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DGC 47 Sprachphilosophie Universität Athen, WiSe 2011-12Winfried Lechner [email protected]
Handout #1, v. 1.0
SPRACHE UND PHILOSOPHIE
1. WAS IST SPRACHPHILOSOPHIE?
1.1. EINGRENZUNG DES GEBIETES
Die Triaden in (1) - (4) listen einige zentrale Fragen der modernen Sprachphilosophie (SP) auf:
(1) Philosophie
a. Was sind Bedeutungen?b. Beeinflusst Sprache das Denken?c. Gibt es eine Sprache der Gedanken? Sind Gedanken ähnlichen Gesetzen unterworfen
wie natürliche Sprache?
(2) Linguistik
a. Was ist eine natürliche Sprache?b. Wie sind die Gesetze der natürlichen Sprache formal definiert?c. Unterscheiden sich Sprachen in der Art, wie sie Bedeutungen ausdrücken?
(3) Logik, Metamathematik, mathematische Linguistik
a. Hat jeder formal (syntaktisch) korrekte Satz eine Bedeutung?b. Ist jede Bedeutung sprachlich ausdrückbar? c. Was ist der Unterschied zwischen natürlichen Sprachen und den formalen Sprachen
der Logik und Mathematik? Kann man in natürlichen Sprachen das gleicheausdrücken wie in formalen Sprachen?
(4) Kognitionswissenschaft/Biologie/Biolinguistik
a. Wie wird Sprache erworben?b. Was sind die biologischen Eigenschaften des Sprachsystems?c. Was ist das Verhältnis zwischen Sprache und anderen mentalen kognitiven Systemen
wie dem Sehen, Musik, dem Orientierungssinn, oder den Regeln desImmunsystems?
Wie aus (1) - (4) ersichtlich wird, sind einige Fragestellungen der SP weitgehend philosophisch
ausgerichtet ((1)), wohin andere sich als eher linguistisch orientiert erweisen ((2)). Daneben
befasst sich SP aber ebenso mit Themen, die im Bereich der mathematischen Logik liegen ((3))
sowie mit Problemen, welche die biologischen Grundlagen der menschlichen Sprache betreffen,
deren Entwicklung im menschlichen Organismus und die Beziehung zwischen Sprache und
anderen kognitiven Fähigkeiten ((4)). Zudem ist es nicht immer möglich, die einzelnen Fragen
einem einzigen Gebiet zuzuweisen: (1)a wird z.B. nicht nur in der Philosophie, sondern genauso
in der Linguistik diskutiert; mögliche Antworten auf (2)b hängt von linguistischen, aber ebenso
von mathematischen und von biologischen Faktoren ab; und (3)c wird sowohl in der
mathematischen Linguistik als auch in der theoretischen Linguistik behandelt. Der Begriff der
Sprachphilosophie besitzt demnach mehrere, nicht immer genau voneinander abgrenzbare
Bedeutungen.
Dies stellt aber keinen Grund zur Besorgnis dar. Auch in anderen Wissenschaften ist es nicht
immer erforderlich - oder oft gar nicht möglich - präzise anzugeben, welche Fragen in den
Aufgabenbereich dieses Gebietes fallen, und welche nicht. Insbesondere in den
Naturwissenschaften (Biologie, Chemie, Physik und Geologie) sind derartige Verhältnisse häufig
anzutreffen. Sowohl Chemie als auch Physik untersuchen z.B. die Zusammensetzung der
Materie. Durch die Fortschritte in diesen Gebieten in den letzten hundert Jahre kommt es jedoch
in vielen Bereichen, etwa bei der Forschung zu der Struktur von Molekülen, häufig zu
Überschneidungen. Die Untersuchung des Aufbaus von Molekülen führt etwa zu Fragen, die
sowohl für Chemie als auch Physik relevant sind. Eine klare Trennlinie zwischen Chemie und
Physik existiert demnach nicht. Ähnlich verhält es sich mit vielen Fragen der Sprachphilosophie,
die, wie eingangs bereits erwähnt, oft auch von anderen Gebieten, wie etwa Linguistik,
Biolinguistik, Logik, oder den Kognitionswissenschaften, untersucht werden. Da es weder
möglich noch notwendig ist, SP mit einer konkreten Gruppe von Problemen oder Erkenntnissen
zu identifizieren, wird im Folgenden daher auch nicht versucht werden, eine präzise Definition
von ‘Sprachphilosophie’ zu geben. Statt dessen werden im Verlauf dieses Kurses einige wichtige
Fragen, die sich in der SP als relevant erwiesen haben, skizziert werden.
Im verbleibenden Teil dieses ersten Abschnitt folgen einige Bemerkungen zu Wissenschaft
und zum Begriff zu Theorie, die dazu dienen, den allgemeinen Rahmen zu definieren, in dem SP
behandelt werden wird.
Fragen vs. Antworten: Generell behindern Überschneidungen zwischen unterschiedlichen
Gebieten, wie sie oben beschrieben wurden, den Fortschritt der Forschung nicht, sondern
erweisen sich im Gegenteil in vielen Fällen sogar von Vorteil. Der Grund dafür liegt in der Art
und Weise, wie Wissenschaft in der Praxis funktioniert, und wie man die moderne
wissenschaftliche Methode versteht. Bei Wissenschaft handelt es sich nämlich im Gegensatz zu
einer weit verbreiteten Meinung nicht um eine statische Ansammlung von Daten,
Generalisierungen über Daten, oder einen Katalog von Naturgesetzen, Theorien und Analysen,
sondern um ein lebendiges, dynamisches Gebilde aus Fragen und Strategien, diese Fragen zu
beantworten. Dabei sind die Fragen selbst von größerer Bedeutung als die Antworten. Das ist so,
da Fragen, wenn sie sinnvoll gestellt werden können, auf neue Konstellationen von Ideen und
Fakten, auf neue Lösungsstrategien, und somit auf neue, mögliche Erkenntnisse verweisen. Ein
Beispiel aus der Linguistik verdeutlicht dies:
Im Deutschen und im Griechischen gibt es die palatalen und velaren Frikative [ç] und [x].
(5) zeigt, dass die Wahl im Deutschen vom vorangehenden Vokal abhängt. (6) dokumentiert
weiters, dass im Griechischen der folgende, und nicht der vorangehende Vokal für diese
Entscheidung verantwortlich ist.
vorausgehender Laut folgender Laut
(5) a. la[x]en [a] [c]b. le[ç]zen [e] [c]c. to[x]ter []] [c]d. li[ç]ter [x] [c]
(6) a. i[x]οs [I] [o] b. o[ç]ι [o] [I]
Griechische und Deutsch weisen also auf der einen Seite ähnliche Eigenschaften auf - beide
Sprachen besitzen zwei Arten von Frikativen, die vom lokalen Kontext abgängig sind -
unterscheiden sich aber auch systematisch in der Richtung, in der die Eigenschaften eines Lautes
3 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12
die Eigenschaften eines anderen Lautes beeinflussen. Diese Beobachtung ist auf den ersten
Eindruck verwunderlich und stellt daher ein Rätsel dar. Aber sie führt auch zu neuen, potentiell
interessanten Fragen. Deutsch und Griechisch unterscheiden sich auch in weiteren
phonologischen Eigenschaften, z.B. dem Verhalten von velaren und palatalen Frikativen in nicht
vokalischen Kontexten, also nach bzw. vor Konsonanten und an Wortgrenzen. Im Deutschen
taucht in diesen Umgebungen der palatale Frikativ auf (Milch, Chemie), im Griechischen
dagegen die velare Version (σαχλή, αχ βαχ). Dies wirft offensichtlich die Fragen auf, ob diese
beiden sprachspezifischen Unterschiede miteinander in Verbindung stehen, und ob es möglich
ist, beide Beobachtungen auf eine gemeinsame, einheitliche Erklärung zurückführen. Weiters
ergeben sich aus diesen Überlegungen Themen für mögliche zukünftige Projekte. Gibt es z.B.
andere phonologische Prozesse im Griechischen und Deutschen, die ähnliche Unterschiede in
der Direktionalität aufweisen? Warum unterscheiden sich die beiden Sprachen genau auf diese
Art und Weise? Liegen die Unterschiede in der historischen, diachronen Entwicklung, oder in
synchronen Faktoren?
Offensichtlich stellt also das Vorhandensein einer noch nicht beantworteten Frage an und
für sich kein Problem dar, zumindest dann nicht, wenn diese auf interessante neue Fragen
hinweist. Dieses , das auf den ersten Blick kontraintuitive Prinzip gilt ganz allgemein in der
Wissenschaft. Und genau aus diesem Grund erweist sich interdisziplinäre Forschung oft
stimulierend. Die Untersuchung eines Phänomens in unterschiedlichen Wissenschaften kann
nämlich nicht nur neue, bisher unbekannte, Perspektiven eröffnen, sondern auch zu neuen
Fragestellungen führen.
