebung,vielmehr setzt er auf ein Konzept einer transgressiven Aus-weitung des durchquerten Systems. Die Option auf dauerhaf-te Verschiebungen, also Erweiterungen der als fest definiertenGesellschaftsgrenzen, soll dabei über gestaltete Situationen inleidenschaftlich aufgeladenen Umgebungen geschaffen wer-den. Diese später noch erwähnten Situationen sind darauf an-gelegt, auch über ihr zeitlich begrenztes Bestehen hinaus Än-derungen zu bewirken, hier vor allem die materielle Basis desVerhältnisses Leben und Verhaltensweise offen zu legen. ImGegensatz zum passiv erlebten Spektakel setzt die Poetik De-bords somit auf beständige Intervention, auf permanente Ein-mischung.

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LITERATUR UND AVANTGARDE

Auf der Grundlage einer Vielzahl herangezogener literarischerund philosophischer Bezüge – und nicht weniger vielen For-men – arbeitet Debord reflexiv und reflektierend an einemmassiven Perspektivenwechsel, ohne dabei eine Festschrei-bung auf eine neue Leitperspektive zu betreiben.3 In diesenAusführungen soll der Fokus deshalb auch auf den dieser Viel-falt verpflichteten literarischen Arbeiten Debords liegen, aufden papiernen (Zwischen)Summen situationistischen Denkensund Agierens. In den formulierten Positionen finden sich dieangebotenen Modi des aktionsbetonten Widerständigen ab-seits einer auf Präsentation ausgerichteten Kunst. Um einenZugriff auf dieses aalgleiche Werk entwickeln zu können, sinddiese Marginalien an den grundsätzlichen theoretischen Vor-gaben Oliver Jahraus‘ orientiert, soll die Literatur an sich alsMedium verstanden werden.4 Gemäß Jahraus kann die Litera-tur in all ihren Ausformungen als Möglichkeit funktionalerDifferenzierung verstanden werden, ein Umstand, der sich inDebords Oeuvre etwa als Anbindung an gesellschaftliche Pro-zesse und den dazugehörigen sozietären Überbau nieder-schlägt. Die (prä)moderne Medienerfahrung, die sich im Ge-folge des Neuverständnisses der literarischen Möglichkeitenab dem 18. Jahrhundert durchsetzt, eröffnet die Interpretati-onsvariante ebendieser kreativen Schaffensprozesse als Mög-lichkeit der Subjektivitätserfahrung und Sinnkonstitution. Dieavantgardistische Konsequenz daraus ist schlicht die potenti-elle Option der Resignifizierung sozialer bzw. sozietärer Sinn-konstanten.

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Die ästhetische Position der sich verweigernden und ent-ziehenden Avantgarde, die sich ebenfalls aus literarischen Tra-ditionen speist und herleitet, ist der Beschleunigung, dem Fort-schritt im unverbürgerlichten Sinne und der Lust amExperiment verpflichtet. Mit dem kritischen Befragen undAustesten gesellschaftlich determinierter Grenzen, dem Que-ren dieser oft zu leicht akzeptierten Markierungen, werdengleichermaßen die tradierten Normen künstlerischen Schaf-fens unterminiert und die herrschenden Verhältnisse kritisiert.Abzielend auf eine Autonomie der Kunst soll zugleich aber diegesellschaftliche Relevanz erhalten bleiben: Über die Entfal-tung von Kritik am Konventionellen, der eine dominante Po-sition in der eigenen künstlerischen Strategie eingeräumt wird,zielt die Avantgarde in ihrer politischen Lesart nicht selten aufdie Realisierung einer Utopie ab, die sich von den abgelehntenZuständen abhebt. Die Angriffe auf das Etablierte bieten aberauch eine Rückkopplung an die betriebene Kunst selbst, istAvantgarde doch im Zusammenhang mit den Veränderungeninstitutionalisierter Kunst und ihrer sozialen Funktion zu se-hen. Als Option einer kritischen Moderne-Revision werdengleichermaßen Form und Inhalt berührt. Waren die Diskus-sionen der 60er Jahre deshalb auch meist mit dem Scheiternbzw. der gelungenen Umsetzung avantgardistischer Strategienbefasst – ein Ansatz, der sich in den gegenwärtigen Auseinan-dersetzungen um die laufenden, nicht immer unproblemati-schen Historisierungsprozesse durch die Protagonisten selbstspiegelt – konzentrierte man sich in späteren Debatten auf dieFrage nach der Originalität der jeweiligen Strömungen undWerke.5 Die Formenpluralität in Debords Arbeiten, die je nach

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Fragestellung eine andere Form und Gestaltung haben, lassensich auch – doch nicht ausschließlich – unter dem Diktum derOriginalität verstehen. Bei der Durchsicht seiner Arbeitenwird das Bewusstsein für die Beschaffenheit und angespro-chenen historischen Dimensionen ebenso spürbar wie der ver-ständliche Versuch, immer wieder als Speerspitze einer unwie-derholbaren Vorhut in (un)bekanntes Terrain einzudringen zuwollen. Mit der betonten Einflussnahme auf gesellschaftlicheProzesse mittels einer radikalen Um-Schreibung der Realität,der sozietär vermittelten und geprägten Wirklichkeitskonzep-te und ihrer Reglements und Konsequenzen, ist der Konnex zuden in seinem Werk dominanten militärischen Referenzsyste-men durchaus naheliegend und verständlich.6

VOM LETTRISMUS ZUM SITUATIONISMUS

Der Lettrismus, 1945 vom gebürtigen Rumänen Isidore Isouin Paris begründet, setzte, dem Dadaismus und dem Futuris-mus folgend, auf die systematisierte, „fortgeführte Behandlungder Sprache als sinnfreie Buchstaben- und Lautfolge(n) (…).Das Alphabet stellt für den L(ettrismus) lediglich ein materi-elles Repertoire akustischer Zeichen dar, über das der Dichterkompositorisch verfügt.“7 Die Buchstäblichkeit, die in dieserkünstlerischen Übergangsphase zwischen Surrealismus undSituationismus an die Stelle von Sprache, Wort und Figürlich-keit treten sollte, führte zwar zu einer Ausbildung hypergra-phischer Ansätze, die Bewegung als solche wurde aber durchdie Abspaltung einer wesentlich stärker an politischen Fra-

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gestellungen interessierten Lettristischen Internationale überla-gert und in die Grenzen ihrer ästhetischen Arbeits- und Wir-kungsfeldes verwiesen. Bruch und (Neu)Orientierung Debords,der schon in jungen Jahren mit den Lettristen in Berührung ge-kommen war, lässt sich vor allem an seinen wohldokumentier-ten und eingehend erforschten filmischen Arbeiten ablesen.8 Ertritt in den schriftlichen, teilweise kollektiv verfassten Arbeitenauf jeden Fall als wesentlicher (Mit)Gestalter der entsprechen-den Flugzettel auf. 1954 erscheint die erste Ausgabe des Peri-odikums „Potlatch“, das neue Vehikel der Dissemination, daswesentlich durch Debords Ideen geprägt wird. In den insge-samt 29 Nummern der Zeitschrift, die bis zu Gründung der Si-tuationistischen Internationalen 1957 erschienen, spiegelt sichder dauernde Versuch der Verbreitung einer hochgradig infek-tiösen Philosophie avantgardistischen Ursprungs wieder. Ge-mäß dem Diktum der Intervention wurde „Potlatch“ gratisverschickt, verteilt, verschenkt – aber nie verkauft. Wesentlichfür das avantgardistische Blattwerk war die prinzipielle Mög-lichkeit des Austausches und der Erstellung vitaler Verbin-dungen, doch nie ein Selbstverständnis als klassisch-komensu-rable Zeitschrift im Objektsinne. In Anlehnung an einer demSpiel, der Verschwendung und dem Überfluss verpflichtetenEigendefinition heißt es im „Die Wahl der Mittel“ überschrie-benen Abschnitt deshalb wohl auch: „Wir haben den Versandvon Potlatch an eine große Anzahl der am schlechtesten ge-schriebenen französischen Zeitungen eingestellt. Die nütz-lichste Rolle von Potlatch besteht darin, in mehreren LändernKontakte zu knüpfen und die Kader zusammenzuführen, diein derselben Richtung die geistige Bewegung beeinflussen sol-

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len. Auf Pressestimmen in den großen Zeitungen kommt esuns also nicht an. Wir wollen damit nicht Verachtung zumAusdruck bringen oder eine metaphysisch-libertäre Unbe-flecktheit gegenüber einer Art von Gewerbe, die uns nicht ge-wogen sein kann. Auf dem Spiel steht vielmehr die Wahl derMilieus, die wir im gegenwärtigen Stadium erreichen wollen.Werbung im eigentlichen Sinn ist für uns nicht von Nutzen zueinem Zeitpunkt, da wir nichts zu verkaufen haben.“9

Retrospektiv lässt sich „Potlatch“ als wesentlich für diefranzösische Ausprägung des in Italien entstandenen Situatio-nismus interpretieren, quasi als literarisches Fundament der inspäteren Arbeiten fortgeführten Gedanken und Ansätze.Durch Debords „Rapport zur Konstruktion von Situationen“(1957), in der er sich für die Erweiterung künstlerischer Akti-vitäten – und Aktionen – zur „revolutionären Umwälzung ka-pitalistisch-sozialistischer Machtstrukturen“10 aussprach,wird schließlich auch die Begrifflichkeit der Situation zum of-fensichtlichen, zentralen Instrument seiner philosophischenund literarischen Praxis. Das Anlegen und Verfertigen von Si-tuationen, als die Konstruktion von Passagen ins Politische,können aber keineswegs als Erfindung der französischenNachkriegsavantgarde gelten. Vielmehr speist sich DebordsVerständnis dieses Begriffs aus einer Vielzahl philosophischerQuellen, wobei der Bezug zu Hegel wohl der wesentlichsteund – nicht zuletzt bezüglich der Verortung des Aktivismusinnerhalb des zu verändernden Systems – auch fruchtbarste zusein scheint: „G.W.F. Hegel hatte den Situationsbegriff demTheater-Diskurs des 18. Jahrhunderts entnommen und ihn alsauf alle Kunstformen verallgemeinerten Schlüsselbegriff in sei-

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nen (1818 in Heidelberg zum ersten Mal gehaltenen, dann imLaufe der 1820er in Berlin weiterentwickelten) Vorlesungenüber die Ästhetik eingeführt. Die Spezifik der Vorgeschichteder Situation bei Hegel bestand in der Öffnung des Begriffs,die eine Bewegung anbahnt, mit deren Schwung die Situationausgehend von ihrer Qualität als ästhetische Kategorie bei He-gel über Hegel hinaus und allgemeiner als im Rahmen einerherkömmlichen Ästhetik entwickelt werden kann. Bei Hegelschon aufgeworfene Fragen zum Verhältnis von Repräsentati-on und Aktion führen in der Heterogenese konkreter Kunst-praxen im 20. Jahrhundert von der Darstellung der Situationüber verschiedene Stationen organischer Repräsentation zumPostulat der Herstellung der Situation. (…) Hier und jetzt er-eignet sich die Herstellung der Situation, genau auf der Imma-nenzebene des globalisierten Kapitalismus, im Zentrum derGesellschaft des Spektakels, mitten im Territorium dessen, wassie umstürzen will.“11

MANIFESTE UND MANIFESTATIONEN

Bei der Auseinandersetzung mit Debords literarischen Arbei-ten stößt man zwangsläufig auf die Problematik der Werkka-tegorie und der Kategorisierung, entziehen sich seine Publika-tionen doch in sympathischer Widerständigkeit einerendgültigen Etikettierung. Unabhängig davon stellt sich beider Beschäftigung damit auch die Notwendigkeit begrifflicherOperabilität abseits historisierender Tendenzen. Unabhängigvon der gewählten Form scheint m.E. ein manifestartiger Fo-

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kus eine (Meta-)Form für die hier verhandelten und umrisse-nen Veröffentlichungen zu bieten. Manifeste scheinen, gemäßihrer Grundsätzlichkeit, zumeist nur als Inaugurationenavantgardistischer Unternehmungen zu dienen, die dann hin-ter die eigentlichen Arbeiten und Aktionen zurücktreten. Diesist bei den vorliegenden Werken nicht der Fall, wiederholensich in ihrem poetologischen Charakter doch Debords Ansät-ze, werden dabei reflektiert und weiterentwickelt, lassen sichauf einer zweiter Ebene sogar auch als chronikalische Ausfor-mungen der entsprechenden Entwicklungen lesen.

