Spur nach Namibia

29

description

Kriminalroman von Klaus Heimann - Leseprobe

Transcript of Spur nach Namibia

Spur nach NamibiaKlaus Heimann

edition oberkassel 2016

Alle Rechte vorbehalten. Verlag: edition oberkassel Verlag Detlef Knut, Lütticher Str. 15, 40547 DüsseldorfHerstellung: Prime Rate Kft., BudapestUmschlaggestaltung: im Verlag unter Verwendung eines Fotos von © Klaus HeimannLektorat: Dr. Mechthilde Vahsengesetzt mit Adobe InDesign

© Klaus Heimann© edition oberkassel, 2016

[email protected]

Das Werk inklusive aller Abbildungen ist urheberrechtlich ge-schützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheber-rechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages und der Auto-ren unzulässig und strafbar.

1. Auflage 2016Printed in Europe

ISBN(Print): 978-3-95813-0432ISBN(Ebook): 978-3-95813-0449

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Da-ten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

5

Deutscher in Namibia ermordetSwakopmund. In Swakopmund (Namibia) wurde ges-tern ein aus Deutschland stammender Mann erschos-sen. Der Ermordete ist zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt. Die Umstände der Tat und die Identität des Mannes wurden von den namibischen Behörden bis Redaktionsschluss nicht bekannt gegeben.

7

Anfang und Ende

Dies war die erste Zeitungsnotiz zum bitteren Ende des Nord-kap-Falls, klein und unscheinbar am linken Rand in unserer Tageszeitung versteckt unter »Nachrichten aus aller Welt«. Bereits eine Woche später rauschte der komplette Blätter-wald. Sogar im Ausland wurde darüber berichtet. Die Jour-nalisten überschlugen sich, täglich neue Details des Falls aus-zubreiten. Dabei kamen Tatsachen und Realität zu kurz. Nach zwei Wochen hatten die Zeitungsleute das Interesse verloren. Andere Ereignisse schoben sich in den Vordergrund. So ticken die von der Presse nun mal.

Womit ich meine Brötchen verdiene? Pardon. Ich habe ver-gessen, mich vorzustellen. Mein Name ist Siegfried Siebert, für die meisten kurz Sigi. Ich bin Hauptkommissar bei der Mord-kommission in Essen und seit fünfunddreißig Jahren Polizist. So lange bin ich auch mit Charlotte verheiratet. Da wir im Ruhrgebiet Namen gerne mit mehr Schmackes würzen – siehe Sigi –, rufe ich sie Lotte. Die Gute mag »Lotte« eigentlich nicht, sie findet, das klingt naiv. Meine Holde hat den Widerstand gegen meinen Kosenamen aber schon lange aufgegeben. Wo-ran man sich nicht alles gewöhnt während so vieler Ehejahre.

Mit Nachwuchs hat es zuerst nicht geklappt bei uns, so sehr wir uns Kinder gewünscht haben. Acht Jahre später kam end-lich Lucy zur Welt. Bei dieser einen Tochter ist es geblieben. Lotte und ich hängen sehr an unserem Kind.

Lucy besaß seit jeher einen ziemlichen Dickkopf. Schon als kleines Mädchen war sie wenig lenkbar und sehr trotzig. Heu-te studiert sie im dreizehnten Semester irgendeine brotlose Kunst in Berlin. Dass sie ihren Abschluss noch nicht in der Tasche hat, liegt bestimmt nicht an mangelnder Intelligenz, denn unsere Tochter ist eine außergewöhnlich kluge junge Frau. Ich vermute, sie hat einfach Angst vor den Prüfungen und scheut sich deshalb, ihr Studium abzuschließen. Diese Versagensangst und die Notwendigkeit einer hundertprozen-

8

tigen Sicherheit, das hat sie auf keinen Fall von mir geerbt. Das sind eindeutig Lottes genetische Dreingaben.

»Lucy Siebert« ist eine gewöhnungsbedürftige Namens-kombination, finde ich. Das kommt daher, dass Lotte in jun-gen Jahren Fan der Fernsehserie »Dallas« gewesen ist, ganz besonders von dem kleinen, blonden, langmähnigen Wonne-proppen. Lucy eben. Damals hatte sie beschlossen, ihre erste Tochter so zu nennen. Dagegen war ich machtlos und deshalb heißt unser Kind so wie die Schauspielerin Charlene Tilton in »Dallas«. Zum Glück mag Lucy ihren Vornamen.

Draußen hat der Herbst Einzug gehalten. Jetzt stehen sie uns wieder ins Haus, die melancholischen, trüben Tage vor Beginn der Adventszeit. Letzte Reste von Laub bedecken Wege und Parks. Es regnet oft. Vom Sommer habe ich in die-sem Jahr nichts gehabt.

Ich liege auf meiner Gymnastikmatte im Schlafzimmer und mache meine täglichen Übungen. Bein anspannen, Bein he-ben, halten. Dabei gleichmäßig weiteratmen. Bein ablegen, entspannen. Das geht alles ganz automatisch. Mein Kopf ist frei für meine Gedanken. Die kommen, obwohl er abgeschlos-sen ist, nicht los vom Nordkap-Fall. Es ist das kniffligste Stück Arbeit, das mir in meiner Karriere untergekommen ist, die größte Herausforderung in meinem Berufsleben als Polizist. Der Nordkap-Fall hat sich im Spätsommer letzten Jahres so in mich hineingefressen, dass er mich verändert hat. Er hat mich zu Handlungsweisen getrieben, die ich früher verteufelt habe.

Was ich vorher für ein Kerl gewesen bin? Vor dem Fall hätte ich gesagt: ein Mann, auf den man sich verlassen kann, der seine Verantwortung ernst nimmt, die Verantwortung der Fa-milie gegenüber, dem Polizeiapparat gegenüber. In gleichem Maße den Verhafteten und Tatverdächtigen gegenüber. Ein Mann, der aufgrund dieser Verantwortung Risiken vermeidet, damit er unversehrt durchs Polizistenleben kommt und sei-ne beiden Frauen nicht die Folgen seines Leichtsinns tragen müssen. So bin ich beispielsweise nie irgendwelchen Verbre-chern nachgelaufen, von denen ich wusste, dass sie bewaffnet waren. Ich bin nie mit vorgehaltener Pistole in dunkle Ecken hineingestürmt, wie man das im Fernsehen ständig so thea-

9

tralisch sieht. Mein Erfolgsrezept bestand immer in meinem kriminalistischen Verstand und Spürsinn, im geschickten Ver-hören, im Aufdecken von Widersprüchen in den Aussagen un-serer Kundschaft, im langen Atem, in der Geduld.

Ich bin Kriminalbeamter geworden, weil ich ein Mensch bin, dem Gerechtigkeit über alles geht. Dazu wollte ich meinen persönlichen kleinen Beitrag leisten. In meinem Wertekatalog steht ganz oben, dass Verbrecher ihrer Strafe zugeführt wer-den müssen. Die Gesellschaft besitzt ein Recht darauf, dass Vergehen gesühnt werden. Wo kämen wir hin, wenn wir An-archie duldeten? Das wäre das Ende für unser Staatswesen, für die Demokratie.

