Sprachskepsis

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Philologische Fakultät in Belgrad Lehrstuhl für Germanistik Deutsche Literatur 7 Wintersemester 2013 Seminararbeit Sprachskepsis um 1900 Hugo von Hofmannsthal: Brief des Lord Chandos vorgelegt von: Jovana Đokić eingereicht bei: Prof Mr Aleksandra Matrikelnummer: 100675 Lazić Gavrilović

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Philologische Fakultät in BelgradLehrstuhl für Germanistik

Deutsche Literatur 7

Wintersemester 2013

Seminararbeit

Sprachskepsis um 1900Hugo von Hofmannsthal: Brief des Lord Chandos

vorgelegt von: Jovana Đokić eingereicht bei: Prof Mr Aleksandra Matrikelnummer: 100675 Lazić Gavrilović

Belgrad, 13. 11. 2013

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Sprachskepsis um 1900-Hugo von Hofmannsthal

Inhalt:

1. Die Einleitung-Die Definition.................................................................................................................3

2. Sprachskepsis in der Literatur..............................................................................................................5

2.1. Entstehung der Sprachskepsis..........................................................................................................5

2.2. Die Gründe für die Sprachkrise.........................................................................................................6

2.3. Sprachnot.........................................................................................................................................6

2.4. Karl Kraus..........................................................................................................................................7

3. Sprachskepsis in der Philosophie.............................................................................................................8

3.1. Die Sprachkrise bei Friedrich Nietzsche............................................................................................8

3.2. Fritz Mauthners Sprachkritik...........................................................................................................11

4. Hugo von Hofmannsthal........................................................................................................................14

4.1. Jugendbriefe von Hofmannsthal (1935)..........................................................................................14

5. Chandos Brief........................................................................................................................................16

5.1. Historischer Hintergrund................................................................................................................16

5.2. Themen...........................................................................................................................................17

5.3. Inhalt des Briefs..............................................................................................................................17

5.4. Die Einteilung innerhalb des Briefs.................................................................................................18

5.5. Analyse und Interpretation.............................................................................................................19

6. Literatur:................................................................................................................................................23

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1. Die Einleitung-Die Definition

Sprachskepsis bezeichnet den Zweifel vieler Autoren daran, dass man die Wirklichkeit objektiv erkennen und mit Hilfe von sprachlichen und literarischen Mitteln darstellen kann. Dieser Begriff bezieht sich auf den Zeitraum vom Ende des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Die traditionelle Aufgabe der Sprache wurde dadurch in Frage gestellt. Die Leistungsfähigkeit der Sprache (den Zusammenhang von Sprache-Denken-Wirklichkeit) wird problematisiert

Die Literatur um die Jahrhundertwende war gekennzeichnet durch die häufige Verwendung von Metaphern, Symbolen, Bildern, Alliterationen und Synästhesen. Dabei verstand man die Kunst als nur sich selbst verpflichtet.Im Laufe der Jahrhundertwende stellten die Autoren jedoch die traditionelle Sprache immer mehr in Frage, mit der Folge eines gemeinsamen Willens zu einer neuen Sprache. Die traditionelle Sprache musste, nach allgemeiner Meinung der Schriftsteller, gesprengt werden. Generell bezeichnet man diese Phase der kritischen Auseinandersetzung mit der Sprache als Sprachkrise.

Die Brüchigkeit der Beziehungen zwischen sprachlichen Zeichen und dem, was sie bezeichnen sollen, zwischen Sprache und Welt, Subjekt und Objekt, wird in verschiedenen Formen besonders intensiv erlebt und zum Ausdruck gebracht.Deswegen stellen sich folgende Fragen:Woher stammt eigentlich die Gewissheit, dass unsere Sprache eine Realität abbildet? Ist es nicht vielmehr so,dass einige Erfahrungen zufällig benannt und sprachlich durch grammatische Gesetze und Regel verbunden werden?Die Sprache hat also keinen Bezug zur Wirklichkeit und die Realität ist also nur Produkt der Sprachen.

Dieses Problem wird bei vielen Autoren und Dichtern des Jungen Wien zum Thema vieler Werke. Stefan George und Rainer Maria Rilke (Gedicht: Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort, 1899) behaupten, dass allein durch eine poetische Sprache eine „höhere Wahrheit“ ausgedrückt werden kann. Hugo von Hofmannsthal lässt in seinem 1902 veröffentlichten Brief des Lord Chandos an Francis Bacon den Briefschreiber sagen:

Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.

Die sprachskeptischen Dichter konstatierten also einen Bruch zwischen der Sprache und der Realität, der in ihren Augen unüberbrückbar war.

Die Haltung der Sprachskepsis und der Rückzug in eine Kunstwelt wurde auf der anderen Seite von realistischen und naturalistischen Dichtern als Flucht in den Elfenbeinturm, also als Flucht an einen geistigen Ort der Abgeschiedenheit und Unberührtheit von der Welt, kritisiert. Stattdessen suchten sie neue sprachliche Wege, um Wirklichkeit adäquat zu beschreiben.

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Theoretisch begründet wurde die Sprachskepsis vor allem durch die sprachphilosophischen Theorien von Ludwig Wittgenstein und Fritz Mauthner. Auch Nietzsche spielte hierbei eine Rolle, da er in seinen Werken vielerlei Anmerkungen zu diesem Thema machte und eigene Theorien aufstellte. 1

1 Walter Muschg: Von Trakl zu Brecht. Dichter des Expressionismus; Piper Verlag, München, 1989

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2. Sprachskepsis in der Literatur

2.1. Entstehung der Sprachskepsis

Um zu erahnen, was mit der Sprache um 1900 in die Krise geriet, muss man sich die idealistische Hochschätzung der Begriffe vor Augen halten, die einen wichtigen Teil der Sprache ausmachen. Der Begriff war für den Philosophen Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770-1831) nicht nur eine subjektive Vorstellung oder Medium intersubjektiver Kommunikation, sondern das Wesen eines Dinges selbst, die ihm zugrunde liegende Vernunft. Auf den Begriffen beruhe alle Wahrheit und Wirklichkeit, sie sind das Höchste im Denken, so Hegel. Sie zu analysieren und damit die Wirklichkeit zu erkennen, sei die Aufgane der Philosophie.

Dem entsprach im realismus ein grundsätzliches Vertrauen in die Welthaltigkeit der Sprache. Zwar wurde zuweilen das Scheitern der Kommunikation dargestellt, aber grundsätzlich wurde angenommen, dass sich zumindest alle wichtigen Erfahrungen so verbalisieren ließen, dass sie in ihrer sprachlicher Form der Wirklichkeit entsprachen. Der Literaturprogrammatik des Realismus zufolge gab Dichtung also die Welt in ihrer wahren Gestalt wieder.

Der Naturalismus wendete sich zuerst gegen eine allzu eingeschliffene Literatur- und Bildungssprache. Die naturalistischen Autoren fühlten sich dem Positivismus verpflichtet, der eine genaue Registrierung der Tatsachen verlangte. Das erforderte jedoch eine neue Sprache.

Am Ende 19. Jahrhunderts, etwa ab 1870er Jahren wurde die Sprache vom selbsverständlich benutzten Medium zum Problem.2

Die Sprachkrise ist eines der herausragenden intellektuellen und literarischen Phänomene der Jahrhundertwende und der frühen Moderne insgesamt. Sie wird von einigen Literaturwissenschaftlern als Epochenmerkmal dieses literarisch sehr heterogenen Zeitabschnitts betrachtet. So sieht Walter Eschenbacher in der Sprachkrise und Sprachskepsis ein „übergreifendes, strukturbildendes Element der Literatur um die Jahrhundertwende“.