Die schweifende Dynamik der von ihm bearbeiteten undrezipierten Quellen verweist auf einen Aspekt der Zergliede-rung in seiner grundsätzlichen Schreibhaltung, einer beinahechirurgischen Tätigkeit, in deren Eingriffen kulturelle undästhetische Praxis zusammenfallen: „Der Mobilmachung allerVerhältnisse entspricht die Mobilmachung des Materials. ImAkt des Ausschneidens wird das Geschnittene ein für allemalfreigesetzt. Durch die Schere aus ihren Zusammenhängen be-freit, sind die Ausschnitte leichter zu klassifizieren, zu kombi-nieren und auf eine vorläufige Weise zusammenzustellen.Wenn aber Schreibakte durch Schnittakte ersetzt werden, dannverschwinden auch die Spuren der Autorenschaft an dem her-kunftsvergessenen Material. Der Schnitt ist radikal, nicht auk-torial.“12

Erste Arbeiten in dieser Art erscheinen uns als produkti-ve Auseinandersetzungen mit der Form der Karte, sei es nunder „Discours sur les passions de l‘amour“ (1956) oder der „Guide psychogéographique de Paris“, der in der überarbei-teten Variante „The Naked City“ (1957) von größerer Be-

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kanntheit ist. Debord setzt in diesen Plänen auf die Verbesse-rung und Individualisierung der Stadt Paris. Neunzehn Sekto-ren, die alle aus dem wohlbekannten und weitverbreiteten Plande Paris stammen, werden nebeneinander montiert und durchdie Integration dynamischer Strukturelemente in einen neuenRaum der Zeitlosigkeit und der individuell definierten Sozial-geographie gehoben. Die neu gewählten und angeordnetenArrondissements erliegen dabei aber keineswegs dem Still-stand der zeitlosen Idylle – vielmehr sind die privatstädtischenBewegungen integrativer Teil der Arbeiten: „Die Skizze ent-hält die Praktiken, die den Raum gliedern (…).“13 Dabei sche-ren diese Arbeiten auf der formalen Ebene nicht nur aus demklassischen französischen Verständnis von Kartographie, diesich immer noch aus akademischen Vorstellungen des 19. Jahr-hunderts speiste, aus; vielmehr lehnt sich Debord statement-artig an Ergebnisse von Paul-Henry Chombart de Lauwe undHenri Lefèbvre an, die ebenfalls die Vorstellung der Stadt alsneutrales Behältnis der sozialen Verhältnisse ablehnten undstattdessen „eine dynamische Auffassung von Raum als Wis-sen und Aktivität“15 befürworteten. Setzt die konventionellbrauchbare Karte auf Schematisierung und Generalisierung,verweigern sich diese buntscheckigen Tableaus einer regelrechtnackten Stadt gegen die Vereinnahmung durch die herrschen-de Ordnung. Ein Wohnen in den individuellen Falten wird derAssimilation vorgezogen, das Ausgestalten der pli der simpli-cité, also das Hervorstreichen bzw. Herausschneiden einer derEinfachheit innewohnenden Falte, tritt deutlich hervor.15 Andiesen Bruchlinien des kritisierten Systems sollte sich die an-gestrebte Neustrukturierung der Gesellschaft verdichten, sind

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diese Karten in ihrer zutiefst leidenschaftlichen Konzeptiondoch in jeden erdenklichen Zustand verwandelbar: „Der ge-kerbte Raum der Karten – oben und unten, Parallelkreise undMeridiane, geographische Länge und Breite – hat nunmehr dasVermögen, Trajekte im Glatten hervorzubringen und jeneFraktalisierung zu bewirken, die bereits in den Küsten, Fluss-netzen und Rhizomen der Städte am Werk ist. Die Karte be-ginnt sich zu deterritorialisieren zugunsten kritischer und uto-pischer, ja selbst anderer Räume.“16

„The Naked City“ erfuhr mit „Mémoires“17eine themati-sche und formale Fortführung, wurde doch auch dieses Werkweniger geschrieben als vielmehr gefertigt: „Im Dezember1957 stellte Guy-Ernest Debord (…) ein Buch her, das er Mé-moires nannte. Er schrieb es nicht. Er schnitt aus Büchern, Il-lustrierten und Zeitungen haufenweise Textpassagen, Sätze,Satzteile und manchmal auch einzelne Wörter heraus; diesepappte er ungeordnet auf zirka fünfzig Blatt Papier, die seinFreund Asger Jorn, ein dänischer Maler, kreuz und quer mitbunten Strichen, Klecksen, Tupfern und Spritzern überzog.Hier und da fanden sich Fotografien, Zeitungsannoncen,Grundrisse von Gebäuden, Stadtpläne, Cartoons, Sequenzenaus Comic Strips, Reproduktionen von Holzschnitten undStichen, ebenfalls aus Bibliotheken und Zeitungskiosken or-ganisiert, jedes Teil ebenso stumm, alle ebenso von jeglichemklärenden Kontext losgelöst, das Ganze ebenso Glossolaliewie der Phantomtext.“18 Debord orchestriert das kakophoni-sche, autodestruktiv anmutende Material zu einer Gesamt-collage, die m.E. einer surrealistischen Tradition verpflichtetist19, deren Schichtbetrieb des kollektiven Spiels die Stadt er-

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neut als kontinuierlich psychogeographisch erfahrbaren Raumdarstellte: „Die Stadt würde fortan nicht mehr als Kulisse vonWaren und Macht erlebt werden; man würde sie als Feld der‚Psychogeographie‘ empfinden, und diese würde eine Episte-mologie des alltäglichen Lebens und Raumes sein, die es einemgestattete, ‚die exakten Wirkungen der gegebenen oder be-wusst eingerichteten, direkt auf das Gefühlsverhalten des In-dividuums einwirkenden geographischen Umwelt‘ zu verste-hen und umzuwandeln.“20 In der verschmierten, montiertenSchrift einer möglichen, zerrissen wirkenden Dadaismus-Überwindung, findet sich nicht nur die Verweigerung einervermarktbaren Beschaffenheit des Werkes, mit „Mémoires“wird vielmehr die Geschichte der Situationistischen Interna-tionale – auf naturgemäß eigenwilligem Wege – dokumentiertund die Grundierung einer historischen Dimension der Bewe-gung fixiert. Durch das betriebene „creative pillaging of preex-isting elements“21 jongliert Debord mit Geschichte und Ge-schichten: Die historische Dimension der Ausgangsmaterialienund Quellen ist eine sperrige Einladung zur Entzifferung, die,in ihrer Ausrichtung hin auf eine Abfolge von Diskontinuitä-ten, unabschließbar bleiben muss. Die Angriffslust des Buches,das in einem „warlike tone“22 gehalten ist, macht sich dabeiauch in der metaphorisch potenten Gestaltung des Bandes be-merkbar: Der Einband des Buches ist in der Erstausgabe ausgrobem Sandpapier, andere Bücher im Regal mussten von derrauen Hülle des nicht minder rauen Inhalts ganz zwangsläufigSchaden nehmen.

Debords theoretisches Hauptwerk, „Die Gesellschaft desSpektakels“23, erstmals 1967 veröffentlicht und 1988 noch um

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einen erläuternden und einschärfenden Kommentar erweitert,bewegt sich auf formaler Ebene ganz abseits der bisher skiz-zierten Bildwelten. Dieses Werk, so sein Wunsch, sollte den Si-tuationisten als Theorie-Instrument der Kritik dienen. EinBlick auf die Entwicklung der Rezeption macht klar, wie weiter über dieses erste angepeilte Ziel hinausgelangt ist. Debordformuliert in dieser Streitschrift seine umfassende Kritik einesAbrückens der unmittelbar-tatsächlichen Ereignisse und Er-lebnisse in bildhafte Repräsentationen, die der Kontrolle desjeweils dominanten Herrschaftssystem unterworfen sind. Sei-ne passagenhaften Formulierungen unterstreichen nicht nurdie offene, ausfransend-rhizomhafte Form der Gedankengän-ge, sondern auch den Wunsch eine Vielzahl von Zugängen zudiesem Gedankenwerk offen zu halten. Transparenz und Prak-tikabilität kennzeichnen seine scharfe, mitunter polemischüberzogene Kritik einer Warenwunderwelt, die eben nicht nurmit Vorteilen aufwartet, sondern eine Vielzahl von Kontroll-und Zugriffsmechanismen etabliert und jede Tätigkeit in eineWarenform umgießt. Die Mitglieder dieser Gesellschaft wer-den in interpassive Hypnose getaucht, die alle potentiell Han-delnden zu in jeder Hinsicht regungslos schauenden, hohlenKonsumenten mit leerem, angepasstem Blick macht: „Aufge-splittert in 221 Thesen stellt sich Debords unversöhnliche Re-de gegen die herrschenden Verhältnisse wie ein Waffensystemauf, das keinen zentralen Schauplatz eröffnet, auf dem ihr direktbegegnet werden könnte. Sie behauptet sich in jeder einzelnenThese ebenso fragmentarisch wie unmissverständlich und end-gültig, und sie schichtet sich aus ihrer unerklärten Selbstver-ständlichkeit allmählich zu einem komplexen Bedeutungsgefü-

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ge auf. Sie ist der Entwurf einer umfassenden Geschichte vonden Anfängen bis in die unmittelbare Gegenwart und doch einzerstreutes Gefüge ohne identifizierbares Kraftzentrum, einSzenario eher: der Tauschwert tritt als Condottiere des Ge-brauchswertes auf; Wunsch und Leidenschaft spielen den ent-täuschten Liebhaber für Projektionen, die am Fließband derProduktionsverhältnisse zusammengebaut wurden, billig wiedie Wirklichkeit, die den Sinn des Lebens heute aus einer in-telligenten Zahnpastatube drückt und morgen aus der Kritikdieser Lüge; die Ware herrscht als Bild und verstrickt ihre Dar-steller in Zwangsvorstellungen, ein medialer Raum voller me-taphysischer Mucken und psychologischer Fallen, der keinenBeteiligten den Rand seiner Rolle erkennen lässt und die Stim-me eines politischen Stars sogar als Totenredner zur eigenenBeerdigung ruft. Schauspiel, Bild und Verblendung – nichts isthier so intensiv wie Beobachtung, und nichts wird so radikalverworfen wie der Blick.“24

Die Fortführung dieser streitbaren Unversöhnlichkeit fin-det sich in den zwei Erinnerungsbänden „Panegyrikus“ (1989bzw. 1997), die praktisch die Kehrseite des theoretischen Wer-kes25 darstellen. Die Wahl des Titels – die Lobrede abseits deraufrichtigen Selbstkritik – ist bezeichnend für das Programmder beiden Bücher.26 Bereits der erste Abschnitt des Rück-blicks bietet einen entsprechenden Auftakt: „Mein ganzes Le-ben lang habe ich nur unruhige Zeiten gesehen, äußerste Zwie-tracht in der Gesellschaft und ungeheure Zerstörungen; ichwar an diesen Unruhen beteiligt. Bereits diese Umstände hät-ten wohl verhindern können, dass auch die einleuchtendstemeiner Handlungen oder Überlegungen allgemeine Zustim-

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mung findet. Überdies dürften, so nehme ich an, manche vonihnen auch missverstanden worden sein.“27 Die Aufklärungdieser Missverständnisse betreibt Debord verständlicherweisenur aus der Position der eigenen Autorität heraus, wenngleichder Versuch, den Standpunkt des Handelnden ganz im Sinneseiner Clausewitz‘schen (Schreib)Geste darzulegen, spürbarist. Mit der vorsätzlichen Unordnung und voreingenommenenEindimensionalität, aus welcher der Autor aber auch keinenHehl macht, verpflichtet er sich auch in dieser letzten Schriftdem ernsthaften Spiel. Die Entschlüsselung einer Geheimge-schichte, die Decodierung der Strategien in der waghalsigenund kompromisslosen Innenansicht, der Rückblick im Zornund im Bewusstsein der eigenen Position und Referenzsyste-me – all dies ordnet Debord dem Ansinnen unter, inakzepta-bel zu sein und in der Negation die definitorische Macht zu be-legen, die ihm zur retrospektiven Fundierung der eigeneSouveränität im Batailleschen Sinne dienen soll.28 Somit kannuns diese Konfession nicht nur als ein letztes Manifest, sondernauch eine literarische Manifestation eines Lebens im Wider-spruch gelten. Der gesuchte Schreibgestus, der vom Weiterle-ben des eigenen Werks ganz grundsätzlich überzeugt ist, ba-siert auf der Kohärenz von Leben und Arbeiten, ganz so wiees der von Debord anzitierte Chateaubriand vorschreibt.

