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edition unseld 18 Sprache, Lügen und Moral Geschichtenerzählen in Wissenschaft und Literatur von Margery Arent Safir, Rita Seuß, Thomas Wollermann Originalausgabe Sprache, Lügen und Moral – Safir / Seuß / Wollermann schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG Thematische Gliederung: Literatursoziologie, Gender Studies Suhrkamp Frankfurt;Berlin 2009 Verlag C.H. Beck im Internet: www.beck.de ISBN 978 3 518 26018 0

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edition unseld 18

Sprache, Lügen und Moral

Geschichtenerzählen in Wissenschaft und Literatur

vonMargery Arent Safir, Rita Seuß, Thomas Wollermann

Originalausgabe

Sprache, Lügen und Moral – Safir / Seuß / Wollermann

schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG

Thematische Gliederung:

Literatursoziologie, Gender Studies

Suhrkamp Frankfurt;Berlin 2009

Verlag C.H. Beck im Internet:www.beck.de

ISBN 978 3 518 26018 0

Leseprobe

Safir, Margery Arent

Sprache, Lüge und Moral

Geschichtenerzählen in Wissenschaft und Literatur

Mit Beiträgen von Roald Hoffmann, Evelyn Fox Keller, Jean-Michel Rabaté, Mieke Bal

Aus dem Englischen von Rita Seuß und Thomas Wollermann

© Suhrkamp Verlag

edition unseld 18

978-3-518-26018-0

Suhrkamp Verlag

edition unseld 18

Was passiert bei der Übertragung mathematischer Formeln in die unscharfe Welt der Wörter? Wer wird angesprochen, und welche Absichten werden verfolgt? Wie kann man wahr und falsch unterscheiden? Roald Hoffmann spricht von der Aufrichtigkeit, die der Forscher dem singulären Gegen-stand entgegenzubringen hat, und davon, daß Darstellen und Erzählen, daß »Übersetzen« zur Grundausstattung der menschlichen Welt gehören. Wäre daher die Bevorzugung des Einfachen gegenüber dem Komplexen ei-ne Lüge? Jean-Michel Rabaté hält »wahren« Lügen zugute, daß sie Gefühle zur Wahrheit überlisten können. Evelyn Fox Keller stellt fest, daß auch die Wissenschaft voller Metaphern ist: Die Bezeichnungen Atom, Gen, Orga-nismus sind metaphorische Notlösungen. Aber sprachliche Ungenauigkeit und Assoziationen können durchaus zum wissenschaftlichen Erkennen bei-tragen. Mieke Bal fragt, ob vielleicht Fiktion Fakten überhaupt erst greifbar macht, und untersucht die Ethik des Geschichtenerzählens. Alle Autoren, die ganz unterschiedlichen Fachrichtungen angehören, stellen die grund-sätzliche Frage nach dem unvermeidlichen, notwendigen Zusammenhang von Sprache – wissenschaftlicher wie literarischer –, Lüge und Moral.

Roald Hoffmann, geboren 1937, war Frank H.T. Rhodes Professor of Hu-mane Letters und Professor für Chemie an der Cornell University, Nobel-preis für Chemie 1981.

Evelyn Fox Keller, geboren 1936, ist Professorin für Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsphilosophie am Massachusetts Institute of Technology (MIT).

Jean-Michel Rabaté, geboren 1949, ist Vartan Gregorian Professor für Gei-steswissenschaften an der Universität Pennsylvania.

Mieke Bal, geboren 1946, ist Professorin für Literaturtheorie an der Univer-sität Amsterdam. Im Suhrkamp Verlag erschien Kulturanalyse (2006).

Margery Arent Safir ist Professorin für Vergleichende Literaturwissenschaf-ten und Englisch an der American University in Paris.

