Spiegel: „Volkstribun von Anatolien“

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  • 8/8/2019 Spiegel: Volkstribun von Anatolien

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    Der trkische Premierminister Re-cep Tayyip Erdogan ist der wich-tigste muslimische Verbndeteder USA. Als er antrat, versprach er einendemokratischen Islam eine Vision, dieVorbild htte sein knnen fr andere Staa-ten der Region.

    Doch wenn man den Depeschen derAmerikaner glauben kann, ist die Trkeidavon weit entfernt. Die US-Diplomatenschtzen das Land ganz anders ein. Er-dogan? Ein machtgieriger Islamist. SeineMinister? Unfhig, ungebildet, manchekorrupt. Die Regierung? Zerstritten. DieOpposition? Lcherlich.

    Tausende Berichte schickten die US-Diplomaten in den vergangenen 31 Jah-ren aus Ankara. Die jngeren Dokumen-te sind eine gnadenlose Abrechnung siestehen im Widerspruch zu fast allem, wasdie Regierung der USA bislang offiziellzur Trkei zu sagen hatte.

    Vor allem Premier Erdogan misstrauen

    die Amerikaner: Er habe noch nie einrealistisches Weltbild gehabt, heit es ineinem Schreiben vom Mai 2005. Erdoganglaube, Gott habe ihn auserkoren, dieTrkei zu fhren, und inszeniere sich gernals Volkstribun von Anatolien.

    Der Regierungschef des Nato-Partnersmit der zweitgrten Bndnisarmee in-formiere sich fast ausschlielich aus isla-mistennahen Zeitungen, behaupten dieAmerikaner, Analysen aus seinen Minis-terien interessierten ihn angeblich nicht.Das Militr und der Geheimdienst wr-den gewisse Berichte nicht mehr an ihnweiterleiten. Er traue niemandem wirk-

    lich und umgebe sich mit einem eisernenRing von unterwrfigen (aber hochnsi-gen) Beratern. Trotz seiner Prahlereisei er von Angst erfllt, seine Macht zuverlieren. Ein Erdogan-Kenner sagt denAmerikanern: Tayyip glaubt an Gott aber er traut ihm nicht.

    Erdogan bernahm 2003 das Amt desMinisterprsidenten, zwei Jahre zuvor hat-te er seine Partei, die islamisch-konserva-tive AKP, gegrndet. Im Wahlkampf kn-digte er an, die Korruption zu bekmpfen.

    Doch schon 2004 berichten Informan-ten den Amerikanern von Korruption aufallen Ebenen, sogar innerhalb der FamilieErdogans. Die Beschuldigungen sindnicht bewiesen, vielleicht wollen dieQuellen den Premier nur anschwrzen.

    Aber sie prgen das Bild der Amerikanervon der Trkei und das ist verheerend.

    Die Gerchte klingen ungeheuerlich.So soll einer der wichtigsten Berater derRegierung einer Journalistin anvertrauthaben, dass sich Erdogan bei der Privati-sierung einer staatlichen lraffinerie be-reichert habe. Einer Quelle im Energie-ministerium zufolge soll er im vergange-nen Jahr die Iraner unter Druck gesetzthaben, einen Gas-Pipeline-Deal mit einertrkischen Firma einzugehen, die einemseiner Schulfreunde gehrt. Das Geschfthat Beobachter verwundert: Denn dasUnternehmen baut Hfen aus, hat aberkaum Erfahrung im Energiebereich. Er-dogan selbst soll, so behaupten zwei In-formanten der Amerikaner, ber achtKonten in der Schweiz verfgen.

    Die Erdogan-Partei AKP dementiert ve-hement alle Vorwrfe. Und der Premiersagt, seinen Reichtum habe er durch Ge-schenke erlangt, die Gste seinem Sohn

    bei der Hochzeit berreichten. Auerdemfinanziere ein trkischer Geschftsmannseinen vier Kindern das Studium in denUSA. Die US-Botschaft hlt diese Erkl-rungen fr eine faule Ausrede.