Wissenschaftliche Theorien: Es wurde bereits erwähnt, dass Wissenschaft dynamisch
funktioniert, und keine statische Sammlung von Erkenntnissen darstellt. Dieser dynamische
Aspekt spiegelt sich auch in den Eigenschaften jener Einheit, die allen Forschungsprogrammen
zugrunde liegen: der Theorie.
Theorien sind Modelle eines Ausschnittes aus der Welt, die möglichst präzise darstellen
sollen, wie sich dieser Ausschnitt aus der Welt verhält. Man kann sich eine Theorie auch als eine
Ansammlung von Strategien vorstellen, die einem erlaubt, unterschiedliche Fragen über die Welt
zu beantworten. Etwas spezifischer setzt sich jede Theorie aus zumindest drei Teilen zusammen:
(i) einer Menge von Annahmen oder Hypothesen, (ii) einer Menge von Vorhersagen, die aus
diesen Annahmen abgeleitet werden können, und (iii) Tests, die eine Methode zur Verfügung
stellen, die Richtigkeit oder Korrektheit dieser Vorhersagen zu überprüfen. Die Hypothese, dass
Hitze durch Bewegung von Molekülen zustandekommt, macht z.B. die Vorhersage, dass im
Vakuum, also an einem Ort ohne Moleküle, keine Hitze existieren kann. Diese Vorhersage lässt
sich durch einen Test, etwa durch das Messen der Temperatur im Weltall, überprüfen.
Theorien besitzen gegenüber bloßen Beschreibungen den großen Vorteil, von konkreten
Fakten unabhängig zu sein. Die gleiche Theorie, die einem erlaubt, die Position eines Schiffes
zu bestimmen - die Triangulation in euklidischer Geometrie - kann z.B. auch zur Berechnung der
Höhe eines Berges verwendet werden, oder um den Abstand zwischen der Erde und einem
beliebigen Stern in der Milchstraße zu messen. Man kann sich eine Theorie daher auch als eine
Sammlung von abstrakten Instrumenten vorstellen, die zu unterschiedlichen Zwecken eingesetzt
werden können.
#1: Sprache und Philosophie 4
Historisch gesehen sind Theorien wichtiger für die Entwicklung eines Gebietes, als die
tatsächlichen Ergebnisse oder konkreten Resultate. Dies zeigt sich auch daran, dass es in vielen
Fällen relativ einfach ist, Ergebnisse zu erzielen, da es sich bei diesen um nichts anderes als um
die Anwendung des abstrakten Instrumentes, der Theorie handelt. Ein neues Instrument zu
gestalten, also das Design einer neuen Theorie, ist dagegen eine viel komplexere Aufgabe, die
nach Kunstfertigkeit und Intuition verlangt, sowie nach meist komplexen Überlegungen, oft
langwieriger Überprüfung der empirischen Konsequenzen der Theorie und insbesondere viel
Ausdauer.1 Wie sich im Verlauf der Ausführungen zeigen wird, steht auch für die moderne SP -
genauso wie für Formal- und Naturwissenschaften - nicht so sehr die Kategorisierung von Daten,
und Katalogisierung von Erkenntnissen im Vordergrund, sondern vielmehr die Suche nach
interessanten Konstellationen von Fragen und Antworten, sowie die Untersuchung der
Konsequenzen, die sich daraus ergeben.
Hinweis zum Skriptum: Zu Abschluss ein Hinweis zum allgemeinen Vorgehen: mit Ausnahme
der Ausführungen auf den nächsten Seiten werden in diesem Skriptum die Geschichte und die
Entwicklung des Gebietes der SP nur sehr am Rande behandelt werden. In den meisten Fällen
werden die Themen, Probleme und Theorien nicht in ihren historischen Kontext eingebettet,
sondern mit den heute verfügbaren Methoden und mit heutigem Vokabular vorgestellt werden.
Auf diese Art und Weise wird es leichter, den teilweise komplexen Ideen auf systematische Art
und Weise in ihrer Entwicklung zu folgen. Diese Strategie ist auch besser mit der grundlegenden
Strategie des Kurses vereinbar. Es sollen nämlich in diesem Seminar die Themen und Probleme
nicht einfach aufgelistet, sondern so behandelt werden, wie man dies im wissenschaftlichen
Alltag tut. Die Idee ist die gleiche wie bei einem Kochkurs: wenn man Kochen lernen will, muss
man Kochen, man darf sich nicht auf das Lesen von Kochbüchern oder das Studium von TV-
Kochsendungen beschränken. Analoges gilt für die SP (und alle Wissenschaften): wenn man
wissen will, was SP ist, dann sollte man am besten SP betreiben.
1.2. (ÄUSSERSTS) KURZE GESCHICHTE DER MODERNEN SP
Obwohl der Terminus Sprachphilosophie selbst erst um die Mitte des 19. Jh geprägt wurde,
wurde Sprache schon seit der Antike eine besondere Stellung in der westlichen Philosophie
zugesprochen. Anstatt einer systematischen Darstellung der historischen Entwicklungen werden
im Folgenden einige wenige zentrale Hypothesen der SP eingeführt werden, die charakteristisch
für Fragestellungen und typische Argumentationsstrategien des Gebietes sind.
Antike bis 20. Jh. Historisch betrachtet - genauer genommen bevor es im späten 18. Jh. zur
Ausformung der Linguistik zu einer eigenständigen Disziplin kam - befasste sich Philosophie mit
vielen Eigenschaften der Sprache, die nach heutigem Verständnis nicht in den Bereich der
Philosophie, sondern der Sprachwissenschaft fallen würden. So existieren unzählige
philosophische Studien über typisch semantische Themen wie Prädikation, Ambiguität, die
Bedeutung von Nominalphrasen (Plato, Aristoteles, Philosophen der Stoa), oder den Beitrag von
logischen Konstanten wie und, oder und nicht (in der mittelalterliche Scholastik; s.u.). Aber
1Es ist offensichtlich, dass diese einfache Erkenntnis von jenen, die verlangen, dass Wissenschaft immeranwendbar sein muss, nicht verstanden wird.
5 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12
Frege Wittgenstein Russell
Philosophen arbeiteten auch in anderen Gebieten der Grammatik, sie suchten nach einer
Definition von Sprache (Johann Gottfried Herder, 1744–1803 oder Wilhelm von Humboldt,
1767-1835), erörterten grundlegende Fragen wie jene der sprachlichen Universalien, oder die
Unterscheidung zwischen Kompetenz und Performanz (Humboldt) und spekulierten über den
Sprachursprung (Herder). Im Mittelalter führte des Weiteren die Notwendigkeit, eine große
Anzahl griechischer Texte ins Lateinische übersetzen zu müssen, zu einer intensiven Befassung
mit grammatischen Phänomenen in beiden Sprachen, aber auch grundsätzlichen Fragen nach der
Übersetzbarkeit. Alle diese Themen wurden bis heute immer wieder, und mit teils
unterschiedlicher Motivation, durch die SP aufgegriffen.
Eine ähnliche Situation war übrigens bis ins 17. Jahrhundert für das Verhältnis zwischen
Philosophie und den Naturwissenschaften (Physik, Chemie, Biologie, Geologie) charakteristisch.
Vor dem Entstehen der modernen Physik, das üblicherweise mit dem Erscheinen von Newtons
Philosophiae Naturalis Principia Mathematica im Jahre 1687 angesetzt wird, wurden alle Fragen
und Forschungen innerhalb der natural philosophy2, also innerhalb der Philosophie, behandelt.
Moderne SP und analytische Philosophie: Im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert ließen
Fortschritte in der historischen Sprachwissenschaft das eigenständige Gebiet der Linguistik im
heutigen Sinne des Wortes entstehen. Unabhängig davon kam es um die Jahrhundertwende vom
19. zum 20. Jahrhundert zu wichtigen
Entwicklungen in den Gebieten der Logik und
Mathematik, die es erstmals möglich machten,
präzise Fragen zu der Bedeutung, also den
semantischen Eigenschaften von Sprache zu
stellen. Diese Entwicklungen führten zur
Begründung eines neuen Gebietes innerhalb der
Philosophie, der sogenannten analytische
Philosophie. Wichtige Grundsteine für die analytische Philosophie setzten die Logiker und
Philosophen Gottlob Freges (1848-1925), Bertrand Russell (1872-1970) und Ludwig
Wittgenstein (1889-1951). Weitere entscheidende Impulse kamen auch von den Mitgliedern des
Wiener Kreis, einer Vereinigung von Philosophen um Moritz Schlick (1882-1936) und Rudolf
Carnap (1891-1970), die die Richtung des logischen Positivismus vertraten.