Sprache, Lügen und MoralGeschichtenerzählen in Wissenschaft und Literatur

Herausgegeben vonMargery Arent Safir

Mit Beiträgen vonRoald Hoffmann, Evelyn Fox Keller,Jean-Michel Rabaté, Mieke Bal

Mit AbbildungenAus dem Englischen von Rita Seuß und Thomas Wollermann

Suhrkamp

Die edition unseld wird unterstützt durch eine Partnerschaft mit dem Nachrichtenportal Spiegel Online. www.spiegel.de

edition unseld 18Erste Auflage 2009© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009OriginalausgabeAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Photographie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Druck: Druckhaus Nomos, SinzheimUmschlaggestaltung: Nina Vöge und Alexander StublićPrinted in GermanyISBN 978-3-518-26018-0

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Sprache, Lügen und Moral

Inhalt

Margery Arent SafirVorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Margery Arent SafirHab acht vorm Zipferlak! Ein paar warnende Vorbemerkungen zum interdisziplinären Reisen . . . . . . . . 14

Evelyn Fox KellerDie Quadratur des Kreises von Sprache und Wissenschaft 28

Jean-Michel RabatéNotlügen: Platon, Nietzsche und Hollywood . . . . . . . . . . 41

Roald HoffmannAufrichtigkeit gegenüber dem singulären Gegenstand . . . . 84

Mieke BalDie Ethik des Geschichtenerzählens . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

Die Autoren des Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

Vorwort

Der argentinische Schöpfer von Fiktionen, der uns Pierre Me-nard geschenkt hat, einen Franzosen aus Nîmes als Autor des Quijote, und einen Kafka, der sich seine eigenen Vorläufer er-schafft, hatte einen griechischen Lieblingsphilosophen, Zenon von Elea aus dem 5. vorchristlichen Jahrhundert. Von ihm han-delt Jorge Luis Borges’ Essay »Inkarnationen der Schildkröte«. Mit einem Schuß Humor und mit gewohnter Ironie erörtert Borges Zenons berühmtes Paradoxon vom Wettlauf zwischen dem leichtfüßigen Achilles und der trägen Schildkröte, die einen gewissen Vorsprung bekommt. Anhand von verwirrenden ma-thematischen Berechnungen demonstriert nun Zenon, daß der schnelle Achilles die Schildkröte niemals einholen, geschweige denn überholen kann. Spektakulärer für Borges ist jedoch Ze-nons Argument gegen Bewegung überhaupt: »Bewegung ist un-möglich (argumentiert Zenon), weil der bewegte Gegenstand, um ans Ziel zu gelangen, erst die Hälfte der Bahn zurücklegen muß, und vorher die Hälfte der Hälfte, und vorher die Hälfte der Hälfte der Hälfte und vorher …«.1 Im selben Essay kommt Borges auf einen von ihm sehr geschätzten amerikanischen Phi-losophen zu sprechen, William James, einen Hauptvertreter des Pragmatismus. Zweitausendvierhundert Jahre nach Zenon leug-net James, daß vierzehn Minuten vergehen können, »weil zu-vor sieben Minuten vergangen sein müssen und vor den sieben dreieinhalb und vor den dreieinhalb eindreiviertel und so bis an das Ende, bis an das unsichtbare Ende durch feingesponnene Labyrinthe der Zeit«.2

Das Verfahren ist hier wie dort dasselbe: eine unendliche Di-vision und Regression von Bewegung und Zahlen, die ein Vor-wärtskommen in Raum und Zeit unmöglich machen. Die Lo-

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gik ist einleuchtend, die Mathematik unwiderlegbar. Quod erat demonstrandum. Nur: Der Beweis führt zu einer völlig falschen Schlußfolgerung. In der Welt nicht der Sprache und der Zahlen, sondern in der Welt der Materie wird Achilles den Wettlauf ge-winnen. Bewegung wird stattfinden. Vierzehn Minuten werden vergehen. Immer. Es ist die Sprache, die die Wahrheit sagt, und es ist die Sprache, die zu einer Lüge führt. Wir befinden uns in einem Grenzbereich, wo Sprache und die materielle Welt einan-der begegnen, und Grenzen sind bekanntermaßen gefährliche Zonen. Wie es Borges formuliert: »Es ist verwegen zu denken, daß eine Koordinierung von Worten […] mit dem Universum große Ähnlichkeit haben sollte.«3

Zenons Paradoxon läßt sich auf alle Fachdisziplinen übertra-gen. Als Paradoxon bringt es uns zur Philosophie; seine spezifi-sche Problematik (der unendlich teilbare Raum und die unend-lich teilbare Zeit) öffnet uns die Bereiche von Mathematik und Naturwissenschaften oder Mathematik versus Naturwissenschaf-ten. Und da ich in Wahrheit nicht den griechischen Philosophen Zenon, sondern den Zenon des Jorge Luis Borges zitiert habe, sind wir bei der Zeit und Raum übergreifenden Fiktion und bei der vergleichenden Literaturwissenschaft angelangt.