Eines der Einleitungszitate des ersten Bandes ist der hoch-gradig besetzten und kanonisierten „Ilias“ entnommen. DasBruchstück aus dem Homerischen Epos kreist passgerecht umdas Thema des Verschwindens; ein Umstand, der für das Le-ben wohl unausweichlich, für überlieferte Werke aber nichtzwingend sein muss. Guy Debords literarische Arbeiten wol-

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len erinnert und lesend aktualisiert werden, auch und vor al-lem im zu schaffenden Programm einer „Counter-Memory“29,einer weiterwirkenden, wirksamen und hochgradig wider-ständigen Gegen-Erinnerung.

1 vgl. Harrison, Charles/Wood, Paul (Hg.): Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Künst-lerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews.Band II 1940 – 1991. Ostfildern-Ruit 1998 (1992), S. 845ff.

2 Debord, Guy (präsentiert): Potlatch. Informationsbulletin der Lettristischen In-ternationale. Mit einem Dokumentenanhang. Berlin 2002 (1996), S. 73f., Herv. i.Orig.

3 Zu diesem Punkt vgl. Ballhausen, Thomas: Bilder des Krieges zwischen Grauens-darstellung und Wirkungsästhetik. Über Susan Sontags „Die Leiden anderer be-trachten“. in: Medienimpulse. Beiträge zur Medienpädagogik, Nr. 46, 2003, S. 34-38, hier S. 37

4Jahraus, Oliver: Literatur als Medium. Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwi-schen Bewußtsein und Kommunikation. Weilerwist 2003

5 Für die historische Entwicklung der Avantgarde vgl. Barck, Karlheinz: Avantgar-de. in: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Band 1. Absenz –Darstellung. Stuttgart 2000, S. 544-577; für die Entwicklung der Diskussionen umdie theoretischen Fragestellungen vgl. Zimmermann, Anja: Avantgarde. in: Pfiste-rer, Ulrich (Hg.): Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe.Stuttgart 2003, S. 34-37

6 So findet sich etwa im „Pangyrikus“ ein ganzer Abschnitt, der diesem Aspekt ge-widmet ist und, neben Debords soldatischer Selbstinszenierung, vor allem die Näheseiner Strategien zum Kriegsspiel verdeutlicht. Für weiterführende Darstellungenvgl. Perla, Peter P: The Art of Wargaming. Annapolis 1990, S. 15ff., sowie: Lenoir,Timothy/Lowood, Henry: Kriegstheater: Der Militär-Unterhaltungs-Komplex.In: Schramm, Helmar/Schwarte, Ludger/Lazardig, Jan (Hg.): Kunstkammer – La-boratorium – Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert. (TheatrumScientiarium 1). Berlin: 2003, S. 432-464, hier S. 433-441

7 Lettrismus in: Habicht, Werner/Lange, Wolf-Dieter/Brockhaus-Redaktion (Hg.):Der Literaturbrockhaus. Grundlegend überarbeitete und erweiterte Taschenbuch-ausgabe in 8 Bänden. Band 5: Kli – Mph. Mannheim 1995, S. 149

8 Für Untersuchungen zu Debords filmischen Arbeiten vgl. Agamben, Giorgio. Dif-ference and Repetition: On Guy Debord‘s Films. in: McDonough, Tom (Hg.): GuyDebord and the Situationist International. Texts and Documents. Cambridge, Ms2004, S. 313-319; Levin, Thomas Y.: Dismantling the Spectacle: The Cinema of Guy

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Debord. in: McDonough, a. a. O., S. 321-453; sowie: Etzold, Jörn: Guy Debordsallegorisches Kino. In: Barth, Thomas u.a. (Hg.): Mediale Spielräume. Doku-mentation des 17. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums UniversitätHamburg 2004. Marburg 2005, S. 25-33. Für den Bruch mit den ästhetisch ausge-richteten Lettristen vgl. Marcus, Greil: Lipstick Traces. Von Dada bis Punk – Ei-ne geheime Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Reinbek bei Hamburg 1992(1989) S. 327f.

9 Debord, Potlatch, a. a. O., S. 94, Herv. i. Orig.10 Ohrt, Roberto: Situationismus. in: Prestel Lexikon Kunst und Künstler im 20.

Jahrhundert. München 1999, S. 30411 Raunig, Gerald: Kunst und Revolution. Künstlerischer Aktivismus im langen 20.

Jahrhundert. Wien 2005, S. 125f., Herv. i. Orig.12 Vogel, Juliane: Mord und Montage. In: Fetz, Bernhard/Kastberger, Klaus: Die Tei-

le und das Ganze. Bausteine der literarischen Moderne in Österreich. Wien 2003,S. 22-43, hier S. 25

13 de Certeau, Michel: Kunst des Handelns. Berlin 1988 (1980), S. 22314 Andreotti, Libero: „Stadtluft macht frei“ (Max Weber). Die urbane Politik der Si-

tuationistischen Internationale. in: Museum Moderner Kunst Stiftung LudwigWien (Hg.): Situationistische Internationale 1957 – 1972. Wien 1998, S. 11-27, hierS.13

15 vgl. Serres, Michel: Atlas. Berlin 2005 (1994), S. 41ff.16 Buci-Glucksmann, Christine: Der kartographische Blick in der Kunst. Berlin

1997, S. 17717 Für diese Ausführungen wurde folgender Reprint zu Analysezwecken herange-

zogen: Debord, Guy: Mémoires. Paris 2004 (1957). Für eine detaillierte Analysedes Werkes vgl.: Donné, Boris: (Pour Mémoires). Un essai d‘élucidation des Mé-moires de Guy Debord. Paris 2004.

18 Marcus, Lipstick Traces, a. a. O., S. 15719 Möbius, Hanno: Montage und Collage. Literatur, bildende Künste, Film, Foto-

grafie, Musik, Theater bis 1933. München 2000, S. 176ff.20 Marcus, Lipstick Traces, a. a. O., S. 15821 Andreotti, Libero: Architecture and Play. in: McDonough, a. a. O., Cambridge,

Ms 2004, S. 213-240, hier S. 217 22 ebd., S. 22223 Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin 1996 (1967)24 Ohrt, Roberto: Der Herr des revolutionären Subjekts. Einige Passagen im Leben

von Guy Debord. in: Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, a. a. O.,S. 28-39, hier S. 32

25 vgl. Kaufmann, Vincent: Guy Debord. Die Revolution im Dienste der Poesie. Ber-lin 2004 (2001), S. 278

26 Für diese Ausführungen wurden folgende Ausgaben dieses Werkes zu Analyse-und Vergleichszwecken herangezogen: Debord, Guy: Panegyrikus. Erster Band.

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Berlin 1997 (1989); Debord, Guy: Panégyrique. Tome Premier. Paris 1993 (1989);Debord, Guy: Panégyrique. Tome Second. Paris 1997; sowie: Debord, Guy: Pa-negyric. Volumes 1 & 2. London 2004 (1989 bzw. 1997)

27 Debord, Panegyrikus, a. a. O., S. 928 vgl. Ballhausen, Thomas: Bekenntnis zum Bösen. Notizen zu Batailles „Die Lite-

ratur und das Böse“. in: Ballhausen, Thomas: Der letzte Sommer vor der Eiszeit.Essays und Aufsätze. Wien 2003, S. 149-172, hier S. 166f.

29 vgl. Crary, Jonathan: Spectacle, Attention, Counter-Memory. in: McDonough, a.a. O., Cambridge, Ms 2004, S. 455-466

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„MAN REICHE MIR EINEN ANDERENKOSMOS, ODER ICH KREPIERE.“ ÜBEREINSTEIN, SURREALISMUS, SCHREIEUND CRAVAN

Alexander Emanuely

Täglich strömen unzählige Schulklassen in das „Centre Pom-pidou“ in Paris. Der Sinn soll sein, dass Kinder aller Alters-stufen mit moderner Kunst konfrontiert werden. Jedes Alterhat sein eigenes Team von KunsterzieherInnen, die dann mitbunten Würfeln den Kubismus erklären oder mit alten Post-karten den Surrealismus. Vor einigen Jahren hatte ich michauch wieder in dieses Museum verirrt und stand gezwunge-nermaßen neben einer solchen SchülerInnengruppe. Zuerstversuchte ich ihr zu entfliehen, und gerade als ich ihr entkom-men schien, stand die Gruppe kompakt im dritten AvantgardeStockwerk, jeden Fluchtweg versperrend, direkt vor mir. Eswaren rund zehn achtjährige Kinder und eine Kunstlehrerin.Dank diverser Wortfetzen konnte ich erkennen, dass es Kin-der aus Paris waren. Da mir nichts anderes übrig blieb, hörteich ihnen zu. Und weil ich ein unfassbares Gedächtnis habe,versuche ich jetzt all das nach zu erzählen, was die Kinder sovon sich gegeben haben.

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NUN KINDER?

„Was seht ihr?“ die Lehrerin zeigte auf den leihgegebenen Akt,die Stufen hinabsteigend von Marcel Duchamp. Die Kinderblieben still. Doch als die Lehrerin etwas über Kubismus, Pis-soirs und andere themenrelevante Sachen erzählen wollte, fuh-ren die Kinder mit einem unfassbaren enzyklopädischen Wis-sen auf, als wäre ein Wortgefecht mit ihrer Erzieherin vonNöten. Als erste fiel ihr ein Mädchen ins Wort.

„Madame? Kennen sie Carl Einstein?“„Ma petite chérie, der heißt Albert.“„Nein Madame, ich meine Carl. Wenn sie über Kubismus

uns was erzählen wollen, dann müssen sie doch Carl Einsteinkennen!“

„Du willst uns wohl wieder eine deiner Geschichten er-zählen, Mina? Nicht? Na gut. Halte dich aber bitte kurz! Kin-der! Mina erzählt uns was.“ Die Kinder tobten und ich lausch-te auf. Hatte ich mich nicht gerade im Freundeskreis über denMangel an Bildung beschwert, der sich meines Erachtens dortausdrückt, wo die Schulbücher aufhören uns etwas zu er-zählen? Doch Mina schien sich weit über das gewollte und ge-plante Wissen hinaus auszukennen. Denn wer kennt schonCarl Einstein? Wie hat Franz Blei ihn in seinem „Großen Be-stiarium“ 1924 beschrieben? „Das ist eine kometarische An-gelegenheit, insofern der Einstein ein Schwanz- oder Irrsterndes metaphysischen Himmels ist, aus dem er zuweilen, aufnicht erklärbare Weise, da seine Bahn nicht berechenbar, in dieErdatmosphäre abirrt, hier zum Glühen kommt und zumSprühen und Spucken. Sein also irdisches Auftauchen ist katas-

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trophal für bürgerliche Hirne, deren breiige Substanz bei Ein-steins größter Erdnähe vor Wut zum Kochen kommt. Woraufder Einstein wieder seine metaphysische Laufbahn fortsetzt,von der nicht einmal sein schärfster Beobachter Rowohlt weiß,wie sie verläuft.“1

Assoziativer Weise, vielleicht weil ich im Centre Pompidouwar, schoss mir die Frage durch den Kopf, ob Guy Debord,hätte er sich 1924 schon „situationniert“ gehabt, auf ähnlichunerklärbare Weise in Bleis Bestiarium verewigt worden wä-re, wie Einstein. Irgendwie haben die beiden doch am gleichenHimmel gefischt, wie aus den Ausführungen der SchülerinMina sogleich deutlich werden sollte.