Anfang dieses Jahres bin ich von meinen Prinzipien abge-rückt – das sehe ich mittlerweile ganz deutlich. Der Nordkap-Fall hat dafür gesorgt, dass ich mir untreu geworden bin. Die erfolglosen Ermittlungen im letzten Jahr hatten mich in zwei-erlei Hinsicht gekränkt. Erstens hatte der Fall meine Fähigkei-ten, ein Verbrechen aufzuklären, überfordert. Und zweitens hatte er mir das Gefühl gegeben, einen Ganoven ziehen lassen zu müssen, denn unser Verdächtiger hatte etwas zu verber-gen. Das hatte ich während der ungezählten Stunden, die ich ihn in der Mangel hatte, deutlich gespürt.

Genug geübt. Ich setze mich auf. Da durchfährt mich wie-der dieser stechende Schmerz im Knie. Das ist mein Anden-ken an die Lösung des Falls, denn heute, über ein Jahr später, ist er geklärt. Das hat mir keine Lorbeeren eingebracht. Bei-leibe nicht. Eher das Gegenteil. Und ich muss zugeben, dass mir Kommissar Zufall sehr behilflich war. Am Ende habe ich es geschafft, die seltsamen Ereignisse des Nordkap-Falls zu enträtseln. Auch wenn ich einen verdammt hohen Preis dafür gezahlt habe. Aber der Reihe nach.

11

Fallstudie

Im letzten Jahr hatten wir den Taxifahrer Rainer Meldorf mehrmals vorgeladen, da wir ihn verdächtigten, in Verbin-dung mit dem Verschwinden eines von uns gesuchten Betrü-gers zu stehen. Meldorf hatte vorgegeben, an einem Taxistand in Essen auf Fahrgäste gewartet zu haben. Plötzlich habe ein Mann die Tür aufgerissen und ihn um eine Fahrt zum Nordkap gebeten.

Bei diesem Mann – das hatten wir ermittlungstechnisch un-zweifelhaft feststellen können –, handelte es sich um den zur Fahndung ausgeschriebenen Kriminellen, von dem bei uns nur unter Verwendung seines Decknamens »Ludger König« gesprochen wurde. Ein Betrüger, ein Wirtschaftskrimineller, der einen Haufen Geld erschwindelt hatte und schnellstens das Land verlassen musste, weil ihm seine dubiosen Ge-schäftspartner auf die Schliche gekommen waren.

Meldorf hatte seinen Fahrgast damals anhand eines Fotos identifiziert. Eine Verwicklung in dessen Machenschaften konnten wir ausschließen, denn die beiden hatten sich vor ihrer gemeinsamen Fahrt zum Nordkap definitiv nie getrof-fen. Den Verdacht, dass die fünf Millionen, die König in einem Aluminiumkoffer mitgeführt hatte, von diesem Taxifahrer un-terschlagen worden waren, bin ich seither nicht mehr losge-worden. Ich kann kaum sagen, woran das im Einzelnen liegt. Im Grunde kam Meldorf mir so vor, als wären wir uns ähn-lich und hätten am Tresen einer Kneipe gute Freunde werden können. Im Gegenzug werde ich ihm wie ein brummiger Bü-rokrat erschienen sein, denn dass ich ihn nicht packen konnte, hat mich unglaublich gefuchst, und wenn mich etwas fuchst, merkt man mir das immer an – wenn ich Lotte glauben darf.

Meldorf geriet unter Verdacht, weil er mir einfach zu forsch in unseren Verhören auftrat. Diese Forschheit war mir zu aufgesetzt, ganz so, als ob er uns eine große Selbstsicherheit und Unbekümmertheit suggerieren wollte. Dahinter spürte

12

ich eine Ungereimtheit, etwas, das uns verschwiegen werden sollte. Mich verlassen selten die kriminalistischen Instinkte. Während aller Verhöre des Taxifahrers hatte ich dieses un-bestimmte Gefühl im Magen, und bei seinen Aussagen schlug mein Fall-Seismometer regelmäßig aus.

Natürlich lag das auch an der Geschichte, die Meldorf mir und Oberrat Gelbarth über die Fahrt zum Nordkap aufgetischt hat. Der Taxifahrer hatte sie in einem schriftlichen Bericht festgehalten, den er uns auf den Schreibtisch knallte. Dieser Bericht klang von Anfang bis Ende abenteuerlich und lautete in etwa so:

Meldorf ist vorsichtig und verlangt einen Beweis, dass der Fahrgast zahlungsfähig ist. Der Unbekannte öffnet den Koffer, den er bei sich führt. Er enthält fünf Millionen Euro. Der Taxi-fahrer macht sich mit seinem Fahrgast zur sechstägigen Reise durch vier Länder auf.

Nach nicht einmal einer Stunde Fahrt legt sich der Unbe-kannte, der sich später als Ludger König vorstellen sollte, auf der Rückbank des Taxis schlafen.

Als der merkwürdige Fremde bei Erreichen des ersten Zwi-schenziels in Schweden immer noch im Reich der Träume weilt, bucht Meldorf kurzerhand zwei Einzelzimmer in einem Hotel und geht zum Abendessen in das hoteleigene Restau-rant.

Er sitzt nicht lange am Tisch, als sein Fahrgast hereinstol-pert und sich zu ihm setzt. Ludger König erzählt dem Taxifah-rer während des Abendessens die Geschichte seiner Familie und liefert ihm eine plausible Erklärung für den Geldsegen. Am Nordkap wolle er Abstand zu den nervenzehrenden Er-eignissen gewinnen.

Meldorf bleibt skeptisch. Er überprüft die Angaben Ludger Königs an einem Computer im Hotelfoyer. Im Internet findet er keine der Behauptungen seines Fahrgastes bestätigt, im Te-lefonbuch wird nicht einmal sein Namen geführt. Spätestens ab da weiß der Taxifahrer, dass er einen Betrüger herumkut-schiert.

Am nächsten Morgen erscheint der Fahrgast nicht zum Frühstück. Der Taxifahrer findet ihn schlafend im Fond des

13

Wagens. Ratlos begibt er sich mit ihm auf die nächste Etap-pe der Reise, die bis nach Norwegen führt. Als er müde wird, checkt er wieder in einem Hotel ein. Ludger König schläft wäh-renddessen wie am Vortag weiter auf der Rückbank des Taxis. Meldorf geht zum Abendessen wieder ins Hotel-Restaurant.

Wenig später taucht dort anstelle seines Fahrgastes ein an-derer Mann auf. Er erzählt Meldorf eine neue Geschichte über die Gründe zur Nordkap-Fahrt und das Geld.

Als der neue Mann vom Tisch aufsteht, bleibt der Taxifahrer verwirrt zurück. In der folgenden Nacht befällt ihn zum ers-ten Mal Angst, dass die Tour für ihn persönlich bittere Konse-quenzen haben könnte.

So geht es weiter. Tagsüber schläft der Fahrgast vom Vor-abend auf der Rückbank des Taxis, abends wird er durch ei-nen anderen abgelöst, der ins Restaurant hineinmarschiert und ein neues Lügenmärchen auftischt.

Meldorf beschreibt die Reise als ein einziges Martyrium. Ihm wird immer deutlicher, dass er von einer Bande Män-ner getrieben wird, deren Absichten – so viel er auch darü-ber nachdenkt – verborgen bleiben. Da ihm kein Weg einfällt, diese Kerle abzuschütteln, bleibt er seinem Fahrauftrag treu. Er bereut es in dem Augenblick, als ihm sein letzter Fahrgast kurz vor Erreichen des Nordkaps eine Revolvermündung in den Nacken presst.