Das Paradoxon bringt uns aber auch zu den Mitarbeitern die-ses Bandes, allesamt herausragende Vertreter der eben genann-ten Disziplinen und gleichzeitig mehr als das. Denn sie haben das Abenteuer gewagt, die Grenzen ihrer jeweiligen Fachdiszi-plin zu überschreiten und an den Schnittstellen verschiedener Wissens- und Bezugssysteme zu arbeiten. Sie sprechen eine Vielzahl von Sprachen und verfügen über die seltene Fähigkeit, mit anderen Fachdisziplinen kommunizieren zu können. Sie haben Buffons Discours sur le style ernst genommen, den Aufruf jenes aufgeklärten Naturforschers und Dichters vor der Acadé-

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mie française, der Mensch müsse sich aller seiner Fähigkeiten bedienen.

Die Biographien der Mitarbeiter dieses Bandes und ihre Es-says zeigen uns, daß man heute nicht mehr selbstzufrieden von den »zwei Kulturen« sprechen kann, der Kultur der Naturwis-senschaften und der Kultur der Geisteswissenschaften. Evelyn Fox Keller ist theoretische Physikerin; ihre Doktorarbeit schrieb sie über Molekularbiologie, sie lehrt Rhetorik und ist mit bahn-brechenden Arbeiten zur feministischen Theorie hervorgetreten. Jean-Michel Rabaté ist Professor für Vergleichende Literaturwis-senschaft, er hat Arbeiten zur Philosophie, Psychoanalyse und Literaturkritik verfaßt. Der theoretische Chemiker Roald Hoff-mann wäre Auguste Dupins idealer Verbrecher – eine Verschmel-zung des Dichters mit dem Mathematiker – in einer Erzählung von Edgar Allan Poe, die Gegenstand einer berühmten Debatte zwischen dem Philosophen Jacques Derrida und dem Psycho-analytiker Jacques Lacan war. Mieke Bal überschreitet ständig die Grenzen von Fachgebieten – kritische Semiotik, bildende Kunst, transkulturelle Theorie, Anthropologie, Narratologie, das Alte Testament, Rembrandt, Popkultur – und erforscht als Kulturanalytikerin die Auswirkungen dieses »Hin- und Herrei-sens«. Es handelt sich also um eine ungewöhnliche Versammlung methodischer, zugleich aber kreativer Denker, und ich möchte ihnen allen danken, daß sie meiner Einladung gefolgt sind, sich über ein Thema auszutauschen, das keine einzelne Disziplin für sich beanspruchen kann. Es lautet: Sprache, Lügen und Moral: Geschichtenerzählen in Wissenschaft und Literatur.

Roald Hoffmann zufolge bedeutet in der Chemie »rein« so-viel wie »unvermischt«; das ist die neutrale Beschreibung eines chemischen Elements. In der Theologie ist »rein« ein morali-sches Ideal, das dann gefährlich wird, wenn extreme Gruppen

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es als Monopol für sich reklamieren. In der Poesie bezeichnet »rein« eine bestimmte literarische Bewegung, die »reine« oder auch »absolute Dichtung«, der die »unreine« (realitätshaltige, engagierte) Dichtung gegenübersteht. Im Gefühlsleben gibt es dieses »Reine« nicht. Was für »kleine« – oder auch große – Lü-gen schleichen sich ein, wenn mathematische Formeln in die weniger klar umrissene Welt der Worte, wenn Worte von einer Sprache in eine andere übersetzt werden? Wann wird Sprache als Lüge per definitionem aufgefaßt? Wie läßt sich das Wahre vom Falschen, »Realität« von »Irrealität« unterscheiden? Muß etwas, um als wahr zu gelten, potentiell auch falsch sein können und umgekehrt? Und wie sind »wahr« und »falsch« definiert? Durch die aristotelische Logik? Durch Galileis Empirismus? Durch Poppers Falsifikation? Bei der »Lüge« im Gegensatz zum »Falschen« stellt sich die Frage nach der Absicht, nach dem mo-ralischen Verhalten, und damit eignet sich dieses Thema nicht nur als Gegenstand der verschiedensten Fachdisziplinen, son-dern wirft auch Probleme auf, der sich keine dieser Disziplinen entziehen kann – am allerwenigsten die, die hier namentlich bislang nicht genannt wurden: Wirtschafts-, Medien- und Kom-munikationswissenschaft und, was uns heute vielleicht am mei-sten beschäftigt, Politik und internationale Beziehungen. Denn das Thema »Lüge« betrifft das zwischenstaatliche Handeln und die Beziehungen zwischen Völkern, insbesondere wenn es um unterschiedliche Sprachen, Wertesysteme und moralische Kul-turen geht und die Wahrheit eben nicht so leicht faßbar ist.