CARL EINSTEIN

„Schweißfuß klagt gegen Pfurz in trüber Nacht!“ heißt ein Ro-manfragment von Carl Einstein aus dem Jahre 1930. In diesembeschreibt er, was ihm seine Person und ein Gerede über die-se bedeutet: „ICH der banalste Kollektivplatz, in Präservativgewickelt.“2 Er wollte nicht zu jenen Intellektuellen gehören,die dank einer show-business-Vision des Individuums den sogenannten „Eliten“ ihre Ruhe und Überheblichkeit ermögli-chen. Er wollte eher zu jenen gehören, die es schaffen zu ver-wirklichen, dass Kunst aufhört als Grenzziehung zwischenBildung und Armut dienen zu können. Deswegen die von ihmabverlangte Anonymität der KünstlerInnen, die keine Zulie-ferindustrie für eine gut situierte Minderheit mehr bedienen,sondern Vorbild für eine befreite Menschheit sein sollen. „Die

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Frage der Kunst ist identisch mit der Frage nach der mensch-lichen Freiheit, nicht mehr und nicht weniger.“3 Man vergaßden Denker und Menschen Carl Einstein, aber nicht, weil sichdie von ihm ersehnte Befreiung durchgesetzt hätte.

Carl Einstein ist gerade 14, da bringt sich 1899 sein VaterDaniel um. Jener wird als tief religiöser Mann beschrieben,Lehrer und Rabbiner in Karlsruhe. Diese private Tragödie,war sie nicht eine Ankündigung für jene alles erfassende, die inden nächsten Jahrzehnten folgen sollte? Und was schützt ei-nen vor einer solchen Tragödie? Konventionen vielleicht? Ei-ne bürgerliche Existenz? Nichts dergleichen hat Daniel Ein-stein gerettet. Daraus zog der Vierzehnjährige wohl seineKonsequenzen, hält man sich seinen weiteren Werdegang vorAugen. Mit Platos Höhlengleichnis im Kopf bricht er seineSchulausbildung ab und in ein sehr eigenwilliges Studium auf.

Carl Einstein zieht nach einem Parisausflug nach Berlinund versucht sich in der Philosophie. Doch nicht nur GeorgSimmel soll ihn als Lehrer prägen, sondern auch der Kunsthis-toriker und Definitionsfinder für das Barock: Heinrich Wölf-flin. Und dann gibt es da die Bohème, in die sich der junge Ein-stein stürzt, wie ein Fisch ins Wasser. Sein erster Anti-Roman– oder wie auch immer dieser Wahnwitz zu nenne ist – entsteht1905: „Bebuquin“. Der Dilettant der Wunder. „Bebuquin, derWille zur Dummheit verlangt Entsagung, und man bekommtihn nur durch sorgfältiges Zuendedenken. Wenn man sieht,dass unsere Gedanken in sich zusammenfallen, wie die Flügeleines geschossenen Wildhuhns; Gedanken, nein, sie sind keineZwecke für sich, sie sind wert als Bewegung; aber können Ge-danken bewegen; o, sie fixieren, sie nageln zu sehr fest, sie kon-

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servieren selbst den Revolutionär. Bilder sind Taten der Augen,und mit einem Bilde ist nicht alles gesagt, aber ein Gedanketäuscht stets vor, er habe die ganze Kette erschöpft, undlähmt.“4 Das Denk-Epos Bebuquin ist übrigens André Gidegewidmet.

Es sind die Bilder, die bewegen können und Einsteins Fran-kophilie, die ihn oft und immer wieder nach Paris treiben.Und wenn schon die Metapher des Fisches evoziert wurde,dann kann von Paris als Leichplatz gesprochen werden. DennCarl Einstein findet dank eines Freundes, dem Galeristen Hen-ry Kahnweiler – auch so ein Deutscher in Paris – die Bilder, dieer sucht. Und ihre Maler heißen Pablo Picasso und GeorgesBraque. Er befreundet sich mit diesen und noch vielen ande-ren KünstlerInnen und wird zu einem ihrer intellektuellen An-treiber. Somit ist in diesen Jahren Einstein nebst Revolutionärin diversen deutschsprachigen Zeitschriften (in „Die Aktion“oder in den von ihm gegründeten „Neuen Blättern“), einer derDefinitionsgeber des Kubismus. Kubismus ist primitiv undprimitiv heißt für Carl Einstein: vom Kapitalismus befreit.„Gegenüber dem menschlichen und wirtschaftlichen Elendmuß man fragen: Was kann die Kunst noch leisten, die von un-entschiedenen Kleinbürgern für Besitzende gefertigt wird (…)Diese Kunst verabreicht dem Bürger die Fiktion ästhetisieren-der Revolte, die jeden Wunsch nach Änderung harmlos ,see-lisch‘ abreagieren lässt.“5

Knapp nach Beginn des Ersten Weltkriegs erscheint Ein-steins richtungweisendes Buch „Die Negerplastik“. „Ich be-trachte afrikanische Kunst kaum unter dem Aspekt des heu-tigen Kunstbetriebes; nicht um Anregungen erlauernden

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Unproduktiven einen Dreh (neuen Formenschatz) zu starten,vielmehr aus dem Wunsch, dass kunstgeschichtliches Unter-suchen afrikanischer Plastik und Malerei beginne.“6 Somit warEinstein wohl einer der ersten, der versucht hat, Sinnstiftendesan einer europäischen Kunst, dank einer intellektuellen Reiseins Unbekannte und als Minderwertig eingestufte, zu finden.Und minderwertig war im allgemeinen Bewusstsein die afri-kanische, aber auch ozeanische Kunst. Jahre später – ab 1930– sollte Einsteins Freund und Dichter Michel Leiris diese Ar-beit fortsetzen, genauso wie die ganze moderne Ethnologierund um die „Société des Africanistes“. „Die Negerplastik“war somit nicht nur fixer Bestandteil der Bibliothek eines Pi-cassos, Fernand Légers oder Ernst Ludwig Kirchners, sondernauch der Startschuss zur Zerlegung der eurozentristischenSicht auf die Welt.

Den Ersten Weltkrieg überlebt Carl Einstein traumatisiertals Soldat in Belgien. Als das Kaiserreich zusammenbricht, istCarl Einstein in Brüssel Mitglied eines kurzlebigen Soldaten-rates. Die Revolution dauert eine Woche. Zurück in Berlingründet Einstein mit George Grosz die Zeitschrift „Der bluti-ge Ernst“. Doch was entgegenstellen den Massakern an denSpartakistInnen, an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht?Was tun, wenn die ersehnte Revolution überall nur so langedauert, wie es Munition gibt oder Blut vergossen werden kann?Dadaismus betreiben? Schreiben und zu Kiepenheuer gehen?

Das nächste Jahrzehnt in Deutschland hält Einstein nurdank seiner Arbeit und einiger Reisen aus. Er wird wegen Blas-phemie verklagt und zwar dank seines 1921 geschrieben Thea-terstückes „Die schlimme Botschaft“. 1925 bringt er für den

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Kiepenheuer-Verlag den „Europa-Almanach“ heraus, der sichdem damals nicht minderen Anspruch stellt, der Avantgardevon Moskau bis Paris ein Forum zu bieten. 1926 schließlichverfasst Einstein nach seiner „Negerplastik“ das zweite, für dieKunstwelt zentrale Buch, welches ihm internationale Aner-kennung bringen wird: „Die Kunst des 20. Jahrhunderts“, alsBand 16 der Propyläen-Kunstgeschichte. In diesem Band wirddas erste Mal in der Kunstgeschichte systematisch die Moder-ne porträtiert. Doch schon früh fasst Carl Einstein, vieles ah-nend, den Einfluss seiner Arbeit in einem Brief an Toni Wolfs-kehl zusammen: „(…) und eine Litteratur – wie ich sie machte– ist von vornherein verloren, da sie gegen den Leser und dieübliche Litteratur geschrieben ist. Das geht nur zu machen –wenn man dekorativ arbeitet wie Kandinsky und mit Occultis-tentruc. (…) Vorläufig schreibe ich Zeug – das die Leute alsK(unst)g(eschichte) etwas erstaunen wird. Die Negerplastikhätte ohne die Bilderchen keine Sau gelesen, und kapiert habensie nur ein paar Leute in Frankreich.“7 Und dorthin, genauergesagt, nach Paris, verschlägt es dann 1928 Einstein endgültig.Da kann wieder geatmet werden, ohne überall Stahlhelme oderbraune Uniformen und andere Grosz-Modelle als Menschenherumlaufen zu sehen.

In Paris setzt Einstein seine Arbeit als schreibender Revo-lutionär und Kunstdefinierer fort. Er arbeitet neben GeorgesBataille und Michel Leiris an der Zeitschrift „Documents“ mit.Diese entwickelt sich in der kurzen Zeit ihres Bestehens zummarkantesten Zeugnis Moderner Kunst. Neben unzähligenAktivitäten organisiert er 1933 auch die erste große Werkschauvon Georges Braque in der Kunsthalle Basel.

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Doch nicht nur in der Literatur und in der Kunst hinter-lässt Einstein Spuren, auch der Film bekommt seinen Stempelab. Schon soll er bei der Verfilmung der „Dreigroschenoper“von Wilhelm Papst mitgewirkt haben, was jedoch nicht mehrnachweisbar ist. In Paris lernt er den Sohn des Malers AugusteRenoir, den bald nicht minder berühmten Jean kennen. Ge-meinsam schreiben sie das Drehbuch für einen Film, der viel-leicht nicht zu den bekanntesten Renoirs zählt, für die Film-geschichte jedoch den Auftakt zum Neorealismus bedeutethat: „Toni“, die Geschichte eines italienischen Gastarbeiters inFrankreich. Der Film entsteht 1935 und als Regieassistent ver-sucht sich das erste Mal der 17jährige Luchino Visconti.

Trotzdem Carl Einstein behaupten könnte, einen gewissenErfolg zu verbuchen, plagt ihn die Tatsache, dass all seineMühen nichts an dem sich deutlich ankündigenden Grauenverändern kann: „Zusammengenommen besteht die lächerli-che Rolle der Intellektuellen darin, dass sie die Tatsache nurstützen aber nicht schaffen können.“8 Und es gibt vor allemweit und breit keine zu stützende Revolution. Jene einzige, diees gegeben hat, wurde von Stalin zerstört. Es ist eine Welt, inder sich „die Maschinegewehre (…) über die Gedichte und dieGemälde lustig (machen).“9 Zu dieser Verbitterung kommthinzu, dass sich auch in Paris Antisemiten bemerkbar machenund zwar nicht nur in den einschlägigen Kreisen, sondern auchunter den Produzenten des Films „Toni“.

Doch dann putschen in Spanien die Generäle gegen dieRepublik. Für Carl Einstein, genauso wie für viele anderedeutsche Revolutionäre, ist es, als hätten sie nach den Kata-strophen von 1919 und 1933 eine dritte Chance bekommen.

