Spieler? Bildnachweis: Alexander / Fotolia (Symbolbild)€¦ · 130 Rojahn J. Spieler? Freund?...

4
Bildnachweis: Alexander / Fotolia (Symbolbild) Spieler? Freund? Patient? Jennifer Wertheim* betreute jahrelang eine Handballmannschaft. Was der Verein von ihr erwartete, war allerdings nicht immer das, was sie als Ärztin für notwendig hielt. Besonders deutlich erlebte sie den Zwiespalt, als einer der Spieler schwer verletzt in ihre Klinik eingeliefert wurde – und sie nur eine Aufgabe hatte: Ihn schnell wieder auf das Spielfeld zu bringen. Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt.

Transcript of Spieler? Bildnachweis: Alexander / Fotolia (Symbolbild)€¦ · 130 Rojahn J. Spieler? Freund?...

Page 1: Spieler? Bildnachweis: Alexander / Fotolia (Symbolbild)€¦ · 130 Rojahn J. Spieler? Freund? Patient? Lege artis 2012; 2: 128–131 Der Verein will eine Prognose Jennifer Wertheim

Bild

nach

wei

s: A

lexa

nder

/ Fo

tolia

(Sym

bolb

ild)

Spieler? Freund? Patient?

Jennifer Wertheim* betreute jahrelang eine Handballmannschaft. Was der Verein von ihr erwartete, war allerdings nicht immer das, was sie als Ärztin für notwendig hielt. Besonders deutlich erlebte sie den Zwiespalt, als einer der Spieler schwer verletzt in ihre Klinik eingeliefert wurde – und sie nur eine Aufgabe hatte: Ihn schnell wieder auf das Spielfeld zu bringen.

Her

unte

rgel

aden

von

: Thi

eme

Ver

lags

grup

pe. U

rheb

erre

chtli

ch g

esch

ützt

.

Page 2: Spieler? Bildnachweis: Alexander / Fotolia (Symbolbild)€¦ · 130 Rojahn J. Spieler? Freund? Patient? Lege artis 2012; 2: 128–131 Der Verein will eine Prognose Jennifer Wertheim

129

Rojahn J. Spieler? Freund? Patient? Lege artis 2012; 2: 128–131

Schlüsselerlebnis

I m Schockraum der chirurgischen Klinik wartet das Traumateam auf den angemeldeten Rettungswagen. Auch Dr. Jennifer Wertheim ist dabei,

obwohl sie heute eigentlich Stations-dienst hat. Dort hat sie vor ein paar Minu-ten der sportliche Leiter der Mannschaft angerufen: Ein Spieler, Gordon Weaver*, habe einen Unfall gehabt – ob sie sich kümmern könne?

„Werde ich wieder laufen können?“Dann wird Gordon Weaver auf einer Vakuum-Matratze hereingefahren. Der Bericht des Notarztes: Schock, Prellmar-ken, sensomotorischer Querschnitt mit Verdacht auf Wirbelsäulentrauma. Er habe ihm Schmerzmittel und Kortison i. v. gegeben, der Patient sei ansprechbar. Dr. Wertheim begegnet Gordons Blick. Off enbar erkennt er sie. Ist sichtlich er-leichtert, in dem Gewusel ein bekanntes Gesicht zu entdecken. Gordon Weaver ist US-Amerikaner und erst seit kurzem in Deutschland. „Hallo Gordon“, sagt die Ärztin und reicht ihm ihre Hand – an die er sich klammert, als wäre sie seine letzte Rettung. „Was ist los?“, fragt er. „Ich fühle meine Beine nicht mehr. Werde ich wie-der laufen können?“

Kein x-beliebiger Patient Diese Frage hat Jennifer Wertheim zwar schon oft von Patienten gehört – aber noch nie von je-mandem, den sie so gut kennt: Gordon Weaver ist einer der besten Spieler der Handballmannschaft, die die angehende Orthopädin und Unfallchirurgin in ihrer Freizeit betreut. „Ich sah ihn und die an-deren Spieler fast täglich beim Training und bei Spielen“, erzählt sie, „und ich fühlte mich verantwortlich für ihr Wohl-ergehen.“