Historisch gesehen ist allerdings eine Sprachkrise nicht im eigentlichen Sinne neu. Schon weit vor dem 19. Jahrhundert gibt es eine skeptische Thematisierung von Sprache und die Infragestellung ihres Absolutheits- und Objektivitätsanspruches. So findet sich bereits bei Humboldt die sprachkritische Auffassung vertreten, daß der Mensch die Dinge nicht objektiv auffaßt, sondern so, wie sie ihm durch die Sprache vermittelt werden, und daß der Mensch zur Welt nur durch die Sprache gelangt. Doch die Sprachkritik Humboldts ist nicht derart radikal wie die der Jahrhundertwende. Denn Humboldt geht zwar davon aus, daß unser Weltbild durch die Sprache bestimmt wird, jedoch ist in seinem Denken nicht ausgeschlossen, daß mit der Sprache „nicht wenigstens teilweise die ›wirkliche Wirklichkeit‹ erfaßt wird“. Auch bei Herder finden

2 Philip Ajouri: Literatur um 1900; Akademie Verlag, Berlin, 2009, 147-158

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sich dezidierte Äußerungen zur Bedingtheit des Menschen durch seine Sprache, so zum Beispiel zum Abhängigkeitsverhältnis von Sprache und Denken:

Denn jeder Mensch kann und muß, allein in seiner Sprache denken.

Während also die Wurzeln der Sprachkrise in der frühen Moderne weit zurückreichen und die Anfänge einer Sprachkritik schon in der griechischen Philosophie der Antike zu finden sind, ist die Radikalität das eigentliche Neue an der Sprachkrise der frühen Moderne.3

2.2. Die Gründe für die Sprachkrise

Es wurde oft die frage gestellt, warum die Fähigkeit der Sprache problematisiert wurde. Zum einen wurde diese Entwicklung besonders auf die weite Verbreitung neuer Medien wie Zeitung und Werbung zurückgeführt. Der Wiener Publizist und Schriftsteller Karl Kraus polemisierte beispielsweise in seiner Zeitung „Die Fackel“vielfach gegen den nachlässigen Sprachgebrauch im Journalismus.

Ein weiterer Grund für die Sprachskepsis ist vielleicht darin zu suchen, dass die neuen Ergebnisse der Naturwissenschaften nicht mehr sprachlich, sondern nur noch in Formeln (chemische Formeln, mathematische Gleichungen) ausgedrückt werden konnten. Mit der gängigen Sprache war offenbar nicht alles beschreibbar, was existierte. Die Dichter der Zeit standen zusätzlich vor einem weiteren Problem: Die Literatursprache schien abgenutzt und schablonenhaft zu sein.

Die Sprachkrise um 1900 steht auch in einem engen Zusammenhang mit der zeitgleich entstehenden Erkenntniskrise in der Philosophie. Diese Beziehung kann an Friedrich Nietzsches Schrift „Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ exemplarisch verdeutlicht werden.4

2.3. Sprachnot

Aus dem Sprachskepsis erwuchs auch die Sprachnot, die ebenfalls kein linguistischer Begriff ist. Er bezieht sich wie der Begriff Sprachskepsis auf eine besondere sprachkritische und literarische Situation zu Ende des 19. Jahrhunderts, in der Autoren ein Problem darin sahen, ihrer individuellen Sicht der Wirklichkeit und ihren vermeintlich neuartigen Gedanken mittels einer allgemeinen, verbrauchten, konventionellen und in ihren Nuancen bereits belasteten Sprache angemessenen Ausdruck verleihen zu können. Auslöser für diese Verunsicherung war neben dem Siegeszug der Naturwissenschaften mit ihren Fachsprachen vor allem der Aufstieg des Massenmediums Tageszeitung. Man fürchtete in dieser Krise, mit seiner Ausdrucksabsicht an den bereitstehenden Standardisierungen, Worthulsen und Denkschablonen zu scheitern und

3 Cecil A. M. Nobel: Sprachskepsis über Dichtung der Moderne; Text+Kritik, München 1978.4 Philip Ajouri: Literatur um 1900; Akademie Verlag, Berlin, 2009, 147-158

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ersehnte neue Ausdrucksformen. In diesen Zusammenhang ist der Chandos-Brief von Hugo von Hofmannsthal zu stellen.

2.4. Karl Kraus

Karl Kraus (1874-1936), war österreichischer Schriftsteller aus dem 20. Jahrhundert. Er war Publizist, Satiriker, Lyriker, Aphoristiker, Dramatiker, Förderer junger Autoren, Sprach- und Kulturkritiker sowie vor allem ein scharfer Kritiker der Presse und des Hetzjournalismus.

Karl Kraus war besessen von Sprache. Jedes kleinste Detail, ein vergessenes Komma, ein überflüssiger Bindestrich hatte für ihn das Potenzial, Gesellschaft und Politik entscheidend beeinflussen zu können. Eines seiner großen Anliegen war die Reinhaltung der deutschen Sprache. So kämpfte er gegen das Literatentum und den Journalismus seiner Zeit.

Die Sprache war für ihn der wichtigste Indikator für die Missstände in der Welt. In dem nachlässigen Umgang seiner Zeitgenossen mit der Sprache sah er ein Zeichen für den nachlässigen Umgang mit der Welt im Allgemeinen.

Seinen eigenen Zeitgenossen warf Karl Kraus vor, die Sprache als beherrschbares Mittel zu verstehen. Für Kraus ist Sprache kein Mittel, um vorgefertigte Meinungen an den Mann zu bringen, sondern das Medium des Denkens selbst und als solches der kritischen Reflexion bedürftig. Die Sprache lasse sich nicht völlig vom Menschen in den Dienst seiner Absichten stellen, sondern zeige noch in ihrer verstümmeltsten Form die wahren Zustände in der Welt auf. Diese Fixierung auf die „richtige Sprache“ wurde von vielen Zeitgenossen zumindest als schrullig und oberflächlich angesehen.

Um ganz und gar unabhängig von jeder Einflussnahme zu sein, gründet Karl Kraus seine eigene Zeitschrift, "Die Fackel". Er war Besitzer, Herausgeber und nach 1919 auch alleiniger Redakteur und Autor. Nicht zuletzt diese Unabhängigkeit machte Karl Kraus zu einer herausragenden, publizistischen Größe seiner Zeit. "Die Fackel" ist mit 415 Ausgaben auf 23.000 Seiten ein großer Erfolg geworden.5

5 Leopold Liegler: Karl Kraus und die Sprache; R. Länyï, Wien, 1918

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3. Sprachskepsis in der Philosophie

3.1. Die Sprachkrise bei Friedrich Nietzsche

In Nietzsches Abhandlung Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne finden sich wesentliche und grundlegende Ausführungen zur Sprache. Dies sprachtheoretischer Text aus dem Jahre 1873 befasst sich mit dem Wahrheitsbegriff in Bezug auf Sprache. Nietzsche setzt sich auf eine kritische Art und Weise mit dem Problem des menschlichen Wahrheits- und daraus resultierenden Ehrlichkeitsbegriffs auseinander und knüpft diesen Gedanken untrennbar an die seiner Meinung nach scheinbare Unzulänglichkeit und mangelnde Präzision der Sprache.