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Der erfolgreiche Pariser Kunsthistoriker und Drehbuchautorlässt 1936 alles liegen und stehen, verabschiedet sich nicht vonden FreundInnen und geht mit seiner Frau Lyda Guevrekiannach Barcelona, wo er aus ebenso einfachen wie nachvoll-ziehbaren Gründen bis 1939 bleibt. Gefragt, warum er „dasBuch mit dem Gewehr getauscht“ habe um in Spanien die Sa-che der Revolution zu verteidigen, antwortet er knapp: „Dasist die einzige nützliche Sache, die es zur Zeit gibt. Und weilich die Monotonie eines faschistischen Europa nicht aushal-ten will.“10

Da er immer schon eher zu den Anarchisten gezählt wor-den war, sei es im Soldatenrat in Brüssel oder anhand seinerSympathie für die avantgardistische Kunst, empfiehlt ihn einFreund bei Buenaventura Durruti und seiner legendären Ko-lonne. Doch kann Carl Einstein nur kurz mit Durruti zusam-men arbeiten, da er bald dessen Grabrede halten muss: „Unse-re Kolonne erfuhr den Tod Durrutis in der Nacht. Es wurdewenig geredet. (…) Durruti, dieser außergewöhnlich sachlicheMann, sprach nie von sich, von seiner Person. Er hatte das vor-geschichtliche Wort „ich“ aus der Grammatik verbannt.“11

1938 versucht er noch einen Film über diese letzte Revolutionzu realisieren. Die Fragmente dieser Arbeit gelten als ver-schollen. Gleichzeitig initiiert er in Zusammenarbeit mit dem„Kollektiv professioneller Forschung“ eine Volksuniversität inBarcelona, in der vorwiegend Forschung gegen Totalitarismusbetrieben werden soll.

Einige Monate später findet sich das Ehepaar Einstein infranzösischen Internierungslagern wieder: er in Argelès undsie in Juillac. Nach dieser ersten Inhaftierung kommen sie wie-

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der frei. Für Einstein ist es eine kurze Freiheit. Auch weiß er,was ihn wohl bald erwarten wird: „Man wird mich internieren,und französische Gendarmen werden uns bewachen. Einesschönen Tages werden es SS-Leute sein. Aber das will ich nicht.Je me foutrai à l‘eau. Ich werde mich ins Wasser werfen!“12

Während sich die Mitglieder der „Société des Africanistes“ umLyda Einstein kümmern können, wird Carl als feindlicherAusländer wieder interniert, wahrscheinlich im Lager Bassensbei Bordeaux. In den Wirren des verlorenen Krieges gegen dieNazis, kommt er noch einmal frei.

Doch was ist das für eine Freiheit? Rundum ist Europa mo-noton faschistisch. Der erste Selbstmordversuch misslingt, derzweite nicht. Am 7. Juli 1940 wird Carl Einsteins Leiche ausder Gave de Pau geholt. Er hatte sich zwei Tage zuvor in denFluss gestürzt. „Man reiche mir einen anderen Kosmos, oderich krepiere.“13

EINSTEIN?

Die Schülerin Mina hatte das Leben Carl Einsteins mit einerNatürlichkeit erzählt, die zwar zu ihr, aber nicht zu einer Acht-jährigen gepasst hat.

Noch heute läuft mir die Gänsehaut den Rücken runter.Außerdem musste ich vor lauter Rührung weinen. Ich klopfteder Lehrerin auf die Schulter und beglückwünschte sie zu ih-rer Schülerin.

„Aber Monsieur. Mina ist unsere Begabteste! Sie kann soschön Geschichten erfinden! Ist jedes Mal ein Vergnügen!“

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„Aber nein. Sie hat nichts erfunden! Ich habe vor kurzemeinen Essay über Carl Einstein geschrieben, der fast den glei-chen Wortlaut hat!“

„Monsieur! Sie wollen mich wohl verarschen! Ich habe ander Sorbonne Kunstgeschichte studiert. Und so ein Einstein istmir dabei nie untergekommen! Demnach kann es ihn nicht ge-ben! Mina erfindet immer solche Sachen! Wenn sie wüssten!“

„Aber… ich… ich hab ihn doch nicht auch erfunden…“wollte ich noch sagen.

Inzwischen war unter den Kindern ein ungewöhnlich wü-tender Streit ausgebrochen. Ich verstand zuerst nicht, um wases ging. Nun trat Minas Kontrahent im Wettbewerb ums ver-gessene Wissen aus der Gruppe, um seinerseits etwas zu er-zählen. Er hieß Pierre und war der kleinste.

„Madame, ich wollte sie zuerst nicht unterbrechen, dochals sie bei André Bretons Tisch sagten, der Surrealismus sei ei-ne zentrale Kunstrichtung des XX. Jahrhunderts gewesen, dawäre ich, bei aller Sympathie, die ich für sie als Lehrerin habe,fast explodiert! Darf ich was sagen?“

„Pierre, bitte keinen Streit! Du weißt, Alfred ist auch daund Louise. Wenn du wieder die Stange für den Surrealismusbrichst, dann werdet ihr streiten!“ und tatsächlich bekamenzwei Kinder in der Gruppe einen Wutausbruch.

„Reaktionärer Vollidiot… dummer Hund… Kulturindu-strieller!“ sagten sie, ohne jedoch Pierre von seinem Vorhaben,eine Stange zu brechen, abzubringen.

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LE SURRÉALISME

„Die Welt verändern“, hat Marx gesagt; „das Leben ändern“,hat Rimbaud gesagt: Diese beiden Losungen sind für uns eineeinzige.“14

Der Surrealismus wollte Revolution. Er wollte Kunst undDichtung, Traum und Triebe als Motor für einen gesellschaft-lichen Umbruch sehen, wollte die Avantgarde einer Revoluti-on sein, die dem Menschen eine absolute Freiheit garantiert. Essollte das Reale dem Surrealen angepasst werden, indem bei-des aufgehoben und miteinander vermengt wird. 1924 wurdeder Surrealismus als revolutionäre Bewegung gegründet.

Die Revolution der SurrealistInnen manifestierte sich inManifesten, die nicht nur in den eigenen Publikationen, wie„LA RÉVOLUTION SURRÉALISTE“ publiziert wurden,sondern auch in anderen, meist linken und linksradikalen Zeit-schriften. Der Aufruf „Zuerst und immer die Revolution!“ er-schien 1925 in der „L‘Humanité“, dem zentralen Organ derKPF und drückt auf den Punkt gebracht und zu einer Zeit, daalle SurrealistInnen scheinbar noch recht hatten, die revolu-tionäre Zielsetzung der Bewegung aus: „Wir sind ganz gewissBarbaren, da uns eine bestimmte Form von Zivilisation ane-kelt. (Nämlich jene Zivilisation, die die) Menschenwürde aufdie Stufe eines Tauschwerts (herabzieht, jene Zivilisation, dieden Geist) in den viehischsten und unphilosophischsten Be-griff (der) Idee des Vaterlandes (zu zwängen versucht, jene Zi-vilisation, die sich auf der) Sklaverei der Arbeit (aufbaut.) Wirakzeptieren die Gesetze der Ökonomie und des Tauschhandelsnicht, wir akzeptieren nicht die Sklaverei der Arbeit, und auf

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einem noch weitläufigeren Gebiet erklären wir uns als im Auf-stand gegen die Geschichte befindlich. Die Geschichte wirdvon Gesetzen gesteuert, deren Voraussetzung die Trägheit derEinzelnen ist (…)“15

Die Verwandtschaft mit dem Dadaismus, vor allem darin,dass die Kunst und sonst jede Art von Ordnung, sei sie bür-gerlich oder auch nur irgendwie geartet, zerstört werden muss,liegt auf der Hand. Und nicht umsonst waren viele Surreali-stInnen zuvor DadaistInnen gewesen. Der Berliner GeorgeGrosz schrieb 1925 über einen Besuch in Paris: „In Wahrheitrichtet sich die französische Kulturproduktion wie bei unsnach den Bedürfnissen der bürgerlichen Interessen. Dessensind sich die Pariser Künstler bis auf verschwindende Aus-nahmen (Gruppe Clarté) ebenso wenig bewusst, wie ihredeutschen Kollegen.“16 Die Gruppe Clarté, die erwähnte ver-schwindende Ausnahme war niemand anderer, als den Sur-realistInnen sehr nahe stehende, junge, kritische MarxistInnenund die SurrealistInnen selbst. Doch was oder wer waren die-se Leute? Ein Haufen durch den I. Weltkrieg sehr verstörterjunger Männer? Sie interessierten sich auf jeden Fall zu Beginnfür alles, was aus Zürich kam, wie Dada und die bolschewisti-sche Revolution.

Ein weiteres surrealistisches Modell hieß Freud, der sei-nerseits aber nie nachvollziehen hatte können, warum ihn einHaufen verrückter PariserInnen so oft, und irgendwie nichtganz verstehend, zitierte. Sigmund Freud antwortete AndréBreton, dass er sich geschmeichelt fühle, so hoch gelobt zuwerden, jedoch nicht ganz genau wisse, was die SurrealistIn-nen von ihm denn wollen, hätten sie ihm doch nicht einmal er-

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klären können, was Surrealismus eigentlich ist, und überhauptläge die Welt der Kunst so weit von seiner entfernt.17

Was die SurrealistInnen wollten, war so etwas wie die Rea-lisierung der Träume. Zentral für diese angestrebte Realisie-rung war die Traumdeutung, und die hatte Freud in die Weltgerufen. Für die SurrealistInnen hatte Sigmund Freud die Weltder Träume rehabilitiert, die Welt, in der alles liegt und brodelt.Die für Freud so wichtige Methode der freien Assoziation warauch für die SurrealistInnen ein prägender Ausgangspunkt fürdiverse Aktivitäten; wie dem automatischen Schreiben. DieVereinnahmung Freuds durch die SurrealistInnen hatte in Fol-ge wichtige Auswirkungen auf die Psychoanalyse in Frank-reich, da bedeutende VertreterInnen dieser die durch den Sur-realismus gegangenen Pierre Naville und Jacques Lacan waren.

Politisch orientierte sich der Surrealismus bald nach sei-ner Gründung am Marxismus, auf den Punkt gebrachtschrieb René Crevel 1931 in der Zeitschrift „Le Surréalismeau Service de la Révolution“: „Von Hegel wie von Marx undEngels ausgehend, obwohl auf anderen Wegen, kommt derSurrealismus beim Dialektischen Materialismus an.“18

Nachdem sie über die RomantikerInnen und Hegel ge-stolpert waren haben die SurrealistInnen alle möglichen undoft widersprüchlichen Etappen der Philosophie durchwan-dert, um sich schlussendlich alles mögliche anzueignen19. Es istdaher nicht verwunderlich, wenn sie im Gegensatz zu denMarxistInnen nicht wirklich an die Befreiung ausschließlichdurch den Klassenkampf, sondern vielmehr an die Befreiungdurch eine individuelle und poetische Bewunderung glaubten.Inspiriert von Marx Idee die Welt zu verändern, wollten die

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SurrealistInnen à la Rimbaud das Leben verändern – der pro-letarischen Revolution sollte jene des Individuums vorausge-hen und die zwischenmenschlichen unterdrückende Regelun-gen durch Arbeit und Werte sollte von einer befreienden durchTraum und Poesie abgelöst werden.

