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    Volk der WiderborsteEine Protestwelle rollt durch Deutschland. Allerorten kmpfen Brger gegen die Projekte

    von Politikern. Die Demokratie wirkt lebendig, aber manchmal prallen auch Allgemeinwohl undEgoismus aufeinander. Die Modernisierung des Landes knnte aufgehalten werden.

    Titel

    Brgerkundgebung in Stuttgart

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    MARIJAN MURAT / DPA

    Mama, jetzt hat der Bagger geradein den Bahnhof gebissen, ruftder jngste Sohn von SylviaHeimsch. Es ist Mittwochnachmittag inStuttgart, die Sonne scheint, der Rasenmsste mal wieder gemht werden, aberHeimsch wei, dass sie jetzt anderswogefordert ist. Sie wirft einen kurzen Blick

    auf die Bilder der Webcam, die ihr dieBauarbeiten am Stuttgarter Hauptbahn-hof live ins Wohnzimmer bertrgt. Dannschnappt sie sich Trillerpfeife und Trek-

    kingschuhe und fhrt mit ihrem Sohn indie Innenstadt.

    Seit Monaten engagiert sich SylviaHeimsch, 47, gegen das GroprojektStuttgart 21. Sie gehrt dem Organisa-tionskreis der Parkschtzer an, die ver-hindern wollen, dass fast 300 alte Bumeim Schlossgarten abgeholzt werden.

    Am vergangenen Mittwoch versam-melte sich Heimsch mit rund hundert wei-teren Demonstranten zur Sitzblockadeauf der Bundesstrae 14 in Stuttgart. Am

    Abend half sie mit, die Abfahrt eines Zu-ges aus dem Bahnhof um fast eine Drei-viertelstunde hinauszuzgern. Erst gegenhalb zwlf Uhr in der Nacht war sie wie-der zu Hause. Achteinhalb Stunden sp-ter stand sie schon wieder mit ihrer Iso-matte am Bauzaun hinter dem Nordflgeldes Bahnhofs.

    Inzwischen stapelt sich hier die W-sche, weil ich fast jeden Tag unterwegsbin, sagt Heimsch. Ihr Ehemann, wie sieArchitekt, sei am Anfang fr das Projekt

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    1990:

    2009:

    949550

    512520

    MitgliederschwundEntwicklung der Mitgliederzahlen beiden Volksparteien, dem DeutschenGewerkschaftsbund und den Kirchenin Deutschland

    46%

    1990:

    2009:

    1990:

    2009:

    1990:

    2009:

    777767

    521149

    7937923

    6264923

    33%

    21%

    15%57694000

    49104000

    KIRCHEN

    Katholiken und

    Protestanten

    gewesen, aber wer sich genauer infor-miert, dem wird schnell klar, dass hiernur ein Milliardengrab entstehen wird.

    Heimsch ist nicht so, wie Protestler inder Bundesrepublik oft waren. Sie istnicht gegen das Establishment, sondernTeil davon. Mit ihrem Mann und den drei

    Kindern lebt sie in einem sanierten Ju-gendstilhaus, im Urlaub geht es an dieNordsee. Bei unseren Montagsdemon-strationen versammeln sich rzte, Leh-rer, Ingenieure und Anwlte, sagt sie,das sind Leute, die unsere Gesellschafttragen aber diesen politischen Amok-lauf nicht lnger hinnehmen wollen.

    Die Deutschen prsentieren sich gera-de als ein Volk von Widerborsten. Pro-teste gibt es fast berall und gegen bei-nahe alles. Ob gegen einen neuen Bahn-hof in Stuttgart, eine Schulreform inHamburg, fr ein Nichtrauchergesetz inBayern es wird demonstriert, geklagtund abgestimmt, als sollten die Politikerentmachtet werden. Ihre Beschlsse zh-len nur noch wenig, das Volk baut seineMacht aus. Es entsteht die Dagegen-Re-publik.

    Nach einer Zhlung des Vereins MehrDemokratie gibt es im Schnitt 350 Br-gerbegehren pro Jahr, mit steigender Ten-denz seit 1990. hnlich ist der Trend beiden Volksbegehren auf Lnderebene.Zwischen 1946 und 1989 gab es 28 Ver-fahren. Seitdem ist die Zahl stark ange-stiegen: Von 1990 bis 2009 waren es 210Verfahren.

    Die Brger sind so umtriebig wie langenicht mehr, whrend viele Politiker vonLustlosigkeit befallen scheinen. RolandKoch, Ministerprsident in Hessen, Olevon Beust, Erster Brgermeister in Ham-burg, Horst Khler, Bundesprsident siealle haben hingeschmissen und den Ein-druck vermittelt, als sei ihnen die Gestal-tung dieses Landes nicht mehr wichtiggenug, um ihr Leben damit zu fllen.

    Diese Politikmdigkeit ist einer SylviaHeimsch aus Stuttgart fern, genauso ei-nem Sebastian Frankenberger, der in Bay-ern ein schrferes Nichtrauchergesetzdurchsetzen konnte, einem Walter Scheu-erl, der den Widerstand gegen eine Schul-reform in Hamburg organisiert hat, odereinem Jochen Stay, der den Protest gegendie Atomkraft vorantreibt.