Ganz allgemein setzt sich die analytische Philosophie zum Ziel, Fragen und Probleme
möglichst präzise darzustellen, um diese dann mit möglichst exakten Methoden einer Lösung
zuzuführen. Präzision wird dabei häufig durch Formalisierung des Problems in einer formalen
Sprache wie Logik oder Mathematik erreicht.3 Formalisierung bietet eine Reihe von Vorteilen:
(i) es wird - zumindest im Idealfall - möglich, die eigentliche Natur des Problems deutlicher
zutage treten zu lassen; (ii) eine präzise formalisierte Theorie kann besser auf empirische
Korrektheit überprüft werden; (iii) durch Formalisierung kann sichergestellt werden, dass eine
Theorie konsistent ist, d.h. dass die Theorie keine Widersprüche enthält; (iv) Formalisierung hilft,
2Natural philosphy ist nicht zu verwechseln mit der Naturphilosophie des Deutschen Idealismus,vertreten durch Fichte, Hegel, Kant, Schelling und andere.3Wie solche formalen Sprachen konkret aussehen wird später noch eingehend behandelt werden.
#1: Sprache und Philosophie 6
versteckte Annahmen sichtbar zu machen; (v) schließlich ist es in einer exakt formalisierten
Theorie oft einfacher, die einzelnen Schritte, die von der Fragestellung zu möglichen Erklärungen
führen, transparent darzustellen und somit nachvollziehbar zu machen.
Für die SP waren diese Entwicklungen insofern relevant, als die Domäne der SP danach fast
vollständig im Bereich der analytischen Philosophie lag. Das führte dazu, dass ab der Wende
vom 19. zum 20. Jahrhundert4 die wichtigsten Fragen der SP sehr oft mit den formalen Methoden
der Logik untersucht worden. Dadurch wurde es in einem größeren Ausmaß möglich,
sprachphilosophische Theorien präzise zu formulieren, sowie deren empirische und formale
Korrektheit zu überprüfen.
Linguistic turn: Das Entstehen der analytischen Philosophie ging mit einem weiteren
Entwicklung einher: der steigenden Bedeutung der Untersuchung von natürlicher Sprache in der
Philosophie. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde nämlich offensichtlich, dass viele klassische
Probleme der Philosophie mit der Art und Weise zusammenhängen, wie diese Probleme
sprachlich präsentiert und formuliert werden. So hoffte man z.B., das bereits seit der Antike
bekannte Lügnerparadox auf Eigenschaften von Sprache zurückführen zu lassen.5
Lügnerparadox: Der Satz in (7) illustriert das Lügnerparadoxon.
(7) Ich lüge jetzt gerade.
Das Paradox besteht darin, dass Satz (7) weder wahr sein kann, noch falsch. Angenommen(7) ist wahr. Dann ist es falsch, dass der Sprecher lügt. Dies widerspricht aber derBehauptung von (7). (7) kann also nicht wahr sein. Angenommen (7) ist falsch. Dann istes falsch, dass der Sprecher lügt, er/sie spricht also die Wahrheit. Doch dies widersprichtwieder der Aussage von (7). Man gelangt also zum paradoxed Resultat, dass (7) wederwahr noch falsch sein kann.
Die Hinwendung der Philosophie zur Analyse von natürlicher Sprache wird auch mit dem Begriff
des linguistic turn assoziiert.6
Im Rahmen des linguistic turn kam es auch zu einer Befassung mit den Konsequenzen von
sprachlichem Handeln. Wenn ein Sprecher (8) äußert, macht er/sie nicht nur eine Aussage über
die Zukunft, sondern gibt auch ein Versprechen ab:
(8) Ich werde nie wieder rauchen
Der Frage, wie es zu diesem und ähnlichen Effekten kommt, wurde erstmals von John Austin
(1911-1960) und John Searle (*1932) nachgegangen. Austin und Searle zählen zu den
wichtigsten Repräsentanten der sogenannten Philosophie der Alltagssprache (ordinary language
philosophy), deren Untersuchungen insbesondere in die Ausbildung der Sprechakttheorie sowie
der linguistischen Disziplin der Pragmatik Eingang fanden.
4Üblicherweise wird der Beginn der modernen SP mit Frege (1884) angesetzt. (Frege, Gottlob. 1884. DieGrundlagen der Arithmetik.)5Erste Versionen des Paradoxes wurden von Ευβουλίδης (4. Jh. v. Chr.) und von Επιµενίδης (6. Jh. v.Chr.) formuliert. Die auf SP gesetzte Hoffnung war übrigens verfrüht, das Paradox ist bis heute ungelöst.6Linguistic turn ist ein anderer Ausdruck, der nur sehr vage definiert ist, und für unterschiedliche Autorenunterschiedliche Bedeutungen trägt. Einem weiteren Publikum wurde der Begriff Ende der 1960er Jahredurch den Philosophen Richard Rorty gemacht.
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Fragen und Themen der modernen SP: Die weitere Diskussion vorwegnehmend, wird es an
diesem Punkt möglich, die Aufgaben der modernen SP inhaltlich etwas näher zu begrenzen. Im
weitesten Sinne versteht man heute unter SP jenen Teilbereich der analytischen Philosophie, in
dessen Mittelpunkt das Interesse an der Beziehung zwischen Sprache, Realität und dem Denken
steht. Nun wird die Verbindung von Sprache und Welt über Bedeutungen vermittelt. Daraus
ergibt sich, dass zumindest die folgenden Fragen in der Geschichte der SP eine zentrale Position
einnehmen:
" Was sind Bedeutungen? Wie werden sie repräsentiert? Handelt es sich bei Bedeutungen
um abstrakte Entitäten7 wie Ideen, Konzepte oder Relationen, oder um abstrakte Dinge
in der Welt?
" Wo befinden sich Bedeutungen? In der Welt oder in unseren Köpfen?
" Erwerb von Bedeutungen: Wie gelangen Bedeutungen - und sprachliches Wissen
allgemein - in die Köpfe der Menschen? Wie wird Sprache erworben?
" Sprache als kognitives System: Was ist die Beziehung zwischen dem Sprachsystem und
dem nicht-sprachlichen Denken? Gibt es mentale Prozesse, die ohne Sprache
auskommen? Existiert eine Sprache des Denkens? Was ist die Beziehung zwischen
Sprache und anderen mentalen Systemen (Musik, Orientierung, Immunsystem,...)?
" Evolution: Wie, wann und warum haben sich Sprache und komplexes Denken in der
Entwicklungsgeschichte des Menschen entwickelt?
" Sprache - Wirklichkeit: Was ist die Beziehung zwischen Sprache und Realität? Sind beide
unabhängig von einander? Hat die Realität einen Einfluss auf die Art, wie das
Sprachsystem aufgebaut ist, oder beeinflusst die Sprache unsere Sicht der Welt?
Konstruiert Sprache die Wirklichkeit, wie manche behaupten?
Durch das Aufkommen des eigenständigen Gebietes der Kognitionswissenschaften, sowie
der Computerwissenschaften und der natürlichsprachlichen Semantik in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts kam es zu weiteren leichten Verschiebungen in der zentralen Themenstellung,
die grundlegenden Interessen und Fragen der SP blieben jedoch die gleichen.
Aus dem oben Gesagten lassen sich fünf größere Themen destillieren, in deren Bereich die
zentralen Fragen der modernen SP fallen:
(9) a. Darstellung von Bedeutung (Logik, Semantik, Pragmatik)
b. Repräsentation von Wissen (Epistemologie, Kognitionswissenschaften, Biologie),
insbesondere von sprachlichem Wissen (Kompetenz)
c. Fragen nach den ontologischen Grundlagen der Begriffe
d. Sprachliches Handeln (Pragmatik)
e. Methodologie der Linguistik (Wie argumentiert man in der Linguistik? Wie werden
sprachliche Daten interpretiert? Welche formale Eigenschaften besitzen die Theorie?)
Dieses Skriptum konzentriert sich auf Fragen der formalen Sprachphilosophie; Themen der
Pragmatik und der Methodologie werden nicht weiter behandelt werden.
7Unter einer Entität versteht man in der Philosophie etwas, das existiert.
#1: Sprache und Philosophie 8
Bevor wir uns einigen zentralen Themen der Sprachphilosophie zuwenden, soll eine
Übersicht über einige der philosophischen Grundbegriffe gegeben werden, die im weiteren
Verlauf dieses Kurses immer wieder auftauchen werden.
2. MINIMALE PHILOSOPHIE
Der vorliegende Abschnitt stellt in kürzester Form einige grundlegende Strömungen der
(westlichen) Philosophie vor. Weitere Ausführungen zu philosophischem Hintergrund folgen an
Stellen, an denen die Diskussion dies nötig macht.
