Spiegel: Naher Osten

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N ach einem Monat in der Fremde war Anastasia Klin k, 19, klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Unterhielten sich ihre Mitbewohner im Studentenwohnheim, stand sie staunend daneben. In der Kneipe wusste sie nicht, was genau der Kellner wollte, und selbst beim Bäcker fühlte sie sich schon bei der Begrüßung unwohl. Anastasia Klink studiert Religionswis- senschaft in Leipzig. Die Stadt und die Uni gefielen ihr, sagt sie, und auch die Kommilitonen seien eigentlich nett. Wäre da nur nicht das Sprachproblem: „Säch- sisch, das geht gar nicht“, sagt die Studi- enanfängerin, geboren und aufgewachsen 270 Kilometer weiter westlich, in Gießen. Deshalb sitzt sie nun in einem Seminar - raum ihrer Universität und paukt den Landesdialekt. „Nischt so schüchdorn!“, ruft die Sprachtrainerin und winkt mit Schildern: „Gonsonanden“, „Wogahle“. Klink sitzt in der letzten Reihe und lächelt ratlos, als die Sprachtrainerin dann Goe- thes „Zauberlehrling“ in schönstem Säch- sisch vorträgt. „Ich versteh kein Wort“, klagt eine Austauschstudentin aus Ame- rika. „Ich auch nicht“, sagt Klink. Ob der Sprachkurs, angeboten für Westdeutsche und andere Fremde, nun wirklich Überlebenshilfe für Studenten oder doch eher ein Marketing-Gag der Universität ist: Eine Trendwende bezeugt er allemal. Zwanzig Jahre nach der Ein- heit haben westdeutsche Schulabgänger gemerkt, dass die Mauer gefallen ist. Nach neuesten, teils unveröffentlichten Zahlen gibt es in diesem Wintersemester überall in Ostdeutschland einen Rekord - ansturm aus Wes tdeutschland (siehe Gra- fik). Heute kommt in Thüringen und Sachsen-Anhalt mehr als jeder vierte An- fänger aus dem West en, in Mecklenburg- Vorpommern ist es gar mehr als jeder dritte. Der Anstieg ist auch dan n gewaltig, wenn man Berliner Abiturienten nicht mitrechnet; lediglich in Brandenburg ma- chen sie einen großen Anteil aus. Dass es so lange gedauert hat, bis nicht nur Exoten oder Opfer der Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen in den Osten rübermachen, hat vielerlei Gründe. Zumindest einer hat nichts mit einer Ost - phobie zu tun: Deutsche Erstsemester sind vielfach Stubenhocker. Bei der Wahl der Hochschule spielt für viele die Nähe zu Familie und Freunden die entscheidende Rolle, wie erst kürzlich die große Stu - dentenspiegel-Umfrage von SPIEGEL, McKinsey und studiVZ bestätigt hat. Das allein aber kann nicht erklären, warum die allermeisten Westabiturienten den Osten mieden. Vermutlich waren es auch Imageprobleme, wie sie Peer Paster- nack wahrgenommen hat, Direktor am In- stitut für Hochschulforschung an der Uni- versität Halle-W ittenberg – frei nach dem Motto: Das ist doch eigentlich Osteuropa. Zudem sei die Qualität von Forschung und Lehre in der Ex-DDR nach der Wen- de schwer einzuschätzen gewesen. Einzelne neue Länder haben schon vor vielen Jahren versucht, westdeutsche Schulabgänger anzulocken, meist ohne großen Erfolg. Dabei ist für viele Osthoch- schulen ihre Attraktivität im Westen eine Überlebensfrage. Denn der Geburten- knick nach dem Mauerfall lässt die Zahl der Abiturienten in ihrer Nähe sinken, ohne Westimporte werden die Hochschu- len schrumpfen oder schließen müssen. Mecklenburg-Vorpommern schaltete in den neunziger Jahren große Anzeigen in Zeitungen. Sachsen schickt seit 2008 ei- nen Truck auf PR-Tour, unter anderem nach Bayern: „Pack dein Studium“. Und neuerdings haben sich die Ostländer zusammengetan, um unter dem Motto „Studieren in Fernost“ gemeinsam zu trommeln. Die Uni Leipzig holte schon Erstsemester im Trabi an deren Wohnort ab, die Uni Rostock ließ Interessierte mit Robben schwimmen. Sogenannte Cam- pus-Spezialisten sollen im Netzwerk schü- lerVZ anderen Westkindern erzählen: So schlimm ist’s gar nicht im Osten. Ob die neuen Rekordzahlen auf diese Aktionen zurückzuführen sind, kann nie- mand sicher sagen. Franz Häuser, lang-  jähriger Rektor der Universität Leipzig, 48/2010 50 BILDUNG Naher Osten Mit aufwendigen Kampagnen werben ostdeutsche Hochschulen um Abiturienten aus den alten Lände rn. Die machen neuer- dings scharenw eise rüber – weniger aus N eugier denn aus Not.    S    T    E    P    H    A    N     F    L    O    S    S Sachsen-Werbung im fränkischen Hof „Nischt so schüchdorn!“ Deutschland Die neuen Bildungsländer Anteil der Studienanfänger aus Westdeutschland (inklusive Berlin) in Prozent Thüringen Brandenburg 2005 2010 Mecklenburg- Vorpommern 42% 27% 29% mind. 20% 36% 2010 2010 2010 2010 Sachsen- Anhalt Sachsen Alle Hochschularten; jeweils Studienjahr oder Wintersemester; 2009 und 2010 teilweise vorläug 40 30 20 10 0 Quelle: Wissenschaftsmini sterien, Statistische Landesämter  

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Nach einem Monat in der Fremde

war Anastasia Klink, 19, klar, dasses so nicht weitergehen konnte.Unterhielten sich ihre Mitbewohner imStudentenwohnheim, stand sie staunenddaneben. In der Kneipe wusste sie nicht,was genau der Kellner wollte, und selbstbeim Bäcker fühlte sie sich schon bei derBegrüßung unwohl.