    Das sind die neuen Politiker. Sie nen-nen sich nicht so, sie haben andere Beru-fe, aber sie tun das, was eigentlich dieAufgabe der Profis ist: Einfluss nehmenauf die Gestaltung der Lebensverhltnis-se. Sie tun das gegen die Ministerprsi-denten, Brgermeister und Parlamenta-rier, sie stellen deren Beschlsse in Frage,kmpfen gegen deren Projekte und Ge-setze. Das ist gerade die Hauptkampflinie

    im Land: Brger gegen Politiker.Auf den ersten Blick ist das eine guteEntwicklung. Die Demokratie lebt, dieMenschen mischen sich ein, machen mit.

    Aber das heit nicht, dass eine bessereGesellschaft dabei herauskommt. VieleProteste richten sich gegen Projekte inden Bereichen Verkehr und Energie unddamit auch gegen eine Modernisierungdes Landes.

    Was fr ein Brger zeigt sich also hier?

    Der Staatsbrger, der auch das Allgemein-wohl im Blick hat, das grtmglicheGlck der grtmglichen Zahl, wie es

    der englische Philosoph Jeremy Benthamausgedrckt hat. Oder ist es das Individu-um, der Egoist, der es nicht ertragen kann,wenn sich seine saturierten Lebensver-hltnisse zu Gunsten der Gesellschaft n-dern sollen? Dann wre das kein Fort-schritt, dann wrde gelten, was Franz Jo-

    sef Strau zu sagen pflegte: vox populi vox Rindvieh.

    Was also ndert sich gerade in Deutsch-land? Wie sieht die Dagegen-Republikaus?

    Die Proteste und Referenden richtensich fast immer gegen die Politik von

    Kommunen und Lndern. Gleichwohlgeht es in diesem Konflikt auch um dieBundespolitik, um die politische Kaste alsGanzes. Spitzenkrfte wie Angela Merkel,

    Horst Seehofer oder Guido Westerwelleprgen den Eindruck, den die Brger vonder Qualitt der reprsentativen Demo-kratie haben.

    Die Unzufriedenheit knnte kaum gr-er sein. Bei der Bundestagswahl 2009beteiligten sich 70 Prozent der Wahl-

    berechtigten, 1972 waren es 90 Prozent.In einer Umfrage von Allensbach ausdem Jahr 2008 sagten nur 27 Prozent derBefragten, Politiker wollten das Beste frdas Land.

    Diese Zahlen schlugen sich jngst nie-der in der Begeisterung fr JoachimGauck. Als ihn SPD und Grne fr dieWahl des Bundesprsidenten aufstellten,fand er groe Zustimmung bei Brgernund Medien, weil er kein Politiker ist,weil er ein anderes Leben hatte und hatund ihm deshalb unterstellt wurde, erknne die Interessen der Brger bessererkennen und vertreten.

    Da zeigte sich in aller Deutlichkeit dietiefe Krise der Politiker, die Brger gera-dezu auffordern muss, das Heft selbst indie Hand zu nehmen.

    Die schwarz-gelbe Koalition ist baldseit einem Jahr an der Macht, hat abernoch nichts Wesentliches entschieden.Erst mutete sie dem Land eine lange War-tezeit zu, weil die Bundespolitiker dieWahl in Nordrhein-Westfalen im Maifrchteten und die Whler nicht mit un-liebsamen Entscheidungen verprellenwollten. Dieser Politik der Leere folgt einschauerliches Theater, Beschimpfungen,

    Grabenkmpfe, tausend Vorschlge, aberkeine Entscheidungen. Die Politik wirktnicht kompetent, die Probleme des Lan-des zu lsen.

    Wenn dann doch entschieden wird,heit das nicht viel. Die Brger haben ge-lernt, dass Gesetze recht eingeschrnktgltig sind. Ob die Rente mit 67 oder dieLaufzeiten der Kernkraftwerke, die Op-positionspartei SPD und die Regierungs-parteien CDU, CSU und FDP sind derzeitvor allem damit beschftigt, Beschlsseber den Haufen zu werfen, die erst einpaar Jahre alt sind. Zudem zwingt dasBundesverfassungsgericht den Gesetzge-ber immer wieder nach Klagen von Br-gern zur Korrektur, beispielsweise beiden Themen Pendlerpauschale, Vorrats-datenspeicherung, Wahlcomputer, HartzIV, Sorgerecht, Homo-Ehe.

    Diese Gltigkeitskrise schlgt sich inden Brgerprotesten nieder. Niemandmuss den Eindruck haben, dass das, wasbeschlossen wurde, den Anspruch aufDauer erfllt. Wenn Gesetze so oft einerRevision unterzogen werden, bekommt jede Politik den Ruch des Vorlufigen,Unausgegorenen. Man darf sich eingela-den fhlen, selbst an der Gltigkeit eines

    politischen Beschlusses zu nagen.Und das tun die Brger dann auch, inkleinen wie in groen Angelegenheiten.In Frankfurt am Main wollte die Stadt-

    Titel

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    HEILIGER TON, SCHAUDERNDEEMOTION DAS GELBNIS

    IST POLITISCHE KIRCHE.

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    verwaltung eine beliebte Imbissbudeschlieen, die Kinognger in der Innen-stadt bis morgens um vier Uhr mit Pizza,Gyros und Burgern versorgt. Der mit grel-ler Neonreklame aufgepeppte Laden st-re eine Blickachse zu einem benach-barten historischen Gebude, dem

    Eschenheimer Turm.Als die Inhaberin ihren Kunden dasnahe Ende der Bude verkndete, grn-deten einige von ihnen im vergangenenJahr auf der Internetplattform Facebookdie Gruppe Hamburger am Turm undsammelten innerhalb von zwei Tagen 730Untersttzer. Das Stadtparlament knickteein und beschloss einmtig die Verlnge-rung des Pachtvertrags. Die FrankfurterRundschau verkndete den Triumphdes Burgerwillens.