    Aber Erdogan wei offenbar, wie mandie Basis fr sich gewinnt: Als seine AKPeine empfindliche Niederlage bei derBrgermeisterwahl 2004 in Trabzon ein-stecken musste, soll er, so die Botschafts-dokumente, seinen engen VertrautenFaruk Nafiz zak als Prsidenten des Fu-ballclubs Trabzonspor installiert haben.Die Depeschen geben unbewiesene Be-hauptungen von Informanten wieder,

    demnach soll der Premier zak einigeMillionen Dollar aus einer geheimenStaatskasse berwiesen haben. Er mgemit dem Geld, so ein Schreiben vom Juni2005, bessere Spieler kaufen, um dem neu-

    en Brgermeister den Rang abzulaufen.Bis zum Redaktionsschluss war von Erdo-gan keine Stellungnahme zu erhalten.

    Der Premier habe die AKP zu einerErdogan-Maschine umgebaut, konsta-tiert die US-Botschaft. Viele AKP-Spit-zenkrfte seien Mitglied in einer musli-mischen Bruderschaft: auch Erdogan undStaatsprsident Abdullah Gl.

    Es gebe allgemein zu wenig Sachver-

    stand in der Regierung, kritisiert US-Botschafter Eric Edelman schon im Ja-nuar 2004: Einige AKP-Leute wachsenzwar an ihrem Amt, andere sind inkom-petent, gehen Privatinteressen nach oder

    Titel

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    Volkstribun von AnatolienDer Nato-Partner Trkei ist den Amerikanern besonders

    unheimlich: Die Botschaftsdepeschen schildern Premier Erdoganals ignoranten Islamisten mit korrupter Regierung.

    Premierminister Erdogan: Er hat noch nie ein

    Urteil des US-Botschafters ber Erdogan vom 30. Dezember 2004:

    Erdogan hat sich dem Fluss verlsslicher Informationen entzogen, was

    teilweise seine Probleme erklrt, den Kontext zu verstehen.

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    den Wnschen ihrer religisen Gemein-schaft. Politiker in den Provinzen sindengstirnige Islamisten.

    Viele hochrangige Staatsdiener sagenden Amerikanern, sie seien entsetzt berErdogans Personal. So habe Erdogan ei-nen ignoranten, islamistischen Akade-miker zu seinem Unterstaatssekretr ge-macht. Frauenministerin Nimet ubuku,so lstern US-Informanten, habe ihren

    Job bekommen, weil sie mit ErdogansEhefrau Emine befreundet sei. ubukusetzt sich fr die Kriminalisierung vonEhebruch ein. Einem Minister sagen sieVetternwirtschaft nach, Verbindungenzum Heroinschmuggel und eine Vorliebefr viel zu junge Mdchen.

    Vom Wahlvolk werden Erdogan unddie AKP verehrt, schreiben US-Diplo-maten 2004: Erdogan ist der geborenePolitiker, volkstmlich und charisma-tisch, er habe die Instinkte eines Stra-enkmpfers. Der Premier, aufgewach-sen in einem rauen Hafenbezirk Istanbuls,engagierte sich schon als junger Mann ineiner radikal-islamistischen Organisationund trat dem konservativen Orden derNakibendye bei. Noch vor Regierungs-

    antritt bekannte er: Demokratie ist wieein Zug: Wenn wir an der Station sind,wo wir hin wollen, steigen wir aus.

    Damals lernte er Abdullah Gl kennen,mit dem er spter den Aufstieg der AKPorganisierte. Beide verbindet inzwischeneine tiefsitzende Rivalitt. Immer wiederstnkere Gl gegen Erdogan, vor allemdann, wenn der Premier auf Reisen imAusland sei. Gl, damals Auenminister,

    versuche, so werten das die Amerikanerim Mrz 2005, Erdogans Politik zu unter-graben, um mehr Macht ber die Parteizu gewinnen. Er spreche, anders als Er-dogan, Englisch und stelle sich, sagen dieDiplomaten, als moderat und modern dar.