Ich habe mit Borges und Zenon begonnen, mit einem Pa-radoxon von Sprache und physikalischer Wirklichkeit. Ich schließe mit einem anderen Paradoxon, das die Sehnsucht in Widerspruch zur Materie setzt. In seinem Roman La Terre gaste beschwört der französische Schriftsteller Michel Rio »das große

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totalitäre Gesetz« herauf, das Naturgesetz des Todes, dem alle Lebewesen unterworfen sind. Der »Antikörper« zum tödlichen Gewicht dieses Gesetzes, die Freiheit vom Zwang, diesem Ge-setz unterworfen zu sein, ist der Traum von der Ewigkeit, von einem Leben, das nie zu Ende geht – und dieser Traum ist eine Fiktion. Rio schreibt:

Sprache ist der organisierte Ausdruck dieses Gesetzes und zugleich auch seines Antikörpers […]. Naturgesetz / Sklave-rei / Wahrheit und Fiktion / Freiheit / Lüge, Körper und Anti-körper, Gewicht und Gegengewicht sind der Sprache so im-manent wie der Physik Materie und Antimaterie oder positive und negative Ladung von Teilchen.4

Aber die physikalische Welt kann nicht geleugnet werden, wie sogar Borges auf seine Weise zugestehen mußte. Und so zieht Rio den Schluß: »Wenn […] das Leben eine Fiktion, nämlich die einer Ewigkeit, ist, das Gesetz der Materie aber die einzige Realität, so wird das erträumte Überleben des Individuums für die Spezies selber zu einem selbstmörderischen Programm.«5 Es geht um Moral, um eine Ethik nicht der individuellen Seele, sondern der globalen Umwelt. Es geht um die Sprache, die so-wohl das Naturgesetz als auch die durch dieses Gesetz hervorge-brachte Fiktion in sich trägt – die Lüge nämlich von einer Ewig-keit, eine Lüge, die das Individuum auf Kosten der Menschheit tröstet und beruhigt. Und es geht um eine Lüge, die verführt, indem sie den Traum bereithält, von diesem Gesetz befreit zu werden, um die Lust an der Freiheit des Träumens: Traum, eine Ethik des Begehrens, eine Ethik des Unbewußten. Fangen wir also an: Sprache, Lügen und Moral: Geschichtenerzählen in Wis-senschaft und Literatur.

Paris, August 2007 Margery Arent Safir

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Margery Arent SafirHab acht vorm Zipferlak ! 1Ein paar warnende Vorbemerkungen zum interdisziplinären Reisen

Was steckt in einem Namen?

Vor vielen Jahren, nach einem beinahe tödlichen Unfall, der ihn an seinen geistigen Fähigkeiten zweifeln ließ, schrieb Jorge Luis Borges die Geschichte, auf die ich schon im Vorwort hingewie-sen habe: »Pierre Menard, Autor des Quijote«.2 Darin erzählt er von dem Franzosen Pierre Menard aus Nîmes, der im 20. Jahr-hundert lebt und beschließt, den Don Quijote zu schreiben. Sein ohnehin mühseliges Unterfangen erschwert sich Menard noch dadurch, daß er es ablehnt, Cervantes zu werden, der in gewisser Weise gar nicht anders konnte, als den Don Quijote zu schreiben. Er möchte Pierre Menard bleiben, ein Franzose des 20. Jahrhun-derts, der den Quijote schreibt. Nach langem und beharrlichem Bemühen bringt er endlich ein paar Seiten zu Papier. Borges, der die Rolle des Barbiers und des Pfarrers aus Don Quijote übernimmt und Menards sichtbare und unsichtbare literarische Produktion begutachtet, stellt die beiden Quijotes einander ge-genüber. Zunächst läßt er Cervantes zu Wort kommen:

[…] die Wahrheit, deren Mutter die Geschichte ist, Neben-buhlerin der Zeit, Archiv aller Taten, Zeugin des Verflosse-nen, Vorbild und Anzeige des Gegenwärtigen, Hinweis auf das Künftige.