Der Taxifahrer wird mit vorgehaltener Pistole genötigt, in den Laderaum eines Fischkutters zu klettern. Dort empfängt ihn ein grauhaariger Mann, der angeblich Mitglied der Rus-senmafia ist. Das Geld gehört ihm und der Transport per Taxi in den hohen Norden sollte die Scheine dem Zugriff durch die Behörden entziehen. Wer, so argumentiert dieser Mann, kontrolliert schon ein so auffälliges Fahrzeug wie ein Taxi und sucht darin nach Beute. Der Graue klärt Meldorf darüber auf, dass alle seine Fahrgäste mit der Russenmafia in Verbindung stehen und die ganze Inszenierung bloß dem Zweck diente, ihn in Angst zu versetzen und zu einem willigen Werkzeug für den Geldtransport zu machen.

Als man Meldorf im Anschluss an diese Aufklärung gehen lässt, kann der seine wiedererlangte Freiheit kaum begreifen.

14

Nachdem er seinen anfänglichen Schock überwunden hat, be-schließt er, die Reise als Tourist fortzusetzen und einen Urlaub anzuhängen. Während dieser Tage fertigt er den Bericht an.

Vieles an dieser Geschichte hat mir nicht gefallen. So erzählte Rainer Meldorf beispielsweise in seinem ausführlichen hand-schriftlichen Bericht – der dickste Papierstoß zwischen den Aktendeckeln – ausführlich die Geschichten der ersten vier Fahrgäste nach, obwohl die, wie es ihm der mysteriöse Graue am Ende erklärte, nichts mit dem tatsächlichen Geschehen zu tun hatten. Mir und Gelbarth gegenüber hatte er in den Ver-hören behauptet, dies habe er im Sinne der leichteren Identi-fizierbarkeit seiner Fahrgäste so gehalten. Er habe möglichst viel über sie schriftlich fixieren wollen, damit eine reelle Chance bestehe, sie aufzugreifen.

Genau das Gegenteil war damals eingetroffen. Keiner aus unserer Verbrecherkartei hatte zu einem der Kandidaten gepasst und nicht ein Detail in den Geschichten führte zu ir-gendetwas. Außer Ludger König blieben die Männer, die dem Taxifahrer angeblich begegnet waren, Phantome. Und zum guten Schluss blieb sogar sein erster Fahrgast vom Erdboden verschluckt.

Ganz anders verhielt es sich mit den anderen Teilen des Berichts. Die Tatsachen, die Rainer Meldorf darin schilder-te, waren von den schwedischen und norwegischen Kolle-gen sämtlich bestätigt worden. Die Reiseroute stimmte, die angegebenen Übernachtungslokalitäten stimmten und die Zeitangaben für die einzelnen Teilstrecken seiner Nordkap-Fahrt kamen hin. Es gab Zeugen in einer Tankstelle im norwe-gischen Lillehammer, die sich an Rainer Meldorf erinnerten, sogar eine Videoaufnahme von seinem Taxi, auf der eindeu-tig ein liegender Mann – hier war es noch Ludger König ge-wesen – auf der Rückbank des Taxis auszumachen war. Die norwegischen Polizisten hatten einen Matrosen befragt, der ihnen bestätigte, auf der Fähre, die der Taxifahrer Tage später benutzt hatte, einen schlafenden Mann im Fond des Wagens gesehen zu haben. Die Bedienungen in den Hotelrestaurants hatten allesamt Erinnerungen an Männer in Trenchcoat und

15

Hut zu Protokoll gegeben, die zu den Aussagen Meldorfs pass-ten. Einige hatten sich sogar daran erinnert, dass diese Män-ner längere Zeit monologisierend an seinem Tisch gesessen hatten. Den Inhalt dieser Monologe hatten die Zeugen nicht verstehen können, dies waren die einzigen unbestätigten Stel-len im Bericht.

Insofern gab es keinen Zweifel daran, dass sich bis zur Auf-klärung im Bauch des Fischkutters alles exakt so abgespielt hatte, wie vom Taxifahrer in einem Stapel College-Blöcke nie-dergelegt. Das galt ebenso für die von ihm geschilderte Rück-reise vom Nordkap nach Hause.

Lediglich das kleine Zwischenstück, also das, was sich angeb-lich an Bord des Fischkutters abgespielt hatte, war bis heute nicht bewiesen. Zwar waren der letzte Fahrgast und sein Fah-rer am Hafen zusammen im Taxi gesehen worden, es gab aber keine Zeugen dafür, dass sie tatsächlich an Bord eines Kutters gegangen waren. Aber genau dort sollte die Übergabe des Geldes passiert sein, was im Umkehrschluss ein Eingeständ-nis Meldorfs bedeutete, dass sich die fünf Millionen bis dahin zumindest in seiner Reichweite befunden hatten. Der Mafiosi, der den Geldkoffer dem Bericht zufolge entgegengenommen hatte, wurde von keiner Zeugenaussage bestätigt, es war auch kein russisches Schiff zur fraglichen Zeit im Hafenbuch ein-getragen worden. Nun gut, es konnte ebenso ein beliebiges norwegisches Schiff gewesen sein oder man hatte schlicht auf die Anmeldung im Hafenamt verzichtet. Von russischer Seite waren leider keine Informationen über den Schiffsverkehr an der norwegisch-russischen Grenze zu erhalten gewesen, so-dass es dazu keine belastbaren Informationen gab.

Rainer Meldorf, stückweise mit den Ergebnissen unserer Ermittlungen konfrontiert, hatte die ungeklärten Tatbestän-de auf die leichte Schulter genommen. Wenn die diversen Geschichten der ihm begegneten Männer nicht der Wahrheit entsprächen, dann wären sie eben erlogen. Der unauffindba-re Ludger König und die anderen verschollenen Zeitgenos-sen, die ihm über den Weg gelaufen seien, wären nicht sein Problem, sondern das der Polizei. Aus seiner Wahrnehmung heraus habe sich alles genauso zugetragen, wie er es in sei-

16

nem Bericht geschildert habe. Der schriftlich vorgelegten Ge-schichte habe er nichts hinzuzufügen.

Ich hätte im Anschluss an Meldorfs Anhörungen oft ger-ne vor Wut in die Tischkante gebissen, so sehr hat mich sei-ne ganze Haltung zur Weißglut gebracht. Mir reichten seine Erklärungen einfach nicht aus. Statt eines Rechenschaftsbe-richts – so nannte es Meldorf – konnte es sich bei dem zen-timeterdicken Papierstapel ebenso gut um den – zugegeben raffinierten – Verschleierungsversuch eines Verbrechens ganz anderer Art handeln, sozusagen ein Stück Literatur, um der Polizei die Sicht auf das wahre Geschehen zu vernebeln.

Stundenlang habe ich mir das Gehirn zermartert, um Rainer Meldorf des Mordes an Ludger König und des Raubes der fünf Millionen Euro zu überführen. Irgendwas stimmte an der Ge-schichte nicht, mein kriminalistischer Instinkt läutete Sturm.

Doch es hatte alles keinen Zweck. Ich musste den Fall zäh-neknirschend aufgeben. Was wir in Händen hatten, war viel zu dürftig, um dem Staatsanwalt einen Haftbefehl aus dem Kreuz zu leiern. Mein Chef, Oberrat Gelbarth, hat einen Ver-such in dieser Richtung unternommen, wurde aber gehö-rig abgewatscht und ausgelacht. Dieser Stachel sitzt bei ihm heute noch ziemlich tief. Der kommt nur dann wieder in Schweiß, wenn er sich seiner Sache hundertprozentig sicher ist. Gelbarth lässt einen Mörder lieber laufen als eine erneute Abfuhr von der Staatsanwaltschaft zu kassieren.

