Spurenstoffe beeinflussen das Zusammenleben

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Nachrichten aus der Chemie | 59 | Juni 2011 | www.gdch.de/nachrichten Die natürliche Kommunikation über Düfte Der Mensch hängt sehr von visu- ellen und akustischen Reizen ab, um sich im Alltag zurechtzufinden und mit seiner Umgebung zu kommuni- zieren. Der Geruchssinn gilt – wenn auch oft zu Unrecht – als unbedeu- tend (siehe Kasten S. 614). Die meis- ten Tiere nehmen dagegen ihre Um- gebung hauptsächlich über che- mische Stoffe wahr – die Infoche- mikalien. Tiere leben in einer eige- nen Duftwelt. In ihr steuern Info- chemikalien lebenswichtige Prozes- se wie Fortpflanzung, Sozialverhal- ten, Nahrungsaufnahme, Verteidi- gung oder Orientierung. Die Duftsignale setzen sich meist aus mehreren Einzelstoffen zusam- men; das Königinnenpheromon der Hummel Bombus terrestris enthält 300 verschiedene Komponenten. 16 davon erwiesen sich als physiolo- gisch aktiv. 2) Die natürlichen bisher chemisch identifizierten Infochemikalien ge- hören zu so unterschiedlichen Stoff- klassen wie Proteinen, Peptiden, Aminosäuren, Kohlenhydraten, Kohlenwasserstoffen, Aldehyden, Carbonsäuren, Lipiden, Lactonen, Steroiden, Phenolen, Terpenen, Phosphatidylcholinen oder Stick- stoffverbindungen. Viele Organismen sind extrem empfindlich und reagieren auf Spu- Stellen Sie sich vor, Sie befänden sich in einer anderen Welt: Sie er- kennen am Geruch, dass es Nacht ist (1). Sie erschnuppern, dass Ihre Frau ungefähr einen Kilometer ent- fernt in einer bestimmten Richtung ist und gehen auf geradem Weg zu ihr (2). Auf Ihrem Weg dorthin wer- den Sie angegriffen und holen schnell und erfolgreich Hilfe, in- dem Sie einen anderen Geruch aus- strömen (3). Gleichzeitig reagiert Ihr Körper und bildet eine Art Rüs- tung aus, die Sie bei der nächsten Attacke dieses Angreifers besser schützt (4). So treffen Sie wohl- behalten Ihre Frau und gehen zu- sammen mit ihr nach Hause. Nach einer Weile dringt ein Riese bei Ih- nen ein, zerstört Ihre Speisevorräte, isst Ihre Kinder auf und nistet sich bei Ihnen häuslich ein, und nur weil er Ihr persönliches Parfum be- nutzt, dem Sie partout nicht wider- stehen können, laden Sie ihn auch noch täglich zum Essen ein (5). Das ist keine Science Fiction, sondern normaler Alltag in der Na- tur. So machen es die Schmetter- lingsraupen Mythimna separata (1), zahlreiche Nachtschmetterlinge (2), Pflanzen, die Parasiten ihrer Fraß- feinde anlocken (3), viele Arten im Zooplankton, z. B. Daphnia (4, Abb. 1), und die Riesen sind Parasiten in Ameisenvölkern, z. B. die Raupen von Bläulingen (5). 1) Ursula Klaschka Stören Duftstoffe aus Parfüm, Kosmetika, Wasch- und Reinigungsmitteln die Kommunikation und das Leben von Umweltorganismen? Die Erforschung dieses Infochemikalieneffekts ist ein neuer Zweig der Ökotoxikologie. Spurenstoffe beeinflussen das Zusammenleben Ökotoxikologie Abb. 1. Süßwasserkrebse wie Daphnia nutzen natürliche Infoche- mikalien, die Artgenossen, Feinde, Pflanzen oder andere Sender ab- geben, für eine an die Umgebung angepasste Verhaltensweise und Physiologie. Beide gezeigten Tiere stammen von dem gleichen Klon von Daphnia cucullata ab, links mit Helm und Schwanzspitze, rechts in der normalen Form (nach Lit. 7) ): Diese morphologischen Veränderungen werden nachweislich durch Infochemikalien gesteu- ert. Auch Faktoren wie Ernährungszustand, Temperatur, Alter, Populationsdichte oder Jahreszeit haben einen Einfluss. QUERGELESEN ❯❯ Manche Duftstoffe in Kosmetika oder Wasch- und Reinigungsmitteln besitzen dieselbe chemische Struktur wie natürliche Infochemikalien, die Pflanzen und Tiere für ihre chemische Kommuni- kation nutzen. ❯❯ Anthropogene Infochemikalien sind damit poten- zielle Störfaktoren in einem hochsensiblen System des Zusammenlebens von Tier- und Pflanzenarten. ❯❯ Die Untersuchung dieses Infochemikalieneffekts ist eine interdisziplinäre Aufgabe für die chemische Ökologie und die Ökotoxikologie. 613