2.1. ZWEI PROMINENTE TAXONOMIEN
Eine einfache Strategie, einen ersten Eindruck vom Gewerbe der Philosophie zu erlangen, wird
durch Taxonomien zur Verfügung gestellt. Taxonomien sind Versuche, eine systematische
Einteilung von Objekten oder Phänomenen in Klassen zu finden.
Taxonomie I: Einer bekannten Einteilung zufolge lässt sich
Philosophie als ein Haus mit drei Regionen darstellen
(http://de.wikipedia.org/wiki/Philosophie). Für den
vorliegenden Kurs sind insbesondere die folgenden
drei Bereiche der Philosophie von Relevanz:
Die Logik befasst sich mit der Darstellung von
Beziehungen zwischen Bedeutungen wie z.B.
Folgerung (s. u. (23)).
Die Ontologie/Metaphysik fragt danach, welche
Dinge (Entitäten) in der Welt existieren, sowie nach
deren Eigenschaften. Typische Fragen sind: gibt es
physikalische und abstrakte Objekte, Gedanken, Ideen,
Geister, Gott? Was ist Realität?
Die Epistemologie (Erkenntnistheorie) untersucht,
wie der Mensch Wissen über die Welt erwirbt, auf
welche Art und Weise er die Dinge erkennt. Was ist
Wissen?
Taxonomie II: Immanuel Kant formulierte in der Kritik der Reinen Vernunft (1781/1787) die
seiner Meinung nach vier wichtigsten Fragen der Philosophie wie folgt:
(10) a. Was kann ich wissen? (Epistemologie/Erkenntnistheorie, Logik) b. Was soll ich tun?
c. Was darf ich hoffen? d. Was ist der Mensch? (Kognitions- und Kulturwissenschaft)
Sprachphilosophische Untersuchungen konzentrieren sich vorwiegend auf die Suche nach
Antworten zu Fragen aus der ersten und der letzten Gruppe.
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2.2. EINIGE HAUPTSTRÖMUNGEN DER PHILOSOPHIE
Philosophische Theorien, die untereinander Ähnlichkeiten aufweisen, bilden philosophische
Strömungen oder Richtungen. Im Weiteren Verlauf des Skriptums werden wir einige dieser
Strömungen näher kennen lernen, einige wenige davon werden hier kurz synoptisch vorgestellt.
Die wichtigsten Strömungen unterscheiden sich in der Art und Weise, wie sie die Welt der
konkreten, materiellen Dinge mit der abstrakten Welt, also der Gesamtheit aller Eigenschaften,
Begriffe und Ideen, in Verbindung setzen. Dabei spielen insbesondere zwei Repräsentanten aus
diesen beiden Welten eine entscheidende Rolle: der menschliche Körper und der menschliche
Geist. Des weiteren lassen sich zwei Arten von Fragen unterscheiden, die in der
Philosophiegeschichte in unterschiedlicher Form immer wieder auftauchen:
" Was ist die Beziehung zwischen Geist und Körper?
" Wie kommt die Beziehung zwischen Geist und Körper zustande?
2.2.1. Was ist die Beziehung zwischen Geist und Körper?
Organismen, die ein Bewusstsein besitzen, bestehen aus zwei grundsätzlich unterschiedlichen
Teilen: dem Körper und dem Geist. Körper und Geist kommunizieren zwar miteinander, sie
können aber nicht direkt miteinander gleichgesetzt werden. Wenn
jemand das links stehende Bild von Lucio Fontana betrachtet, dann sind
zwei unterschiedliche Phänomene beobachtbar. Auf der einen Seite
finden im Auge und im Gehirn biochemische Prozesse statt, wie z.B. die
Aktivierung von Neuronen, die gemessen und experimentell untersucht
werden können. Auf der anderen Seite entsteht aber auch ein
Sinneseindruck des Bildes, eine subjektive mentale Repräsentation.
Ähnliches gilt auch für andere Sinneseindrücke (Gehör, Geruch,
Geschmack, Tastsinn). In all diesen Fällen besteht das Gesamtphänomen aus einer physikalisch
messbaren und einer mentalen, nicht direkt quantifizierbaren Komponente. Ein weiteres Beispiel
für die Unterscheidung zwischen Körper und Geist bildet die Trennung zwischen physischer und
psychischer Gesundheit.
Auch in die Analyse von Phänomenen findet diese Dichotomie Eingang. Wird ein
Neuropsychologe gefragt, was beim Betrachten des Bildes von Fontana passiert, dann wird
diese/r eine völlig andere Antwort geben, als etwa ein Kunstkritiker. Auf Grund dieser Tatsache
finden wir oft zwei gänzlich unterschiedliche Erklärungen für ein und das selbe Phänomen. So
gibt es z.B. divergierende Antworten zur Frage, was Aggression ist (kulturell bedingtes vs.
physiologisch gesteuertes Verhalten), wie gewisse psychische Erkrankungen zu behandeln sind
(Psychoanalyse vs. Pharmaka), ob der Mensch einen freien Willen besitzt (ja vs. nein), oder was
die grundlegenden Eigenschaften von Sprache sind (dient der Kommunikation vs. formales
biologisches System). Diesen Beobachtungen liegt auch die Unterscheidung zwischen
Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften zugrunde.
Seit 350 Jahren wird in der Philosophie intensiv die Frage diskutiert, wie die beiden Aspekte
von Körper und Geist miteinander in Beziehung stehen. Die wichtigsten Positionen sind
Dualismus und Monismus, die jeweils wieder in unterschiedlichen Formen vertreten wurden.
Lucio Fontana. 1959.
Concept Spatiale
#1: Sprache und Philosophie 10
(Ontologischer) Dualismus: Dualistische Theorien nehmen an, dass die mentalen Prozesse in
unserem Hirn von grundlegend anderer Natur sind als die Welt. Zu den wichtige Vertreter zählen
Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) und Rene Descartes (1596-1650). Nach Descartes
interagieren Körper und Geist an einem ganz spezifischen Ort, der Zirbeldrüse (επίφυση). Der
Dualismus steht im Gegensatz zu Monismus und Pluralismus.
Monismus: Geist und Körper sind Ausformungen einer einzigen Entität. Steht im Gegensatz zum
Dualismus und Pluralismus. Es existieren unterschiedliche Arten des Monismus, darunter die
zwei wichtigesten Vertreter:
" Physikalismus oder Materialismus: Die Realität besteht aus Materie, d.h. aus
physikalischen Entitäten, und aus nichts anderem. (Für weitere Details s.u.)
" Idealismus. Allen Dingen liegen mentale Vorgänge zugrunde. Nur der Geist ist real (s.u.).
Monismus steht im Gegensatz zum Dualismus und Pluralismus.
Pluralismus: Vertritt die Ansicht, dass mehr als zwei Arten von Entitäten gibt. Neben Geist und
Körper werden, je nach Theorie, Bewusstsein, Zahlen oder Bedeutungen als weitere abstrakte
Entitäten postuliert. Pluralismus steht im Gegensatz zum Dualismus und Monismus.
2.2.2. Wie entsteht die Beziehung zwischen Geist und Körper?
Auf die Frage, wie die Beziehung zwischen Geist und Körper zustandekommt, also wie Wissen
und abstrakte Ideen in das menschliche Gehirn gelangt, wurden in der Geschichte der Philosophie
im Grunde zwei (Gruppen von) Antworten gegeben.
Rationalismus - Wissen ist angeboren: Rationalisten vertreten die Ansicht, dass Erkenntnis,
Wissen und die Fähigkeit zu Denken auf angeborenen Eigenschaften des Geistes basieren, und
nicht nur auf Erfahrungen (s. Empirismus). Descartes, Leibniz, Baruch Spinoza und (teils)
Immanuel Kant waren prägende Repräsentanten im 17-18 Jh. Heute prominent vertreten durch
Noam Chomsky (MIT) und Jerry Fodor (Rutgers Universität, NY). Steht im Gegensatz zum
Empirismus.
Empirismus - Wissen ist erlernt: Steht im Gegensatz zum Rationalismus. Dem Empirismus
zufolge basiert alle Erkenntnis auf Erfahrungen, die ein Individuum in der Welt macht. Radikale
Ausformungen des Empirismus nehmen an, dass Wissen ausschließlich durch Erfahrung
erworben werden kann. Historisch wurde der Empirismus im 17.Jh durch die schottisch-
englischen Philosophen Francis Bacon, George Berkley, Thomas Hobbes, David Hume und John
Locke vertreten. Wird im 20. Jh. insbesondere mit dem Wiener Kreis (Rudolf Carnap, Moritz
Schlick,..), den psychologischen Behavioristen (John Watson, Burrhus F. Skinner) und dem
Philosophen Willard v. O. Quine assoziiert. Zu den wichtigsten neueren empiristische Theorien
zählt der Konnektionismus (David Rumelheart, James McClelland, Patricia Churchland, Paul
Smolensky) der zu einem späteren Zeitpunkt noch eingehender behandelt werden wird.