Historisch betrachtet schreibt Nietzsche in einer Zeit des Umbruchs - im wahren Sinne des Wortes - denn er ist ein Geist seiner Zeit im Übergang in das 20. Jahrhundert. Passend zu diesem zeitlichen und historischen Umbruch liefert Nietzsche mit seinem Essay einen revolutionären neuen Denkansatz der Sprachphilosophie bezüglich der Sprachentstehung.Vermutlich möchte Nietzsche mit seinem sprachtheoretischen Text Kritik an der Sprache selbst zum Ausdruck bringen - diese sei seiner Auffassung nach viel zu generalisierend und nehme dem Menschen die Fähigkeit ein Objekt isoliert und absolut zu betrachten, der Mensch fasse Gegenstände nur in Relation zu sich selbst in Worte, wodurch das eigentliche Wesen des Objekts nicht weiter beachtet werde. Somit ist Nietzsches Sprachkritik auf einer Meta-Ebene ebenso eine Kritik am Menschen selbst, denn dieser sei schließlich durch seine irdische Bindung an die Sprache nicht fähig, das wahre Sein der Dinge in seiner Umwelt zu erfassen - folglich ließe sich zusammenfassend als Interpretationshypothese resümieren: Nietzsche kritisiert die durch Unzulänglichkeit und generalisierende mangelnde Spezifität der Sprache limitierte Auffassungs- und Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen.

Der bestimmende Gedanke in dieser Schrift ist, daß Sprache niemals Wahrheit, sondern immer Lüge ist. Nietzsches Ausgangspunkt ist, daß der Intellekt des Menschen nur ein Mittel zur Arterhaltung und zur Überlebenssicherung des einzelnen ist. Der Intellekt, der vom Menschen hinsichtlich seines Erkenntnisvermögens stark überschätzt wird und vor allem zur Täuschung, Selbsttäuschung und Verstellung dient, vermittelt keine wahre Erkenntnis von der Welt. Der Mensch erkennt weder sich selbst noch die Welt. Das Leben ist ein Traum:

Sie [die Menschen] sind tief eingetaucht in Illusionen und Traumbilder, ihr Auge gleitet nur auf der Oberfläche der Dinge herum und sieht ›Formen‹, ihre Empfindung führt nirgends in die Wahrheit, sondern begnügt sich Reize zu empfangen und gleichsam ein tastendes Spiel auf dem Rücken der Dinge zu spielen.6

In diesem vehement erkenntniskritischen Ansatz vermag der Mensch nicht, die in den Dingen liegende Wahrheit zu ergründen. Für Nietzsche mangelt es dem Menschen nicht nur an Vermögen, sondern auch an Willen zur Erkenntnis. Der Mensch verkennt nicht nur die Welt, die

6 Firedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne;

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Dinge und sich selbst, sondern auch die Sprache. ›Die Wahrheit‹ über die Dinge, über die Welt im allgemeinen und speziell über den Menschen, die sich durch die Sprache ausdrücken soll, ist eine Täuschung. Sprache ist keine Wahrheit, sondern hat nur den Status einer Verabredung. Wahrheit und Sprache sind eine Erfindung. Durch die „Gesetzgebung der Sprache“ wird die Wahrheit festgelegt. Sprache ist eine Konvention, und es bleibt zu fragen, was sie als Konvention leistet. Zu fragen ist auch, ob die Sprache als Konvention der adäquate Ausdruck der Wirklichkeit ist, ob sich die Bezeichnungen und die bezeichneten Dinge decken, und ob die Bezeichnungen das Bezeichnete authentisch oder zumindest adäquat wiedergeben.

Nietzsches Sprachkritik fällt dabei um so vehementer aus, weil er davon ausgeht, daß es ein ›Ding an sich‹ gibt, das heißt, eine absolute Wahrheit, die in den Dingen selbst liegt und kein Oberflächenphänomen ist. Diese von Nietzsche postulierte absolute Wahrheit erreicht der Mensch mit seiner Sprache nicht, zumal die Sprache nur eine arbiträre Setzung des Menschen ist. Nietzsche kritisiert an der Sprache, daß sie in ihrer Oberflächlichkeit nicht in die Tiefe und das Wesen der Dinge eindringt. Sprache wird den Dingen in ihrem Innersten nicht gerecht und stellt — dies ist einer der Hauptkritikpunkte Nietzsches — einen Anthropomorphismus dar. Mit der Sprache werden nur die „Relationen der Dinge zu den Menschen“ erfaßt und nicht die Dinge an sich. In der Sprache zeigt sich allein, welches Verhältnis und welche Bedeutung die Dinge für den Menschen haben. Sprache ist damit nichts Unabhängiges, Neutrales und Objektives, sondern sie ist ein von Menschen geschaffenes und auf sie ausgerichtetes Mittel. Sie ist ein Werkzeug für spezifisch menschliche Zwecke. Mit den Worten drückt sich keine Wahrheit über die Dinge aus, sondern sie sind nur die „Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen.“ Die Dinge und ihre Bezeichnungen decken sich nicht. Sprache besteht in semantischer Hinsicht aus „willkürlichen Abgrenzungen“ und „einseitigen Bevorzugungen“ (ebd.), sie ist eine tradierte Verabredung, obwohl sich in ihr und durch sie der Unterschied von Wahrheit und Lüge konstituiert. Ein weiterer Hauptkritikpunkt Nietzsches ist die Begriffsbildung, also die Bildung von Worten, die kein Einzelding bezeichnen, sondern unter denen sich viele Einzeldinge ›derselben Art‹ subsumieren lassen. Mit der Bildung eines Begriffs wird das an sich spezifische Einzelding, das unter diesen Begriff fällt, seiner Individualität beraubt und auf seine allgemein typischen und gattungsspezifischen Merkmale reduziert. Jedes einzelne Ding ist verschieden von allen anderen Dingen, das heißt: es ist auch verschieden von anderen Dingen derselben Art.

Die Begriffsbildung fußt auf der Entindividualisierung der Welt, die wiederum für die Kategorisierung der Welt eine notwendige Voraussetzung ist. Mit der Begriffsbildung werden die Dinge enteignet, sie werden ihrer Eigentümlichkeit beraubt, um als Allgemeines aufgefaßt werden zu können. Die Dinge werden nicht in ihrer Einzigartigkeit gesehen, sondern als jeweils typische Repräsentanten einer hierarchischen Kategorisierung.

Der Wahrheitsbegrifff bei Nietzsche hat verschiedene Aspekte:

(bewußt) subjektbezügliche erkenntnistheoretische Fiktion Wahrheitsperspektive eine Funktion des Willens zur Macht

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Nietzsche sieht die Welt als chaotisches Werden, Leiden und Vergehen, stets im Fluß. Es gibt keine wahre Welt an sich und deren Erkennen, jede Weltbetrachtung ist Interpretation. Die Welt ist niemals faßbar, begreifbar, auf der Begriffsbildung ohne feststehende Tatsachen.

Sprachbildung im Sinne Nietzsches ist Metaphernbildung. Die Umwandlung von Sinneseindrücken in sprachliche Laute ist ein kreativer Prozeß. Es ist eine künstlerische Übertragung und keine einfache Entsprechung. Sprache ist Kunst, das heißt: sie ist nicht natürlich, sie ist ein Artefakt und nicht zuletzt ein Produkt der Phantasie. Sprache als Kunst gehört in den Bereich der Ästhetik und unterliegt ästhetischen Kriterien. Nietzsche zieht die Wahrnehmung und die sprachliche Darstellung dieser Wahrnehmungen aus dem Bereich der Wahrheit heraus, entbindet sie von Kriterien wie Überprüfbarkeit und Falsifizierbarkeit und überführt sie in den Bereich der Ästhetik. Grundlegend ist, daß es keine richtige (oder richtigere) und keine falsche Ding- und Weltwahrnehmung beziehungsweise Darstellung gibt. Der wahrnehmende Mensch und das wahrgenommene und dann auch sprachlich repräsentierte Ding sind zwei völlig unterschiedliche Bereiche, die sich nicht entsprechen können, sondern nur in ein ästhetisches Verhältnis zueinander treten können.