Transcript of Spurenstoffe beeinflussen das Zusammenleben

Nachrichten aus der Chemie | 59 | Juni 2011 | www.gdch.de/nachrichten

Die natürliche Kommunikation über Düfte

� Der Mensch hängt sehr von visu-ellen und akustischen Reizen ab, um sich im Alltag zurechtzufinden und mit seiner Umgebung zu kommuni-zieren. Der Geruchssinn gilt – wenn auch oft zu Unrecht – als unbedeu-tend (siehe Kasten S. 614). Die meis-ten Tiere nehmen dagegen ihre Um-gebung hauptsächlich über che-mische Stoffe wahr – die Infoche-mikalien. Tiere leben in einer eige-nen Duftwelt. In ihr steuern Info-chemikalien lebenswichtige Prozes-se wie Fortpflanzung, Sozialverhal-ten, Nahrungsaufnahme, Verteidi-gung oder Orientierung.

Die Duftsignale setzen sich meist aus mehreren Einzelstoffen zusam-men; das Königinnenpheromon der Hummel Bombus terrestris enthält 300 verschiedene Komponenten. 16 davon erwiesen sich als physiolo-gisch aktiv.2)

Die natürlichen bisher chemisch identifizierten Infochemikalien ge-hören zu so unterschiedlichen Stoff-klassen wie Proteinen, Peptiden, Aminosäuren, Kohlenhydraten, Kohlenwasserstoffen, Aldehyden, Carbonsäuren, Lipiden, Lactonen, Steroiden, Phenolen, Terpenen, Phosphatidylcholinen oder Stick-stoffverbindungen.

Viele Organismen sind extrem empfindlich und reagieren auf Spu-

� Stellen Sie sich vor, Sie befänden sich in einer anderen Welt: Sie er-kennen am Geruch, dass es Nacht ist (1). Sie erschnuppern, dass Ihre Frau ungefähr einen Kilometer ent-fernt in einer bestimmten Richtung ist und gehen auf geradem Weg zu ihr (2). Auf Ihrem Weg dorthin wer-den Sie angegriffen und holen schnell und erfolgreich Hilfe, in-dem Sie einen anderen Geruch aus-strömen (3). Gleichzeitig reagiert Ihr Körper und bildet eine Art Rüs-tung aus, die Sie bei der nächsten Attacke dieses Angreifers besser schützt (4). So treffen Sie wohl-behalten Ihre Frau und gehen zu-sammen mit ihr nach Hause. Nach einer Weile dringt ein Riese bei Ih-nen ein, zerstört Ihre Speisevorräte, isst Ihre Kinder auf und nistet sich bei Ihnen häuslich ein, und nur weil er Ihr persönliches Parfum be-nutzt, dem Sie partout nicht wider-stehen können, laden Sie ihn auch noch täglich zum Essen ein (5).

Das ist keine Science Fiction, sondern normaler Alltag in der Na-tur. So machen es die Schmetter-lingsraupen Mythimna separata (1), zahlreiche Nachtschmetterlinge (2), Pflanzen, die Parasiten ihrer Fraß-feinde anlocken (3), viele Arten im Zooplankton, z. B. Daphnia (4, Abb. 1), und die Riesen sind Parasiten in Ameisenvölkern, z. B. die Raupen von Bläulingen (5).1)

Ursula Klaschka

Stören Duftstoffe aus Parfüm, Kosmetika, Wasch- und Reinigungsmitteln die Kommunikation und das

Leben von Umweltorganismen? Die Erforschung dieses Infochemikalieneffekts ist ein neuer Zweig der

Ökotoxikologie.