    Die Brgerinitiative Kln kann auchanders Schluss mit lustig demonstriertjeden Montag von 18 bis 18.30 Uhr vordem Historischen Rathaus. Wir haltendas nicht mehr aus, was in dieser Stadtpassiert, sagt Frank Deja, einer derGrnder. Der Einsturz des Klner Stadt-archivs war fr ihn ein Weckruf. DasVertrauen der Brger in die Entschei-dungstrger der Stadt sei verschwunden.Seine Gruppe wolle den Stadtoberen ge-nauer auf die Finger schauen.

    Nach Protesten der Brger mussteder ehemalige Oberbrgermeister FritzSchramma auf einen einflussreichen Pos-ten verzichten, er sollte in den Aufsichts-rat der Klner Messe berufen werden.

    Die Themen gehen uns leider nichtaus, sagt die Schreinerin Sabine Rser,die die Montagsdemos organisiert. Sieund ihre stndigen Brgervertreter,so nennen sich die Demonstranten,kmpfen aktuell dagegen, dass derKlingelptzpark in der Stadt bebautwerden soll.

    Der ganz groe Fall ist derzeit der Pro-test gegen den Umbau des StuttgarterBahnhofs. Das Projekt wurde 1994 erst-mals der ffentlichkeit vorgestellt. CDU,SPD und FDP sind dafr, aber dieser brei-te politische Konsens hlt viele Brgernicht davon ab, zu protestieren.

    Science-Fiction-Phantasie, Kse-reibe, Glubschaugenwall die Stutt-garter kennen viele bse Namen fr denunterirdischen Bahnhof, der rund vierMilliarden Euro kosten soll. Die Gegnerfrchten um die Qualitt der Mineralwas-serquellen und um bis zu 300 alte Park-bume. Sie wollen lieber den denkmal-geschtzten Bahnhof erhalten. Viele Po-litiker sehen dagegen die konomischenChancen, weil mit dem neuen Bahnhofauch schnellere Bahnverbindungen ein-hergehen sollen.

    Der Protest hat fast schon eine religise

    Dimension. Bei YouTube ist ein Video zusehen, das ein sogenanntes Gelbnis vordem alten Bahnhof zeigt. Ein Redner ruftwir geloben, die Demonstranten ant-

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    LENNARTP

    REISS

    /DDP

    Bundesprsident Khler, Gattin am 31. Mai: Umtriebige Brger, lustlose Politiker

    HENNING

    SCHACHT/ACTION

    PRESS

    MARKUS

    HANSEN

    /ACTION

    PRESS

    Politiker Beust, Koch: Den Kontakt zum Volk verloren

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    Volkes Wille Formal erfolgreiche Volksentscheide und was die Politik daraus machte

    Quelle:Mehr Demokratie e.V.

    Okt. 1995Einfhrung des kommunalenBrgerentscheids

    Bayern Volksentscheid respektiert

    Sept. 1998 Gegen die RechtschreibreformSchleswig-Holstein

    Landtag macht den Volksentscheid1999 rckgngig

    Sept. 1998Einfhrung bezirklicherBrgerentscheide

    Hamburg Volksentscheid respektiert

    Febr. 1998Abschaffung desBayerischen Senats

    Bayern Volksentscheid respektiert

    Okt. 2001 Gegen SparkassenverbundSachsenVolksentscheid ausgehebeltdurch neuen Verbund

    Febr. 2004Gegen Privatisierung vonstdtischen Krankenhusern

    Hamburg Aushebelung durch Verkauf

    Juni 2004 Fr WahlrechtsreformenHamburgAbwandlung des Ergebnissesdes Volksentscheids

    Juli 2010 NichtraucherschutzBayern Volksentscheid respektiert

    Juli 2010 Gegen SchulreformVolksentscheidrespektiert

    Hamburg

    worten mit wir geloben. Der Redner:den Park zu schtzen. Die Demon-stranten: den Park zu schtzen. JedenBaum jeden Baum. So wird allesMgliche gelobt, in heiligem Ton, mitschaudernder Emotion, als wre dies poli-tische Kirche.

    Dahinter steckt die Frage: Was sind dieFormen einer Demokratie? Die bundes-deutsche Politik hat eine eher khle Tem-peratur. Die drei emotionalsten Begriffedieses Jahres sind sptrmische Deka-denz, Wildsau und Gurkentruppe.Das waren keine schnen Debatten, aber

    es knnte schlimmer sein. Selbst im Dau-erstreit zeigt sich die Abgeklrtheit derProfis, cool Germany.

    Hiesige Politiker wollen in der ganzgroen Mehrheit eher beruhigen als auf-regen. Protest dagegen braucht die Emo-tionen. Der Systemtheoretiker NiklasLuhmann hat im Zusammenhang mit denProtestbewegungen der siebziger undachtziger Jahre von der Kommunikationvon Angst gesprochen. Angst vor deratomaren Verstrahlung, Angst vor demnchsten Weltkrieg.

    Das machte den Protest besonders ra-dikal, bis hin zur brutalen Schlacht umdas Atomkraftwerk Brokdorf. Heute ist

    die Angst nicht mehr so gro, der Protestnicht mehr so radikal. Aber es geht im-mer noch um Emotionen, um Betrof-fenheiten, wie sie sich in dem seltsamenGebet gegen einen Bahnhof ausdrcken.Wenn sich die Brger mehr engagieren,wird der deutsche Diskurs emotionaler,heftiger.