Verfaßt im 17. Jahrhundert von Cervantes, dem »Laienverstand«, sei diese Aufzählung, so Borges, »ein bloßes rhetorisches Lob auf die Geschichte«. Menard dagegen schreibt:

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[…] die Wahrheit, deren Mutter die Geschichte ist, Neben-buhlerin der Zeit, Archiv aller Taten, Zeugin des Verflosse-nen, Vorbild und Anzeige des Gegenwärtigen, Hinweis auf das Künftige.

Die Sätze des Franzosen veranlassen Borges zu dem Ausruf:Die Geschichte, Mutter der Wahrheit: Dieser Gedanke ist ver-blüffend. Menard, Zeitgenosse von William James, definiert die Geschichte nicht als eine Erforschung der Wirklichkeit, sondern als deren Ursprung. Die historische Wahrheit ist für ihn nicht das Geschehene; sie ist unser Urteil über das Ge-schehene. Die Schlußglieder – »Vorbild und Anzeige des Ge-genwärtigen, Hinweis auf das Künftige« – sind unverschämt pragmatisch.

Im weiteren hebt Borges die deutlichen stilistischen Unterschie-de zwischen den beiden Autoren hervor: »Der archaisierende Stil von Menard – immerhin ein Ausländer – leidet an einer gewissen Affektiertheit«, wogegen Cervantes »unbefangen das seinerzeit geläufige Spanisch schreibt«. Trotzdem spricht Borges von einer »neuen Technik«, mit der Menard die »Kunst des Le-sens« bereichert habe.

Ein Wort ist ein Wort ist nicht ein Wort: Roland Barthes zeigt im Vorwort zu seinen Essais critiques 3 die Kurzschlüsse der Kom-munikation auf und nimmt als Beispiel das Wort condoléances, das soviel bedeutet wie »Beileid«, »tiefes Mitgefühl«. Würde man nun aber zu einem guten Freund, der gerade einen gelieb-ten Menschen verloren hat, »mein Beileid« sagen, würde dieser Freund kein »tiefes Mitgefühl« heraushören, sondern ein gedan-kenlos dahingesprochenes, konventionelles »Tut mir leid«. Das Wort, vom Sender korrekt gebraucht, übermittelt dem Emp-fänger nicht die tatsächlich gemeinte, korrekte Bedeutung. Um die Botschaft zu übermitteln, muß das an sich korrekte Wort

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ausgeschmückt und abgewandelt werden. Wir müssen bis »an die Grenzen der Sprache« vordringen, sagt Barthes. Aber Gren-zen sind bekanntermaßen gefährlich. »Sei vorsichtig, nimm dich in acht, paß auf«, ermahnt man uns beim Überschreiten der linguistischen Grenzen von einer Sprache in die andere. Nimm dich in acht vor falschen Freunden, jenen Wörtern, die gegen-über einem Fremden freundlich klingen, die uns auch bekannt vorkommen, in Wahrheit aber nicht die intendierte Bedeutung oder beabsichtigte Wirkung haben – weswegen wir im allgemei-nen erheblich an Ansehen verlieren würden.

Derartige Grenzen gibt es auch zwischen den verschiedenen Fachdisziplinen. Ein Physiker, der die Gleichung E = mc2 liest, versteht sie im Kontext seines Fachgebiets, vielleicht auch im Kontext der Geschichte dieses Fachgebiets. Ihm ist die mit die-ser Gleichung verbundene Mathematik vertraut, er versteht die Homogenität von Gleichungen und weiß, warum die 2 nicht durch eine 3 ausgetauscht werden kann. Er kennt die mit die-ser Theorie verbundenen Experimente und weiß, wie man von der Theorie zu ihrem Beweis kommt. Manchmal kennt er auch die konkurrierenden Theorien und ihre Implikationen. E = mc2 kann er nie »unschuldig« lesen. Ganz anders ein Laie, der die Buchstaben und Zeichen dieser Gleichung eher als T-Shirt-Beschriftung unter einem Bild Albert Einsteins mit herausge-streckter Zunge kennt, nicht aus einem Lehrbuch.