Zwei Warnungen & Online Info: Erstens gibt es eine große Anzahl an philosophischen
Richtungen, die miteinander in einer sehr komplexen Relation stehen. Man kann daher nur in den
seltensten Fällen sagen, dass Hypothese X oder Annahme Y mit einer einzigen Richtung
kompatibel ist. Zweitens werden die Termini von unterschiedlichen Schulen und zu
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unterschiedlichen Epochen teilweise unterschiedlich interpretiert. Begriffe wie Idealismus sind
z.B. ambig. Idealismus bei Hegel bedeutet etwas anderes als der Idealismus Platos. Bei
Verwirrung empfiehlt es sich am besten, die Begriffe nachzuschlagen. Die beste Quellen im Netz
stellt die Stanford Encyclopedia of Philosophie (http://plato.stanford.edu/contents.html) zur
Verfügung. Dort findet man Artikel zur Sprachphilosophie genauso wie zur Philosophie der
Linguistik (s. Eintrag zu Philosophy of Linguistics). Gute Online-Information auf Deutsch bietet
im Allgemeinen auch Wikipedia (http://de.wikipedia.org). Ein recht ausführliches Online-
Lexikon der Philosophen findet sich hier: http://www.philosophenlexikon.de/index.htm.
2.3. SPRACHLICHES WISSEN UND SPRACHPHILOSOPHIE
Wie hängen nun diese unterschiedlichen Hypothesen bezüglich der Beziehung von Geist und
Körper mit Sprache und Sprachphilosophie zusammen? Welchen Unterschied macht es, ob man
das Sprachsystem als Dualist, Rationalist oder als Empirist verstehen will? Im Folgenden soll ein
konkretes Beispiel eine kurze Vorschau auf diesen Zusammenhang ermöglichen.
Satz (11) kann so wie in (11)a oder so wie in (11)b interpretiert werden. Dies zeigt, dass das
Modalverb können sowohl das höhere Prädikat (gewinnen; (11)a) oder das eingebettete Prädikat
(tanzen; (11)b) modifizieren kann (die Beispiele und Diskussion folgen Berwick et. al 2011)8.
(11) Hunde die tanzen können gewinnena. Hunde, die tanzen, können gewinnenb. Hunde, die tanzen können, gewinnen
In (12) wird aus Satz (11) eine Entscheidungsfrage gebildet. Interessanterweise kann diese Frage
nun jedoch nur so wie in (12)a beantwortet werden; (12)b ist keine passende Antwort auf (12):
(12) Können Hunde die tanzen, gewinnen?a. Ja, das stimmt. Hunde, die tanzen, können gewinnenb. *Ja, das stimmt. Hunde, die tanzen können, gewinnen
Daraus kann gefolgert werden, dass können nur aus dem Hauptsatz verschoben werden kann.
(13)a ist eine mögliche Struktur des Satzes, (13)b jedoch nicht:
(13) a. Können Hunde [CP die tanzen] gewinnen __?b. *Können Hunde [CP die tanzen __] gewinnen?
Diese Beschränkung gilt nun nicht nur in Sätzen wie (12) und in Sprachen wie dem Deutschen,
sondern ganz generell. Werden in einer Sprache Entscheidungsfragen durch Bewegung des Verbs
an die erste Stelle gebildet, so kann immer nur das strukturell höchste Verb verschoben werden.
Man nennt dieses Generalisierung auch die Kopfbewegungsbeschränkung (head movement
constraint, kurz HMC).
Ein qualitativ ähnliche Beschränkung kann in (14) beobachtet werden. Bei den Sätzen in
(14) handelt es sich um Konjunktionen, in denen zwei Sätze mit einander durch die Konjunktion
und miteinander verbunden werden. (14)b belegt, dass das Objekt im zweiten Konjunkt durch
8Robert C. Berwick, Paul Pietroski, Beracah Yankama & Noam Chomsky. 2011. Poverty of the StimulusRevisited. Cognitive Science 35.7:1207-1242.
#1: Sprache und Philosophie 12
das Pronomen es ersetzt werden kann. Das Pronomen bezieht sich dabei auf das Huhn, was durch
Verwendung des selben Subskripts (die Zahl ‘2’) an der NP das Huhn und am Pronomen
angezeigt wird. (14)c demonstriert, dass es möglich ist, beide Objekte gleichzeitig zu bewegen.
Durch den Kontrast zwischen (14)c und (14)d wird schließlich offensichtlich, dass in diesem Fall
das Objekt nicht durch das Pronomen es ersetzt werden darf:
(14) a. Maria hat das Huhn gekauft und Peter hat das Huhn gekocht. b. Maria hat das Huhn2 gekauft und Peter hat es2 gekocht. c. Was hat Maria __ gekauft und hat Peter __ gekocht.d. *Was hat Maria __ gekauft und hat Peter es gekocht.
Man beachte, dass (14)d semantisch wohlgeformt ist, der Satz besitzt also eine klar definierbare
Interpretation, die so wie in (15) angegeben werden kann:
(15) Sag mir den Namen des Objekts x7, sodass Maria es7 gekauft hat, und Peter es7 gekocht hat.
Der Grund für die Ungrammatikalität von (14)d liegt also nicht daran, dass (14)d keine
Bedeutung zugewiesen werden könnte. Erwähnenswert ist weiters, dass in dieser Paraphrase
zweimal das Pronomen es auftaucht. Dies belegt, dass die Bedeutung des Pronomens es in (14)d
im Prinzip von der Bedeutung des Fragewort was abhängen kann. Aus diesen Überlegungen
folgt, dass es also ein syntaktisches Prinzip geben muss, das die Bildung von (14)d verbietet. Da
dieses Prinzip in koordinierten Sätzen gilt, nennt man es auch den Coordinate Structure
Constraint (CSC). (Wie genau CSC formuliert wird, ist hier nicht relevant).
Eine wichtige Frage, die sich an diese Beobachtung anschließt, ist, wie Kinder HMC und
CSC erlernen. Offensichtlich lernen Kinder diese Prinzipien nicht im selben Sinne, wie sie
Schreiben lernen, oder das Spielen eines Musikinstruments - nur die wenigesten Eltern sind sich
der Existenz von HMC und CSC bewußt. Dennoch machen Kinder systematisch keine Fehler,
die auf eine Verletzung von HMC oder CSC hinweisen würden. Kein Kind produziert z.B. Sätze
wie (14)d. Doch wie erwerben Kinder dieses Wissen?
Da HMC und CSC ein Teil der Grammatik sind und die mentale Grammatik ein Teil des
(unbewussten) Wissens, hängt diese Frage mit der generellen Frage nach dem Erwerb von
Wissen zusammen. Unter anderem wurden zu diesen Fragen folgende Antworten gegeben. Dabei
unterstützt jede dieser Antworten eine unterschiedliche philosophische Position:
(16) a. HMC und CSC werden - genauso wie weite Bereiche der Grammatik - erlernt. DieseHypothese steht mit den Annahmen des Empirismus im Einklang.
b. HMC und CSC sind angeboren. Dies ist eine typische Annahme des Rationalismus.c. HMC und CSC existieren als unabhängige, abstrakte Beschränkungen; sie existieren
also unabhängig von den konkreten Sätzen, in denen sie auftreten. DieseSichtweisunterstützt Dualismus und Pluralismus.
d. HMC und CSC existieren nur in den sprachlichen Äußerungen, den konkretenSätzen. Diese Hypothese ist am bestem mit dem Physikalismus kompatibel.
Im Verlauf des Kurses wird noch im Detail gezeigt werden, wie man aus linguistischen
Beobachtungen Argumente für unterschiedliche philosophische Positionen gewinnen kann. Dabei
werden auch die einzelnen philosophischen Begriffe klarer und präziser formuliert werden.
13 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12
Schließlich wird erklärt werden, welche Bedeutung diese Ergebnisse für so zentrale Probleme
der Philosophie, wie die Suche nach der Natur des Denken, haben.
(16) listet einige Möglichkeiten auf, wie sprachliches Wissen erworben wird. Wissen stellt
nun eine abstrakte Entität dar. Doch bisher wurde noch nicht darauf eingegangen, worum es sich
bei abstrakten Objekten überhaupt handelt, welche Eigenschaften sie besitzen, wo sich diese
befinden, oder wie Abstraktheit zustande kommt - wenn es sie überhaupt gibt. Der nächste
Abschnitt wendet sich daher dem Konzept der Abstraktheit in der (Geschichte der) Philosophie
zu, und führt einige zentrale Positionen zu diesem Thema ein.