    Die Politiker in Stuttgart dagegen wa-ren zu abgeklrt. Brger haben 2007mehr als 60000 Unterschriften fr einenBrgerentscheid gesammelt, er scheitertetrotzdem, an juristischen Grnden. DiePolitik hat es danach nicht mehr ge-schafft, diese Leute doch noch fr dasProjekt zu gewinnen. Die Kommunika-tion mit den Brgern ist nicht gelungen,fr eine Demokratie ein schweres Ver-sumnis.

    Aber damit sind die Brger noch nichtim Recht. Was heit es, wenn 30000 de-monstrieren in einer Stadt, in der 600000Menschen leben? Gewhlte Politiker re-prsentieren eine groe Zahl von Men-schen, jeder protestierende Brger stehtfr sich. Deshalb fhrt das Wort Brger-protest ein wenig in die Irre, weil an-klingt, dass alle Brger protestierten.Aber es geht auch um Brger gegen Br-

    ger. In Bayern wird das dieser Tage be-sonders deutlich.Sebastian Frankenberger ffnet die Tr

    des Stadtbeisl in Passau. Der Wirt tritt

    hinter dem Zapfhahn hervor. Des isdoch? Frankenberger! Raus! Die Mn-ner am Tisch setzen ihre Bierkrge ab.Es wird still. Sie brllen: Frankenberger,du Schwein, dich bringen wir um! DerWirt geht auf ihn zu. Von dir lass i mirmeine Wirtschaft ned kaputtmachen. Er

    schlgt die Tr ins Schloss. Auch im Cal-vados und der Camera ist Franken-berger nicht erwnscht.

    Als Jugendlicher war FrankenbergerMinistrant, Organist und Lektor in derPfarrei St. Josef in Passau. Er hat Mathe-matik, Physik und Theologie studiert undabgebrochen. Er war Vorsitzender derrtlichen Schler-Union und lief einmalnach einer verlorenen Wette nackt bereine Brcke. Frankenberger trgt seinebraunen Haare lang, mal offen, mal alsZopf. Er fhrt einen Toyota mit demKennzeichen O2020. 2020 mchte erOberbrgermeister von Passau sein. Ersagt Stze wie: Ich bin eine Art Licht-kugel, die einfach Energie verstrmt.

    Im April 2009 fand Frankenberger eineMission: das Rauchverbot. Drei Monatezuvor hatte die schwarz-gelbe Regierungin Bayern ein Gesetz dazu verabschie-det es war das dritte in gut einem Jahr.Erst wurde das Rauchen in der Kneipeverboten, dann teilweise erlaubt, und amEnde kmmerte sich keiner mehr um dasVerbot. Die CSU war nicht in der Lage,klare Regeln zu schaffen. Also habe iches getan, sagt Frankenberger.

    Er sicherte sich die Hilfe der kolo-

    gisch-Demokratischen Partei (DP) undplakatierte seinen Slogan an Hauswnde:Bayern atmet auf. Er hielt Reden aufMarktpltzen: Brger! Wehrt euch! Erprogrammierte eine Internetseite undgrndete die Facebook-Gruppe Volks-begehren fr echten Nichtraucher-schutz, sie hat fast 20000 Mitglieder. Errannte von Haustr zu Haustr und batum Unterschriften. Eine Million brauchte

    er fr den Volksentscheid. Als er im De-zember 1,3 Millionen zusammenhatte,

    hrte Frankenberger auf zu sammeln.Am 4. Juli stimmte Bayern ab. Als klarwar, dass Frankenberger gewonnen hatte,sprang er auf einen Tisch. Wir sind dasVolk!, brllte sein Publikum.

    Das Ergebnis schien eindeutig: 61 Pro-zent fr das Rauchverbot. Doch nur etwasmehr als jeder dritte Wahlberechtigte inBayern hatte abgestimmt. In Wirklichkeithatten sich also nur 23 Prozent der Wh-

    Titel

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    Protest gegen die Hamburger Schulreform: Die

    VON DIR LASS IMIR MEINE WIRTSCHAFT NED

    KAPUTTMACHEN.

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    ler gegen das Rauchen entschieden. DerRest war zu Hause geblieben.

    Von einigen Brgern wird Frankenber-ger gejagt wie eine Hexe: Er erhlt Mord-drohungen, auf Facebook schreiben seineFeinde: Wenns dir nicht passt, dass ichrauche, vergase ich dich. Und: Ihr ko-Faschisten mit langen Haaren. Ihr gehrtdaran aufgehngt. In Passau kleben Pla-kate an den Hauswnden: Ttet Fran-kenberger! Er geht nicht mehr ohnePfefferspray vor die Tr.

    Mit so viel rger htte ich nicht ge-rechnet, sagt Frankenberger. Er will sich

    jetzt auch auerhalb Bayerns fr ein to-tales Rauchverbot einsetzen. In Berlin,Hamburg und Nordrhein-Westfalen gibtes erste Initiativen. Weitere sollen folgen.

    Frankenberger hat schon den nchstenTermin. Ein Kamerateam des BayerischenRundfunks begleitet ihn aufs Volksfest inDeggendorf, Niederbayern. Sie wollenschauen, ob das Rauchverbot greift.