Verein ist Ersatzfamilie Oft geht ihr Ein-satz über die rein medizinische Betreuung hinaus: Viele Spieler wechseln häufi g die Vereine und haben vor Ort dann kein soziales Umfeld außerhalb der Mann-schaft. „Vor allem die ausländischen Spie-ler muss man oft an die Hand nehmen“, so Dr. Wertheims Erfahrung. „Die mögen zwar groß und kräftig sein – aber viele sind gerade mal Anfang 20 und völlig allein in einem fremden Land.“ Der Verein ist dann Ersatzfamilie und Freundeskreis in einem, hilft bei der Wohnungssuche und beim Umgang mit Geld. Schwerer Autounfall Dass sie bei einem Unfall als Erste benachrichtigt wird, wun-dert Dr. Wertheim nicht: „Als Mann-

schaftsärztin ist man für alle medizini-schen Probleme der Jungs zuständig“, sagt sie, „rund um die Uhr und die ganze Sai-son durch.“ Sie muss immer genau wissen, welche Medikamente sie nehmen, jedes Schnupfenspray muss von ihr abgenickt werden – die Inhaltsstoff e stehen manch-mal auf der Dopingliste. Und bei schwere-ren Verletzungen wie hier ist es erst recht hilfreich, wenn sie gleich dabei ist und Auskunft zum gesundheitlichen Status des Patienten geben kann. Weavers Unfall ist allerdings nicht beim Sport passiert: Er saß als Beifahrer im Auto eines Teamkolle-gen, als ein LKW gegen den Wagen prallte. Die Feuerwehr musste ihn aus dem Auto herausschneiden.

Ärztin als Vertrauensperson Nun also liegt der Sportler vor Dr. Wertheim auf der Trage. Sie spürt seine Angst. Von der pro-fessionellen Distanz, um die sie sich sonst bemüht, ist nicht mehr viel übrig. „Für Gordon war ich die einzige Vertrauensper-son weit und breit“, sagt sie. Und von der will er jetzt wissen, ob seine Beine ihm irgendwann wieder gehorchen werden.

„Das hoff e ich für dich!“ denkt sie, spricht es aber nicht aus. Sie kneift ihn ins Bein: keine Reaktion. Mit einem frischen Quer-schnitt hat sie bisher keine Erfahrung. Wird er im Rollstuhl landen? Ist seine Kar-riere dahin? „Die Spieler leben ja nur für ihren Sport“, sagt sie. Bei jeder Verletzung sei ihre größte Sorge, wann sie wieder spielen können. „Jetzt wirst du erst mal gründlich untersucht“, antwortet sie ihm schließlich, „dann sehen wir weiter!“

Diagnostische Abklärung Gemeinsam mit ihren Kollegen geht die Ärztin nach der Schwerverletzten-Routine im Schock-raum vor. Die klinische Untersuchung er-gibt einen kompletten sensomotorischen Querschnitt. Es folgt das Ganzkörper-CT. Nach und nach erscheinen die Bilder auf dem Monitor. „Bitte keine Verletzungen an der Wirbelsäule“, denkt Dr. Wertheim. Sie weiß, die Wahrscheinlichkeit spricht dagegen: Wenn ein Querschnitt auftritt, muss auch irgendwo eine Verletzung sein. Oft ist die Wirbelsäule beteiligt.

Grund zur Hoff nung Zu ihrer großen Erleichterung ist das CT tatsächlich unauf-fällig – Frakturen sind damit ausgeschlos-sen. Anschließend schauen sie sich das Abdomen im Ultraschall an: Auch hier sind keine Verletzungen zu sehen. Zur weiteren Abklärung ordnen die Ärzte ein MRT von Wirbelsäule und Rückenmark an. Und sind wieder positiv überrascht: alles wie es sein soll, keine Einengung, nichts verschoben. Jennifer Wertheim ist froh, Gordon nach und nach die guten Nach-richten überbringen zu können. „Die an-deren Ärzte hatten sich längst verabschie-det“, sagt sie, „nur der Radiologe und ich waren noch dabei.“ Um die Blutgefäße komplett zu prüfen, machen sie noch ein MRT des Schädels und eine Angiografi e. Auch hier: keine Auff älligkeiten.

Commotio spinalis Die Klinik einer Querschnittlähmung – aber es ist keine Ursache zu fi nden: Die Befunde sorgen für einige Diskussionen im Ärzteteam. Die Ausschlussdiagnose lautet schließlich Commotio spinalis – eine Erschütterung des Rückenmarks. Dr. Wertheim kennt dieses Krankheitsbild nur aus der Litera-tur. Die gute Nachricht für Gordon Wea-ver: Eine Commotio spinalis hinterlässt meist keine bleibenden Schäden, die Sym-ptome sind reversibel. „Aber wie lange er gelähmt sein würde, wann und wie gut er wieder würde spielen können – das konn-te ihm an diesem Abend noch keiner sagen“, so die Ärztin.