Spurenstoffe beeinflussen das Zusammenleben

�Ökotoxikologie�

Abb. 1. Süßwasserkrebse wie Daphnia nutzen natürliche Infoche-

mikalien, die Artgenossen, Feinde, Pflanzen oder andere Sender ab-

geben, für eine an die Umgebung angepasste Verhaltensweise und

Physiologie. Beide gezeigten Tiere stammen von dem gleichen Klon

von Daphnia cucullata ab, links mit Helm und Schwanzspitze,

rechts in der normalen Form (nach Lit.7)): Diese morphologischen

Veränderungen werden nachweislich durch Infochemikalien gesteu-

ert. Auch Faktoren wie Ernährungszustand, Temperatur, Alter,

Populationsdichte oder Jahreszeit haben einen Einfluss.

� QUERGELESEN

�� Manche Duftstoffe in Kosmetika oder Wasch- und

Reinigungsmitteln besitzen dieselbe chemische

Struktur wie natürliche Infochemikalien, die

Pflanzen und Tiere für ihre chemische Kommuni-

kation nutzen.

�� Anthropogene Infochemikalien sind damit poten-

zielle Störfaktoren in einem hochsensiblen System

des Zusammenlebens von Tier- und Pflanzenarten.

�� Die Untersuchung dieses Infochemikalieneffekts ist

eine interdisziplinäre Aufgabe für die chemische

Ökologie und die Ökotoxikologie.

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ren von Infochemikalien in piko- oder nanomolaren Konzentratio-nen.2–5)

Insbesondere Wasserorganismen haben entscheidende Vorteile, wenn sie sich auf chemische Reize verlas-sen, da diese auch bei Nacht oder in trübem Wasser zuverlässige Informa-tionen liefern und Hindernisse wie Wasserpflanzen ihre Wahrnehmung nicht beeinträchtigen. Zum Beispiel entnehmen Daphnien (kleine Süß-wasserkrebse) sehr viele Informatio-nen aus ihrer Duftumgebung und reagieren darauf entsprechend: Die

Duftsignale im Wasser lassen sich als mobile Wolken vorstellen (Abbil-dung 2). Duftwolken können sich überlagern (Abbildung 3), so dass die Organismen vielen Duftsignalen ausgesetzt sind, die sie für ihre Ori-entierung und Wahrnehmung ihrer Umwelt nutzen. In den letzten Jah-ren gab es große Fortschritte bei der Aufklärung der chemischen Kom-munikation von Umweltorganismen mit immer neuen Hinweisen auf die Komplexität dieser chemischen Sprache.

Störungen der Duftwelten

� Wenn Umweltorganismen die na-türlichen Infochemikalien als Gerü-che wahrnehmen, beeinflussen dann auch vom Menschen in die Umwelt eingetragene Duftstoffe aus Parfüm, Kosmetika, Wasch- und Reinigungs-mitteln die Kommunikation von Um-weltorganismen und damit ihr Zu-sammenleben? Dafür gibt es starke Indizien: Viele in Produkten einge-setzte Stoffe sind chemisch identisch mit natürlichen Infochemikalien (Ta-belle, S. 617). Empfänger können dann nicht zwischen natürlichen und anthropogenen Infochemikalien un-terscheiden, da diese am selben Duft-rezeptor binden. Da die Organismen sehr empfindlich auf Infochemika-lien reagieren können, bewirken be-reits minimale Mengen Effekte.

Abb. 2. Ähnlich wie blaue Tinte in Wasser Schlieren bildet, verteilen

sich Infochemikalien unsichtbar im Wasser mit einem sich ändern-

den Konzentrationsgradienten.8)

Tiere wandern horizontal oder ver-tikal im See, werden unterschiedlich groß und bekommen ihre ersten Nachkommen, wenn die Situation dafür geeignet ist. Sie können sich so-gar gegenseitig mit Gerüchen darü-ber informieren, wenn ein hungriger Fressfeind im Gewässer ist, der gera-de Appetit auf Daphnien hat. Als Re-aktion können sie in andere Bereiche des Gewässers fliehen oder rasch Hel-me und Stacheln auf ihrem Panzer wachsen lassen, so dass sie weniger leicht verschluckt werden können6)

(Abbildung 1, S. 613).

� Welche Folgen haben Störungen der Geruchswahrnehmung beim Menschen?