Die Menschen können sich nicht völlig von Sprache lösen. Die Wirklichkeit ist für sie sprachlich vermittelt. Das Medium Sprache verstellt und verzerrt sie allerdings. Die sprachliche Erschließung der Wirklichkeit vollzieht sich immer in einer Perspektive. Diese Perspektivhaftigkeit ist nach Nietzsches Auffassung unhintergehbar. Sie beginnt für ihn schon mit den Metaphern. Ein Nervenreiz wird abgebildet, aber die Dinge verursachen dabei kein getreues, ihnen genau entsprechendes Abbild. Der sprachliche Zugriff enthält ein Moment an Willkür.

Nietzsche bedient sich vor allem der Erkenntniskritik Kants. Das einzelne Ich ist schon bei Kant der Träger und Produzent der gegenständlichen Welt. Die Natur existiert nicht wirklich, sondern ist ein Produkt unseres Verstandes. Das Übernatürliche ist unerkennbar. Das Ich konstituiert die Welt. In der Wahrnehmung der Welt herrscht jedoch deshalb Objektivität (Intersubjektivität), weil diese vom menschlichen Erkenntnisapparat konstituierte Welt auf Grundlage des Verstandes entsteht, der bei allen Menschen als gleich vorausgesetzt wird. Die Sinnesdaten des Menschen werden vom menschlichen Erkenntnisapparat auf der Grundlage des Verstandes zu Ereignissen und Objekten geordnet. Das Bewußtsein des Ich ist als erkennendes Subjekt einheitlich und nicht individuell. Das Ich ist als erkennendes Subjekt bei jedem Menschen gleich.

Das Besondere und Weitreichende an Nietzsches Sprachkritik ist, daß sie zugleich Wahrnehmungs- und Erkenntniskritik ist. Darin spiegelt sich das eng verwobene Verhältnis von Sprache, Denken, Erkennen und Wahrnehmen. Wird eines dieser Elemente kritisch hinterfragt, so gelangen zumeist auch die anderen Elemente in die Kritik.7

7 Hans Gerald Hödl: Nietzsches frühe Sprachkritik, WUV-Universitätsverlag, 1997

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3.2. Fritz Mauthners Sprachkritik

Die Sprachkritik Fritz Mauthners in seinem Werk Beiträge zu einer Kritik der Sprache (1901/1902) ist ähnlich wie bei Nietzsche angelegt. Mauthners sprachkritische Positionen sind vor allem hinsichtlich des Briefs von Hugo von Hofmannsthal beachtenswert. Denn Mauthner konzipiert eine theoretische Grundlegung für das Schweigen und Verstummen angesichts der Dinge in der Welt, und das, was Mauthner sprachtheoretisch entwirft, setzt Lord Chandos gleichsam in der Praxis seines Lebens um: er schweigt und verstummt.

Für Mauthner fällt der Sprachkritik die zentrale Rolle in der Philosophie und im allgemeinen Denken zu. Das Hauptziel der Sprachkritik Mauthners ist eine allgemeine Erkenntniskritik. Ein Hauptaugenmerk seiner Untersuchung liegt auf der Widerlegung der herrschenden Sprachauffassung. Gemäß dieser Sprachauffassung stehen das System und die Inhalte der Sprache in einem zumindest teilweise übereinstimmenden Verhältnis zur Wirklichkeit, und deshalb ist die Sprache ein adäquates Werkzeug für die Erkenntnis von Welt.Nach Mauthner leistet die Sprache keine Widerspiegelung von Wirklichkeit, sondern kommt einem Spiel gleich, an dessen Regeln sich die mitspielenden Sprecher halten müssen, wenn sie verstanden werden wollen und die Sprache in der Praxis des Alltags funktionieren soll. Wie Nietzsche sieht auch Mauthner in der Sprache einen Anthropomorphismus:

Der Mensch hat in seiner Sprache die Welt nach seinem Interesse geordnet.8

Im Zuge einer Projektion überträgt der Mensch mit der Sprache seine nutzbringenden Zwecke auf die Welt. Mauthners Sprachkritik ist auch eine Wahrnehmungskritik, wenn er argumentiert, daß die „Kategorien unserer Sprache in einer notwendigen Abhängigkeit von unseren Sinnesorganen“ stehen. Hier greift ein wesentlicher Ansatzpunkt für Mauthners Sprachkritik: der Sensualismus. Die Wirklichkeit wird auf die sinnliche Wahrnehmung reduziert, aber die Sinne des Menschen, von denen auch die Sprache abhängt, sind nur ›Zufallssinne‹.

Aus der Kontingenz des menschlichen Wahrnehmens und der Metaphorik der Sprache ergibt sich, daß die Sprache keiner objektiven Kenntnis von der Welt entsprechen kann. Mauthners Auffassung lautet, daß unsere fünf Sinne Zufallssinne sind und daß unsere Sprache, aus den Erinnerungen dieser Zufallssinne entstanden und durch metaphorische Eroberungen auf alles Erkennbare ausgedehnt, niemals Anschauung der Wirklichkeit zu geben vermag.

Mauthners Schrift ist von einem grundlegenden erkenntnistheoretischen Skeptizismus geprägt. Der Mensch hat die Welt noch nicht erkannt und wird es wohl auch nie können. Alles vermeintliche Erkennen ist eitle Illusion und kann nicht an „den nie noch beobachteten Zusammenhang der Welt“ heranreichen. Zwischen Sprache und Wirklichkeit besteht ein unüberbrückbarer Gegensatz. Neben der Natur und Wirklichkeit ist die Sprache ein System mit eigenen Gesetzen. Die Sprache ist eine soziale Fertigkeit mit einem dominierenden und prägenden Einfluß.

8 Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache; Bd. 1: Zur Sprache und zur Psychologie, Leipzig 1923

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Weil die Sprache zwischen den Menschen eine soziale Macht ist, darum übt sie eine Macht aus auch über die Gedanken des einzelnen. Was in uns denkt, das ist die Sprache; was in uns dichtet, das ist die Sprache.

Sprache ist etwas derart stark Prägendes, daß ›eine gemeinsame Sprache sprechen‹ heißt, eine „Gemeinheit der Weltanschauung“ zu haben. Es ist die Muttersprache des Menschen, „in deren latenten Klassifikationen all seine Welterkenntnis und all sein Schließen, also all sein Denken apriorisch steckt“ .Obwohl Mauthner versucht ist, Denken, Sprache und Erkennen zusammenfallen zu lassen und die vermeintlichen Differenzen zwischen diesen drei menschlichen Tätigkeiten zu negieren oder zumindest zu verwischen, spricht er doch dem Erkennen — zumindest tendenziell — eine Priorität vor der Sprache zu, wenn er konstatiert, daß die Sprache der Welterkenntnis nicht vorausgeht, sondern ihr hinterherhinkt. Mauthner erkennt sehr wohl, daß kein Erkenntnisfortschritt möglich wäre, wenn die Sprache auch das Erkennen vollkommen dominierte. Durch die Beobachtung außersprachlicher Gegebenheiten können neue Erkenntnisse entstehen, die dann, wenn sie sich durchsetzten, auch auf das Denken und die Sprache rückwirken können.