Verlegung auf orthopädische StationDa es keinen aktuen Behandlungsbedarf gibt, verlegen sie den Patienten zunächst auf die Intermediate Care Unit der Ortho-pädie. Die Schmerz- und Kortisontherapie wird fortgeführt. „Da lag er nun im Bett“, erinnert sich Dr. Wertheim, „etwas be-nommen von den Schmerzmitteln, aber klar genug im Kopf, um sich endlos Sorgen zu machen.“ Sie versucht, ihm das Krank-heitsbild zu erklären. Dass die Prognose gut ist und er Geduld haben müsse.

Erste Symptombesserung Und tatsäch-lich erholt sich das Rückenmark soweit, dass der Patient nach einigen Stunden sei-ne Beine wieder spürt und sogar etwas bewegen kann. Die ersten Kraftgrade kommen zurück. „Damit erhöhten sich natürlich auch seine Erwartungen“, sagt die Ärztin. „Er hatte dann wahnsinnige Angst, nicht wieder auf Leistung spielen zu können.“ Zerstreuen kann sie seine Be-fürchtung zu diesem Zeitpunkt nicht.

*Alle Namen in diesem Beitrag geändert

„Wie lange er gelähmt sein würde, konnte ihm

keiner sagen.“

Her

unte

rgel

aden

von

: Thi

eme

Ver

lags

grup

pe. U

rheb

erre

chtli

ch g

esch

ützt

.

Page 3: Spieler? Bildnachweis: Alexander / Fotolia (Symbolbild)€¦ · 130 Rojahn J. Spieler? Freund? Patient? Lege artis 2012; 2: 128–131 Der Verein will eine Prognose Jennifer Wertheim

130

Rojahn J. Spieler? Freund? Patient? Lege artis 2012; 2: 128–131

Der Verein will eine Prognose Jennifer Wertheim hat eigentlich längst Feier-abend, bleibt aber noch lange am Bett sit-zen: „Er hatte schließlich sonst nieman-den – keine Familie oder Freunde, nur die Mannschaft.“ Und die wird am nächsten Tag eine Einschätzung von ihr wollen, wann der Spieler wieder einsatzfähig ist. Für sie ist es das typische Dilemma eines Mannschaftsarztes: „Trainer und Mana-ger wollen sofort eine exakte Aussage, damit sie planen können. Fällt jemand länger aus, müssen sie evtl. einen neuen Spieler einkaufen oder ausleihen.“ Ein teures Vergnügen – und der Arzt steht als Kostentreiber da. Ist er aber andererseits zu optimistisch, heißt es nachher: „Du hast doch gesagt, der spielt in 2 Wochen wieder – warum spielt er jetzt nicht?“ Jennifer Wertheim hat Erfahrung mit die-ser Gratwanderung: „Was man als Arzt empfehlen würde, ist im Leistungssport nicht immer das, was der Verein will oder was der Spieler will.“ Sie nimmt sich vor, dieses Mal lieber gar keine Prognose abzu-geben als eine vorschnelle. „Gerade mit so einer seltenen Verletzung gab es allen Grund zur Vorsicht“, sagt sie.

Rasche Erholung Auch am nächsten Tag schaut sie regelmäßig bei Gordon Weaver vorbei. Er erholt sich weiterhin sehr schnell: Schon bis zum Nachmittag kehrt die volle Kraft in beide Beine zurück. Er wird für weitere 2 Tage zur Überwachung auf die Normalstation verlegt. Trainer und Manager schauen ab und zu vorbei, aber die Ärzte halten sich mit Einschätzungen zurück. „Die ersten Tage haben wir gar nichts gesagt“, so Dr. Wertheim, „und dann ging es vor allem darum, wie stark seine Schmerzen sind.“

Spieler wird schnell wieder fi t gemachtSobald er aus der Klinik kommt, beginnt er mit intensiver Physiotherapie, Wärme-behandlungen und Massagen. Dr. Wert-heim: „Intern rechneten wir mit 4 Wo-chen absolutem Minimum, bis er wieder spielen könnte.“ Letztendlich geht es dann noch schneller: 17 Tage später trainiert Gordon Weaver wieder, das erste Spiel be-streitet er 25 Tage nach dem Unfall.