    Die Volksfestgste klatschen und kip-pen Bier in ihre roten Kpfe hinein.Oans, zwoa, gsuffa!, ruft der Kapell-meister. Sebastian Frankenberger steigtin eine Lederhose und folgt dem Reporterdes Bayerischen Rundfunks. Vor demFestzelt Zum Ochsenknecht versperrenihm Kellnerinnen im Dirndl den Weg.Raucher-Fuzzi, schleich di!, rufen sie.Eine rundliche Frau mit kurzen, grauenHaaren und fleischigen Armen geht miteinem Besen auf ihn los. I hau die zam!

    So wrde sie wahrscheinlich mit einemHorst Seehofer oder einer Angela Merkelnicht reden. Brger knnen sich zwarschnell darauf verstndigen, dass die Poli-tiker wenig taugen, aber es gibt doch ei-nen gewissen Respekt. Jedenfalls werdenpolitische Entscheidungen, die von Br-gern ausgehen, nicht besser von anderen

    Brgern akzeptiert als politische Ent-scheidungen, die von Politikern ausge-hen. Es gibt auch den Protest gegen denProtest.

    Gerade das Brger- oder das Volksbe-gehren sorgt oft fr eine Unterscheidungin Sieger und Verlierer. Die politischenFragen werden auf simple Ja/Nein-Ent-scheidungen heruntergebrochen, whrenddie professionelle Politik eher nach demKompromiss sucht, dem kleinstmglichen

    Unglck fr die kleinstmgliche Zahl.Das bayerische Rauchverbot ist dafrein gutes Beispiel. Die Landesregierunghtte sich gern durchgemogelt, ein biss-chen Verbot, ein bisschen Erlaubnis, kei-ne scharfen Kontrollen. Frankenbergerwollte die radikale Entscheidung. Ihr Vor-teil sind die klaren Verhltnisse, ihr Nach-teil ist der Unfriede, der mit der Gewh-nung allerdings kleiner wird und womg-lich ganz verschwindet.

    Wenn man davon ausgeht, dass rmereSchichten strker rauchen als wohlhaben-de, hat der bayrische Volksentscheid aucheine soziale Komponente. Die Mittel-schicht htte sich durchgesetzt, und das istnicht untypisch fr Brgerbewegungen.

    Walter Scheuerl, 49, ist Anwalt fr Me-dienrecht, Vater zweier Kinder und El-ternvertreter am Gymnasium Hochrad imfeinen Hamburger Stadtteil Othmar-schen. Bei der Wahl zur Brgerschaft2008 vertraute er dem Versprechen derCDU, dass die Hamburger Kinder wei-terhin nach vier Grundschuljahren aufStadtteilschule oder Gymnasium wech-seln knnen.

    Aber dann bildete die CDU eine Ko-alition mit den Grnen, und die Grne

    Bildungssenatorin Christa Goetsch arbei-tete ein Gesetz aus, nach dem die Kindererst nach sechs Jahren wechseln knnen,weil das die Chancengleichheit erhhe.Alle Parteien, die in der Hamburger Br-gerschaft vertreten sind, sprachen sichspter fr diese Reform aus.

    Aber ein Groteil der Brger machtenicht mit. Scheuerl organisierte den Pro-test, und im Juli dieses Jahres stimmten276000 Hamburger in einem Volksent-scheid gegen das Gesetz, das damit totwar.

    Fnf Wochen nach dem Entscheid sitztScheuerl aufgerumt im gediegenen Kon-ferenzraum seiner Kanzlei und versagtsich jedes Triumphgeheul. Er trgt einenschwarzen Anzug, eine grn-wei ge-streifte Krawatte und eine Hornbrille. Erist ein gebildeter, wohlhabender BrgerHamburgs. Man knnte es auch so sagen:Er ist durch und durch Gymnasium.

    Zwar haben die Hamburger Stadtteilemehrheitlich gegen das Gesetz gestimmt,auch rmere, aber Herzenssache war esden Brgern, die aus der Gymnasialweltkommen und die ihre Kinder mglichstlange die Vorteile dieser Gymnasialwelterleben lassen wollen. Diese Leute haben

    auch die Mittel, finanziell wie geistig, umeinen solchen Protest zu organisieren.Fast alle Proteste werden von wohl-

    habenden und gebildeten Brgern getra-

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    ANDY

    RIDDER

    Aktivistin HeimschDer Bagger hat in den Bahnhof gebissen

    JENS

    RESSING

    /PICTURE-ALLIANCE/DPA

    Architektur der Gesellschaft ndert sich

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    gen. Die rmeren Schichten brauchen Ge-werkschaften und Politiker, damit ihreInteressen zur Geltung kommen, sie brau-chen Reprsentanten. Wenn also der Br-gerprotest Einfluss gewinnt zu Lasten derPolitik, dann gewinnt die Mittelschichtan Einfluss. Die Architektur der Gesell-

    schaft ndert sich.Scheuerl hat gemerkt, dass es an-genehm ist, Einfluss zu haben. Er willweitermachen. Durch den Volksentscheidsieht er sich legitimiert, der Schulsena-torin Goetsch weiterhin auf die Fingerzu schauen. Das, was wir erreicht haben,muss nun auch wirklich umgesetztwerden.

    Die Menschen seien es leid, dasssich die Landesregierungen stndig berbildungspolitische Reformen profilie-ren mssten, sagt Scheuerl. Gerade warbei ihm eine Gruppe von Eltern aus

    Nordrhein-Westfalen zu Besuch, umsich ber die Hamburger Kampagne zuinformieren.