Die Sprache gilt als jeweils aktuelle Summe der menschlichen Erfahrung und als Gedächtnis der Menschheit. Sie dominiert den Menschen und seine geistigen Tätigkeiten, denn alle Kategorien werden von der Sprache gesetzt. Sie sind somit nicht ursprünglich und wirklich, sondern etwas historisch Gewachsenes und Tradiertes. Denken und Wahrnehmen, auch das Fühlen und Sehen, sind durch die Sprache determiniert.

Wie Nietzsche destruiert auch Mauthner die Vorstellung von allgemein gültiger Begrifflichkeit und Abstraktion: das Allgemeine ist eine unzulässige Reduktion des Konkreten und Individuellen. Allgemeine Begriffe nivellieren die Differenz der Realität. Die Sprache kann die sich verändernde Welt nicht vollkommen erfassen. Allgemeine Begriffe verfehlen das Leben, und die vermeintlich hinter den allgemeinen Begriffen stehenden allgemeinen Vorstellungen gibt es nicht.

Die Worte sind heute konventionelle Zeichen und waren doch in der Urzeit sicherlich deutlichere Symbole ihrer Vorstellungen. Ein lyrischer Dichter ist, wer die geheimnisvollen Beziehungen zwischen Dingen und Namen durch die Umformung von Jahrhunderten noch hindurchtönen hört, und wer gar außerdem die Harmonie empfinden und festhalten kann, die die Töne der menschlichen Sprachworte neben ihrer gemeinen Absicht der Kellnermitteilung noch haben. Das poetische Wort ist „von seiner eigenen Geschichte und von den Symbolen der Geschichte“ bereichert. Jedes einzelne Wort ist geschwängert von seiner eigenen Geschichte, jedes einzelne Wort trägt in sich eine endlose Entwicklung von Metapher zu Metapher.

Der poetische Sprachgebrauch, der nach Mauthner der einzig adäquate ist, führt angesichts seiner Fülle und seines Überschwangs zum Verstummen. Der Ausdruck des Unsagbaren ist das letzte, wohl unerreichbare Ziel der Poesie. Das, was zu erreichen gilt und wirklich ist, liegt immer außerhalb der Sprache. Die Natur und die Dinge kennen keine Sprache.Wer die Natur versteht, verstummt:

„Und die Natur ist vollends sprachlos. Sprachlos würde auch, wer sie verstünde.“

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Mit der Sprachkrise der frühen Moderne, die hier an Hand von Nietzsche und Mauthner skizziert wurde, beginnt eine skeptische Thematisierung des Verhältnisses von Sprache, Bewußtsein und Erkenntnis, die sich über die Jahrhundertwende hinaus fortsetzt. Es war und ist ein Ansatzpunkt für die Kritik, daß Sprache mit dem Anspruch auf Wahrhaftigkeit belastet war, eine genau zutreffende Beschreibung zu ermöglichen, wie die Welt ›an sich‹ sei. In der Annahme, daß der Geist, die Materie, das Selbst, die Welt, die Dinge etc. eine immanente Natur, ein ›Wesen‹ habe, war der Anspruch an die Sprache, diese immanente Natur in natürlicher und getreuer Weise auszudrücken und darzustellen.

Der Ausdruck, das Wort sollte den Dingen zukommen und ihnen entsprechen. Der Ausgangspunkt der Sprach-, Bewußtseins- und Wahrnehmungskrise liegt in der Erkenntnis, daß Sprache dies nicht leistet und nicht leisten kann. Mit der Sprachkrise rückt die Sprache in den Mittelpunkt der Betrachtung und diese zentrale Stellung sollte die Sprache innerhalb der Philosophie in vielen Bereichen behalten.9

9 Eschenbacher: Fritz Mauthner und die deutsche Literatur um 1900; Peter Lang, Bern, Frankfurt/M., Las Vegas, 1977

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4. Hugo von Hofmannsthal

Ein weiterer Künstler, der in einem engen Zusammenhang mit der Sprachkritik steht, ist Hugo von Hofmannsthal (1874 –1929), der osterreichische Schriftsteller. Um 1900 fiel er in eine Krise, weil er an den ihm verbleibenden Ausdrucksmoglichkeiten der Sprache verzweifelte. In diesem Zusammenhang verfasste der 28-jahrige Hofmannsthal seinen autobiografisch gefarbten Brief des Lord Chandos an Francis Bacon.

Er behandelt das Thema in seinem Chandos-Brief: " Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile". Dieser Gedanke führt ihn zur Sprachlichkeit des Zerfallsprozesses: "nichts mehr ließ sich in einem Begriff umspannen". Insgesammt drückt dieser Brief auch die Fragwürdigkeit der Beziehungsfähigkeit der Sprache aus. Konventionell gebrauchte und funktionierende Ausdrücke, so wie auch moralische Urteile gehen dadurch verloren, und schließlich auch die einfachsten Ausdrücke. Dieser Zustand, der von Chandos beschrieben wird, drückt eine zunehmende Welt-, Selbst- und Sprachentfremdung aus. Ihm war jede ästhetische Inzucht, jene Literatur, die nur für Literaten geschrieben ist, um von diesen wiederum zu Literatur verarbeitet zu werden, fremd.

4.1. Jugendbriefe von Hofmannsthal (1935)

Von sechzehnten bis siebenundzwanzigsten Jahr des Lebens hat Hofmannsthal gegen dreihundert Briefe geschrieben, die ernst, klug und einfach waren. Das wichtigste für den Schreiber war, die Kunst über alle Künste zu lernen: ein Mensch zu sein. Es sind unter diesen Briefen hier und dort welche verstreut an einen Freund oder eine junge Frau, die von dem sprechen, was er vom Leben weiß, was er von ihm erfahren hat und was er von ihm erwartet, mit Worten, die sehr schlicht sind, von denen jedes einzelne leicht zu wiegen scheint, und die sich doch wie Blei in die Seele senken. Unter diesen Briefen gibt es auch andere, die nicht direkt davon sprechen als höchstens in einer flüchtig hingeworfenen Bemerkung, die bestimmt scheint, überlesen zu werden, und die statt dessen von trostlosen Dingen tapfer und munter erzählen, von märischen und galizischen Garnisonen, elenden Quartieren, schmützigen Dörfern, öder Landschaft, eintönigem Dienst und unentrinnbarem Zusammengesperrtsein mit gleichgültigen und banalen Menschen.

Es gibt noch weitere Briefe, weniger verzaubert, hochsommerliche, lustige, lachende Briefe, voll übermütigen Lärms, aus den Bergen Tirols oder von den Seen des Salzkammergutes. Am Ende stehen Winterbriefe aus Wien, aus der Arbeit, der Geschäftigkeit und Geselligkeit der Großstadt.

Rilke war der zweite bekannte Schriftsteller, der Briefe schrieb, aber es gab die Unterschiede zwischen Hofmannsthals und Rilkes Briefe. Diejenige, die Rilke verfasst hat, sind eine Form seiner dichterischen Produktion und gehören der gleichen Ordnung an wie seine Gedichte. Im Gegensatz dazu sind Hofmannsthals Briefe eine Form der Geselligkeit, und zwar sind sie die Briefe, eines von Natur geselligen wie die Rilkes die eines von Natur einsamen Wesens. Man vermißt bei Rilke fast nie wie bei Hofmannsthal fast stets den vorangegangenen Brief des

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Partners. Denn Rilke antwortet kaum, er spricht aus, aber spricht kaum an. Hofmannsthal dagegen geht auf sein Gegenüber ein, nicht nur in der Sache, sogar im Tonfall.