3. PLATO: IDEEN, SPRACHE UND WIRKLICHKEIT
Das Erkennen von Regelmäßigkeit in der Natur stellt eine notwendige Strategien zum Überleben
dar. Wer gelernt hat, dass das Aussehen von gewissen Pflanzen und Tieren systematisch mit
deren Eigenschaften (essbar, giftig, verwendbar als Kleidung, ...) zusammenhängt, besitzt
entscheidende Vorteile bei der Nahrungsbeschaffung, bei der Vermeidung von Gefahr und in
anderen Bereichen. Eine Spezies, die über das Konzept TIGER verfügt, braucht nicht jeden
einzelnen Tiger als solchen zu kennen, um zu wissen, dass Tiger eine Gefahr darstellen. Analog
dazu bietet die Kenntnis des Konzepts APFELBAUM wichtige Vorteile bei der Suche nach
Nahrung. Ideen erlauben es also, von einzelnen Individuen auf eine allgemeine Regelmäßigkeit
zuschließen. Offensichtlich verfügt der Mensch über eine Vielzahl solcher Konzepte als Teil
seiner kognitiven Grundausstattung.
3.1. PLATOS IDEENWELT
Doch wie identifiziert man nun ein konkretes Tier als Tiger, eine spezifische Schlange als Kobra
oder einen Baum als Apfelbaum? Eine mögliche Antwort lautet: indem man das Konzept (17)a
kennt, und dann den Schluss in (17)b anwendet:
(17) a. Das Konzept TIGER (z.B. die Summe aller Eigenschaften, die für Tigercharakteristisch sind - vier Beine, größer als ein Mensch, gelb, schwarze Streifen,...).
b. Das konkrete Individuum9, das vor mir steht, weist (17)a auf.
Die in (17)a gespeicherte konzeptuelle Information kann auch als eine Idee im Sinne Platons
(3./4. Jh. v. Chr.) verstanden werden.10 Plato verwendete etwas unterschiedliche Argumente,
sowie ein anderes Vokabular, aber der Grundgedanke des Platonismus ist der selbe. Er sieht so
aus. Die Welt besteht nicht nur aus physikalischen Entitäten, sondern enthält eine Vielzahl von
9In der Philosophie und in der Logik wird jedes Objekt, egal ob es belebt ist oder nicht, als Individuumbezeichnet. Diese Individuen können konkret sein (Albert Einstein, die Erde) oder abstrakt (Pegasus, diegrößte Zahl, das 20. Jahrhundert). Das wichtigste Kriterium, das festlegt ob etwas ein Individuum ist odernicht, ist, dass sie voneinander getrennte Einheiten darstellen. Diese Eigenschaft wird Individuationgenannt. Albert Einstein oder ein konkreter Tiger sind z.B. individuierbar; auf einen Tigerzahnzusammen mit dem linken Fuß Einsteins trifft dies nicht zu.10Idee wird hier als Fachausdruck verwendet, und sollte nicht mit Idee in der Bedeutung ‘Einfall’ oder‘Gedanke’ (Ich habe eine Idee!) verwechselt werden.
#1: Sprache und Philosophie 14
abstrakten Ideen, also raum- und zeitlose Entitäten. Diese unterscheiden sich von konkreten
Individuen wie einem Stein, einem Tiger oder der Stadt Athen nur dadurch, dass sie nicht durch
unsere Sinne direkt wahrnehmbar sind. Ideen sind demnach realer Bestandteil unseres
Universums, und umgeben uns genauso, wie die Dinge des sichtbaren Universum.
Weiters korrespondieren Ideen mit diesen stofflichen Objekten auf systematische Art und
Weise, da sie zwischen uns und der Welt vermitteln. Diese Verbindung stellt laut Plato sogar die
einzige Möglichkeit dar, um die eigentliche Realität zu erkennen, da das Aussehen der Dinge
irreführend sein kann. Will man das Wesen der Dinge erkennen, muss man daher die Ideen
analysieren. Daraus folgt, dass alle Erkenntnis von der Existenz von Ideen abhängig ist. Gibt es
keine Ideen, so kann man die Realität auch nicht erkennen. Diese epistemologische Dimension
des Platonismus wurde im Höhlengleichnis ausgedrückt.
(18) Kurzfassung Höhlengleichnis: Die Menschheit ist in einer Höhle gefangen, unser Blickvermag nur die Schatten der Dinge wahrzunehmen. Die wahre Realität ist jedoch vorunseren Augen verborgen, sie ist in den Ideen versteckt. Und diese Ideen offenbaren sichausschließlich durch philosophische Analyse.
Ideen können also als abstrakte Repräsentationen von Objekten in der Welt aufgefasst werden,
die uns in die Lage versetzen, die Realität zu erkennen. In unserem Vokabular entsprechen Ideen
den Konzepten.11
3.2. EINORDNUNG DES PLATONISMUS
Zu diesem Zeitpunkt ist es sinnvoll, kurz auf die Einordnung des Platonismus in Bezug auf
andere Strömungen der Philosophie, sowie auf mögliche Alternativen einzugehen. Alle drei
unten skizzierten Theorien tragen den Präfix ‘ontologisch’, da es sich um Theorien der
Wirklichkeit handelt und da somit Hypothesen über die Realität formuliert werden. Im Anschluss
daran wird dann der sprachphilosophisch wichtigste Teil von Platos Weltbild vorgestellt werden -
die Diskussion um die Richtigkeit von Wörtern.
(Ontologischer) Realismus: Platonismus stellt eine Form des ontologischen Realismus dar, der
davon ausgeht, dass die Realität von den mentalen Vorgängen in unserem Kopf vollständig
getrennt ist. Welt und Geist sind unabhängig von einander. Die Welt existiert auch dann, wenn
sie nicht von uns wahrgenommen werden kann. Man stelle sich vor, dass es die Menschheit nicht
geben würde. Für ontologische Realisten ändert dies nichts an der Tatsache, dass die Welt
existiert. Eine der möglichen Gegenposition ist der Solipsismus, demzufolge die Wirklichkeit
ausschließlich in unseren Vorstellungen zu finden ist.
(Ontologischer) Idealismus/Konzeptualismus: Die Wirklichkeit besteht ausschließlich aus Ideen
oder Konzepten. Wird nicht mehr ernsthaft von jemandem vertreten.
11Genauer gesagt sind die beiden Begriffe nicht vollkommen synonym, aber für unsere Zwecke sind dieUnterschiede irrelevant.
15 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12
Davidson Lewis
(Ontologischer) Materialismus/Physikalismus: Alles, was existiert, besteht aus Materie, und
unsere Wahrnehmung kann sich daher nur auf physikalisch existente Objekte beziehen. Dieses
Weltbild wurde in der Moderne insbesondere durch Donald
Davidson (1917-2003) und David Lewis (1941-2001)
geprägt, die beide zu den wichtigsten Sprachphilosophen der
Gegenwart zählten. Im Physikalismus ist, was immer wir an
physikalischer Realität beobachten, auf genau eine
physikalische Konstellation zurückzuführen. Daher erscheint
uns die Welt deterministisch, und die Realität wird erklärbar.
Genau aus diesem Grund kann z.B. ein Bild, etwa jenes von
Davidson, nur dann in ein anderes Bild, etwa jenes von Lewis, übergehen, wenn die
physikalischen Eigenschaften des Bildes selbst sich ändern. Umgekehrt gibt es jedoch viele
Methoden, Lewis oder Davidson zu repräsentieren. Ein Foto, ein Druck, eine Skizze oder eine
abstrakte Darstellung vermögen das gleiche. Der Welt steht also mehr als eine Methode zur
Verfügung steht, ein und das selbe Objekt abzubilden, aber jede Konstellation von Daten und
Sinneseindrücken entspricht genau einem physikalischen Objekt (oder Vorgang).
Der Physikalismus ist insbesondere deswegen wichtig, da er ein geeignetes Weltbild für die
wissenschaftliche Methode bereitstellt, auf der seit Galileo Galilei (1564-1642) alle Erkenntnis
über die physikalische Umwelt basiert. Eine weitere Konsequenz des Physikalismus ist, dass
etwas über das offensichtliche Vorhandensein von abstrakten, nicht-stofflichen, nicht-
physikalische Dingen - wie etwa das menschliche Bewusstsein - gesagt werden muss. Der
Mensch nimmt z.B. bewusst köperlichen Schmerz wahr. Schmerz ist weiters als Aktivierung von
gewissen Nervenzellen im Gehirn messbar. Aber Schmerz ist nicht das selbe wie die Aktivierung
dieser Zellen. Er ist also nicht allein als ein elektrochemischer Prozess erklärbar. Ähnliche unklar
ist der Status von Konzepten, Zahlen, sprachlichen Bedeutungen und anderen abstrakten
Entitäten, die wir nur in unserem Bewusstsein wahrnehmen.