Irgendwann, schwor ich mir damals, irgendwann würde ich diesen Taxifahrer überführen. Ich musste lediglich hinter sei-ne Masche kommen. Darin war ich erstens geübt und zwei-tens besaß ich die erforderliche ellenlange Geduld. Niemand im Polizeipräsidium Essen besitzt in diesen Dingen einen so langen Atem wie ich.

17

Zurück auf dem Schreibtisch

Nach den Ermittlungen im Nordkap-Fall letztes Jahr hatte ich die Akte entnervt ins Archiv gebracht. Ich bemühte mich, nicht mehr daran zu denken. Trotzdem schlich sich der Fall immer wieder auf leisen Sohlen in meine Hirnwindungen zurück und der Groll auf Rainer Meldorf blieb bestehen. Erst durch einen Zufall rückten die Ermittlungen in diesem März wieder in mein Blickfeld.

Es herrschte eine vorfrühlingshafte Schönwetterperiode und ein frischer, strahlender Tag kündigte sich an. Es war zu spät geworden gestern Abend. Lotte und ich hatten zu lange vor der Glotze gehockt. Für sie spielte das keine Rolle, denn sie musste erst am Nachmittag in ihren Supermarkt. Dort ar-beitete sie halbtags an der Kasse. Als um halb sieben der We-cker schrillte, ein altmodisches, mechanisches Ding mit zwei Glocken auf dem Gehäuse, die in der Lage gewesen wären, ei-nen ganzen Schulhof aus der Pause zu klingeln, blieb meine Angetraute liegen.

Ich entstieg gähnend den Laken und vollzog die typischen Handgriffe eines Werktagmorgens – duschen, Zähne putzen, rasieren, anziehen, Kaffee kochen, eine Scheibe Graubrot mit Butter und Marmelade bestreichen, das Frühstück hinein-zwingen, Schuhe überstreifen, in den Mantel schlüpfen. Kurz vor acht war dieses Programm bewältigt und ich stiefelte los zum Polizeipräsidium, denn wir wohnten seit ungezählten Jahren ganz in der Nähe meines Arbeitsplatzes. Keine zehn Minuten dauerte der Weg, wenn ich in Gedanken war wie an diesem Morgen. Im Bedarfsfall benötigte ich bloß die Hälfte der Zeit.

Den Himmel kleidete ein makelloses Blau. Der Atem stand mir vorm Gesicht – so kalt war es zu dieser frühen Stunde. Ein Märztag wie aus dem Bilderbuch.

Ich schlenderte die Straße, in der wir zu Hause sind, weni-ge Steinwürfe entfernt von der belebten Alfredstraße und der

18

Grugahalle, dem größten überdachten Veranstaltungsort Es-sens, hinunter. Eine gepflegte Wohngegend, in der es sich gut leben lässt. Einiges an Jugendstil. Selbst den älteren Häusern sieht man ihren guten Pflegezustand an. Die meisten Leute hier besitzen das Geld dafür.

Weiter ging es ein Stück parallel zur Hans-Luther-Allee an einem kleinen Park entlang. Dann wechselte ich über eine kurze Treppe in die Grünanlage und setzte meinen Weg am Rand der Rasenfläche fort. Fast am Ende des Parks kam ich an der Stelle vorbei, an der Orkantief Ela am Pfingstmontag 2014 eine imposante Buche gefällt hatte. Wochenlang hatte sie den Weg versperrt mit ihrem mannshohen, senkrecht stehenden Wurzelteller und der mächtigen Krone. Wenn ich in den Tagen danach an ihr vorbeiging, hielt ich regelmäßig einen Moment inne und gedachte ihrer. Ich werfe heute noch bisweilen einen wehmütigen Seitenblick auf die Lücke.

Mit der Buche verband mich immer ein besonderes Verhält-nis. Wenn ich von einer Kneipentour durch Rüttenscheid spät abends nach Hause wankte und mich unterwegs der Druck im Unterleib erwischte, erleichterte ich mich an ihrem Stamm. Sie wird doch wohl nicht deshalb …

Ecki, meinem Freund, dem ich irgendwann leichtsinniger-weise von der Buche und mir erzählt habe, hat den Kopf ge-schüttelt und irgendetwas von Köter und Markieren gefaselt. Damit hat er mich damals tief verletzt. Der Baum und ich wa-ren Freunde, ich bewunderte seine Erhabenheit und ich glau-be fest, die Buche mochte mich auch. So wie Bäume Menschen mögen können.

Am oberen Ende der Grünanlage schlug mein Arbeitsweg einen rechten Winkel. Er querte die Büscherstraße und ich stand unvermittelt vor dem Polizeipräsidium, meiner Arbeits-stätte.

Die frische Luft hatte mich etwas munterer gemacht, als ich die paar Stufen zum Eingang des Präsidiums unter dem Stuckkopf und dem ehrwürdigen Giebelportal erklomm. Ich brummelte dem Pförtner einen Gruß zu und ging ohne Umwe-ge in mein Büro. Dort rückte ich meine transparente Schreib-tischunterlage gerade, unter der ich Zeitungsausschnitte von

19

Fällen verwahrte, in denen ich geglänzt hatte. Die Putzfrau hatte mit ihrem Lappen mal wieder meine geliebte Ordnung durcheinandergebracht. Ich gab erst Ruhe, als die Unterlage bündig mit der Schreibtischkante abschloss. Sonst bin ich nicht so ordentlich, aber mit der Unterlage habe ich einen Spleen.

Unterdessen stand meine Kollegin Möhrchen mit einer Glaskanne voll dampfendem Kaffee im Türausschnitt zum Nachbarbüro und empfing mich, fröhlich mit ihren tellergro-ßen, saphirblauen Augen zwinkernd: »Morgen, Sigi. Kaffee?«

Möhrchen ist eindeutig die gute Seele im Kommissariat. Eigentlich heißt sie Theodora Schmittkowski. Diesen Namen mag sie selbst nicht besonders und hatte nichts dagegen, von einem ihrer Kollegen wegen ihrer frischen Möhren farblich verblüffend nahe kommenden, üppigen Lockenpracht umge-tauft zu werden. Klein und pummelig ist die Kriminalassisten-tin und ihre Sommersprossen würden mit den länger werden-den Tagen bald schokoladenbraun werden. Dann sah sie aus, als hätte sie in einen frischen Kuhfladen geniest. Das machte sie nicht unbedingt hübscher und das wusste sie.

»Ein Gesicht ohne Sommersprossen ist wie ein Himmel ohne Sterne«, hatte ich Möhrchen mal über ihre sommerli-che Veränderung hinwegzutrösten versucht. Diesen lyrischen Anfall am Arbeitsplatz hätte ich mir lieber sparen sollen. Zur Antwort war Möhrchen drei Tage eingeschnappt gewesen und ich versuchte nie wieder, ihr ein Kompliment zu machen. Für sowas besitze ich ohnehin wenig Talent, was mir Lotte gerne bescheinigt. Ich bin gänzlich unfähig, vorherzusehen, welcher Stimmung eine Frau gerade ist. Das schlägt sich selbst in mei-nen Erfolgen bei Verhören nieder. Die Verhöre von weiblichen Verdächtigen fallen beträchtlich bescheidener aus als die von Männern.