Betroffene leiden in sehr unter-

schiedlichem Maß unter dieser

Einschränkung. Vor allem ältere

Menschen bemerken den lang-

samen Verlust kaum, während vie-

le jüngere Personen, die den Ge-

ruchssinn plötzlich einbüßen, mit

schweren emotionalen Verstim-

mungen und Depressionen kämp-

fen. Das Essen schmeckt fad, der

Partner hat keinen stimulierenden

Geruch mehr, die Düfte der Natur

und der gewohnten Umgebung

fehlen, und nicht zu wissen, wie

der eigene Körper riecht, macht

unsicher.12,13)

Der Geruchssinn und die Wahr-

nehmung chemischer Signale

spielen auch für den Menschen ei-

ne Rolle; erst wenn dieser Sinn be-

einträchtigt ist, stellt sich heraus,

wie wichtig er ist. Störungen des

Geruchssinns können beim Men-

schen gefährliche Folgen haben:

Personen, die unter Anosmie, dem

kompletten Verlust des Geruchs-

sinns, leiden, sind auf Mitmen-

schen angewiesen, denn sie erken-

nen verdorbene Nahrung nicht,

nehmen einen Brandgeruch nicht

wahr und riechen auch gefähr-

liche Gase nicht.

Natürliche Infochemikalie 1

intraspezifischeInfochemikalie

anthropogeneInfochemikalie

natürlicheInfochemikalie 2

Abb. 3. Darstellung von Duftwolken. Die natürlichen spezifischen Infochemikalien, die z. B. ei-

ne Daphnienpopulation emittiert, können andere natürliche Infochemikalien (z. B. von Fi-

schen, Amphibien, Algen oder totem biologischen Material) und anthropogene Infochemika-

lien (z. B. aus den Einträgen von Kläranlagen oder aus der Luft) überlagern.8)

�Magazin� Ökotoxikologie 614

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Anthropogene Infochemikalien kön-nen auch die Reaktionsmuster der Empfänger beeinflussen. Abbildung 4 zeigt am Beispiel von Daphnien, wie anthropogene Infochemikalien auf verschiedenen biologischen Komple-xitätsebenen wirken können.

Sind diese Störungen relevant für das Ökosystem?

� Der Infochemikalieneffekt ent-spricht der logischen Übertragung von Kenntnissen aus der che-mischen Ökologie auf die Prinzipien in der Ökotoxikologie. Die Befunde sprechen dafür, dass es sich bei dem Infochemikalieneffekt um eine neue Wirkung in der Ökotoxikologie handelt, die bisher nicht beachtet wurde (Abbildung 5, S. 617).

Die ökotoxikologischen Stan-dardtests, die man gegenwärtig ein-setzt, sind nicht so konzipiert, dass sie alle wesentlichen Einflüsse von Chemikalien wiedergeben, die in die Umwelt eingetragen werden. Dafür dauern die Tests zu kurz, nutzen zu hohe Konzentrationen und die ge-messenen Effekte sind zu grob: Häu-fig werden nur Letalität oder Immo-bilität, nicht aber morphologische oder Verhaltensänderungen berück-sichtigt. Zudem lässt sich in Einzel-speziesansätzen keine Kommunika-tion zwischen verschiedenen Arten von Organismen analysieren.

Die ins Wasser eingetragenen Duftstoffe liegen mitunter in sol-chen Mengen vor, dass eine Konzen-trationsveränderung den Empfänger dieser Infochemikalie täuschen kann. Wolken anthropogener Stoffe können natürliche Duftwolken in der Umgebung eines Organismus überlagern und damit dessen Wahr-nehmung der Umgebung verändern (Abbildung 3). Diese Wirkung, dass anthropogene Umweltchemikalien diese hochempfindliche Wahrneh-mung beeinflussen, nennt man Info-chemikalieneffekt.2)

Duftstoffe mit derselben che-mischen Struktur wie natürliche In-fochemikalien sind die einfachste Möglichkeit, wie anthropogene Stof-fe eingreifen könnten. Substanzen anderer Zusammensetzung können auf verschiedene Weise wirken: • Sie konkurrieren mit natürlichen

Infochemikalien an den Riech-rezeptorproteinen,

• sie vergiften die Rezeptoren oder Neuronen,

• sie wirken als Hintergrundkon-zentrationen,

• sie interagieren mit den sekundä-ren Botenstoffen,

• sie beeinflussen die Fähigkeit von Organismen, Gerüche wahr-zunehmen,

• oder sie stören die Entwicklung eines funktionsfähigen chemo-sensorischen Gewebes.