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5. Chandos Brief

Ein Brief, auch Brief des Lord Chandos an Francis Bacon oder Chandos-Brief genannt, ist ein Prosa-Werk des österreichischen Schriftstellers Hugo von Hofmannsthal. Verfasst wurde es im Sommer 1902 und erschien am 18. und 19. Oktober 1902 in zwei Teilen in der Berliner Zeitung Der Tag.

Zentrale Themen des fiktiven Briefs sind die Kritik der Sprache als Ausdrucksmittel und die Suche nach einer neuen Poetik. Der Chandos-Brief gilt darüber hinaus als eines der wichtigsten literarischen Dokumente der kulturellen Krise um die Jahrhundertwende.

Er behandelt die Ausführung der sogenannten Chandos-Krise. Diese beschreibt die Unfähigkeit das wesentliche der Dingwelt mit Worten zu erfassen. Im Brief von Chandos erkennt man die Wandlung der sprachpositiven Einstellung des Dichters zum Gegenteil und eine wachsende Abstandnahme aller Sprachen, was zu einer Unfähigkeit des zusammenhängenden Denkens und Sprechens führt.

Hofmannsthal war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung 28 Jahre alt, die Parallele zur Figur des gerade 26-jährigen Lord Chandos ist unübersehbar.

Von einer Krise in Hofmannsthals sprachlicher Ausdrucksfähigkeit kann also nicht die Rede sein; der Brief ist rhetorisch äußerst gewandt formuliert. Vielmehr muss er im Kontext seines eigenen Schaffens als künstlerisches Manifest (also poetologisch) gelesen werden.

Der Brief enthält eine Absage an die „tiefe, wahre, innere Form“, auf die ihn Stefan George eingeschworen hatte. Dem gegenüber formuliert er ein Verlangen nach einer Ausdrucksmöglichkeit, die das Sprachliche überwinden kann, „eine Sprache, von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist, eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen“. Die „Trunkenheit“ der frühen Kunst kann nicht mehr erreicht werden; die Utopie einer solchen neuen Sprache, die „unmittelbarer, glühender ist als Worte“ erscheint ebenso unerreichbar.

Diese fast mystischen Formulierungen bilden die Basis für Hofmannsthals Poetik nach der Jahrhundertwende. Sie sind aber auch exemplarisch für die zahlreichen, heterogenen Versuche deutschsprachiger Schriftsteller, sich von der Schreibweise des Fin de Siècle abzulösen und eine neue Richtung der Moderne einzuschlagen.

5.1. Historischer Hintergrund

Veränderungen um 1900 (Beginn der Moderne mit dem Expressionismus) Industrialisierung –>Verstädterung, Massengesellschaft; Medizinischer, naturwissenschaftlicher

und technischer Fortschritt; Kommunikation (Telefon); Religion verliert an Bedeutung Schriften werden freier, offener, abwechslungsreicher -> Sprache verändert sich

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Literarische Moderne war der Sturz der Dichter aus dem Haus der Sprache und der Versuch eine neue poetische Sprache aus der Kritik und Überwindung der alten zu gewinnen

5.2. Themen

-Kritik der Sprache als Ausdrucksmittel und Suche einer neuen Poetik -Sprachnot und Sprachnot -Erwartung einer neuen Sprache -rückwärtsgewandte, unzeitgemäße Utopie -Verlust des Zusammenhangs der Dinge -Kritik an Sprachpraxis seiner eigenen Zeit um 1900 -Ich-Sprache-Beziehung -Sprache als Medium -Sprache + Persönlichkeit = Identitätskrise -Distanz Chandos zur Sprache -Ausdrucksformen eignen sich nicht zur Wahrheitsfindung und Urteilsbildung -Lebenssinn - nur noch sprachlose Erfahrungen -Sprachkrise > Identitätskrise -Stumme Dinge

-Gewinnung Epiphanie

5.3. Inhalt des Briefs

Der fiktive 26-jahrige Philip Lord Chandos, der jüngerer Sohn des Earl of Bath ist, entschuldigt am 22. August 1603 gegenüber seinem geistigen Mentor Francis Bacon sein literarisches Schweigen mit einer zweijährigen Schaffenskrise. Er blickt auf seine erfolgreichen Veröffentlichungen als 19-jähriger und seine Eindrücke auf einer Venedigreise als 23-jähriger zurück und erinnert sich seiner vor Schaffenslust trunkenen Pläne, über Heinrich VIII. zu schreiben sowie Fabeln, mythische Erzählungen und eine Sammlung von Sentenzen und Reflexionen unter dem Titel Nosce te ipsum (Erkenne dich selbst) zu verfassen. Zu dieser Zeit vermochte er, alle Erscheinungen der erlebbaren Welt als Einheit aufzufassen und sich mit ihr zu identifizieren. Nun sind ihm der religiöse wie der weltliche Glaube an eine solche Einheit abhanden gekommen, ja sogar die Fahigkeit, „über irgendetwas zusammenhangend zu denken oder zu sprechen“

Er erinnert sich des Beginns seiner Krise, die bei der Verwendung von Abstrakta und Begriffen des öffentlichen Lebens anfing, sich über die Unsicherheit im Umgang mit dem Wahrheitsbegriff fortsetzte und letztlich selbst familiare und alltägliche Gespräche erfasste: Er sah sich auserstande, Urteile zu fallen und die ihn umgebende Welt sprachlich zu ordnen. Der Versuch, sich in die geordnete und überschaubare Begriffswelt der Antike zu retten, misslang. Er sieht sich seitdem erfüllt von einer sprachlichen Leere, die ihm nicht gestattet, einfachste Situationen und Verhältnisse zu beschreiben. Sprache erscheint ihm wie vergiftet, und er selbst fühlt sich innerlich ohnmächtig und verzweifelt. Er sehnt sich danach, seinen tiefen Empfindungen und

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seinen Anteil nehmenden Eindrucken Ausdruck zu verschaffen. Alles, auch das Niedrigste, erscheint ihm gleichwertig und ausdruckswürdig. Er meint, dieser Welt nur durch eine kunstsprachliche Welt von Chiffren gerecht werden zu können, da die natürliche Sprache versagt. Am Beispiel der belächelten Liebe des Crassus (ein romischer Staatsmann) zu seiner Morane verdeutlicht er sein Verlangen nach einer mystisch erhabenen Offenbarung des Einfachen, Banalen und Hässlichen und nach der „Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen.“ Da ihm diese nicht gegeben ist, werde er wohl in keiner Sprache mehr schreiben können.