Schmerzen bleiben Der Preis ist aller-dings hoch: Noch über Wochen hat er starke Schmerzen im Bereich der Lenden-wirbelsäule und massive Muskelverhär-tungen. Alle 2 Tage kommt er zu Jennifer Wertheim, um sich Schmerzmittel sprit-zen zu lassen – und seine Sorgen und Ängste loszuwerden. „Ganz klar: Zu ihm

hatte ich seit dem Unfall ein besonderes Verhältnis“, erzählt sie. Er macht ihr mal wieder bewusst, was sie auch in der Unfallklinik oft erlebt: „Es geht immer zu-erst um die Menschen – und die brauchen nicht nur CTs und MRTs, sondern man muss ihnen auch mal in die Augen schau-en und Händchen halten.“

Spieler verlässt den Verein Die Ärztin gibt die Medikamente, die sie geben darf, erlebt den Spieler aber nie wieder ganz schmerzfrei: Als die Saison vorbei ist, be-kommt Gordon Weaver keinen Anschluss-vertrag. Er geht zurück in die Staaten, sie verliert den Kontakt. Dr. Wertheim ist klar: Er hätte eine deutlich längere Pause gebraucht. „Der Unfall war ja keine Lappa-lie“, sagt sie. „Möglicherweise hat ihn nur seine ungewöhnlich kräftige Rumpfmus-kulatur vor einer dauerhaften Quer-schnittlähmung bewahrt.“

Verletzungspausen schaden dem Markt-wert Haben ihn Trainer und Manager also zu früh wieder aufs Spielfeld gezwun-gen? „Nicht unbedingt“, meint sie, „er war auch selbst darauf aus, so schnell wie möglich wieder zu spielen.“ Erstaunt ist sie darüber nicht: „Die Sportler haben vor allem eins im Blick: ihre Statistik.“ Je schlechter nämlich die persönliche Wurf-quote, je weniger Spielzeit oder Tore je-mand vorweisen kann, desto schlechter wird er bewertet. „Das ist ein knallharter Markt“, sagt Dr. Wertheim. Sie kennt viele Spieler aus dem Ausland, die jede Saison zu einem neuen Verein wechseln, quer durch Europa. „Oft haben die mit ihren 20 oder 22 Jahren zu Hause schon eine Frau und vielleicht auch Kin-der, die sie jahrelang kaum sehen“, erzählt die Ärztin, „während sie hier wie Ware ge-handelt werden.“ Längere Ausfälle nach Verletzungen kann sich daher nicht nur der Verein, sondern auch der einzelne Spieler kaum leisten. „Aber akute Schä-den, die nicht ausheilen, werden oft chro-nisch“, so Dr. Wertheims Erfahrung.

Ärztin zweifelt an ihrer Tätigkeit Nach Gordons Unfall sieht Jennifer Wertheim ihre Rolle als Mannschaftsärztin immer kritischer. „Ich fühlte mich vom Manage-

ment manchmal nicht ernst genommen, wenn ich meinte, ein Spieler sei nicht ein-satzfähig“, erzählt sie. Vielleicht trauen sie ihr als einziger Frau in einer Männer-domäne auch nicht die nötige Härte zu.

„So nach dem Motto: Wahrscheinlich hat er ihr was vorgeheult, und jetzt sagt sie, er ist krank – mit einem Mann könnte er das nicht machen“, ist Dr. Wertheims Ein-druck.

Neuer Konfl ikt um anderen SpielerEiner dieser Konfl ikte spitzt sich schließ-lich zu: Ein Spieler hat chronische Über-lastungsschäden. „Er hatte viel zu lange in diesen Zustand hineintrainiert“, erinnert sich die Ärztin. Sie ist damals der Meinung, er müsse 6 Wochen pausieren. „Der war kaputt und brauchte einfach Ruhe“, sagt sie. „Ich verstehe ja, dass das für den Ver-ein eine Katastrophe ist, aber es ging auch um einen jungen Menschen!“ Man disku-tiert hin und her, immer mehr Leute aus Management und Klinik mischen sich ein. Schließlich wird der Spieler operiert und steht kurz darauf wieder auf dem Feld.