Ökosystem

mehrere Arten

Population

Organismus

Organ

Gewebe

Zelle

Zellbestandteil

Molekül

möglicheWirkungen von anthropogenenInfochemikalien z.B. Bindung an Rezeptor

z.B. Membranveränderung

z.B. Helmbildung

z.B. Bewegungsänderung

z.B. Fortpflanzungsrate

z.B. Feinderkennung

z.B. Einfluss auf Nahrungskette

z.B. veränderte Ca-Konz.

z.B. Physiologie

Abb. 4. Anthropogene Infochemikalien können auf verschiedenen biologischen Komplexi-

tätsebenen wirken. Zur Verdeutlichung sind verschiedene Wirkungen von Infochemikalien

auf Daphnien angegeben.8)

Ökotoxikologie �Magazin� 615

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Wie wirken anthropogene Spuren-stoffe auf Umweltorganismen?

� Um die Umweltrelevanz des In-fochemikalieneffekts in Experimen-ten zu prüfen, sind vorab grund-sätzliche Überlegungen sinnvoll (siehe Kasten S. 618).

Auf der einen Seite ist denkbar, dass die Beeinträchtigung der che-mischen Kommunikation sogar grö-ßere negative Folgen für das Überle-ben einer Population hat als direkte toxische Effekte: Reduzierte Nah-rungsaufnahme, das Nichterkennen eines Feindes, gestörtes Sexualver-halten oder anderes unpassendes Verhalten kann eine Population aus-löschen, auch wenn die Individuen völlig gesund sind.

Auf der anderen Seite ist es auch durchaus möglich, dass Organis-men mit manchen anthropogenen Veränderungen gut zurecht kom-men. Sie sind flexibel und verfügen über Strategien, um mit Störungen fertig zu werden. Zum Beispiel könnte die Mischung der natürli-chen Infochemikalien so spezifisch sein, dass sich ein Organismus nicht durch anthropogene Einträge aus dem Konzept bringen lässt. Po-pulationen könnten auch so groß sein, dass der Verlust einzelner In-dividuen durch Verständigungspro-bleme nicht ins Gewicht fällt. Oder die Organismen könnten in der La-ge sein zu lernen10) und die ver-änderte Zusammensetzung der che-mischen Umgebung korrekt inter-pretieren. Welche Rolle solche Stra-tegien als Schutz gegen den Info-chemikalieneffekt in der Natur spielen, muss erst noch untersucht werden.

Testsysteme entwickeln

� Es ist nicht einfach, geeignete Testsysteme für Infochemikalien-effekte zu etablieren, zumal man es mit sehr vielen Chemikalien, Re-zeptoren und Reaktionen zu tun hat und die wirksamen Konzentratio-nen voraussichtlich sehr gering sind. Entsprechende Tests sind auf jedem biologischen Komplexitäts-niveau möglich (Abbildung 4). Der

� Wissenschaftsforum Chemie - Ziel und Aufgabe

Ereignis mit dem interdisziplinär

ausgerichteten Marie-Curie-Sym-

posium, in dem Spitzenforscherin-

nen aus aller Welt ihre Ergebnisse

präsentieren. Die gemeinsam mit

der Chinesischen Chemischen Ge-

sellschaft und Kollegen aus Japan

ausgerichteten Symposien „Che-

mistry and Water“ bzw. „150 Years

of German-Japanese Collaborati-

on“ eröffnen Einblicke in die For-

schungslandschaft wichtiger

GDCh-Partner in Fernost. Der wis-

senschaftliche Nachwuchs wird

sich in der großen Bier-und-Brezel-

Postersession von der besten Seite

zeigen. Nicht versäumen sollte

man auch die Eröffnungsveranstal-

tung mit anschließendem Get to-

gether am Sonntag mit musika-

lischer Untermalung durch das ja-

panische Orchestra Chimica. Ich

freue mich auch schon auf den Ge-

sellschaftsabend am Dienstag im

„Universum Science Center“ mit

seinen interaktiven Installationen.