Anastasia Klink studiert Religionswis-senschaft in Leipzig. Die Stadt und dieUni gefielen ihr, sagt sie, und auch dieKommilitonen seien eigentlich nett. Wäreda nur nicht das Sprachproblem: „Säch-sisch, das geht gar nicht“, sagt die Studi-enanfängerin, geboren und aufgewachsen

270 Kilometer weiter westlich, in Gießen.

Deshalb sitzt sie nun in einem Seminar-

raum ihrer Universität und paukt denLandesdialekt. „Nischt so schüchdorn!“,ruft die Sprachtrainerin und winkt mitSchildern: „Gonsonanden“, „Wogahle“.Klink sitzt in der letzten Reihe und lächeltratlos, als die Sprachtrainerin dann Goe-thes „Zauberlehrling“ in schönstem Säch-sisch vorträgt. „Ich versteh kein Wort“,klagt eine Austauschstudentin aus Ame-rika. „Ich auch nicht“, sagt Klink.

Ob der Sprachkurs, angeboten fürWestdeutsche und andere Fremde, nunwirklich Überlebenshilfe für Studentenoder doch eher ein Marketing-Gag derUniversität ist: Eine Trendwende bezeugt

er allemal. Zwanzig Jahre nach der Ein-

heit haben westdeutsche Schulabgängergemerkt, dass die Mauer gefallen ist.

Nach neuesten, teils unveröffentlichtenZahlen gibt es in diesem Wintersemester

überall in Ostdeutschland einen Rekord-ansturm aus Westdeutschland (siehe Gra-fik). Heute kommt in Thüringen undSachsen-Anhalt mehr als jeder vierte An-fänger aus dem Westen, in Mecklenburg-Vorpommern ist es gar mehr als jederdritte. Der Anstieg ist auch dann gewaltig,wenn man Berliner Abiturienten nichtmitrechnet; lediglich in Brandenburg ma-chen sie einen großen Anteil aus.

Dass es so lange gedauert hat, bis nichtnur Exoten oder Opfer der Zentralstellefür die Vergabe von Studienplätzen in denOsten rübermachen, hat vielerlei Gründe.Zumindest einer hat nichts mit einer Ost-phobie zu tun: Deutsche Erstsemester sindvielfach Stubenhocker. Bei der Wahl derHochschule spielt für viele die Nähe zuFamilie und Freunden die entscheidendeRolle, wie erst kürzlich die große Stu-dentenspiegel-Umfrage von SPIEGEL,McKinsey und studiVZ bestätigt hat.

Das allein aber kann nicht erklären,warum die allermeisten Westabiturientenden Osten mieden. Vermutlich waren esauch Imageprobleme, wie sie Peer Paster-nack wahrgenommen hat, Direktor am In-stitut für Hochschulforschung an der Uni-versität Halle-Wittenberg – frei nach dem

Motto: Das ist doch eigentlich Osteuropa.Zudem sei die Qualität von Forschungund Lehre in der Ex-DDR nach der Wen-de schwer einzuschätzen gewesen.

Einzelne neue Länder haben schon vorvielen Jahren versucht, westdeutscheSchulabgänger anzulocken, meist ohnegroßen Erfolg. Dabei ist für viele Osthoch-schulen ihre Attraktivität im Westen eineÜberlebensfrage. Denn der Geburten-knick nach dem Mauerfall lässt die Zahlder Abiturienten in ihrer Nähe sinken,ohne Westimporte werden die Hochschu-len schrumpfen oder schließen müssen.

Mecklenburg-Vorpommern schaltete in

den neunziger Jahren große Anzeigen inZeitungen. Sachsen schickt seit 2008 ei-nen Truck auf PR-Tour, unter anderemnach Bayern: „Pack dein Studium“. Undneuerdings haben sich die Ostländerzusammengetan, um unter dem Motto„Studieren in Fernost“ gemeinsam zutrommeln. Die Uni Leipzig holte schonErstsemester im Trabi an deren Wohnortab, die Uni Rostock ließ Interessierte mitRobben schwimmen. Sogenannte Cam-pus-Spezialisten sollen im Netzwerk schü-lerVZ anderen Westkindern erzählen: Soschlimm ist’s gar nicht im Osten.

Ob die neuen Rekordzahlen auf dieseAktionen zurückzuführen sind, kann nie-mand sicher sagen. Franz Häuser, lang-

 jähriger Rektor der Universität Leipzig,

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Naher OstenMit aufwendigen Kampagnen werben ostdeutsche Hochschulen

um Abiturienten aus den alten Ländern. Die machen neuer-dings scharenweise rüber – weniger aus Neugier denn aus Not.

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Sachsen-Werbung im fränkischen Hof 

„Nischt so schüchdorn!“

Deutschland

Die neuen BildungsländerAnteil der Studienanfänger aus Westdeutschland (inklusive Berlin)

in Prozent

Thüringen Brandenburg

2005 2010

Mecklenburg-Vorpommern

42%

27%29%

mind. 20%

36%

2010 2010 2010 2010

Sachsen-Anhalt

Sachsen

Alle Hochschularten; jeweils Studienjahr oder Wintersemester;2009 und 2010 teilweise vorläufig 

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Quelle: Wissenschaftsministerien,Statistische Landesämter

 

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