Walter Benjamin rückte in seinem 1929 veröffentlichtenEssay „Der Sürrealismus. Die letzten Momentaufnahmen dereuropäischen Intelligenz“20 den von ihm so bewunderten Sur-realismus in den Mittelpunkt und stellte fest, dass alle nen-nenswerten Institutionen, die sich der Mensch für eine besse-re Welt ausgedacht hat, wie Humanismus, Freundschaft,Nächstenliebe, Verständigung, niemals die Effektivität errei-chen können, wie ein saftige Gewinne abwerfender Konzernoder ein schwere Bomben abwerfendes Flugzeug21. Benjaminsieht im Surrealismus die Opposition zu dem, was er „einschlechtes Frühlingsgedicht“ nennt: „Denn: was ist das Pro-gramm der bürgerlichen Parteien? Ein schlechtes Frühlings-gedicht. Mit Vergleichen bis zum Platzen gefüllt. Der Sozialistsieht jene ‚schönerer Zukunft unserer Kinder und Enkel‘ dar-in, dass alle handeln, ‚als wären sie Engel‘ und jeder soviel hat,‚als wäre er reich‘ und jeder so lebt, ‚als wäre er frei‘. Von En-geln, Reichtum, Freiheit keine Spur. Alles nur Bilder. Und derBilderschatz dieser sozialdemokratischen Vereinsdichter? Ih-re ‚Gradus ad parnassum‘? Der Optimismus.“22

Der Surrealismus hat den Pessimismus zu organisieren, ihntäglich bis zur Revolution voran zu treiben, bis zur endgülti-gen Überspannung, die dann alles zerreißt. Denn im Pessimis-mus liegen die Voraussetzungen der Revolution. Es muss allesaufgezeigt werden, was in der Welt existiert, nicht in einer li-

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nearen Dokumentation, sondern in assoziativen Montagenund Collages. Die Dinge der Welt mussten mit den Dingen deseigenen Bewusstseins vermischt werden. Dabei werden Asso-ziationen geschaffen, welche den VoyeurInnen und BürgerIn-nen einen Schock über ihre eigene Existenz einjagen sollten:die Madonna, die ihr Kind verhaut; das Auge, welches durch-schnitten wird; die Zukunft, die nie ist; ein Frauenrücken alsCello, ein von Pfeilen durchbohrter Vogel; englische Beamte,die wie Regen tropfen; Lavaströme, in denen Skelette flanieren;Fische so groß wie Akte; mit Schmetterlingen verklebte Augenund Mundhöhlen; eine Lokomotive, die aus dem Kaminkommt; in Liebe abgebissene Finger; der Schatten von jeman-dem, der nicht zu sehen ist, von etwas, das mangelt. Es galt, dieerste Spannung hin zur Überspannung zu schaffen. Kein Gliedsollte unzerrissen bleiben.

„Metro – Boulot – Metro – Dodo – Metro – Boulot – …“,das heißt soviel wie „U-Bahn, Arbeit, U-Bahn, Schlaf, U-Bahn, Arbeit“. In Frankreich ist dieses Sprüchlein sehr geläu-fig. Es umschreibt nichts anderes, als die Realität der kapitali-stischen Produktionsweise und Sozialisationsform, die jeder,nicht nur in Frankreich, kennt, und die scheinbar ausweglosdas Leben des Menschen bestimmt. Abgemüht im Käfig zurZwangsabmüdung rasen, um danach müde zurück, nach Hau-se zu pendeln, um sich dort verdienterweise etwas zu entmü-den, darauf hin zu schlafen, um danach wieder produktiv zusein, am Fließband der Fließbänder. Prinzipiell hat jederMensch auf diese Art konditioniert zu sein und nichts Abnor-males an dieser lebenslangen Schleife zu finden, die meist imschulreifen Alter anfängt und mit der Pensionierung aufhören

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sollte. Alles, was die SurrealistInnen entwarfen, erfanden, er-träumten und lautstark in ihren kleinen Kreisen und manch-mal auf größeren Festen und ihren Publikationen ausschrieen,galt dem Ziel, diese Konditionierung, im zunächst kleinen und,um einer Revolution Willen, schließlich im großen Stil, zu zer-stören, galt dem Ziel, der großen Müdigkeit, eine große Ver-weigerung entgegenzustellen.

Die Methoden, die große Verweigerung zu realisieren, ba-sierten einerseits darauf, den Abstieg in sich selbst, in das, wasin der Psychoanalyse als Unterbewusstes definiert wird, zuvollziehen, andererseits die daraus gewonnenen neuen Rea-litäten, mit Hilfe der künstlerischen Kreativität zu vergegen-wärtigen und zu materialisieren. Die SurrealistInnen bildetendie Avantgarde, die diese Methoden an sich auszuprobierenund zu gestalten hatten, damit alle, selbst die konditionierte-sten Spießer, sie schließlich zu ihrer eigenen Befreiung über-nehmen und anwenden können würden. Es galt ein Loch in dieMauer zu schlagen, die das alltäglich Normale, das System, dieGesellschaft vor einer kritischen Aussicht Aufgewiegelter zuschützen hat. Ein kleines Loch würde genügen, um die Aus-sicht gewähren zu lassen, in das, was wirklich möglich ist, wasWirklich ist, hinter- und oberhalb der Mauernrealität. DieserSpalt sollte reichen, damit die Menschen genug von ihrer her-kömmlichen Konditionierung, ihrem herkömmlichen Lebenhaben. Eine Revolution zur Befreiung des Individuums wür-de beginnen, nicht jene der Gewehre und Barrikaden, sondernjene, die aus der Vermengung von Phantasie mit dem organischErfassbaren entspringt. Die SurrealistInnen dachten sich meh-rere Methoden aus, um den Abstieg in den Spalt zu schaffen:

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das Zulassen der kindhaften Bewunderung des Wunderbaren,der Verrücktheit, des Wahns, des Humors, des Traumes, unddas Anwenden der Techniken des automatischen Schreibens,der Schöpfung „erlesener Leichname“ und des in die Welt set-zen der daraus entstehenden surrealistischen Gegenstände.

Die Welt des Geisteskranken ist die sichtbarste Gegenweltzum bekämpfenden Alltag der bürgerlichen Gesellschaft, dienatürlichste Utopie. Doch nicht nur das, sie bietet auch einegroße Möglichkeit zur besseren Erkenntnis seiner selbst, dennwie schon Freud wusste, wissen Verrückte mehr über innereWirklichkeiten und können Unergründbares entdecken undzeigen. Zwei Zugänge zum Wahn wurden ins Auge gefasst,denn es galt diesen Zustand für sich in Anspruch zu nehmen,ihn dank seiner bewusstseinserweiternden Funktionen, als In-strument zu verwenden. Der erste Zugang war die Nachah-mung der Verrücktheit. Im simulierten Zustand des Wahns, imSomnanbulen- oder Drogenrausch sollte eine Neuschaffungdes Geisteszustandes erreicht werden. Dieser Zustand wurdeals neue Form von Poesie angesehen. Der zweite Zugang wardie kritische Paranoia, welche Salvador Dali oft für sich in An-spruch nahm und definierte23. Die kritische Paranoia sollte dieWirklichkeit dermaßen vom Imaginären abhängig machen,dass die daraus gewonnene neue Realität von keiner anderenin Frage gestellt werden kann. Die aus Verfolgungswahn, auserfundener Beweisführung und aus Analyse entstehende, ver-wirrend klare Welt sollte helfen, endgültig die Realität zu dis-kreditieren. Im Wahn wurde eine hoch entwickelte Verhal-tensform erkannt und alle Aktionen basierten auf demWunsch, sich einem Wahnsinn zu unterwerfen, ohne dabei

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aber bleibende Störungen zu bekommen, die den freien Willenbeeinträchtigen könnten – dieser Wahn blieb somit immer einkontrollierter.

Der Zufluchtsort, der den freien Willen am effektivsten vorbleibendem Eigenwahn, aber natürlich auch dem kollektivenWahn schützt, ist der Humor. Da der Humor alles in dieLächerlichkeit zieht, ist keine bleibende Identifikation mög-lich, sei es jene mit der eigenen Verrückung oder jene mit demTrubel der Welt. Der Humor, der Akt des Lachens ist geistigerUngehorsam, ist die Weigerung, sich den gesellschaftlichenVorurteilen zu beugen, ist Distanzierung und eine essentielleVorstufe zur neuen Realität, zur sich immer erneuernden Rea-lität des freien Individuums. Antonin Artaud sah im Humorden Weg zur Freilegung der instinktiven Kräfte des Menschenund entdeckte diese Freilegung in Filmen wie „AnimalCrackers“ von den Marx Brothers24. „Modern Times“ vonCharlie Chaplin animierte die SurrealistInnen sogar zu einemkollektiven Lobgesang auf Chaplin. Den Humor als „überle-gene Revolte des Geistes“ zu sehen, wie es André Breton for-mulierte, lag ganz in der Tradition des schwarzen Humors vonDada und der Pataphysik. Neben diesen bekannten Vorbilderngab es den im Feldlazarett dahinsterbenden Dichter JacquesVaché. Dieser Dandy und Verweigerer hatte den Humor, den„Umor“ zur inneren Desertion verwendet und dem ihn behan-delnden Breton in langen Gesprächen gezeigt, welche Rache derGeist an der Materie, das Begehren an der Macht nehmen kann.Alles wird zum Messer ohne Klinge, dem der Griff fehlt.

Eine zentrale Bedingung, der Gesellschaft und der mit ihrverbundenen Verzweiflung zu entkommen, ist die Langewei-

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le. Erst diese ermöglicht aufzubrechen und im ziellosen Her-umirren durch den Alltag die Ereignisse, Objekte und Men-schen zu finden, die das neue, das eigene Universum bilden.Die Langeweile ist die wundersame Flamme, die endlich Lichtauf einen selbst, auf die Mitwelt wirft. Breton und Nadja istlangweilig, deswegen durchstreifen sie, das situationistische„dérive“ vorwegnehmend, Paris, wo andere arbeiten und jah-relang nichts anderes als die gleiche Routine wiederholen. Esdurchstreifen Feen und Männchen in Grün Städte und Pas-sagen, wie Kinder eine zu entdeckende Welt durchstreifen,hintergedankenlos, dem irgendwas entgegen. Cafés undBahnhöfe sind Ausgangspunkte und Orte, wo sich die Einge-weihten finden, um ihre dekonstruktiven Spiele zu spielen:das automatische Schreiben und das Entwerfen ErlesenerLeichname.

Das Basteln Erlesener Leichname war als Bruch mit demkodifizierten Geist und den eingeprägten Assoziationen insLeben gerufen worden. Durch dieses Basteln soll der innereReichtum der Spieler ermessen werden, indem das Unbewuss-te durch Methoden eines Gesellschaftsspieles fixiert wird.Mehrere Personen schieben sich nach und nach ein gefaltetesBlatt Papier zu und beschreiben oder bezeichnen es sukzessiv,ohne zu wissen, was der andere geschrieben oder gezeichnethat. Beim Entfalten des Papiers entstehen Dialoge und Wesenohne jeden Wirklichkeitsgehalt, bzw. mit einem neuen Wirk-lichkeitsgehalt, mit jenem ahnungslosen der Beteiligten. Dieersten Worte des ersten Spieles lauteten „Der erlesene Leich-nam“25, alle anderen Worte, die auf diese ersten folgten undfolgen sind Assoziationen aus der Unendlichkeit des Zufalls,

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sind universelle Sätze. Durch dieses und andere Spiele ent-wickelte sich in der Gruppe keine Identität und kein Zwangzur Gemeinschaft, es entwickelte sich viel mehr eine kommu-nikative Reibfläche verschiedener Vasen, die sich gegenseitigauffüllten und entleerten, auffüllten und entleerten…

Das Automatische Schreiben war von ähnlicher Qualitätund gleichzeitig die ursprünglichste Methode, das erste Spielder SurrealistInnen, wenngleich auch nicht von ihnen erfun-den, da es eine schon im Barock kursierende Salonunterhal-tung gewesen war. Der eigenen Definition Bretons zufolge, istAutomatismus – der Automatismus des Geistes – Synonymvon Surrealismus26. Unkritisches, unreflektiertes und hem-mungsloses Niederschreiben von Wortfolgen soll das Auf-zeichnen der Botschaften aus der eigenen Traum- und Wahn-welt ermöglichen. Dass dabei trotzdem die Gesetze der Syntaxeingehalten werden, ist darauf zurück zu führen, dass Bretonbestimmte, dass der Inhalt, die produzierten Bilder als Aus-druck des Automatismus zu erkennen seien und nicht dieForm. Bei einem wort- und satzzerstörenden Gestammel à laDada wäre dieser Inhalt womöglich nicht mehr erkennbar ge-wesen. Spiel und Ernst waren gleichgesetzt, Literatur wurdezur Lebenspraxis, zur kollektiven Entdeckungsreise. Das au-tomatische Schreiben soll die letzten Bindungen zur Realität,zum Geist lösen, soll die Hingabe an den Kurzschluss sein, derden Menschen von etwas Stärkerem als man selbst überwälti-gen lässt und aus der Realität schleudert. 10 Stunden pausen-los auf ein Blatt schreiben und das einige Wochen lang, wennauch in einer unbedingt gemütlichen Atmosphäre, wie breto-nisch empfohlen – man ist dann ein anderer Mensch.