Wie viele Frauen, die unzufrieden mit ihrem Aussehen sind, kompensiert Möhrchen ihre mangelnde Schönheit mit ande-ren Tugenden. Bei ihr sind es herzerfrischende Freundlichkeit und zäher Fleiß. Für ihre ordentlichen Arbeitsergebnis-se nimmt sie gerne ein Dankeschön oder ein Lob von ihren Kollegen entgegen. Daran denke ich wiederum zu selten.

20

Insgesamt ist Möhrchen jedenfalls eine angenehme Kollegin. Auf platonische Art bin ich ihr herzlich zugetan.

»Morgen, Möhrchen. Mal wieder überpünktlich!«»Einer muss ja. Gib mir mal deine Tasse.«Umständlich kramte ich meine ehemals weiße Porzellan-

tasse aus der obersten Schreibtischschublade. Ihre Höhlung trug die Patina ungezählter Durchgänge und diese Patina war niemals durch überflüssige Reinigungsversuche angekratzt worden. Die Innenwände der Tasse waren mittlerweile eben-so schwarz wie das Getränk, das nun in sie hineingegossen wurde. Ich mag Kaffee ausschließlich schwarz und nahm ei-nen tüchtigen Schluck von Möhrchens kräftigem Gebräu.

»Aah, du kochst ihn am besten«, gluckste ich zufrieden. Jetzt sah der Tag schon anders aus. »Weißt du, was heute so an-liegt?«

»Oberrat Gelbarth hat gestern noch angerufen. Das Verneh-mungsprotokoll zu diesem russischen Dealer, den du vorges-tern vernommen hast, ist ihm zu blumig ausgefallen. Das sollst du bitte überarbeiten und ihn vorher dazu zurückrufen.«

Meine Laune durchschlug den Boden und landete zwei Stockwerke tiefer im Keller.

Seit Herbst letzten Jahres arbeiteten wir an der Ausräuche-rung eines Drogenrings, in den unter anderem Rainer Meldorfs Chef verwickelt war. Den Tipp hatten wir sogar von unserem Nordkap-Reisenden erhalten. Drei Mordfälle hatten wir im Zuge der Ermittlungen zu diesem Tatkomplex aufklären kön-nen, über ganz Westdeutschland verteilt. Darüber waren wir von der Mordkommission in die Sache hineingerutscht. In der Folge halfen wir beim Drogendezernat aus, das für die mas-senhaften Festnahmen von Kleinkriminellen und Dealern, die alle an diesem Kartell dranhingen, unterbesetzt war. Deshalb schlug ich mich momentan mit den ganz kleinen Ganoven rum und hatte dabei eine Menge Papierkram am Hals.

Wie ich diese Korinthenkackerei von Gelbarth hasste! Im-mer hatte dieser Kerl etwas an meinen Berichten auszusetzen. Seit ich in den Dienst eingetreten war, widerte mich die Arbeit an diesen sachlichen, trockenen Polizeiberichten an. Gelbarth, ein aalglatter, arroganter Schnösel mit Nickelbrille und Kahl-

21

schädel, dazu gute zehn Jahre jünger, hatte mich schon mehr-mals wegen meines »literarischen Stils« kritisiert. Und jetzt wieder dieser Heini, der anscheinend bloß trockenen Torf las und mit ein paar flüssigen, launigen Formulierungen in sei-ner Auffassungsgabe überfordert war. Ich verwünschte diesen Formalisten!

Mit einem tiefen Seufzer griff ich zum Telefonhörer. Mein Chef meldete sich auf die für ihn typische Weise, indem er sei-nen Namen wie einen Befehl aussprach: »Gelbarth!«

»Siebert hier. Sie wollten mich gestern sprechen.«»Ach ja, Herr Siebert. Sagen Sie, meinen Sie das ernst mit

diesem Bericht?«»Ich bin selten unernst.« Warum regte der mich immer

gleich so auf? Das schaffte außer ihm nur Lotte.»Ich zitiere: ›Der Verhörte hinterließ einen verunsicherten

Eindruck‹. Oder eine andere Stelle: ›Bei der Beantwortung meiner Frage knetete der Verdächtige sein rechtes Ohrläpp-chen zwischen Daumen und Zeigefinger‹. Verdammt, Siebert, nennen Sie das ein Vernehmungsprotokoll?«

»Jedenfalls nicht eine Ode an die Freude.«»Werden Sie bitte nicht komisch, Siebert. Wie oft habe ich

Sie darum gebeten, ausschließlich Fakten in Ihren Berichten festzuhalten. Es interessiert den Staatsanwalt nicht, ob Ihr Verdächtiger sich das Ohrläppchen knetet oder am Hintern kratzt. Das gehört nicht in ein Vernehmungsprotokoll.«

»Mal was von Körpersprache gehört, Gelbarth?«Natürlich war das frech. Aber mit dem Einsparen des »Herr«

vor der Anrede hatte schließlich er angefangen.Mein Boss merkte, dass ich auf hundertachtzig war. Er schal-

tete – wohl in Erinnerung an einen Deeskalations-Lehrgang – einen Gang zurück. »Lieber Herr Siebert. Ich möchte Ihnen wirklich nicht zu nahe treten. Wären Sie bitte so freundlich, Ihren Bericht zu überarbeiten und dabei immer im Auge zu behalten: Nur Fakten zählen!«

Sollte ich meinen »literarischen Stil« verteidigen oder klein beigeben? Am Ende saß systembedingt ohnehin der Chef am längeren Hebel. Ich schluckte kurz, um die Kritik hinunterzu-würgen, und antwortete knapp: »Mache ich.« Dann knallte ich

22

den Hörer auf den Apparat, ohne Gelbarth die Chance einer Erwiderung gelassen zu haben.

Jetzt hing meine Laune endgültig auf Halbmast. »Möhrchen, mehr Kaffee«, bellte ich durch die geöffnete Verbindungstür ins Nebenbüro. Im selben Moment tat es mir leid, sie als Blitz-ableiter missbraucht zu haben. Sie konnte ja nichts für meinen miesen Start in den Tag. Meine Kollegin kam flugs mit der Kaf-feekanne um die Ecke geschossen.

»Dieser Oberarsch! Was bildet der sich ein? Lesen kann er ja, aber beim Verstehen, da fehlt ihm so einiges. Okay, ist noch keine fünfzig. Kann noch werden«, polterte ich ungeniert. Da stand bereits – wie von Zauberhand – meine Tasse wieder ge-füllt auf meinem Tisch.

In diesem Moment betrat mein langjähriger Kollege Erich Terschüren das Büro. Fünfzehn Jahre arbeitete ich nun mit ihm zusammen. Er war ein stattlicher Kerl, beinahe eins neunzig groß und ausgesprochen muskulös. Außer beim Polizeisport betätigte er sich regelmäßig in einem Fitnessstudio, mindes-tens zwei Mal die Woche. Sein Gesicht sah im Kontrast zu sei-nem gestählten Körper auffällig teigig aus, mit einem leichten Aufgalopp zum Doppelkinn. Es wirkte auf mich etwas tumb, wahrscheinlich deshalb, weil ich mit ihm so manche Schlacht geschlagen hatte und ihn gut kannte. Er war nicht der Hellste bei seiner Arbeit, dafür umgänglich und, was manchmal von Vorteil sein konnte, leicht manipulierbar.

Möhrchen, die gerade im Begriff stand, vor meiner miesen Laune in ihr eigenes Reich zurückzuflüchten, verharrte in der Fluchtbewegung und strahlte Erich an. Mochte der Beelzebub wissen, warum der Kerl solch einen Schlag bei den Frauen hatte.