In ähnlicher Weise ist ein Musiker in der Lage, den Ausdruck MIDI als »Musical Instrument Digital Interface« (»digitale Schnittstelle für Musikinstrumente«) zu erklären. Und auch ein Hörer, der sich mit Computern auskennt, kann mit dieser Er-klärung vielleicht etwas anfangen. Aber für jemanden mit einem geschulten Ohr, der akustische Violine spielt und die Entwick-lungsgeschichte des Instruments kennt, gewinnt der Ausdruck

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sicher eine andere Bedeutung als für den Computerfachmann. Denken alle Physiker an Finnegan’ s Wake, wenn sie das Wort Quark hören?4 Und denken alle Joyce-Kenner an einfachste Elementarbauteilchen? Es kommt stets darauf an, mit welchem Vorwissen wir einem Begriff begegnen. Wie wir den Begriff ver-stehen, hängt vom jeweiligen kulturellen Kontext, aber auch von der jeweiligen Fachdisziplin ab. Ein Physiker und ein Musiker können über MIDI oder über die Relativitätstheorie sprechen, aber wie Borges in einer anderen Geschichte fragt: »Bist du, Le-ser, denn sicher, daß du meine Sprache verstehst?«5

Das Land der »sprechenden Kadaver«

Wir befinden uns im Reich des Mythos – ein Begriff, den Barthes für Bedeutung benutzt, die aus ihrem Kontext herausgelöst, ihres historischen Bezugs beraubt oder ihres ursprünglichen Sinnes teilweise entkleidet und an anderer Stelle erneut verwendet wird.6 Hier, in einem neugeschaffenen Grenzbereich, verschmelzen Be-deutung und Form zu einem, wie Barthes es nennt, »mythischen Begriff«. Und er gibt dafür das Beispiel eines Schülers der Quin-ta in einem französischen Gymnasium, der sein Lateinbuch auf-schlägt und darin den Satz liest: Quia ego nominor leo, »Denn ich werde Löwe genannt«. In Wahrheit geht es bei diesem Satz gar nicht darum, dem Schüler etwas über den Löwen zu erzählen, sondern darum, ihm anhand eines Beispiels die Regel für die grammatische Übereinstimmung von Subjekt und Prädikat zu veranschaulichen. Dies ist die Doppelbedeutung: Als Bedeutung verlangt allein schon die Nennung des Löwen eine bestimmte Lesart, bildet ein glaubwürdiges Ganzes mit einer Geschichte und einem vollständigen Wertesystem. Als das Bedeutende des

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Mythos jedoch muß all dies in den Hintergrund treten, um für das grammatische Beispiel Platz zu schaffen. Der Mythos ist ei-ne »viel stärker durch ihre Absichten (ich bin ein grammatisches Beispiel) als durch ihren Buchstaben (ich werde Löwe genannt) bestimmte Aussage«; er ist »eine gestohlene und zurückgegebene Aussage«. Das Wesen des mythischen Begriffs ist die Inbesitz-nahme (appropriation). Der Mythos begeht immer »Diebstahl an einer Ausdrucksweise«, denn er spielt mit der Analogie von Bedeutung und Form.

Was passiert aber, wenn eine Bedeutung zu komplex oder zu präzise ist, als daß der Mythos besitzergreifend von außen ein-dringen kann? Dies trifft auf die Sprache der Mathematik und das wissenschaftliche Denken zu, das sich in Gleichungen und chemischen Formeln ausdrückt – eine Sprache, »die alle nur möglichen Vorsichtsmaßnahmen gegen Interpretation ergriffen hat«. Eine solche Sprache kann nicht verdreht werden, gleich-wohl besteht ihr Schicksal auch nicht darin, »rein« zu bleiben. In sie kann sich keine »parasitäre Bedeutung einschleichen«, wie es Barthes ausdrückt, und deshalb entführt der Mythos sie in toto. »Der Mythos kann alles erreichen […], so daß, je mehr die Objektsprache ihm […] Widerstand leistet, desto größer ihre schließliche Prostitution ist.« Der Mythos nimmt also die For-mel E = mc2 und »macht aus diesem nicht auswechselbaren Sinn das reine Bedeutende der Mathematizität«. Die mathematische Sprache selbst »ist eine abgeschlossene Sprache, die ihre Perfek-tion gerade aus dem Tod gewinnt, zu dem sie bereit war«. Der Mythos ist eine Sprache, die nicht sterben will: »Er entreißt dem Sinn, von dem er sich nährt, hinterlistig Dauer, er ruft in ihm einen künstlichen Aufschub hervor, in dem er sich behaglich einrichtet, er macht aus ihm einen sprechenden Kadaver.«

Bedeutung kann im Mythos demnach aus zwei verschiede-

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nen Perspektiven betrachtet werden: als letztgültiger Begriff des linguistischen Systems oder als erster Begriff des mythischen Sy-stems. Dieser Doppelsinn, dieser Perspektivwechsel, kann – wie in etlichen Essays dieses Bandes – den Ausschlag dafür geben, wie in Wissenschaft und Literatur Geschichten erzählt werden.