Unter dem Motto „Heute schon ge-

staunt?“ soll der spielerische Blick

auf die Natur, der Anfang aller For-

schertätigkeit, im Mittelpunkt ste-

hen. In den Gesellschaftsabend in-

tergiriert ist die Eröffnung der

Wanderausstellung „Nachhaltige

Chemie“ mit ihren Mitmachstatio-

nen. GDCh, Deutsche Bundesstif-

tung Umwelt, Dechema und VCI

sind daran beteiligt.

Bremen als Wissenschaftsstandort

lässt sich in der Exkursion „Chemie

vor Ort“ erleben. An einem Nach-

mittag werden vier Knotenpunkte

des breit angelegten regionalen

Forschungsnetzwerks angesteu-

ert: die Universität Bremen, das

Fraunhofer-Institut für Fertigungs-

technik und angewandte Materi-

alforschung, das Max-Planck-Insti-

tut für marine Mikrobiologie und

das Unternehmen Bruker Daltonik.

Und wer auf dem Sprung ins Be-

rufsleben steht, darf natürlich auf

keinen Fall die Jobbörse verpassen.

Gerhard Karger

koordiniert für

die GDCh-Ge-

schäftsstelle alle

Aktivitäten rund

um das Wissen-

schaftsforum

Chemie in Bremen. Er erhofft sich

„Breite und Tiefe, Begegnung und

Inspiration“.

Nachrichten aus der Chemie: Herr

Karger, wie definieren Sie Ziele und

Aufgaben des Wissenschaftsforums?

Gerhard Karger: Die GDCh hält

auch in Zeiten der thematisch im-

mer spezieller werdenden Kongres-

se an einem integrativen Konzept

mit einem breit aufgestellten Pro-

gramm fest, das aber auch eine

Vertiefung bei besonders wichti-

gen Fragen zulässt; dazu kommen

noch Symposien von interdiszipli-

närem Zuschnitt. Was wir wollen,

ist Breite und Tiefe, Begegnung

und Inspiration. Die Angebote und

eine gerade noch überschaubare

Zahl von Teilnehmern bieten die

Chance, mit Kollegen aller Fach-

richtungen ins Gespräch zu kom-

men und sich einen Überblick über

aktuelle Themen zu verschaffen.

Damit leistet das Wissenschafts-

forum einen Beitrag zu einer offe-

nen Innovationskultur, wie sie auch

die chemische Industrie immer

wieder fordert.

Nachrichten: Was sollten die Teil-

nehmer auf keinen Fall verpassen?

Karger: Jeder Teilnehmer wird in

seinem persönlichen Fahrplan

wohl zunächst seine fachlichen In-

teressen berücksichtigen. Das Wis-

senschaftsforum bietet aber reich-

lich Gelegenheit, über den Teller-

rand zu blicken. Ein interdisziplinä-

res Symposium möchte ich heraus-

greifen: Das diesjährige Internatio-

nale Jahr der Chemie erinnert auch

an das 100-jährige Jubiläum der

erstmaligen Vergabe des Chemie-

Nobelpreises an eine Frau. Der

GDCh-Arbeitskreis Chancengleich-

heit in der Chemie würdigt dieses

�Magazin� Ökotoxikologie 616

Nachrichten aus der Chemie | 59 | Juni 2011 | www.gdch.de/nachrichten

beste Weg, um ein passendes Ver-fahren zu finden, ist die systemati-sche Prüfung entlang der Reakti-onskaskade:11) • Bindungsstudien an Riechrezep-

toren zur Identifizierung von Riechstoffen durch In-situ-Hybri-disierung und immunohistoche-mische Tests,

• Registrierung der Geruchswahr-nehmung durch Messung elektri-scher Signale von Riechsinneszel-len im Gewebe (z. B. Elektrool-faktogramme, Elektroantenno-gramme) und Reaktionen der Empfänger durch Nachweis der phänotypischen Veränderungen (z. B. mikroskopische Beobach-tungen),

• Messung physiologischer Para-meter und Verhaltenstests (z. B. In-situ-online-Biomonitoring,

Verwendung von T-förmigen Ol-faktometern, Untersuchung des Meideverhaltens),

• Messung von Populationsver-änderungen (z.B. Bestimmung von Zelldichte oder Trübung) und Mikro- und Mesokosmen, wobei die Struktur und Funktion der Lebensgemeinschaft beob-achtet werden kann.