    Bei vielen Whlern hat sich der Ein-druck verstrkt, dass eine Gruppe vonBerufspolitikern den Kontakt zum Volkverloren hat, sagt Scheuerl. Diese Be-

    rufspolitiker entschieden ber Sachfragennur nach taktischen Gesichtspunkten, im-mer den eigenen Machterhalt im Blick,nicht immer die Interessen der Whler.

    Gleich dutzendweise, sagt er, httenihn in den vergangenen Monaten ent-tuschte Anhnger der Union angeschrie-ben, es gebe da offenbar ein gewissesVakuum in der politischen Mitte. Da seiPlatz fr eine neue Partei. Scheuerl undseine Mitstreiter denken nun darbernach, eine Partei zu grnden. Man mssedann neben der Bildung noch andereThemen besetzen, Wirtschaft, Stadtent-wicklung, Sozialpolitik.

    Das ist oft eine Versuchung: Aus denKritikern der Politiker werden Politiker.In Hamburg gibt es dafr zwei Beispiele.Der Verleger Markus Wegner und derRichter Ronald Schill grndeten beideProtestparteien und zogen fr kurze Zeitin die Hamburger Brgerschaft ein. Beidescheiterten, Schill auf ble Weise. Als In-nensenator versuchte er, BrgermeisterBeust wegen dessen Homosexualitt zuerpressen. Als man zuletzt von ihm hrte,war er koksend in einem Video aufge-taucht.

    Scheuerl ist klar, dass ein guter Pro-

    testierer noch lngst keinen guten Politi-ker abgibt. Einen Sitz in der HamburgerBrgerschaft kann er sich aber schon vor-stellen.

    So wie es Berufspolitiker gibt, gibt esauch Berufsprotestierer. Brgerprotest istnicht immer spontan und amateurhaft.Seit 1988 gibt es den Verein Mehr Demo-kratie, der Brger bei ihren Protesten undBegehren bert. Und es gibt einen Mannwie Jochen Stay.

    Am Donnerstag war Stay in Lingen,am Atomkraftwerk, obwohl er ziemlicherkltet war. Job ist Job. Die Kanzlerinwar in Lingen, um das Werk zu besichti-gen, also musste Stay in Lingen sein. Keineinfacher Termin, sagt er, Diaspora, un-ter der Woche, aber am Ende haben siees wieder in die Tagesschau geschafft.

    Jochen Stay kmpft gegen die Atom-kraft, nicht nebenher, sondern Vollzeit.Als Schler demonstrierte er gegenApartheid und Krieg, damals noch in sei-ner Freizeit, nach dem Abitur zog er nachMutlangen, in das Camp der Leute, diegegen die Stationierung von Pershing-2-Raketen kmpften. Zwei Jahre lebte Stayvor der Raketenbasis, schlief im Zelt,machte bei allen mglichen Aktionen

    mit, meine Ausbildung nennt er dieseZeit.Nach Mutlangen kam Wackersdorf, der

    Kampf gegen die Anlage, die Atommll

    wiederaufarbeiten sollte. Sein ganzes Le-ben ist mit der bundesdeutschen Protest-bewegung verwoben, in Gorleben hat ersich verliebt, im Wendland lebt er jetzt.

    Seit acht Jahren ist er Bewegungsar-

    beiter, die Bewegungsstiftung aus Ver-den hat ihm diese Stelle vermittelt. Stayprotestiert, etwa 50 Paten zahlen ihm da-fr regelmig Geld. Stay ist Freiberufler,um seine Versicherungen muss er sichselbst kmmern, aber er ist auch frei inseiner Arbeit. Die Stiftung bert ihn undseine Kollegen, sechs weitere Mnner undzwei Frauen. Alles Schlsselpersonenaus der Protestbewegung, sagt Stay.

    Die Leute, die sich in einem Protest-gebiet am besten auskennen, sollen nichtaufhren, weil sie mit normaler ArbeitGeld verdienen mssen. Das ist die Idee.

    Stay fhrt vier Tage in der Woche mitdem Zug durch Deutschland, von Demozu Demo, in wetterfester Kleidung, mitLaptop, zwischendurch sitzt er in denBahnhfen in der DB Lounge, schicktE-Mails ber seinen groen Verteiler,stt SMS-Ketten an. Manchmal fragt ersich, wie das frher ging, wie sie Mutlan-gen gemacht haben, ohne Internet.

    Es geht zurzeit allerdings auch beson-ders gut, die Anti-Atomkraft-Bewegungsei stark wie nie, sagt Stay. 120000 imApril bei der groen Menschenkette, dieAlten aus Brokdorf waren da, ganz vieleJunge. In Deutschland gebe es heute in

    jedem Alter Leute mit Protesterfahrung,sagt er. Die Leute knnen das abrufen,die haben das schon mal gemacht. Nursind sie jetzt brgerlicher, wohlhabender.

    Titel

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    FELIX

    HRHAGER/DPA

    Aktivist FrankenbergerRaucher-Fuzzi, schleich di

    GAULS

    /DIEFOTOGRAFEN

    Schlacht um das Kernkraftwerk bei Brokdorf 1981:

    1950bis

    1959

    1960bis

    1969

    1970bis

    1979

    1980bis

    1989

    1990bis

    1999

    2000bis

    2009

    Direkte

    DemokratieEingeleitete Volksbegehrenin Deutschland

    116

    94

    12

    1060

    Quelle: Mehr Demokratie e.V.