Trennung vom Verein „Das war kom-plett unnötig“, ist Dr. Wertheim noch heu-te überzeugt. Ob der Eingriff dem Spieler dauerhaft geholfen hat, weiß sie auch in diesem Fall nicht: Er wurde ein Vierteljahr später verkauft. Für die Ärztin ist mit die-ser aufgedrängten OP allerdings eine Grenze überschritten. Sie kündigt ihren Vertrag vorzeitig und bricht den Kontakt zum Verein ab. Inzwischen kann sie sich wieder vorstel-len, noch einmal als Mannschaftsärztin zu arbeiten. „Es hat Spaß gemacht und mich auch berufl ich wei-tergebracht“, sagt sie. Aber dann will sie auch das Vertrauen in ihre Kompetenz. „Eines kann nicht sein“, weiß sie heute:

„Wenn ich einem verletzten Spieler Ruhe verordne, kann ihn nicht ein Kollege vorzeitig gesundschreiben.“

Julia Rojahn

Schlüsselerlebnis

Längere Ausfälle können Verein und Spieler

sich kaum leisten.

Bildnachweis: Digitalpress / Fotolia

Her

unte

rgel

aden

von

: Thi

eme

Ver

lags

grup

pe. U

rheb

erre

chtli

ch g

esch

ützt

.

Page 4: Spieler? Bildnachweis: Alexander / Fotolia (Symbolbild)€¦ · 130 Rojahn J. Spieler? Freund? Patient? Lege artis 2012; 2: 128–131 Der Verein will eine Prognose Jennifer Wertheim

131

Rojahn J. Spieler? Freund? Patient? Lege artis 2012; 2: 128–131

Schlüsselerlebnis

Kommentarvon Dr. Christoph Lukas

Mit Zweifeln an der eigenen Kompetenz muss man rechnen

Heikle Balance von Nähe und DistanzDer Bericht von Dr. Wertheim verdeut-licht eine wichtige Erfahrung von Mann-schaftsärzten:

▶ Einerseits gehört man zum Team – und braucht die Nähe auch, um das Vertrau-en der Spieler zu genießen.

▶ Andererseits muss man aber unbedingt eine gewisse professionelle Distanz wahren, um seinen Job gut ausüben zu können.

Ist man nämlich zu sehr „Fan“, läuft man Gefahr, verletzte Spieler vorzeitig für den Wettkampf freizugeben. Um die Sieges-chancen zu erhalten, übt hier auch der Verein oft einen sehr großen Druck aus. Es ist daher wichtig, die Dinge mit dem nöti-gen Abstand zu betrachten und sich selbst, dem Verein und dem Spieler klar zu ma-chen: Auch beim Profi ist keine Zauberei möglich.

Zu frühe Rückkehr aufs Spielfeld? So-wohl das Management als auch der Spie-ler drängen meist auf eine möglichst schnelle Rückkehr in den Wettkampf. Hier muss der Mannschaftsarzt beiden ein-deutig klar machen:

▶ Auch die hochwertigste medizinische Versorgung muss den Regeln der Biolo-gie folgen. Bestimmte Heilungszeiten lassen sich ohne Risiko für langfristige Beschwerden nicht „unterbieten“.

Dem Management muss hierbei klar sein, dass bei zu frühem Einsatz ein nachfol-gender längerer Ausfall droht. Dem Spie-ler wiederum sollte man verdeutlichen, dass er ggf. seine weitere Karriere gefähr-det. Erfahrungsgemäß gelingt dies bei äl-teren Spielern besser – nicht zuletzt, weil diese oft aus Schaden klug geworden sind,

also längere Ausfälle aufgrund zu früher Rückkehr erleiden mussten.

Bei der Prognose Spielraum lassenTypisch ist daher auch Dr. Wertheims Er-fahrung, dass der Verein sehr an einer de-taillierten Prognose interessiert ist. Trai-ner und Manager möchten wissen, wann der Sportler das Training wieder aufneh-men kann – am liebsten auf den Tag genau.

▶ Als Arzt darf man dann nur eine un-gefähre Aussage machen, dabei sollte man sich den notwendigen Spielraum lassen (Ausfallzeit von x–y Tagen oder Wochen).

Denn was auch immer man sagt, der Ver-ein wird es später – ggf. auch als Vorwurf – zitieren. Dass es von Mensch zu Mensch unterschiedliche Heilungsverläufe gibt und dass auch Komplikationen möglich sind, interessiert dabei niemanden.