Für Labor und Umweltschutz erge-ben sich drei Schlussfolgerungen:

1. Das Wissen um den Infoche-mikalieneffekt trägt dazu bei, einige bisher unverstandene Beobachtun-gen bei ökotoxikologischen Labor-experimenten und in der Natur zu erklären. Effekte, die bisher als un-spezifisch oder als Artefakte be-schrieben oder die Stress zuge-schrieben wurden, könnten auf die subtile Wirkung einer gestörten

Infochemikalien-effekt

akuteToxiztät

hormonartigeWirkung

BioakkumulationReproduktions-

toxizität

evt. Einfluss auf das Ökosystem

Neuer Endpunkt undneues Teilgebiet

der Ökotoxikologie

Abb. 5. Zu den bisherigen Beurteilungsgrößen in der Ökotoxikologie wird in der Zukunft die

Wirkung des Infochemikalieneffektes dazukommen.

Duftstoff C.A.S.-Nummer Rolle als Infochemikalien in der Natur

Benzaldehyd 100-52-7 Sexualpheromon

Benzoesäure 65-85-0 Phytoalexin

Kampfer 76-22-2 Nahrungserkennung, Allelopathie, Reizung, Insektenabwehr

Citral Linalool Terpinylazetat

5392-40-5; 624-15-7 78-70-6 80-26-2

Keimtötung, Nahrungserkennung, Signal für die Eiablage

Citral Citronellal

5392-40-5; 624-15-7 106-23-0

Verteidigung, Keimtötung

Isopentenylazetat 5205-07-2 Warnpheromone

-, -Pinen 7785-26-4, 18172-67-3

Abwehr, Verteidigung, Allelopathie, Reizung

Salizylaldehyd 90-02-8 Verteidigung, Hygiene

Terpinolen 586-62-9 Nahrungserkennung, Warnpheromon

Tridecanon 593-08-8 Abwehr

Stoffe, die in Parfümzubereitungen verwendet werden, und ihre Aufgaben in der Natur als

Infochemikalien.9)

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Ökotoxikologie �Magazin� 617

chemischen Kommunikation zu-rückzuführen sein.

2. Die computerbasierte Berech-nung von ökotoxikologischen Er-gebnissen ist im Vergleich zu Labor-tests finanziell attraktiv, spart Zeit und entspricht dem Tierschutz. Ein Nachteil ist, dass die Resultate in erster Linie bei unspezifischen Wir-kungen oder Wirkungen, deren Me-chanismus man kennt, funktionie-ren. Der Infochemikalieneffekt ist ein Beispiel für hochspezifische Wirkungen, deren Mechanismen bisher nur ansatzweise bekannt sind, und damit ein Argument da-für, berechnete Wirkdaten kritisch zu betrachten.

3. Der Infochemikalieneffekt weist Parallelen mit den endokri-nen Wirkungen von anthropogenen Stoffen und den Wirkungen von Arzneimittelwirkstoffen auf. Info-chemikalien wirken ebenso wie die-se beiden Stoffgruppen spezifisch bei sehr niedrigen Konzentratio-nen, und die Stoffvielfalt ist bei al-

len drei Gruppen groß. Auch viele Arzneimittelwirkstoffe und endo-krine Stoffe wirken im subletalen Bereich und können wie anthropo-gene Infochemikalien Populatio-nen, Lebensgemeinschaften oder Ökosysteme beeinflussen.

Neues Verständnis der Kommunikation im Ökosystem

� Der Infochemikalieneffekt zeigt, dass die derzeitigen wissenschaftli-chen Modelle des Zusammenspiels von Organismen in Ökosystemen noch sehr vereinfacht sind. Es wird sicher noch Jahre dauern, bis die Kommunikation über Düfte und die Bedeutung des Infochemika-lieneffekts zufriedenstellend geklärt sind. Noch sind wir weit davon ent-fernt, die Interaktionen ausrei-chend zu verstehen. Doch das be-ginnende Verständnis der che-mischen Kommunikation gibt neue Einblicke in die Komplexität von Ökosystemen. Schon die heutigen

Befunde machen deutlich, wie großartig die Leistungen der Um-weltorganismen sind und wie wich-tig es ist, sie vor negativen Einflüs-sen zu schützen. Ziel muss eine Stärkung des Vorsorgeprinzips und des Minimierungsprinzips sein: Der Eintrag von Chemikalien in die Umwelt sollte so gering wie mög-lich gehalten werden, gerade weil man bei den meisten Stoffen die umfassenden Wirkungen noch nicht kennt.