    Aktivist ScheuerlDurch und durch Gymnasium

    MAURIZIO

    GAMBARINI/DPA

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    Es ist eine gute Zeit fr Stay, die Re-gierung kann sich seit Monaten nicht berdie Atompolitik einigen, in so einer Lagekann man schn Druck machen, etwamit einer Grodemo in Berlin im Sep-

    tember. Im November ist der nchste Cas-tor-Transport geplant. Jochen Stay glaubt,die Sache wird so gro wie noch nie.

    Da muss sie schon ziemlich gro wer-den, weil gerade die Atomkraft sehr vielProtest angezogen hat. Sie ist eines derHauptthemen in der Protestgeschichteder Bundesrepublik.

    Strker noch als das Bekenntnis zursozialen Marktwirtschaft und zu ihrer de-mokratischen Dividende hat die Gewohn-heit zu protestieren einen festen Platz inder Geschichte der Bundesrepublik, hatder Systemtheoretiker Luhmann 1990 ge-schrieben. Und damit treten wir auchweltweit hervor.

    Die erste groe Protestwelle gab es inden fnfziger Jahren, als sich viele Brgergegen eine Wiederbewaffnung wehrten.Kampf dem Atomtod hie damals eineParole. Ein Jahrzehnt spter revoltierteein Groteil der Studenten gegen alle Ob-rigkeiten, einschlielich die Eltern. DasZiel war ein freiheitliches Leben, auchwenn manchmal das Gegenteil heraus-kam. Heute heit die Zeit 68.

    Ende der siebziger Jahre begann diehohe Zeit der neuen sozialen Bewe-gungen, gegen die Kernenergie, gegen

    Atomwaffen, gegen die Unterdrckungder Frauen. Die Grnen sind eine Folgedieses Protests. Wieder ein Jahrzehnt sp-ter entstand die bislang erfolgreichste

    deutsche Brgerbewegung, nicht in derBundesrepublik, sondern in der DDR.Die Revolution von 1989 fegte die Dikta-tur der SED hinweg. Ein Mittel des Kamp-fes waren die Montagsdemonstrationen.

    Die neue brgerliche Bewegung ber-nimmt dieses Mittel hufig, genauso denSpruch Wir sind das Volk.

    Aber sonst finden sich nicht viele Par-allelen zu den Vorgngern. Bei den gro-en Protestbewegungen bis 1989 gab es jeweils einen bergeordneten Zusam-menhang, ein universelles Ziel, zum Bei-spiel Freiheit, Frieden oder kologischeLebensweise, um den Planeten zu retten.Die Akteure in der Bundesrepublik wa-

    ren meist jung, sie waren Gegner desEstablishments.

    Heute ist das anders. Die meisten Pro-teste sind lokal begrenzt, die Akteuresind vielfach gutsituierte Brger, die nichtdie Welt retten wollen, sondern den klei-nen Ausschnitt, den sie bewohnen.

    Nur beim Thema Kernkraft lebt derWeltrettungsgedanke der siebziger Jahrefort. Oft geht es nun um individuelle Pro-bleme, manchmal ist es nur Egoismus. Beiden Naturschutzverbnden kennt man die

    Anrufer, die darum bitten, dass mal je-mand vorbeischaut, um im Garten nacheinem seltenen Tier zu fahnden, einerGelbbauchunke oder einem Feldhamster.

    Dies ist der beste Weg, um zu verhindern,dass ein Nachbargrundstck bebaut wird.Solche Brger wollen nicht den Hamsterretten, sondern ihren Ausblick ins Grne.

    Natrlich ist es nicht schn, wenn vor

    dem Ferienhaus ein Windpark in dieHhe schiet oder ein neues Kohlekraft-werk die Ruhe des ruhigen Landsitzeszerstrt. Doch mittlerweile gibt es Pro-teste gegen alle Formen der Energie-Infrastruktur, gegen Atomkraftwerke,Hochspannungsleitungen, Biogasanlagen.

    Hans Fliege, Elektroingenieur im Ru-hestand, wehrte sich gegen einen Solar-park in Obertheres in Unterfranken, weiler dann nicht mehr so schne Spaziergn-ge machen knnte. Die Solarkraft gilt alsHoffnung gegen eine Klimakatastrophe,auch Fliege sieht das so, aber die Anlagensollten doch besser in der Wste stehen.Fliege hat genug Unterschriften fr einenBrgerentscheid gesammelt. Mit 55 Pro-zent der Stimmen wurde der Beschlussdes Gemeinderats fr ein Jahr gekippt.Obertheres bleibt zumindest vorerst einParadies fr Spaziergnger, leistet aberkeinen Beitrag gegen den Klimawandel.

    Die Profipolitiker der Bundesregierungmchten die deutsche Stromversorgungbis 2050 weitgehend auf erneuerbareEnergien umstellen, aber ein Teil der Br-ger macht nicht mit. Man protestiert, ob-wohl es darum geht, den Klimawandelzu verlangsamen. Kann man machen,

    aber nicht vor meinem Haus das ist eineweitverbreitete Haltung.Hier zeigt sich der Brger nicht als

    Staatsbrger, sondern als Bewohner eines

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    Ein universelles Ziel, um den Planeten zu retten

    MANCHE BRGER WOLLENNICHT DEN HAMSTER RETTEN,

    SONDERN IHREN AUSBLICK.

  • 8/9/2019 Spiegel: Volk der Widerborste

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    Landes. Denn der Staatsbrger sieht sichselbst in einem greren Zusammenhang,als Teil einer Gesellschaft. Der Bewohnersieht sich selbst.