Ohne eine vollständige Antwort zu geben, nur so viel: es gibt Prozesse, mit deren Hilfe aus
rein physikalischen Entitäten, etwa aus elektrochemischer Aktivierung von Nerven, in unserem
Bewusstsein nicht-physikalische Zustände wie Schmerz entstehen. Dieser Prozess, der als
Supervenienz bekannt ist, spielt insbesondere in der aktuellen neurologischen, biologischen,
(sprach)philosophischen und auch linguistischen Forschung zu Bewusstsein, Geist und Kognition
eine wichtige Rolle.
3.3. IDEEN/KONZEPTE: KONSEQUENZEN, PROBLEME UND HERAUSFORDERUNGEN
Aus der Annahme, dass unser Bewusstsein Ideen und/oder Konzepte zu verarbeiten in der Lage
ist, ergibt sich eine Vielzahl von Fragen, die in unterschiedlicher Form immer wieder im Laufe
der Philosophiegeschichte aufgetaucht sind. (19) listet die wichtigsten dieser Fragen auf, zu
einigen Themen werden wir im Laufe des Kurses wieder zurückkehren.
#1: Sprache und Philosophie 16
(19) a. Was sind Ideen oder Konzepte, wie sehen sie aus, wie werden sie repräsentiert?
i. Ideen sind mentale Bilder.ii. Konzepte stellen Definitionen dar.iii. Es handelt sich um Algorithmen, zur Individuation (s. Fußnote 9 und Handout #2)
b. Problem der Inflation: Gibt es für alles eine Idee oder ein Konzept?
i. Existieren Ideen, die für Dinge stehen, die nicht existieren (Pegasus)? ii. Gibt es auch Ideen von Ideen (oder Ideen von Ideen von Ideen,...) iii. Kann ein einzelnes Ding durch zwei unterschiedliche Ideen repräsentiert werden?
c. Ontologie: Wo befinden sich Ideen oder Konzepte?
i. Ideen sind Teil der Welt, die uns umgibt (Platonismus). ii. Konzepte sind Teils unseres Geist, also befinden sich in unseren Köpfen
(Konzeptualismus).iii. Es gibt keine Ideen/Konzepte; es handelt sind dabei um Konstrukte in unserem
Geist oder Bewusstsein, die jedoch mittels Supervenienz auf rein physikalischeEigenschaften reduzierbar sind. (Physikalismus)
Neben diesen drei Reaktionen sind auch hybride Antworten möglich.
d. Kompositionalität: Wie werden Ideen oder Konzepte kombiniert? Gibt es komplexeKonzepte wie JUNGER TIGER oder ANGEBLICHER TIGER, DER SICH ALS GEFÄRBTER
HUND HERAUSSTELLTE?
e. Können sich Ideen oder Konzepte über die Zeit verändern? Wenn ja, wie?
Die Punkte in (19) sind insbesondere deswegen für unsere Zwecke relevant, da die Diskussion
für oder gegen spezifische Positionen in sehr vielen Fällen mittels sprachphilosophischer
Argumente geführt wurde. Wie immer werden sich die Ausführungen auf einen kleinen
Ausschnitt aus dem gesamten Spektrum der Meinungen beschränken. Im Folgenden wird kurz
zu Plato zurückgekehrt werden, zu dessen Dialog Kratylos, in der Plato die Verbindung zwischen
Ideen und Sprache untersucht. Im Anschluss wenden wir uns den so genannten Universalien und
schließlich deren Beziehung zu Prädikaten zu.
3.4. DER KRATYLOS DIALOG
Im Dialog Κratylos (Κρατύλος) diskutiert Κratylos mit Hermogenes über die Frage, wie die
Dinge zu ihren Namen kommen. Während Κratylos die Auffassung vertritt, dass jedes Ding
seinen von Natur aus richtigen Namen besitzt (φύσει), argumentiert Hermogenes für die These,
dass alle Wörter durch Übereinkunft zwischen den Sprechern, durch Konvention, interpretiert
werden (θέσις). Kratylos plädiert also für das, was häufig als Naturalismus (oder Analogismus)
bezeichnet wird, während Hermogenes These für den Konventionalismus (Anomalismus) typisch
ist. Für Naturalisten ist Sprache regelmäßig, für Konventionalisten ist dagegen das Unregelhafte,
die Abweichung für Sprache charakteristisch. Beginnen wir mit der zweiten Richtung.
3.3.1. Konventionalismus
Definition: Die Namen für chemische Elemente nicht willkürlich. S bezeichnet z.B. Schwefel,
O steht für Sauerstoff, und C für Kohlenstoff. Auch die Verbindungen sind reglementiert: CO2
steht für Kohlendioxid, nicht etwa OCO oder COO, obwohl alle drei Namen die gleiche
17 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12
Information beinhalten (ein Kohlenstoffatom und zwei Sauerstoffatome). Diese Regelungen
waren jedoch nicht immer gültig, sie wurden erst Ende des 19. Jh. eingeführt. Früher waren daher
viele Verbindungen unter anderen Namen oder Symbolen bekannt. CO2 wurde z.B. auch ‘COO’
geschrieben, etc...
Die Anhänger des Konventionalismus vertreten die Ansicht, dass die Verbindung zwischen
Form und Inhalt bei Worten ähnlich geartet ist. Die Bedeutung eines Wortes wird demnach durch
Übereinkunft, also durch eine Konvention festgelegt. Der Gedanke kann auch auf die Syntax
erweitert werden; so wie nicht COO, sondern CO2, geschrieben wird, heißt es das Haus und nicht
Haus das.
Probleme für Konventionalismus: Konventionalismus kann, zumindest in seiner reinen,
radikalsten Form, nicht korrekt sein, da er zumindest mit folgenden Problemen konfrontiert wird:
" Ursprung: Wer hat diese Konventionen begründet? Einzelne Personen? Dann sollte die
Konvention nicht für alle gelten. Die gesamte Sprachgemeinschaft? Dann stellt sich die Frage,
wie und wann sie dies getan hat. Wurde etwa gewählt und über den Namen des Konzepts TIGER
abgestimmt? Oder kam die Konvention von oben, von Gott?
" Neue Namen: Jeder kann Dingen neue Namen geben. Dies geschieht z.B. ständig in der
Werbung. Dennoch sind diese neuen Namen nicht durch Konvention zustande gekommen. Es
kann also nicht korrekt sein, dass alle Dinge ihren Namen durch Konvention erhalten.
" Produktivität/Rekursivität: Ein und das selbe Ding kann unterschiedliche Namen tragen.
Der Präsident der USA im Jahre 2010 und Barack Obama referieren auf das selbe Individuum.
Genaugenommen ist die Anzahl der Namen, die jedem Ding zugewiesen werden kann unendlich
groß, da jede NP durch einfache Mittel rekursiv verlängert werden kann: der Präsident der USA
im Jahre 2010, der in Washington wohnt; der Präsident der USA im Jahre 2010, der in
Washington wohnt und auf Hawaii geboren wurde,... sind alles NPs mit Obama als Referenten.
Dies würde bedeuten, dass für jede einzelne dieser NPs eine Konvention existieren müßte - also
unendlich viele Konventionen, nur um die möglichen Namen eines einzigen Individuums zu
erklären.
" Nicht alle Wörter bezeichnen Dinge, nicht alle Wörter referieren. Wie kommen nicht-
referenzielle Ausdrücke wie und, nicht, wenn....dann, kein Schüler, jeder Kritiker oder viele
Bilder zu ihrer Bedeutung? Man beachte auch, dass die Bedeutung dieser Ausdrücke - mit
Ausnahme einer kleinen Gruppe mit Ausbildung in formaler Semantik - kaum jemandem bekannt
sein dürfte (jeder Kritike denotiert die Menge der Eigenschaften, die jeder Kritiker besitzt). Wie
können dann diese Bedeutungen mittels Konvention festgelegt werden?
" Nehmen wir an, alle diese Probleme könnten umgangen werden. Dennoch bleiben
weitere, unüberwindliche Hindernisse für einen reinen Konventionalismus. Die Bedeutung vieler
Ausdrücke variiert nämlich entweder mit dem Kontext oder mit anderen Ausdrücken im Satz.