    In Wahrheit aber, so beurteilt die US-Botschaft Aussagen aus Gls Umfeld, seier ideologischer als Erdogan und antiwest-lich. Gl nutze fast jede Gelegenheit, Er-dogan schlecht aussehen zu lassen er ls-tere ber ihn sogar vor Staatsgsten. Langearbeitete Gl darauf hin, Prsident zu wer-den und damit Erdogan ebenbrtig zu sein;der Konkurrent versuchte, das zu verhin-dern ohne Erfolg, Gl wurde Prsident.

    Erdogans Berater und AuenministerAhmet Davutoglu verstnden wenig von

    der Politik auerhalb Ankaras, meinendie Amerikaner. Das halten sie fr miss-lich, denn sie wollen die Trkei in derEU sehen. Sie glauben nur nicht, dass esdazu kommt. Um ernsthaft verhandlungs-fhig zu sein, msste die Regierung einpaar tausend Mitarbeiter einstellen, die

    gut Englisch sprechen und von den EU-Brokraten ernst genommen werden,schrieb der Botschafter. Bisher habe dieAKP vor allem Vertraute aus islamisti-schen Bruderschaften eingestellt.

    Einige AKP-Politiker untersttzennach Einschtzung der Amerikaner denEU-Beitritt aus finsteren und verwirren-den Grnden, auch weil sie glauben, dieTrkei msse den Islam in Europa ver-breiten. Das Mitglied eines fhrendenAKP-Think-Tanks berspitzte es nachAussagen von US-Diplomaten Ende 2004so: Wir wollen Andalusien zurck unduns fr die Niederlage bei der BelagerungWiens 1683 revanchieren.

    Auenminister Ahmet Davutoglu gehtzwar nicht so weit, aber die Amerikanersind alarmiert ber seinen imperialisti-schen Ton. Im Januar 2010 resmiert derUS-Botschafter eine Davutoglu-Rede inSarajevo. Davutoglus These: Dem Bal-kan, dem Kaukasus und dem NahenOsten sei es unter Kontrolle und Einflussder Osmanen bessergegangen. Seitdemhaben Teilung und Krieg verheerendeAuswirkungen gehabt. Jetzt jedoch seidie Trkei zurck und bereit zu fhren.Davutoglu: Wir werden den osmanischen

    Balkan wiederherstellen.Davutoglus Selbstberschtzung undseine neoosmanische Vision bereiten denAmerikanern Sorgen die Trkei habeAmbitionen wie Rolls-Royce, jedoch nurdie Mittel von Rover, heit es lapidar.Ein hochrangiger Regierungsbeamter hatnach den Botschaftsdepeschen schon2004 vor den islamistischen EinflssenDavutoglus auf Erdogan gewarnt:Er istbesonders gefhrlich.

    Unter Erdogans Truppe haben sich dieBeziehungen zu Israel dramatisch ver-schlechtert. Die Regierungen stritten sichber den Krieg gegen die Hamas und den

    Angriff auf die Gaza-Hilfsflotte. Der is-raelische Botschafter in Ankara, GabbyLevy, behauptet im Oktober 2009, dassErdogan die Verstimmung provoziere. Erist ein Fundamentalist. Er hasst uns ausreligisen Grnden, wird Levy in einemvertraulichen Schreiben zitiert.

    Die Amerikaner beobachten besorgt,wie sich Erdogan immer weiter vom Wes-ten entfernt. Ob das System Erdogan imNato-Land Trkei wirklich stabil bleibt,wissen sie aber auch nicht: Jeder Taghier ist anders. Keiner kann sicher sein,nach welcher Seite die gesamte Choreo-grafie aus dem Gleichgewicht gert,schreibt Botschafter James Jeffrey EndeFebruar 2010 nach Washington. Gebtacht. MX P

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    BURHANO

    ZBILICI/AP

    realistisches Weltbild gehabt