5.4. Die Einteilung innerhalb des Briefs

Brief lässt sich in 3 Phasen einteilen:

1. Die Zeit als Dichter und die damaligen Pläne

Einheit von Geist und Körper, Tier und Mensch „im Rausch der Sprache“ Literatur kann die Welt erklären

2. Die Krise

Alles zerfällt in Teile, nichts lässt sich mehr mit einem Begriff umfassen Kann wegen der großen Veränderungen die Realität nicht mehr mit Sprache erfassen Abwendung der Sprache: Unmöglichkeit ein höheres Thema zu besprechen Kann nicht mehr über Menschen und Zusammenhänge urteilen es wird schwerer sich an Gesprächen zu beteiligen Kann Alltägliches nicht mehr beschreiben, ihm fehlen die Worte Kann nicht mehr mit dem Herzen denken (Gefühle spüren/ zeigen)

3. Der neue Kontakt zu den Dingen

Bekam eine Offenbarung, eine Erscheinung = Epiphanie Metaphorik/ bildhafter Stil als „neue Sprache“, um sich der Welt langsam wieder zu nähern Paradoxon: Verlust der Sprache – Sprachliche Gewandtheit des Briefes Sagt nicht, dass er nicht mehr sprechen kann, aber Chandos kann die Realität aufgrund von zu

großen Veränderungen nicht mehr mit der Sprache erfassen -> Lösungsvorschlag: Metaphorik Parallele zwischen Hofmannsthal und Chandos: Sprachskepsis und Schreibbarriere Chandos beschönigt die gesellschaftliche Wirklichkeit, er achtet nicht auf die Armen, hat kein

Mitleid -> Egozentrik (Ich-bezogen)

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5.5. Analyse und Interpretation

Der Schreibstil des Briefes widerlegt seine inhaltliche Aussage. Mit großem rhetorischen Geschick, sprachlichen Feinheiten, eindringlicher Bildhaftigkeit und raffiniertem zeitgenössischen Dekor beweist der Briefschreiber, dass ihm sehr wohl die Sprache mit all ihren Möglichkeiten als Ausdruckskraft zur Verfügung steht.

Der Brief handelt von einem explizit ausgesprochenen und für die Jahrhundertwende programmatischen Zerfallsprozeß von Wahrnehmung, Denken und Sprache. Chandos hat vor seinem Zusammenbruch ein nivellierendes Verständnis und Empfinden von allen Dingen in der Welt. Das alles umfassende Einheits- und Ganzheitsdenken, in dem sich der Monismus der Jahrhundertwende spiegelt, hebt jegliche Differenz von Natur, Gesellschaft und Subjekt in einer Art rauschhaftem Naturzustand auf. Er schreibt von sich:

In allem fühlte ich Natur [...] und in aller Natur fühlte ich mich selber [...].10

Die Einebnung der Differenzen zwischen allen Dingen findet ihre Begründung in der Empfindung des Subjekts. Lord Chandos legitimiert seine Ansicht und gesamte Weltsicht allein dadurch, daß er sie empfindet. Weil er so empfindet, ist es so. Der Lord empfindet, fühlt keine Differenzen, er registriert sie nicht, ob sie nun gegeben sind oder nicht. Er nimmt keine Widersprüche wahr und findet sich sowohl in der Natur als auch in der Gesellschaft vollkommen widerspruchsfrei wieder. Für das Ich gibt es kein Nicht-Ich, welches das Ich nicht schon durchdrungen hätte. Das andere gehört immer schon zum Ich, wird von ihm vereinnahmt. Chandos nimmt die grundsätzliche Differenz zwischen erkennendem Subjekt und den Objekten, die er als Subjekt kognitiv verarbeitet, und seien dies andere Subjekte, nicht wahr. Er hat sich als Ich so sehr erhöht und erweitert, daß er alles umfaßt.

Auf die Phase des Einheits- und Ganzheitsempfindens, bei dem alles in einem großen sinnvollen Zusammenhang steht, folgt die zerstörerische Krisenerfahrung: Chandos verliert völlig die Fähigkeit, „über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.“

Jeder Lebensbereich wird von dieser Zerstörung betroffen. Es wird dem Lord unmöglich, „ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen.“ Auch die öffentlichen Belange, die Angelegenheiten der Allgemeinheit und zuletzt sogar der praktische, private und häusliche Lebensbereich in seiner banalen Alltäglichkeit werden affiziert und sind für Lord Chandos sowohl gedanklich als auch sprachlich nicht mehr zu bewältigen.

10 Dirk Göttsche: Aufbruch der Moderne. Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief im Kontext der Jahrhundertwende. In: Interpretationen zur neueren deutschen Literaturgeschichte; Thomas Althaus, Hamburg, 1994, S. 179 - 206

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Die Verwendung der Sprache wird reflektiert und sie wird schließlich für unhaltbar und unbrauchbar erachtet. Die mit blinder Sicherheit verwendete Sprache bedeutet für das Subjekt eine Selbstsicherheit, weil es seiner selbst in der Welt sicher ist, wenn es sprachlich und gedanklich über sie verfügen kann. Mit dem Verlust der sprachlichen Sicherheit verliert der Lord auch die Sicherheit seiner selbst. Er ist als Individuum nicht mehr natürlich, selbstverständlich und fraglos. Zusammen mit der Sprache schließt sich Lord Chandos nicht nur vom begrenzten Sprechen und Denken der Gemeinschaft aus, sondern auch vom sozialen Leben insgesamt. Er versteht die Gesellschaft und deren Welt nicht mehr.

Die tradierte, konventionelle Sprache und das Denken in ihr sind für Lord Chandos wie auch für Nietzsche eine Lüge. Sie stellen nicht mehr den adäquaten und wahrhaftigen Ausdruck für das Dasein und die Dinge zur Verfügung und eröffnen keine tragbare Perspektive auf die Welt. Die Sprachkrise des Lords ist ebenso eine Bewußtseins- und Wahrnehmungskrise. Seine Agonie erklärt sich daraus, daß ihm mit den Worten und Begriffen auch die dazugehörigen Sachverhalte in ihrer moralischen und ideellen Bedeutung abhanden gekommen sind. Ein Ausgangspunkt der Sprach-, Bewußtseins- und Wahrnehmungskrise liegt darin, daß sich über Sprache keine Erkenntnis realisieren läßt. Die Sprache, die dem Lord einst ein Mittel zur wahrhaftigen Darstellung war, ein großes literarisches Projekt sollte den Titel Nosce te ipsum tragen, also zur Erkenntnis des wahrhaften Seins seiner Selbst führen, ist ihm jetzt nur noch „lügenhaft“. Dem Lord ist es deshalb nicht möglich, seine Tochter dahingehend zurechtzuweisen, daß man nicht lügen solle, weil in der Sprache keine Wahrheit ist. Vor der Krise war die Sprache ein Weg zur Wahrheit, und die sprachlichen Zeichen waren „Hieroglyphen einer geheimen, unerschöpflichen Weisheit“ ,die im möglichen Erfahrungsbereich des Subjekts lagen. Die ›geheime und unerschöpfliche Weisheit‹, die Offenbarung des wahren Wesens des Daseins sollte sich in „Fabeln und mythischen Erzählungen“ , also in sprachlich-künstlerischen Gebilden und nicht etwa in der Wissenschaft und Aufklärung, finden.