Netzwerk von Kollegen ist nötig Für den Mannschaftsarzt ist es hilfreich, ein gutes Netzwerk an Spezialisten zu haben, die ihn mit ihrem Fachwissen und Können unterstützen. Denn niemand kann alle Verletzungen gleich gut behandeln, man benötigt immer wieder die Hilfe von Kol-legen mit entsprechendem Expertenwis-sen. Das gilt vor allem, wenn man wie Dr. Wertheim erstmals mit einer bestimmten Verletzung konfrontiert ist.

▶ Innerhalb dieses Netzwerks ist Loyalität aber unbedingt notwendig.

Der Mannschaftsarzt muss sich darauf verlassen können, dass die Kollegen, de-nen er „seinen“ Sportler anvertraut, ihre Überlegenheit auf einem Teilgebiet nicht dazu benutzen, ihm in den Rücken zu fal-len. Zum Beispiel, weil sie auf die Position des Teamarztes neidisch sind.

Recht auf Zweitmeinung gilt auch für Sportler Am Beispiel des Spielers mit Überlastungsschaden zeigt Dr. Wertheim treff end auf, dass auch das Thema Zweit-meinung ein delikates ist. Selbstverständ-lich hat ein Sportler – wie jeder Patient – das Recht auf eine weitere Meinung.

▶ Die Vorstellung bei einem Kollegen soll-te der Teamarzt aber möglichst inner-halb seines Netzwerks koordinieren.

Dies stellt zum einen das entsprechende Fachwissen sicher, zum anderen verrin-gert es das Risiko von „Futterneid“.

Besondere Schwierigkeiten als Frau?Dr. Wertheim hat den Eindruck, dass sie auch deshalb nicht immer ernst genom-men wird, weil sie eine Frau ist. Aber die meisten männlichen Teamärzte kennen ebenfalls das Problem, dass ihre Meinung und ihr Fachwissen infrage gestellt wer-den. Die einzige Frau in einer Männer-domäne zu sein, verstärkt dieses Phäno-men vielleicht. Trotzdem: Das medizini-sche Halbwissen der sportlichen Leitung – in Kombination mit dem Erfolgsdruck – führt auch bei männlichen Kollegen oft dazu, dass das Management an den Aus-sagen des Arztes zweifelt.

Standhaft bleiben gegenüber dem Ma-nagement In dieser Situation gilt es, sich zunächst die notwendigen Informati-onen über die Verletzung und die Progno-se zu besorgen und sich seine eigene Mei-nung zu bilden. Diese sollte der Arzt dann standhaft vertreten, ohne sich zu wider-sprechen oder über Ausfallzeiten in Ver-handlung zu treten. Man sollte sich immer vor Augen halten:

▶ Nicht der Arzt ist schuld an Verletzun-gen und Ausfallzeiten!

Er überbringt lediglich die schlechten Nachrichten. Dafür sollte er aber nicht mehr – wie in grauer Vorzeit – „hingerich-tet“ werden.

Dr. med. Christoph Lukas ist Oberarzt im Reha- Zen trum Hess in Bietigheim-Bissingen. Der Ortho-päde ist Vorsitzender der Deutschen Basketball-ärzte e.V. Als Teamarzt betreut er die EnBW Lud-wigsburg (1. Liga Basketball) und die SG BBM Bie-tigheim (2. Liga Handball Herren und Damen). E-Mail: [email protected]

Schreiben Sie uns!

Hatten auch Sie ein persönliches Schlüssel-erlebnis? Ob positiv oder negativ – in Lege artis können Sie davon erzählen und Ihre Kollegen am konkreten Beispiel lernen lassen. Sie erreichen die Redaktion unter Tel.: 0711/8931- 677 oder per E-Mail: [email protected]. Gemeinsam prüfen wir, ob sich Ihre Geschichte für eine Publi-kation eignet – und natürlich garantieren wir absolute Vertraulichkeit.

„Die meisten Teamärzte kennen das Problem, dass ihre Meinung und ihr Fachwissen

infrage gestellt werden.“

Beitr

ag o

nlin

e zu

fi nd

en u

nter

htt

p://d

x.do

i.org

/10.

1055

/s-0

032-

1311

670

Her

unte

rgel

aden

von

: Thi

eme

Ver

lags

grup

pe. U

rheb

erre

chtli

ch g

esch

ützt

.