Literatur:

1) U. Klaschka In: Pharmaceuticals in the

environment. Sources, fate, effect and

risks[Hrsg.: K. Kümmerer], 3. Aufl., Sprin-

ger. 2008a, 305–320.

2) U. Klaschka, Env. Sci. & Pollut. Res. 2008,

15, 448–458.

3) C. Brönmark, L. A. Hansson, Oikos 2000,

88, 103–109.

4) R. L. Burks, D.M. Lodge, J. Chem. Ecol.

2002, 28, 1901–1917.

5) S. I. Dodson, T. A. Crowl, B. L. Peckarsky,

L. B. Kats, A. P. Covich, J. M. Culp, J. N. Am.

Benthol. Soc. 1994, 13, 268–282.

6) S. Lass, P. Spaak, Hydrobiologia 2003,

491, 221–239.

7) A. A. Agrawal, C. Laforsch, R. Tollrian,

Nature 1999, 401, 60–63.

8) U. Klaschka, Umweltwiss. Schadst.

Forsch. 2009, 21, 378–392.

9) U. Klaschka, M. Kolossa-Gehring, Env. Sci.

& Pollut. Res. 2007, 14, 44–52.

10) Für ein Beispiel siehe: G. E. Brown,

D. P. Chivers In: C. Brown, K. Laland, J.

Krause, 2006, Fish Cognition and Beha-

viour, Blackwell Sc. Publ., Oxford, 49–69.

11) U. Klaschka, Env. Sci. & Pollut. Res. 2009,

16, 370–388.

12) M. Knecht, K.-B. Hüttenbrink, T. Hummel,

Schweiz. Med. Wochenschr. 1999, 129,

1039–1046.

13) T. Hummel, A. Hähner, M. Witt,

B.N. Landis, HNO 2007, 55, 827–838.

� Ist der Infochemikalieneffekt umweltrelevant?

und aufgefressen wird. Eindeutig

beeinflussen eingebrachte Info-

chemikalien auch die Funktion ei-

nes Ökosystems, indem sie die

chemische Kommunikation zwi-

schen Organismen und damit de-

ren Wechselwirkungen verändern.

Um hier eine Abweichung vom

Normalzustand als Beeinträchti-

gung festzulegen, muss die Fach-

welt pragmatisch Messgrößen

und -methoden festlegen. Im Bei-

spiel der Daphnien könnte man

z. B. Verhaltensänderungen oder

morphologische Auffälligkeiten

messen und die Folgen für die Po-

pulation abschätzen, um den Info-

chemikalieneffekt nachzuweisen

und zu parametrisieren. Es spricht

also vieles dafür, dass durch den

Infochemikalieneffekt Spurenstof-

fe das Zusammenleben stören. Es

gilt nun, diesen Effekt experimen-

tell zu prüfen und seinen Einfluss

auf das Ökosystem zu quantifizie-

ren.

Noch ist schwer zu beurteilen, in-

wieweit der Infochemikalieneffekt

das Ökosystem beeinträchtigt. Die

Definition, wann eine Abweichung

vom natürlichen Zustand auch ei-

ne Beeinträchtigung darstellt, ist

nicht banal. Es geht um die Frage:

Bis wann ist eine Abweichung to-

lerabel für das Ökosystem? Dies ist

nicht zuletzt deswegen schwierig

zu beantworten, da ein Ökosystem

im Normalzustand nicht statisch

ist, sondern sich in einem flexiblen

dynamischen Gleichgewicht befin-

det.

Ökosysteme charakterisieren sich

durch ihre Struktur (Organismen

und abiotische Faktoren) und

Funktion (Wechselwirkungen,

Stoff- und Energieflüsse).

Nach den bisherigen Erkenntnis-

sen kann der Infochemikalien-

effekt die Struktur eines Ökosys-

tems verändern: So geht die Ar-

tenvielfalt zurück, wenn eine Art

ihren Feind nicht mehr erkennt

Ursula Klaschka, Jahrgang

1961, ist Professorin für um-

weltverträgliche Produktion

und umweltorientierte Un-

ternehmensführung an der

Hochschule Ulm. Ihre aktu-

ellen Forschungsgebiete sind Duftstoffe und

Infochemikalien. [email protected]

�Magazin� Ökotoxikologie 618

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