»Einen wunderschönen guten Morgen«, grüßte Erich. Er konnte ja nicht ahnen, wie es um die Stimmung in diesem Büro bestellt war.

»Morgen«, erwiderte ich den Gruß knapp.Möhrchen strahlte unseren Kollegen unvermindert an. »Gu-

ten Morgen, lieber Erich. Möchtest du einen Kaffee?«»Überaus gerne. Bitte mit viel Milch, wie immer.«»Die Milch steht nebenan. Kommt gleich«, flötete Möhrchen

23

und tänzelte, ihre Schwungmasse in deutliche Pendelbewe-gung versetzend, aus dem Raum.

»So, genug. Bitte Ruhe. Ich muss diesen Bericht hier für Gelbarth überarbeiten«, knurrte ich Erich an. Der kannte mich und verstand.

Dieser innere Widerstand gegen Gelbarths Kritik war der erste Baustein an diesem Morgen, der den Nordkap-Fall wie-der ins Zentrum meines Interesses rückte.

Beim Durchlesen meines Vernehmungsprotokolls fand ich tatsächlich viele Stellen, in denen ich die Verhörsituation und das Verhalten meines Gegenübers beschrieb. Das lag daran, dass es für mich relevant war, wie sich ein Verdächtiger bei der Befragung verhielt. Ich zog meine Schlüsse daraus.

Unwillkürlich musste ich an den Bericht von Rainer Mel-dorf über seine Nordkap-Fahrt denken. Er hatte seiner Tour ein literarisches Gewand verpasst mit wörtlicher Rede, Land-schaftsbeschreibungen und Erläuterungen seiner Gefühle. Während ich in meinen Protokollen Informationen festhielt, um mir beim späteren Lesen die Situation wieder vergegen-wärtigen zu können, verdächtigte ich den Taxifahrer, bewusst falsche Botschaften gesendet zu haben, um die Leser zu fal-schen Schlüssen zu verleiten. Sollte ich die Nordkap-Akte noch einmal ganz genau unter diesem Blickwinkel studieren?

Während ich Gelbarths Wünschen zu entsprechen versuch-te, dachte ich über meine Eingebung nach. Und dann ereig-nete sich der zweite kleine Umstand an diesem Morgen, der mich erneut dem Nordkap-Fall zutrieb.

Erich saß mir gegenüber an seinem Schreibtisch und schob Langeweile. Aus irgendeinem Grund wollte ihn Gelbarth nicht bei den Ermittlungen zum Dealer-Ring dabeihaben und einen Mordfall bearbeiteten wir zurzeit nicht. Mein Kollege surfte im Internet. Und dann kam, was kommen musste: Er schwärmte mir brühwarm von seiner augenblicklichen Flamme vor, mit der er seit ungefähr vier Monaten zusammenwohnte. Dabei leuchtete sein schwammiges Gesicht unter der Stoppelfrisur, als wäre er soeben zum Lottomillionär geworden.

»Marlena und ich waren gestern in der Disco. Die kann tan-zen! Die Hälfte aller Männeraugen war nur auf sie gerichtet.

24

Marlena hat richtig Schwung. Und sie ist unermüdlich. Ir-gendwann konnte ich nicht mehr, da hat sie noch zwei andere Männer durchgetanzt. Und als wir gingen, hat sie so einem Typen zum Abschied das Kinn gekrault. Der ist vielleicht spitz geworden. Hat man ihm richtig angesehen. Dann hat sie ihm eiskalt den Rücken zugedreht, ihm über die Schulter zuge-wunken und wir sind abgezogen. Der Meister hat bestimmt letzte Nacht von ihr geträumt!«

Ob die doofe Nuss nur einmal daran gedacht hatte, dass Marlena diese Spielchen genauso trieb, wenn er nicht dabei war?

Erich ist, was seine Beziehungen angeht, unverbesserlich. Er sucht sich immer denselben Frauentyp aus. Auf Oberwei-te steht er nicht, er mag das Knabenhafte. Gertenschlank soll sein Liebchen sein, blond oder zumindest blond gefärbt und eine Draufgängerin, was das andere Geschlecht angeht. So lässt er sich mit einem Vamp nach dem anderen ein. Das geht dann zwischen sechs Monaten und zweieinhalb Jahren gut und endet regelmäßig in einer Trennung mit tiefem Schmerz, Gezeter und Katzenjammer. Niemals wird er schlau, der Erich. Ich musste ihn unbedingt von seiner Schwärmerei ablenken, sonst saß ich noch länger an meinem Bericht.

»Hör mal, Erich, hat Gelbarth gar nix zu tun für dich?«Meine Frage war Erich nicht mal peinlich. »Nö.«Was fiel mir auf die Schnelle ein? »Habe ich dir eigentlich

von dem Nordkap-Fall erzählt?«»Bisschen.«Erich war seinerzeit wegen einer Sportverletzung längere

Zeit ausgefallen. Das nutzte ich jetzt schamlos aus. »Da sind neue Aspekte aufgetaucht«, beschwindelte ich mein Opfer, »hol dir bitte die Akte aus dem Archiv und dann erkläre ich dir, worum es im Einzelnen geht.«

Mein junger Kollege wurde skeptisch. »Hat Gelbarth dich beauftragt?«

Sollte ich lügen? Ein wenig Schummeln musste erlaubt sein, wollte ich nicht den ganzen Tag mit Storys von der einzig Schönen belatschert werden. »Dem Boss liegt sehr an unserer Aufklärungsquote. Und der Nordkap-Fall darf nicht als abge-

25

schlossen angesehen werden.« Ha. Damit hatte ich mich glatt um eine Lüge herummanövriert.

»Meinetwegen. Bin im Archiv.« Erich schob ab und ich hatte ein wenig Zeit, um mit meiner Arbeit weiterzukommen.

Eine halbe Stunde später war es wieder vorbei mit der Ruhe. Erich kam zurück, die Akte unter dem Arm. »Und jetzt?«

»Lies mal den Bericht von diesem Taxifahrer aufmerksam durch. Den findest du hinten in der Akte. Und gegen Feier-abend sagst du mir, was du davon hältst.«

»Okay, Chef. Wird gemacht.«Eigentlich war ich formal nicht Erichs Chef, aber er hatte

sich diese Anrede irgendwann zugelegt und zugegebenerma-ßen schmeichelte sie mir ein weinig. Ich bildete mir ein, das wäre ein Beweis seiner Achtung vor meinen Erfolgen als Er-mittler. Bei Erich steht es nämlich nicht so toll mit seiner Er-folgsbilanz. Mein Kollege ist nicht faul – das darf ihm niemand unterstellen. Gründlich ist er, bloß bei den Schlussfolgerun-gen hapert es etwas.

Mein Gegenüber klemmte sich geduldig hinter die College-Blöcke und blätterte Seite für Seite durch. Auf Notizen ver-zichtete er. Und ich kam durch mein kleines Manöver dazu, ungestört meinen Kram zu erledigen.

Gegen Mittag verschwanden Möhrchen und Erich in die Pau-se. Die sparte ich mir heute. Ich wollte dieses Vernehmungs-protokoll unbedingt am frühen Nachmittag abschließen. Zäh rang ich mir die Formulierungen ab, wie Gelbarth sie von mir erwartete.

Als Erich zurückkehrte, setzte er sich brav wieder an sei-ne Studien. Gegen Feierabend waren wir beide durch. Ich ließ meine Faust auf den Tisch donnern und rief erleichtert: »So. Wenn das immer noch nicht den Geschmack der gestrengen Obrigkeit trifft, dann weiß ich es auch nicht. Dann musst du mit ran, Erich.« Ich wandelte den umformulierten Bericht in eine PDF-Datei um, hängte sie an eine E-Mail und schickte das Ganze an meinen Vorgesetzten. Dann schaute ich meinem Kol-legen ins Gesicht.