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Eine gewollte, aber ganz andere, in den Stundenplan desLeben eingreifende Wirkung, hatten diese Spiele und Wande-rungen allemal: sie waren jeder der Norm entsprechendenTätigkeit fast zur Gänze entzogen, vor allem aber zeitintensiv.Somit wurden alle beteiligten SpielerInnen durch ihr Verhal-ten nutzlose Mitglieder der Gesellschaft. Dutzende Menschenschlossen sich selbst aus, schafften durch ihren eigenen Aus-schluss den Beweis dafür zu erbringen, dass nicht nur das sur-realistische Bewusstsein, sondern auch die surrealistische Tatdie Gesellschaft vorbildhaft auflöst.

LA CRITIQUE HURLÉE

Bis auf Alfred, Mina und Louise applaudierten alle Kinderdieser langen Ausführung. Ich war baff.

„Welch ein Exkurs in die Welt des Surrealismus!“ rief dieLehrerin. „Du wirst noch mal ein ganz großer Intellektuellen-forscher oder Kunsthistoriker oder vielleicht sogar Philosoph,wie Alain de Botton!“

„Nein Madame, ich werde Revolutionär!“„Ach, bist du süß!“ ich sah die Lehrerin das erste Mal la-

chen. „Aber warte lieber, was Alfred und Louise dazu sagen.“Die konnten es auch schon gar nicht mehr erwarten, end-

lich ihr Statement abzugeben. Alfred und Louise sagten jedochnichts. Stattdessen holten sie aus ihrem Rucksack einenLaptop. Dann legten sie eine DVD ein und spielten sie ab. Wieich sogleich merkte, sahen wir uns Guy Debords „Hurlementsen faveur de Sade“ an. Weißer Bildschirm wird von schwarz-

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em abgelöst. Wenn es Stimmen zu hören gibt, dann verstehtman kein Wort. Bald eine Stunde wird dann überhaupt nichtsgesprochen, bis zur stillen, schwarzen Schlusssequenz, die 24Minuten dauert. Schon während des Filmes hatte ich beob-achten können, wie Pierre zuerst wütend wurde und schluss-endlich zum Weinen anfing. Alfred und Louise waren zufrie-den. Mir tat der arme Pierre irgendwie leid. Für seine zweiMitschülerinnen war er auf jeden Fall nicht mehr, als ein An-hänger einer toten Religion, deren revolutionärer Inhaltscheinbar nur noch bei Versteigerungen und Retrospektivenihren fulminanten Durchbruch erfährt. Doch auch der Situa-tionismus war längst mehr museal als dekompositorisch. Undes gilt wohl nur noch eine Generation zu warten, bis DebordsBrille genauso versteigert wird, wie Bretons Wohnzimmer. Ir-gendetwas musste geschehen, irgendetwas Versöhnliches, be-vor ich den armen Bub seiner Zermürbtheit, Depression undEinsicht überließ. Schnell überlegte ich mir etwas Verbinden-des für die Kinder:

„Entschuldigt, kennt ihr vielleicht Arthur Cravan?“ „Natürlich kennen wir ihn!“ schrie ein Mädchen, welches

alle anderen Kinder um einen Kopf überragte. „Natürlich! Ichweiß alles über ihn!“ und bevor ich es geschafft hätte, auch nurein weiteres Wort zu sagen, begann dieses Mädchen, dessenNamen ich nicht mehr weiß, zu erzählen.

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ARTHUR CRAVAN

„Die Kräfte des Rausches für die Revolution gewinnen“, dar-um kreise der Surrealismus, hatte Walter Benjamin gesagt.Vielleicht verpuffen sonst diese Kräfte, ohne je wirklich etwasbewegt zu haben, wenn sie nicht aufgefangen werden von derDynamik einer tragenden Gruppe Gleichberauschter. AndréBreton gewann nicht nur den Rausch von Lebenden, sondernauch den einiger Toter für seine Revolution, er ließ sie mitihren damals teils vergessenen Werken wieder auferstehen undFurore machen, vor allem Sade und Lautréamont kamen zudiesen Ehren. Aber auch jüngst Verstorbene wurden zu Sur-realisten, bzw. zu Vorkämpfern erkoren, da standen plötzlichApollinaire, Rimbaud, Jarry, Vaché und der „Dichter mit denkürzesten Haaren“: Arthur Cravan von den Toten auf. Letz-ter war Neffe des Skandalschöpfers Oscar Wilde gewesen, waseiniges zu bedeuten hat, vergötterte er sein Onkeltier nicht nur,sondern ließ sich auch von seinem Motto „Das Leben imitiertdie Kunst, vielmehr als die Kunst das Leben imitiert“ leiten, einSatz der auch auf die Surrealisten abfärben sollte. Sowohl And-ré Breton, wie auch später Guy Debord sahen in Arthur Cra-van ein Vorbild.

Eigentlich wurde Arthur Cravan als Fabian Lloyd 1887 inLausanne geboren. Dort befand sich damals eine kleine engli-sche Kolonie, ein Stück High Society des British Empire, inpermanenter Sommerfrische. Ob die Scheidung seiner Eltern,das sich ausgestoßen fühlen oder ein prickelndes Gefühl beiden Schauergeschichten über Onkel W. aus dem kleinen Fabi-an einen Arthur, einen Rimbaud machte und aus einem Spross

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der Lloyds, einer in höchsten Würden am Hof stehenden Fa-milie, einen Cravan, was im Englischen soviel wie feige und nie-derträchtig bedeutet, oder eine Karawane seiner selbst machte,soll den paar Cravan-Biographen überlassen werden. Eingehenin die Geschichte wollte und sollte er als Boxer, Anarchist, De-serteur, Abenteurer und Herausgeber, sowie Alleinverfasserder zwischen 1912 und 1915 fünfmal erscheinenden Zeitschrift„Maintenant“ (Jetzt). Sich selbst beschrieb er als Hochstapler,Seemann im Pazifik, Mauleseltreiber, Orangenpflücker in Ka-lifornien, Schlangenbeschwörer, Hoteldieb, Neffe von OscarWilde, Holzfäller in den riesigen Wäldern, Ex-Boxchampionfür Frankreich, Enkel des Kanzlers der Königin, Autochauf-feur in Berlin, Einbrecher usw.

Er gedachte eher zu reisen, als brav im Wohlgefühl einerAnsässigkeit zu versumpern und kam in den wenigen Jahrenseines Lebens fast überall hin. Nach eigenen Angaben schlägter sich ab 1903 in Kalifornien als Boxer, Chauffeur, Orangen-pflücker und Holzfäller durch, zumindest wenn Kalifornienam Genfer See liegt. Nach einigen Abenteuern in Berlin landeter schließlich 1909 in Paris, wo neben seiner Boxerkarriereauch sein Skandalleben beginnt. Seinen Kindheitstraum, näm-lich Dichter zu sein, hatte er nun vor, in der Stadt Rimbaudszu verwirklichen. Sich unter Futuristen und Kubisten bewe-gend, fällt er unangenehm bei akademischen Empfängen undVernissagen auf. Wegen in „Maintenant“ veröffentlichten Be-leidigungen muss er 1914 8 Tage ins Gefängnis. Seine Zeit-schrift kolportiert er selbst auf einem Karren durch Paris fah-rend, denn er wollte sein Werk nicht irgendwo in gut sortiertenBuchhandlungen verstauben sehen. Doch die verstaubte Welt

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durfte er sich ebenfalls nicht entgehen lassen und besucht 1911alle 39 Mitglieder der „Académie Française“, die Unsterbli-chen, wie sie genannt werden, einzeln. Einem Besuch beim ver-staubten André Gide widmete er einen bösen Artikel.

Die Formel für „Maintenant“ war: „Jeder große Künstlerhat einen Sinn für Provokation“. Um aufzufallen hält er Kon-ferenzen, später sollten ihm das Dadaisten und Futuristennachmachen, doch verkündet er dort keine Manifeste, sondernhält sie nur, um zu provozieren, um als Provokateur berühmtzu werden. Nach dem Motto: die Poesie auf die Straße und insKunstleben die Straße bringen, und wenn nötig mit ein paarkräftigen Schlägen, geht Cravan vor. Die berühmteste Schlä-gerei hatte Cravan jedoch nicht auf einer eigenen Konferenz,sondern nach einem Vortrag von Valentine de Saint Point über„Die futuristische Frau“ 1912, als ein aufgebrachtes Publikumdie Bühne erstürmt und Cravan, der zwar die Futuristen nichtwirklich mochte, dem aber Vortrag und Vortragende gefallenhatten, diese um sich boxend verteidigte. Seine eigenen Kon-ferenzen – er hielt ungefähr drei oder vier davon – kündigteer so an: „Les Noctambules 7, rue Champollion, 7 (Quartier Latin) Freitag, 6. März um 9 Uhr abends Arthur CravanLIEST TANZT BOXT Eintritt 2 F. 50“.

In den fünf Nummern von „Maintenant“ erscheinen vierGedichte, ein Prosapoem, drei Texte über Oscar Wilde, einerüber André Gide und eine Kunstkritik, die ihm Prozesse undGefängnis einbringt. Er war sicher stolz darauf, dass er zu denwenigen KunstkritikerInnen der Geschichte gehörte, die füreine Kritik eingesperrt wurden. Zuerst mag es paradox klin-gen, dass er gerade die Künstler des 30. Salons der Unabhän-

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gigen attackiert, samt ihres Papsts Apollinaire und mit wüste-sten Beschimpfungen über sie herfällt, stellen sie doch dieAvantgarde dar. Dass diese Avantgarde jedoch nicht weit ge-nug ging und selbst zur Institution, zur Akademie wurde, ver-anlasste Cravan gegen seine Freunde los zu schimpfen.

Über den Maler Delaunay schrieb er beispielsweise: „Be-vor er seine Frau kennen lernte, war Robert ein Esel; vielleichthatte er von einem Esel alle guten Eigenschaften: er war einSchreihals, er liebte Disteln und sich im Gras zu wälzen, undsah sich die Welt, die so schön ist, mit großen verdutzten Au-gen an, ohne dabei zu überlegen, ob sie modern oder alt ist, erhielt einen Telegraphenmast für eine Pflanze und glaubte eineBlume sei eine Erfindung. Seitdem er mit seiner Russin zu-sammen ist, weiß er, daß der Eiffelturm, das Telefon, die Au-tos und ein Aeroplan moderne Dinge sind. Nun, diesemgroßen Dummkopf gereicht es sehr zum Schaden, so viel zuwissen, nicht dass Kenntnisse einem Künstler schaden könn-ten, aber Esel bleibt Esel und Temperament besitzen, heißt,sich selbst nachzuahmen. Ich sehe also bei Delaunay einenMangel an Temperament. Wenn man das Glück hat, ein Roh-ling zu sein, muss man es bleiben können.“27

So treffend und sympathisch die exzessiven MeldungenCravans oft auch sein konnten, kann nicht darüber hinweggetäuscht werden, dass er nicht nur versuchte, jeden zu pro-vozieren, sondern es auch schaffte. Cravan wollte nicht aus-schließlich als Bürgerschreck auffallen, sondern als Schreck al-ler, die ihm missfielen, und das konnten auch die bestenFreunde sein. Seine Wortwahl, seine Bilder sind heute oft nichtnachvollziehbar, vor allem, wenn sexistische oder rassistische

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Töne auftauchten; und bei der Lektüre von „Maintenant“ wirdsobald jedem Leser zumindest einmal schlecht, zum Beispielschrieb er in der erwähnten Kunstkritik über die Malerin Ma-rie Laurencin „Das ist wieder eine, die es nötig hätte, dass manihr den Rock lüftet und einen großen … irgendwo rein steckt,um sie zu lehren, dass die Kunst keine kleine Pose vor demSpiegel ist. Du prüdes Lieschen! (halt‘s Maul!). Malen heißt ge-hen, laufen, trinken, essen, schlafen und seine Notdurft ver-richten. Sie können, so oft Sie wollen, sagen, ich sei ein Schwein– es stimmt doch alles.“28

War das Leben in Paris teilweise schon vor 1914 unerträg-lich, hält es Cravan nach Ausbruch des Krieges überhauptnicht mehr aus. Nach einer kurz vor dem Krieg unternomme-nen Europareise, die ihn in Athen noch einen Boxkampf ein-bringt, zieht Cravan 1915 nach Barcelona, wo er sich vom Box-weltmeister Jack Johnson KO schlagen lässt – übrigens sollteCravan fast jede Boxerei verlieren. Die halbe Pariser Bohèmelebt in den Kriegsjahren in Barcelona; vielleicht bleibt er des-halb nur ein Jahr dort und wandert 1916 nach New York aus.