Die Sprache war der Weg zur Wahrheit des Seins. Um so gravierender fällt damit das Versagen der Sprache aus. Die Worte führen nur „hinaus ins Leere“. Sie kommen den Dingen nicht zu, entsprechen ihnen nicht mehr. Es ist nicht so, daß die Worte und die Sprache nicht mehr verständlich wären. Chandos versteht sie wohl, nur bildet die Sprache eine autonome Welt, eine Welt für sich, die außerhalb ihrer selbst beziehungslos ist. Dementsprechend beschreibt Hofmannsthal in einer Aufzeichnung vom 28. Mai 1895 die „Welt der Worte“ als „eine Scheinwelt, in sich geschlossen, wie die Farben“. Für Chandos bedeutet dies, daß die Begriffe, mittels derer sich das Denken vollzieht, nichts Signifikantes mehr über die Welt aussagen, denn sie sind nur noch ein „Verhältnisspiel“, mit dem das Wesentliche nicht erfaßt wird, und bilden gegenüber dem Wirklichen einen autonomen Bereich. Wenn dem Lord die Worte nicht mehr das bedeuten und so funktionieren, wie sie es vormals gewöhnlich taten, so sind ihm mit den Worten auch die Dinge fremd geworden. Mit dem Verlust der Sprache verliert Chandos auch das in der Sprache liegende Weltverständnis. Die Worte ufern aus und verlieren ihre Bedeutsamkeit, weil sie nicht mehr eindeutig und klar abgrenzbar sind, sie deuten nicht mehr in einer festen Bedeutung auf ein spezifisches Ding hin. Mit dem Zerfall der Sprache und ihrer Entwertung zerfällt dem Lord die Welt. 11

11 Cecil A. M. Nobel: Sprachskepsis über Dichtung der Moderne; Text+Kritik, München, 1978

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„Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt.“

Chandos’ Welt ist eine zerfallene, aufgelöste und durcheinandergewirbelte Welt, in der es keinen Halt gibt. Die zerfallenden Worte und Dinge haben für die Wahrnehmung des Lords eine weit-reichende Konsequenz, denn mit dem Zerfall entwickelt sich eine qualitativ neue Wahrnehmungsweise. Das Neue, das der Lord erfährt, basiert im wesentlichen auf der vorhergehenden Zerstörung des Alten.

Das „Chandos-Erlebnis“, der Verfall und die Abkehr von der Sprache und dem in ihr innewohnenden Denken und Wahrnehmen, wurde auch von Hugo von Hofmannsthal als ein typisches Massenphänomen der Jahrhundertwende und der frühen Moderne aufgefaßt: Die Leute sind es nämlich müde, reden zu hören. Sie haben einen tiefen Ekel vor den Worten: Denn die Worte haben sich vor die Dinge gestellt. Das Hörensagen hat die Dinge verschluckt.

Alles in immer kleinere Teile zu zerlegen und nichts ganzheitlich aufzufassen, ist geradezu die typische Methode und das grundlegende Prinzip der modernen Wissenschaften und wird gemeinhin als Analyse bezeichnet. Bei einer Analyse bleibt nichts heil und ganz, nichts bleibt so, wie es einmal war. In der Person des Lord Chandos wird Francis Bacon mit den Folgen der Verwissenschaftlichung und Technisierung der Welt konfrontiert. Denn nicht zuletzt führt die „Übergewalt der technischen Ereignisse“ zu einem „schwindelnden Weltzustand“. Die zeit- und wissenschaftskritische Dimension des Textes liegt darin, daß sich Lord Chandos „der geltenden Art, die Welt und die Natur zu beherrschen“ abwendet und sich den Dingen in einer anderen, tiefergehenden Art zuwendet. Er schafft sich einen mystischen Zugang zu den Dingen. Einfache Dinge werden zum Gefäß einer Offenbarung und einer Erlösung. Francis Bacon ist der Repräsentant der wissenschaftlichen, auf Nützlichkeit und Naturbeherrschung ausgerichteten Denkweise der Neuzeit, von der sich Lord Chandos mit seinem an ihn gerichteten Brief verabschiedet.

Die Krise, die Lord Chandos als einzelnes Individuum erfährt, kennzeichnet sich als Sprach,- Denk- und Werteverlust. Sie ist ein Verlust aller Glaubensregeln und gesellschaftlichen Praktiken, die als selbstverständlich und normal betrachtet werden und nicht in Frage gestellt werden dürfen. Dieser Verlust aller Ansichten und Meinungen, die als gängig, selbstverständlich, offensichtlich und natürlich gelten und ohne Diskussion akzeptiert werden, zeitigt bei Chandos das Gefühl einer „geistigen Starrnis“ und „furchtbarer Einsamkeit“. Dieses Gefühl der geistigen und emotionalen Leere wird von wenigen, glücklichen Momenten unterbrochen. Denn auf der Grundlage und in der Folge des erlittenen Verlustes entwickelt sich eine neue Wahrnehmungsweise, die sich auf einen neuen Wahrnehmungsbereich konzentriert. Dieser neue Wahrnehmungsbereich umfaßt die „Erscheinungen seiner alltäglichen Umgebung“.

Gleich der Ekstase der „unio mystica“ fühlt er die „Gegenwart des Unendlichen“. Angesichts nahezu beliebiger Gegenstände wird er von der „steigenden Flut göttlichen Gefühles“ erfaßt. Es sind nur kurze Augenblicke, flüchtige Momente, in denen er so empfindet. Der Verlust der Doxa zeitigt damit zwei Folgen: zum einen Unempfindlichkeit, Stumpfsinn, Leere und Starrnis und

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zum anderen eine Art Idiosynkrasie gegenüber banaler Alltagsgegenstände. Chandos hat das Problem, reden zu wollen, aber nicht reden zu können und den Worten entsagt zu haben, sie aber trotzdem noch kunstfertig zu verwenden. Trotz aller Sprachnot und Flüchtigkeit des Augenblicks versucht der Lord eine Beschreibung der wenigen, glücklichen Augenblicke. Chandos charakterisiert seine Gefühlslage als ein „ungeheures Anteilnehmen, ein Hinüberfließen.

Der Sprachverlust hat aber auch eine positive Dimension. Denn die Unfähigkeit, in den konventionellen und tradierten Mustern zu denken und zu sprechen, ist die Voraussetzung dafür, daß eine neue und vollkommen andere Wahrnehmungsweise entstehen kann. So zeigt sich ein unlösbarer Zusammenhang von Sprechen, Wahrnehmen und Denken und zugleich zeigt sich, daß der Verlust ein produktiver Verlust ist. Tradition und Konvention sind Wahrnehmungsbegrenzungen, blockieren den Zugang zum Neuen und machen unsensibel für das Unbekannte. 12

12 Dirk Göttsche: Aufbruch der Moderne. Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief im Kontext der Jahrhundertwende. In: Interpretationen zur neueren deutschen Literaturgeschichte; Thomas Althaus, Hamburg, 1994, S. 179 - 206

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6. Literatur:

1. Walter Muschg: Von Trakl zu Brecht. Dichter des Expressionismus; Piper Verlag, München, 19892. Philip Ajouri: Literatur um 1900; Akademie Verlag, Berlin, 2009, 147-1583. Cecil A. M. Nobel: Sprachskepsis über Dichtung der Moderne; Text+Kritik, München 1978.4. Leopold Liegler: Karl Kraus und die Sprache; R. Länyï, Wien, 19185. Hans Gerald Hödl: Nietzsches frühe Sprachkritik, WUV-Universitätsverlag, 19976. Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache; Bd. 1: Zur Sprache und zur Psychologie, Leipzig 19237. Eschenbacher: Fritz Mauthner und die deutsche Literatur um 1900; Peter Lang, Bern, Frankfurt/M., Las Vegas, 19778. Dirk Göttsche: Aufbruch der Moderne. Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief im Kontext der Jahrhundertwende. In: Interpretationen zur neueren deutschen Literaturgeschichte; Thomas Althaus, Hamburg, 1994, S. 179 - 2069. Cecil A. M. Nobel: Sprachskepsis über Dichtung der Moderne; Text+Kritik, München, 197810. http://de.wikipedia.org/wiki/Sprachskepsis11. http://www.christianbracke.de/magister/12. http://gutenberg.spiegel.de/buch/997/1

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