»Was hältst du von dem Husarenstück da, Erich?«Mein Gegenüber antwortete ohne Umschweife:

26

»Das kommt mir alles wie ein riesiges Theater vor.«Respekt. Beim ersten Durchlesen des Pudels Kern getroffen.

Hut ab, Kollege.»Nicht übel, Erich. Genau meine Meinung. Wenn du alles

wegstreichst aus dieser Akte, was dir als Theater erscheint: Was, glaubst du, ist damals wirklich passiert?«

Erich saß in der Zwickmühle. Er hatte keine Ahnung, was ich von ihm hören wollte, das sah ich ihm an. Er wurde sichtlich rot wegen des Lobs, druckste aber bei seiner Einschätzung des Berichts herum. Das Telefon rettete ihn aus der Klemme. Wie der Blitz griff er zum Hörer und meldete sich schneidig. »Terschüren.«

Das Gespräch dauerte keine Minute. Erich legte den Hörer auf die Basisstation zurück, sprang von seinem Stuhl auf und informierte mich knapp: »Ich soll einem Verhör beiwohnen. Ich gehe dann mal.« Sprachʼs und verschwand durch die Bü-rotür.

Der Nordkap-Fall lag also in meinem Büro, wenn auch auf dem Platz gegenüber. Angeregt durch den Auftrag meines Chefs hatte ich nach langer Zeit wieder an ihn gedacht. Erichs Schilderung seiner Liebesabenteuer hatte dazu geführt, ihn als Unvorbelasteten auf die Akte anzusetzen. So kam der Fall für mich erneut auf die Tagesordnung und sollte dort bleiben. Bis zu seiner Lösung.

Ich startete in den Feierabend. Lotte war noch nicht zu Hau-se, denn der Supermarkt, in dem sie kassierte, schloss erst um zwanzig Uhr. Dann musste sie das Geld zählen und war nicht vor neun zu erwarten. Zeit für ein Bierchen?

Der Gedanke an ein kühles Gezapftes krallte sich in mein durstiges Zäpfchen. Eine Belohnung hatte ich nach diesem grausigen Tag bestimmt verdient. Ich zückte das Handy und rief Ecki an. Der war sofort Feuer und Flamme für meinen Vor-schlag. Er wollte Atze informieren, wir würden uns bei Guido treffen.

Ich machte auf dem Absatz kehrt und lenkte meine Schritte ins Rüttenscheider Kneipenviertel. Wie komfortabel, die Aus-tragungsorte genüsslich zelebrierter Mußestunden fußläufig erreichen zu können!

27

Guido betrieb seinen Schuppen in zweiter Generation, hatte jedoch nichts an der Einrichtung der elterlichen Gaststätte ge-ändert. Der hufeisenförmige Tresen aus dunklem Holz stand mitten im Raum. Darum herum fanden mindestens zwanzig durstige Kehlen Platz. Diese Gemütlichkeit war es, die ich suchte. Geh mir weg mit diesen abgeleckten, nüchternen Bu-den, die keinen Appetit auf ein Pils aufkommen lassen.

Keine Viertelstunde später stand ich auf Eckis und meinem Lieblingsfleck. Guido müsse diese Parzelle grundbuchamtlich auf mich und ihn übertragen, scherzte Ecki gerne. Den Spruch konnte unser Wirt nie wechseln, so schlagfertig er auch sonst unterwegs war.

Zum Servicestandard in unserem Stammlokal gehörte, dass ich gar nicht erst bestellen musste. Im Handumdrehen stand eine Tulpe, gefüllt mit edelstem Nass, vor mir. Zum sofortigen Verzehr bestimmt, rann es kalt und süffig durch meine Kehle. Unaufgefordert sorgte Guido für Nachschub.

Nach dem dritten Pils kam Ecki durch die Tür geschoben. »Schieben« trifft seine Fortbewegungsart sehr gut, denn im Gegensatz zu mir trägt er eine ziemliche Trommel vor sich her. Atze hatte er im Schlepptau. Dessen Körperbau ist wiede-rum sehr dazu geeignet, mit seinem Freund, gemeinsam auf die Waage gestellt, einen Durchschnitts-BMI auf die Skala zu zaubern.

Nicht nur wegen ihres kontrastierenden Körperbaus geben die beiden ein eigenartiges Pärchen ab. Ecki ist Streifenpoli-zist. Wir haben uns vor ungezählten Jahren hier am Tresen kennengelernt. Irgendwann tauchte Atze auf, der ein wenig halbseiden rüberkam. Wenn man mich fragte, lag ein wenig von der Verschlagenheit eines Ganoven in seinem Blick. Er hat mir nie verraten, womit er seine Brötchen verdient. Es hätte mich nicht gewundert zu hören, dass der Bursche ein wenig Schmu macht und sein Einkommen hart am Rand der Legali-tät abfischt. Ecki, der Polizist, hält sich privat einen Spitzbu-ben – hätte man übertrieben sagen können. Ach, sollen die ihr Geheimnis behalten. Die Abende mit Dick und Dünn sind immer schön.

»Vorsprung? Das sehen wir unter Profis nicht gerne«, be-

28

grüßte mich Ecki lachend und umarmte mich dabei. Atze klatschte ich gleichzeitig mit der Handfläche ab.

»Das ist kein Vorsprung. Das brauche ich zum Verdrängen dieses fürchterlichen Tages.«

»Zum Verdrängen ist das nicht das Richtige«, belehrte mich Ecki und bestellte gleichzeitig unseren Lieblingsschnaps. »Guido, drei Sammet.«

Wer den Samtkragen, von Ecki »Sammet« genannt, erfun-den hat, weiß wahrscheinlich niemand. Es ist eine Spezialität in Düsseldorf und im Ruhrgebiet, die irgendwann aussterben wird wie der Ruhrbergbau. Jedenfalls handelt es sich dabei um einen eiskalten, klaren Schnaps, Korn oder Wacholder, auf den mit einer spitzen Tülle eine dunkle Haube Boonekamp gesetzt wird. Bei echten Könnern dürfen die beiden Schich-ten nicht miteinander verlaufen, sodass der Boonekamp wie ein »Samtkragen« auf dem Klaren schwimmt. Atze wusste zu berichten, dass er von einschlägigen Tresen-Poeten »Nerz des kleinen Mannes« genannt wird.

Die Kurzen kamen und wir stürzten sie nach kurzem Zu-prosten standesgemäß in einem Schluck hinunter. Ecki hatte recht. Das war die richtige Medizin!

Unterdessen hatte Guido drei neue Pils auf den Tresen ge-stellt. Damit kühlten wir die brennenden Kehlen. Erst jetzt erkundigte sich Ecki nach meinem Tag, den ich für ihn zusam-menfasste.

»Ist das gut, dass ich Streife gehe. Die Anzeigen schreiben, das reicht mir. Deinen Papierkram möchte ich nicht machen.«

»Vom Norwegen-Fall kommst du wohl niemals los, was, Sigi? Der hat dich zu sehr geärgert, dieser Taxifahrer«, blin-zelte mich Atze aus seinen Spitzbuben-Äuglein an. Ich hatte den beiden während der Ermittlungen davon erzählt, meine Saufkumpane waren also im Bilde.