    So ist wachsender Protest auch ein Zei-chen von nachlassendem Zusammen-hang. Die Kirchen, die Sportvereine, dieGewerkschaft und die Volksparteien

    schrumpfen seit Jahren (siehe Grafik Sei-te 66), die Menschen vereinzeln sich.Damit knnte auch die Bereitschaft sin-ken, ein Opfer fr die Gesellschaft zubringen.

    Aber einer Bevlkerung muss immermal wieder etwas zugemutet werden,sonst kann ein Land sich nicht entwi-ckeln. Solche Zumutungen kann nur dieBerufspolitik verordnen. Aber wenn derProtest zu stark wird, schafft sie das nicht.Deutschland wrde zum Land der Be-wohner, Stillstand wre die Folge.

    Die beste Gesellschaft ist die, die Poli-tiker und Brger miteinander verzahnt.Brgerliche Emotionalitt muss durchpolitische Abgeklrtheit aufgefangenwerden, Mittelschichtseinfluss durch Re-prsentation der rmeren Schichten, Kon-frontationswille durch Konsenssuche und umgekehrt. Die Politik braucht denProtest als Mahnung, damit sie besserarbeitet. Wie so oft ist es eine Frage desMaes.

    An der Verzahnung wird gerade gear-beitet. Wir hatten viele trockene Jahre,sagt Michael Efler, Vorstandsmitgliedbeim Verein Mehr Demokratie. Frherhtten Politiker abgewinkt. Die Angst

    vor dem Machtverlust und ein elitresPolitikverhltnis htten viele Politikergegen jede Form der direkten Demokra-tie aufgebracht. Doch das knnten sich

    die Parteien nicht mehr leisten. Erst vo-rige Woche habe ihn Sigmar Gabriel zueiner Diskussionsrunde auf einem Rhein-Dampfer eingeladen, sagt Efler.

    Es geht jetzt darum, die Legitimittund damit die Gltigkeit von Politikzu erhhen, indem die Brger auf kom-munaler Ebene frhzeitig in politische

    Entscheidungen einbezogen werden. DerBerliner Professor fr ZeitgeschichtePaul Nolte sieht es so: Die Demokra-tie fchert sich auf: Es wird immer nochdie reprsentative Demokratie geben,daneben aber eben auch andere Formen.Ich nenne das eine ,multiple Demo-kratie.

    Diana Owen macht da schon mit. Anihrem Handgelenk blitzt die Schmuckuhrvon Dolce & Gabbana und im Dekollet

    ein Kettchen von Jette Joop. Diana Owensagt von sich selbst schmunzelnd, siewre lieber in Dsseldorf geboren als inLdenscheid. Doch gleichgltig ist ihr dieHeimatstadt nicht. Nach Feierabend istdie Mutter einer 16-jhrigen Tochter amMittwoch ins Rathaus gekommen, umsich mit den Finanzen der Gemeinde zubeschftigen. Brgermeister und Dezer-nent referieren zum Thema Brgerhaus-halt. Owen kennt sich mit Bilanzen aus sie ist Bankangestellte.

    Was die Stadtvter einem knappenDutzend Brger zu sagen haben, ist er-nchternd, die Stadt schliet mit einemMinus von 59 Millionen Euro ab. Wir

    stehen immer strker vor der Frage: wel-che Form kommunaler Leistung kannman noch anbieten?, sagt BrgermeisterDieter Dzewas von der SPD. Die Legiti-mation durch Gemeinderatswahlen reichtihm fr den Sparkurs nicht aus. Damitdie Einschnitte mglichst wenig rger be-reiten, will er von den Brgern wissen,

    wo sie den Rotstift ansetzen wrden.In Deutschland stellen inzwischen rund140 Stdte und Gemeinden Brgerhaus-halte auf. Die Regierungen von Hessenund Baden-Wrttemberg berlegen end-lich, es den Brgern leichter zu machen,Volksbegehren und Volksentscheidedurchzusetzen. Bei den Volksparteienwerden sogenannte Regionalkonferenzenimmer beliebter, bei denen die Spitzen-politiker mit der Basis diskutieren. Sig-mar Gabriel lsst gerade ein Konzept aus-arbeiten, wie er die SPD fr Nicht-Mit-glieder ffnen kann.

    Etwas besonders Schlaues hat sich derBrgermeister von Hessisch Lichtenauausgedacht. Er lie Brgerprotest mitBrgerprotest beantworten.

    Seit vielen Jahren protestieren Um-weltverbnde gegen den Bau der A44von Kassel nach Eisenach. Der Brger-meister, der sich von der Autobahn eineerhebliche Entlastung seiner Stadt vomDurchgangsverkehr verspricht, entschiedsich schlielich zum Gegenschlag: In ge-charterten Reisebussen karrte er 400 Br-ger aus Nordhessen zur Gegendemon-stration vor den Hauptsitz eines Umwelt-verbands in Frankfurt.

    MATTHIAS BARTSCH, SVEN BECKER, K IM BODE ,JAN FRIEDMANN, W IEBKE HOLLERSEN,SIMONE KAISER, D IR K KURBJUWEIT, PETER MLLER,

    MAXIMILIAN POPP, BARBARA SCHMID

    HENNING

    SCHACH

    T/ACTION

    PRESS

    DIE BESTE GESELLSCHAFT ISTDIE, DIE POLITIKER UND BRGER

    MITEINANDER VERZAHNT.

    Kanzlerin Merkel, Brger:Angst vor dem Machtverlust

    Titel