Wenn es in einer Situation 100 Kritiker gibt, müssen mindestens 50 das Buch gelesen haben, um
(20) wahr zu machen; die meisten Kritiker bezieht sich also auf 50 oder mehr Individuen in der
Welt mit gewissen Eigenschaften. Sind es aber 500 Kritiker, so steigt die Anzahl jener, die das
Buch gelesen haben müssen auf 251. Bedeutet dies, dass zwei Konventionen existieren, eine für
Situationen mit 100 Kritikern und eine für Situationen mit 500 Kritikern? Und was passiert mit
Situationen mit 51 oder 52 oder 8,712 oder 10א Kritikern? Es müßte also eine unendliche Anzahl
#1: Sprache und Philosophie 18
von Konventionen geben, nur um das Subjekt von (20) zu interpretieren. Ähnliches gilt für (21):
(20) Die meisten Kritiker haben das Buch gelesen.
(21) Keiner1 konnte seine1 Bilder verkaufen.
Fazit: Radikaler Konventionalismus kann zentrale Eigenschaften von Sprache nicht erklären, und
ist daher nicht haltbar.
3.3.2. Naturalismus
Definition: Jedes Ding besitzt seinen Namen aufgrund der Eigenschaften, die es besitzt.
Dergestalt kann jedem Ding der richtige Name zugewiesen werden. Hermogenes verweist auf
Analogien mit der physikalischen Welt, wo man auch für jedes Objekt die passende Substanz
wählt. [Die Beispiele stammen von mir; WL]. Zur Anfertigung eines Pfeiles nimmt man z.B. ein
langes, rundes und leichtes Objekt; das am besten geeignete Grundmaterial für eine Presse stellt
dagegen ein schwerer, flacher Gegenstand dar. Genauso sollte es mit der Sprache sein. Jedes
Wort dient einem Zweck, und daher sollte die Form des Wortes diesem Zweck so gut wie
möglich folgen. (22) macht einige versteckte Annahmen des Arguments sichtbar:
(22) a. Ein Wort ist eine Wortform, als besteht aus einer lautlichen Form ohne Inhalt.b. Wörter dienen einem Zweck, sie erfüllen eine Funktion - dies ist ihre Bedeutung. c. Die Funktion der Wörter ist der Funktion von Objekten vergleichbar, die der Mensch
angefertigt hat. Y Wortformen werden durch Konvention mit ihrer Bedeutung verbunden.
Anmerkung: das Symbol Y signalisiert die logische Folgebeziehung. Sie wird auch logische
Folgerung oder Implikation genannt. Wird ein Symbol verwendet, so wie in (23)b, sprechen wir
von symbolischer Darstellung.
(23) a. A folgt aus B (oder A impliziert B), genau dann, wenn es nicht möglich ist,dass A wahr ist und B falsch ist.
b. Symbolisch: A Y B
Beispiel: Wenn (24)a wahr ist, muss auch (24)b wahr sein. Es ist nicht möglich, sich eine
Situation vorzustellen, in der (24)a wahr, aber (24)b falsch ist.
(24) a. Maria und Hans arbeiteten. b. Y Maria arbeitete.
(25) a. Jeder Teilnehmer schläft.b. Y Mindestens ein Teilnehmer schläft.
(Einige) Probleme mit Naturalismus: Naturalismus stößt in seiner radikalen Form auf ebenso
unüberwindbare Probleme wie der Konventionalismus. Einige der ungelösten Fragen sind:
" Welches Prinzip bestimmt, was der korrekte Name ist? Wird dies durch ein Naturgesetz
festgelegt? Warum besitzen dann Dinge unterschiedliche Namen in unterschiedlichen Sprachen?
(Naturgesetze sollten im ganzen Universum gültig sein.)
" Es existieren viele Objekt mit mehr als einem Namen (s. Obama Beispiel weiter oben).
Warum hat nicht jedes Ding nur einen Namen, nämlich den am besten geeigneten?
19 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2011-12
" Wörter verändern sich im Laufe der Zeit, während die Dinge konstant bleiben. Die
Zahlwörter für 5 und 10 haben sich etwa wie folgt aus dem Althochdeutschen/Gotischen
entwickelt. Die Zahlen selbst unterliefen natürlich keine Veränderung.
(26) Althochdeutsch/Gotisch Neuhochdeutsch
[fimf] > [fymf] ‘fünf’[téxum] > [tse:n] ‘zehn’
Diese und viele ähnliche Beobachtungen widersprechen offensichtlich der Grundannahme des
Naturalismus, da die Beziehung zwischen Name und Zahl entweder im Althochdeutschen nicht
optimal war, oder aber heute nicht korrekt ist.
Fazit: Radikaler Naturalismus kann zentrale Eigenschaften von Sprache nicht erklären, und ist
daher nicht haltbar.
3.3.3. Das Urteil des Sokrates/Plato
Sokrates, der als Stellvertreter Platos eingreift, bringt weitere Einwände sowohl gegen die
Positionen des Konventionalismus, als auch gegen Naturalismus vor. Konkret vertritt er die
Meinung, dass die Wirklichkeit bekannt sein muss, um den Wahrheitsgehalt einer Aussage
festzustellen. Um zu wissen, ob Der Mt. Everest ist der höchste Berg wahr ist, muss man wissen,
wie ein Teil der Welt beschaffen ist. Die Kenntnis der Realität ist demnach Voraussetzung, wenn
die Korrektheit oder Angemessenheit eines Namens oder eines Wortes überprüft werden soll.
Daraus folgt, dass Wörter und Sätze - sowie Sprache allgemein - nichts über die Welt direkt
aussagen. Die Frage, ob Wörter ‘richtig’ verwendet werden oder nicht, ist daher laut Plato nicht
beantwortbar.
Plato kommt also zum Schluss, dass es nicht möglich ist, Konzepte oder Ideen aus der
sprachlichen Form alleine, also aus der Lautgestalt der Worte, abzuleiten. Dies hat wichtige
Konsequenzen für die gesamte platonische Philosophie. Wahre Einsicht in die Natur der Welt
kann nur durch Denken gewonnen werden, nicht jedoch durch Analyse der Lautgestalt,
Untersuchung der Wortformen oder Etymologie.
Interpretation - was wäre, wenn Plato Saussure gekannt hätte? Zur Zeit Platos war das Wort eine
nicht-analysierbare Einheit; der Begriff des Zeichens (Saussure12), das Inhalt und Form
beinhaltet, war noch nicht bekannt. Die Form konnte also niemals von der Bedeutung eines
Wortes getrennt betrachtet werden. Daher war es natürlich auch nicht möglich, nur den
semantischen Gehalt des Wortes - ohne dessen Form - mit der Idee in Zusammenhang zu
bringen. Dies führt zu den in (27) dargestellten Verhältnissen:
(27) Plato - ohne Zeichentheorie:
TigerWort TigerObjekt in der Welt
�
TIGER Idee/Konzept
12Für Hintergrund s. http://vivaldi.sfs.nphil.uni-tuebingen.de/~nnsle01/SemIntro2010%2001.pdf
#1: Sprache und Philosophie 20
Aus heutiger Sicht ist bekannt, dass Wörter als symbolische Zeichen zu interpretieren sind. Die
Bedeutung kann also von der Form abgespalten, getrennt werden. Diese wichtige Erkenntnis
macht es möglich, Wörter wieder mit der Welt in Verbindung zu bringen. So wie in der
grafischen Darstellung (28) etwas vereinfacht gezeigt, steht die Denotation des Wortes auf der
einen Seite durch die Denotationsfunktion ƒ.„ mit dem Konzept (in der Semantik auch Intension
genannt), und auf der anderen Seite mit dem Objekt in der Welt (Extension) in Verbindung.13
(28) Mit Zeichentheorie:
Form: [tI:gX]
Bedeutung: ƒTiger„ TigerObjekt in der Welt
Wort
TIGER Idee/Konzept
Nach heutigem sprachphilosophischen Wissen fungieren also Wörter sozusagen als Namen für
Ideen oder Konzepte. Die Analyse der Wörter - und von Sprache im Allgemeinen - wäre damit
nicht nur hilfreich bei der Suche nach den Ideen, sondern sogar äußerst eng mit der Analyse von
Ideen und Konzepten, also nach Plato den essentiellen Entitäten, verbunden.
Vorschau: " Universalien " Die Kopula sein bei Plato: Identität vs. Prädikation " Prädikate als ‘Universalien’" Universale Eigenschaften in der Grammatik (Chomsky vs. Skinner)
Anmerkung zum Skriptum: Dieses Skriptum entwickelt sich mit dem Kurs. Kommentare aller Artsind jederzeit willkommen! Sollten Sie (i) Teile unverständlich oder schwierig finden, (ii)Fragen, Vorschläge oder Anregungen (auch zur Übersetzung ins Griechische) haben, oder (iii)Fehler irgendwelcher Art (Rechtschreibung, inhaltlich, ...) entdecken, wäre ich dankbar, wennSie mir ein kurzes Email zukommen lassen könnten ([email protected]).
13Für jeden Ausdruck α gilt, dass ƒα„ die Denotation, also die Bedeutung, von α darstellt.