Ich fühlte mich ertappt. »Man weiß nie, was man mit neuer Brille und zeitlichem Abstand noch aufdecken kann. Interes-sant ist der Fall allemal.«

»Wenn man die Wahl hat, sollte man lieber einen Terrier als dich an den Hacken haben, Sigi«, tönte Ecki. »Lass den armen Mann doch laufen. Selbst wenn dieser Meldorf mit Dreck am

29

Stecken frei rumläuft, dann hat er das prima vor euch ver-steckt. Man muss gönnen können.« Wie du deinem Atze, dach-te ich, behielt das aber für mich.

Ecki erzählte von seinem neuen Auto. Er war alleinstehend und gab den Rest seiner Kohle, der ihm nach Abzug von Miete, Futterage und Sauftouren blieb, für sein Hobby aus. Seine Kar-ren waren immer mindestens sieben Nummern zu groß für das Gehalt eines Streifenpolizisten. Natürlich handelte es sich stets um alte Schüsseln und Ecki hatte es definitiv Atze mit seinen guten Kontakten zur Schrottplatz-Szene zu verdanken, dass ihn die Unterhaltskosten nicht auffraßen. Spätestens zwei bis drei Jahre nach der Anschaffung verlor mein Kumpel wieder die Lust an seinen Spielzeugen. Dann musste ein neu-es Auto her. Das war seltsamerweise genau der Rhythmus, in dem Erich seine Freundinnen durchtauschte. Wenn Ecki gera-de ein neues Auto gekauft hatte, dann müsste Marlena ihren Liebling bald abschießen. Ich ahnte Fürchterliches!

Diesmal war Ecki eine S-Klasse vor die Flinte gekommen, uralt, vorbildlich gepflegt und mit dem Verbrauch einer Lo-komotive der Transsibirischen Eisenbahn. Er schwärmte Atze und mir vom Komfort und der plüschigen Innenausstattung vor und wir nahmen ihn ein wenig auf den Arm. Wann er denn zum Bosporus aufbrechen würde, fragte ich ihn.

»Fahr du erstmal mit, bevor du deine Hauptkommissar-Schnauze aufreißt«, fertigte mich Ecki eingeschnappt ab. Wir pflegten eine deutliche Sprache miteinander!

Der Abend ging feuchtfröhlich weiter und zwischendurch schob ich mir zwei halbe Mettbrötchen zwischen die Zähne. Bei Guido steht so etwas noch hinter dem Tresen. Ziemlich an-geheitert verabschiedete ich mich kurz nach zehn von meinen Kumpanen, die kein Ende fanden.

Gut gelaunt dackelte ich Richtung Heimat. Und wie so oft schrie meine Blase in Höhe des Polizeipräsidiums nach Er-leichterung. Ich schlich mich an den Baumstumpf meiner Bu-che heran. In stillem Gedenken an den stattlichen Baum pul-lerte ich auf seine Überreste.

Gegen halb elf polterte ich zur Haustür herein. Lotte war not amused. »Säufer!«, schleuderte sie mir entgegen. Ab da

30

herrschte stille Messe. Nicht weiter tragisch. Mein Bedarf an Unterhaltung war ohnehin gedeckt.

Lieber Dietmar,

seit drei Monaten halte ich mich in Namibia auf und lang-sam gewöhne ich mich an dieses Land. Natürlich vermis-se ich meinen Pott, mit dem mein Herz verwachsen ist. Ich werde ihn wahrscheinlich niemals mehr wiedersehen, höchstens wenn ich tot bin. Das schmerzt mich unsäglich. Aber mir ist bewusst, dass ich mich mit meinem Los arran-gieren muss und im Grunde ist es hier gar nicht so übel.Ich weiß genau, wie fremd mir alles war, als ich aus Wind-hoek hier in Swakopmund, der angeblich deutschesten Stadt südlich des Äquators, ankam. Die überwältigende Öd-nis, die diese Stadt einrahmt, war mir unheimlich und an die Überzahl der farbigen Einwohner, die mich daran er-innert, dass ich weit von Zuhause entfernt bin, musste ich mich erst gewöhnen.Heute lächle ich darüber. Ich liebe die kalte Ohrfeige, die der Atlantik tagtäglich Swakopmund und der direkt am Stadtrand beginnenden Namibwüste verpasst. Ich mag das Gewirr aus den Sprachen, den unbeschwerten Mix aus Eng-lisch, Afrikaans und Deutsch und den Klang der afrikani-schen Zungen mit den für europäische Ohren merkwürdig klingenden Klicklauten.Reiseführer schreiben diesem Ort gerne den Charme eines traditionellen deutschen Seebads zu. Natürlich sind ein paar wilhelminische Bauten im Stadtbild erhalten geblie-ben, wie das Alte Amtsgericht, das Hohenzollernhaus oder das Woermannhaus. Das Erbe der dreißigjährigen Koloni-alzeit bleibt so im Stadtbild gegenwärtig. Damals schrieb sich Deutschland großspurig den Status einer Schutzmacht für diesen Landstrich zu und nannte das Land Deutsch-Südwestafrika. Die Episode dauerte bis 1915 an. Für mich dominiert diese Facette der Stadt nicht ihr Gesamtbild, denn dafür sind viel zu viele neue Häuser entstanden. Aus Glas und Beton, wie sie überall auf der Welt zu finden sind.

31

Außerdem sind diese wenigen urdeutschen Baurelikte in ein Gesamtpanorama eingebunden, das es so in Deutsch-land niemals gegeben hat. Man muss sich beispielsweise an den Anblick von Palmen neben einem weiß-rot geringelten Leuchtturm gewöhnen, der ohne Weiteres die Strandpro-menade einer Nordseeinsel zieren könnte.Ich stehe gerne auf der Seebrücke, die viel weiter ins Meer ragen sollte, um eine Möglichkeit für Schiffe zu bieten, weit vor der Brandung anzulegen. Sie nennen das Teil hier Jetty. Ich mag es, im gleichnamigen Restaurant an der Spitze der Seebrücke über der Brandung zu sitzen, durch den Glasbo-den dem anbrausenden Atlantik zuzuschauen, die vorbei-ziehenden Vögel zu beobachten und die durch die Wellen gleitenden Delfine. Sie servieren dort fangfrischen Fisch und einen köstlichen Weißwein.Auch in Kücki’s Pub halte ich mich gerne auf. Der erinnert mich sehr an eine Kneipe bei uns zu Hause. Ich finde es richtig originell und irgendwie hierher passend, dass sie im Treppenhaus das Hinterteil eines abgestürzten Flugzeu-grumpfs als Dekoration an die Wand montiert haben. Das Bier kommt frisch aus dem Zapfhahn, die Kellnerin spricht einen auf Deutsch an, obwohl die Speisekarte in Englisch abgefasst ist. Ich sitze am Tresen auf einem Barhocker beim Bier und gucke mir die Leute an, die aus aller Welt nach Swakopmund reisen. Ich kann die Seele richtig baumeln las-sen. Manchmal erwische ich mich dabei, wie ich vergesse, wo ich eigentlich gelandet bin.Du siehst, ich bin voll und ganz hier angekommen. Sei noch-mals versichert, dass ich mich hier pudelwohl fühle.

Viele liebe Grüße

dein Rainer

Kriminelles Terrainbei

edition oberkassel macht abhängig!

Pure spannende Unterhaltung.

edition oberkassel

ISBN: 9783958130319

ISBN: 9783943121926 ISBN: 9783958130029

ISBN: 9783943121988