Dort macht er ähnliche Furore wie in Paris und unter-bricht Konferenzen, sowie weitere Salons der Unabhängigen.Auf einem Benefizball fürs Rote Kreuz führt sich Cravan nichtnur skandalhaft auf, er lernt auch die englische Dichterin Mi-na Loy kennen, die vom „New York Evening Sun“ kurz zu-vor zum Prototyp der modernen Frau ernannt wurde. Sie be-wundert ihn, weil er aus dem Nichts lebt, sich nicht der Sorgedes Überlebens hingibt, sondern das Jetzt ausschöpft, so wieer es ständig proklamiert. Er bewundert sie, weil sie nicht nurvon der Moderne spricht, sondern sie auch lebt. Ihre Bezie-

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hung war dementsprechend turbulent, auf dem Blindman‘sBall der Greenwich Village Community, die sich selbst als ul-tra Bohème, prähistorisch und post-alkoholisch bezeichne-te, entkleidet sich Cravan, wie schon am Roten Kreuz Ball,öffentlich, während Mina Loy im Bett von Duchamp einen ménage à cinq durchlebt. Trotzdem heirateten sie nach einemJahr und Mina Loy wird schwanger.

Da die USA inzwischen ebenfalls Krieg führten und Cra-van wieder glaubte eingezogen werden zu können, brach er, alsSoldat verkleidet, erneut auf. Picabia schrieb dazu: „ArthurCravan zog sich als Soldat an, um kein Soldat sein zu müssen,genauso wie sich unsere Freunde als brave Bürger kleiden, umkeine braven Bürger sein zu müssen.“29

Zuerst wollte er nach Kanada fliehen, ganz vergessend,dass dieses Land auch den Weltkrieg mitführte, ganz verges-send, dass er eigentlich als in der Schweiz geborener, Schwei-zer war und nirgends hätte hin fliehen müssen. Er zog schließ-lich mit Mina Loy nach Mexiko, wo er eine Boxerakademieeröffnete, in der er Vorträge über altägyptische Kunst hielt.Das frisch verheiratete Paar entschloss sich, nach einigenStreifzügen durch Mexiko nach Buenos Aires auszuwandern.Mina Loy reiste voraus, Arthur Cravan sollte jedoch niemalsnachkommen.

Wie sein Vorbild Rimbaud verschwand er auf hoher See, ir-gendwo im Golf von Mexiko im Jahre 1918 oder 1920. CravansRausch ist sicher wegen den Initiativen seiner Bewunderernicht verpufft, und bis hin in den Mai 68 ließen sich viele, nichtnur Guy Debord, von seiner konsequenten Wildheit vertieren.Er selbst jedoch hat wahrscheinlich sein ganzes Leben nur dar-

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auf hingearbeitet, dass von seiner Existenz nichts anderes übrigbleibt, als das pompöse Plakat, auf dem steht: „Gran fiesta deboxeo: Jack Johnson – Arthur Cravan“.

DIE KRATER

Nachdem das Mädchen ihren Vortrag beendet hatte, wurdendie bunten Würfeln und Postkarten zusammen gepackt. Nie-mand sagte mehr ein Wort. Stattdessen holte die Lehrerin einePfeife aus ihrer Tasche und pfiff zum Entsetzen aller Mu-seumsbesucher zum Aufbruch. Und statt zu boxen, zogen dieKinder glücklich von Dannen. Ich begriff nur eines: diese Kin-der sind eine kometarische Angelegenheit gewesen und meinBewusstsein besteht seit meiner Begegnung mit ihnen nurnoch aus Kratern, in denen ein paar Propheten der Avantgar-de herum liegen und sich sonnen.

1 Blei, Franz:. Das große Bestiarium der Literatur. Frankfurt/M. 1982, S. 31f. Derdieses Buch im Nachdruck herausgebende Insel Verlag hatte peinlich fehlerhaftim Verzeichnis der Personennamen Carl mit Albert verwechselt.

2 Einstein, Carl: Sterben des Komis Meyer. Prosa und Schriften München 1993, S. 323 ebd., S. 1824 Einstein, Carl: Bebuquin. Stuttgart 2000, S. 365 Sterben des Komis Meyer, a. a. O., S. 826 ebd., S. 847 Siebenhaar, Klaus (Hg.): Carl Einstein. Prophet der Avantgarde. Berlin 1991, S. 488 Sterben des Komis Meyer. a. a. O., S. 1649 ebd., S. 16210 ebd., S. 16411 Siebenhaar, a. a. O., S. 83

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12 ebd., S. 1113 Baake, Rolf-Peter. Carl Einstein. Berlin, 1991, S. 18. 14 Becker, Heribert (Hg.): Es brennt! Pamphlete der Surrealisten. Hamburg 1998, S.

9815 ebd., S. 35f.16 Grosz, George: Pariser Eindrücke. In: Europa Almanach – 1925. Leipzig 1993

(1925), S. 4217 Breton, André: Les vases communicants. Paris 1985, S. 17618 Dupuis, Jules-François: Histoire désinvolte du Surréalisme. Paris 1988, S. 34; ei-

gene Übersetzung19 vgl. Béhar, Henri/Carassou, Michel: Le Surréalisme. Paris 1992, S. 27720 Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. II. Frankfurt/M. 1991, S. 295-31021 ebd., S. 30822 ebd., S. 30823 vgl. Nadeau, Maurice: Histoire du Surréalisme. Paris 1964, S. 15024 Artaud, Antonin: Le théâtre et son double. Paris 1996, S.213f.25 vgl. Duplessis, Yvonne: Der Surrealismus. Berlin 1992, S. 4126 vgl. Breton, André: Manifestes du surréalisme. Paris 1998, S. 3627 Cravan, Arthur: Maintenant. Poet und Boxer oder die Seele im zwanzigsten Jahr-

hundert. Hamburg, 1978, S. 6128 ebd., S. 6229 Picabia, Francis: Jésus-Christ Rastaquouère. http://cf.geocities.com/dadatex-

tes/jcr.html

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AUTOREN UND HERAUSGEBER

Thomas Ballhausen ist Autor, Film- und Literaturwissenschaftler und Leiter desStudienzentrums des Filmarchiv Austria in Wien. Des Weiteren ist er Redakteur derPopkultur-Zeitschrift skug, Gründungsmitglied des Online-Literaturprojekts dieflut und Mitarbeiter des komparatistischen Kunst- und Forschungsprojekts projektberggasse. Er ist Autor von „Zerlesen. Raubzüge durch Kulturlandschaften. Essaysund Aufsätze“ (2001), „Der letzte Sommer vor der Eiszeit. Essays und Aufsätze“(2003), „Leibeserziehung. Hundert Übungen. Eine Erzählung“ (2003), „Listenwei-se. Poetik und Poesie der Liste“ (2004), „Kontext und Prozess. Einführung in einemedienübergreifende Quellenkunde“ (2005), „Geröll. Prosa“ (2005).

Bernd Beier ist Redakteur der Berliner Wochenzeitung „Jungle World“ (www.jun-gle-world.com). Er hatte die Gelegenheit, die Bewegung der Kulturprekären in Pa-ris bis Juli 2003 aus nächster Nähe zu beobachten.

Biene Baumeister Zwi Negator haben 2004 im Schmetterling Verlag „Situationi-stische Revolutionstheorie. Eine Aneignung. Vol. 1 Enchiridion“ veröffentlicht, imJuni 2005 erschien „Vol. II Organon“. Ausgehend vom ersten Band, dessen zweitesKapitel an die Geschichte der situationistischen Kritik erinnert, stellt das dritte Ka-pitel den Versuch einer Kritik der Proletarität dar, der mit dem vierten Kapitel in denVersuch einer Kritik der Geschichte, als Geschichte der Klassenkämpfe im Sinne re-volutionärer Selbstkritik, mündet. Das fünfte Kapitel stellt eine Kritik der SI vor, diein eine Kritik unseres Versuches als kollektiver Prozess auf den Websites weiterge-führt werden soll. In dieser Reihung bietet der im Juni 2005 erschienene zweite Bandeine öffnende Kritik oder kritische Öffnung der - als „Kompendium“ relativ syste-matischen, geschlossenen - Darstellung des ersten Bandes hin zu der angestrebten öf-fentlichen Kritik beider Bände auf den Websites www.lareprise.org und www.theo-rie.org. Diese sollen einen kollektiven kritischen Aneignungs- und Bildungsprozessrevolutionärer Theorie als work in progress ermöglichen. Der Unabgegoltenheit derso zu erschließenden historischen Theorieansätze entspricht eine kritische Aufar-beitung, weil „ohne die dialektische Wendung des geschichtlichen Eingedenkens“,wie Walter Benjamin sich ausdrückte, die Aktualität solcher Ansätze für den Com-munismus nicht zu haben ist.

Stephan Grigat promoviert in Berlin, ist Lehrbeauftragter am Wiener Institut fürPolitikwissenschaft, arbeitet als freier Autor und Forschungsstipendiat in Tel Avivund ist Mitglied bei Café Critique (www.cafecritique.priv.at). Er ist Herausgeber von

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„Transformation des Postnazismus. Der deutsch-österreichische Weg zum demo-kratischen Faschismus“ (2003) sowie „Feindaufklärung und Reeducation. KritischeTheorie gegen Postnazismus und Islamismus“ (2006). Des Weiteren ist er Koautorvon „Amerika. Der ‚War on Terror’ und der Aufstand der Alten Welt“ (2003), „Spielohne Grenzen. Zu- und Gegenstand der Antiglobalisierungsbewegung“ (2004) so-wie „Das Einfache des Staates. Gedenkbuch für Johannes Agnoli“ (erscheint 2006).

Eiko Grimberg ist Künstler und lebt in Berlin. Zuletzt veröffentlichte er „WhenGermans clap, it’s like we boough“ (2003).

Johannes Grenzfurthner und Günther Friesinger gehören zu monochrom.monochrom ist eine Kunst- und Theorieneigungsgruppe mit Hang zum Kontext-Hacking, eine uneigenartige Mischung aus proto-ästhetischer Randarbeit, Popat-titüde, Subcultural Science und politischem Aktivismus. monochrom ist Herausge-berin des gleichnamigen Fachdruckwerks und volontiert immer wieder in denunterschiedlichsten Realitäten. Vor allem das Sammeln, Gruppieren, Registrieren undBefragen (Befreien?) von alltagskulturellen Vernarbungen ist monochrom Passionund quasi-ontologischer Auftrag.

Alexander Emanuely ist Aktivist des Republikanischen Clubs in Wien und der Li-gue Internationale contre le Racisme et l’Antisémitisme sowie Redakteur der Zeit-schrift Context XXI. Er ist Koautor von „Encyclopedia of Antisemitism, Anti-Je-wish Prejudice and Persecution“ (2005), „Kulturlichter“ (2004) und von„Psychotrauma - Die Posttraumatische Belastungsstörung“ (2003).

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