Popularisierung

Fachwissen kann einem Laien nur dann zugänglich gemacht werden, wenn man eine andere Sprache verwendet. Populari-sierung bedeutet, über exakte fachspezifische Sachverhalte (die Sache der »Zünfte«) in einer Sprache zu sprechen, die anderen Bereichen eigen ist, und diese Sprache ist in der Regel die der Sozial- und Geisteswissenschaften. Ein Chemiker kann, unab-hängig davon, welche Sprache er spricht, mittels schematischer Zeichnungen mit Chemikern auf der ganzen Welt kommunizie-ren; ein Mathematiker tut dies mittels Zahlen und Gleichungen, ein Musiker mittels Notenschrift. Wenn aber der Musiker mit dem Chemiker kommunizieren will, muß er die lingua fran-ca der gesprochenen beziehungsweise geschriebenen Sprache benutzen. Jeder interdisziplinäre Dialog muß die Sprache aus einem Kontext herauslösen und auf einen anderen übertragen. Das ist grundsätzlich ein Akt der Popularisierung, und Popula-risierung ist grundsätzlich eine auf Sprache basierende Aktivität. Popularisierung ist Mythos im Sinne von Roland Barthes.

Beim Transport gehen oft Dinge verloren, sie zerbrechen, wie geschickt und vorsichtig die Möbelpacker auch immer sein mö-gen. Wenn man ein pharmazeutisches Produkt außerhalb des Labors zur Anwendung bringt, wo es unter den kontrollierten Bedingungen des Experiments entwickelt wurde, setzt man

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es Variablen aus, die in seiner hermetisch abgeschlossenen ur-sprünglichen Welt nicht vorhanden waren (Luftverschmutzung, Wechselwirkung mit anderen Produkten, unsachgemäßer Ge-brauch). Ein in der Öffentlichkeit ausgestelltes beziehungsweise veröffentlichtes Kunstwerk ist Leuten wie Menard oder Borges ausgesetzt. Diese Art freier Begegnung kann gewinnbringend sein, aber ein solcher Transfer bedeutet eben auch einen Verlust an Kontrolle. Transport ist eine Form von Übersetzung, und auch wenn sie Neuerungen im besten Sinn des Wortes ermög-licht, birgt die Übersetzung immer auch Risiken: traduttore, traditore (»Übersetzer, Verräter«). Die Übersetzung öffnet die Büchse der Pandora – mit zahlreichen Problemen. Der Sinn kann entstellt werden, die exakte Bedeutung Risse bekommen. In diese Sprünge und Risse sickert die Interpretation ein, und dasselbe passiert auch beim Transfer der geschlossenen Spra-che mathematischer Gleichungen in die sehr viel vagere Welt des Wortes: Bedeutung wird angeeignet. Wenn sich in diesem Grenzbereich Räuber tummeln und Bedeutungsdiebe lauern, dann deshalb, weil dort Schätze zu erbeuten sind.

Aber nicht nur die »natürliche« fachwissenschaftliche Sprache ändert sich, wenn man ihr Vokabular auf andere Schauplätze überträgt, sondern auch das Publikum. Ein solcher Transport bedeutet nicht nur den Transfer und die »Übersetzung« der Per-len der Weisheit. Diese Perlen werden nun einem Publikum prä-sentiert, das nicht darin geschult ist, sie »korrekt« zu verwenden oder wertzuschätzen und an der richtigen Stelle zu applaudieren. Eine so heikle Kunst benötigt Spezialisten, und hier kommen die Geschichtenerzähler unter den Spezialisten ins Spiel, die die »anspruchsvolle Popularisierung« (»upscale popularization«)7 bewerkstelligen und die Wissenschaft so aufbereiten, daß sie zum Bestseller wird. Das sind die Wissenschaftsautoren: John D.