Spurenstoffe beeinflussen das Zusammenleben
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Nachrichten aus der Chemie | 59 | Juni 2011 | www.gdch.de/nachrichten
Die natürliche Kommunikation über Düfte
� Der Mensch hängt sehr von visu-ellen und akustischen Reizen ab, um sich im Alltag zurechtzufinden und mit seiner Umgebung zu kommuni-zieren. Der Geruchssinn gilt – wenn auch oft zu Unrecht – als unbedeu-tend (siehe Kasten S. 614). Die meis-ten Tiere nehmen dagegen ihre Um-gebung hauptsächlich über che-mische Stoffe wahr – die Infoche-mikalien. Tiere leben in einer eige-nen Duftwelt. In ihr steuern Info-chemikalien lebenswichtige Prozes-se wie Fortpflanzung, Sozialverhal-ten, Nahrungsaufnahme, Verteidi-gung oder Orientierung.
Die Duftsignale setzen sich meist aus mehreren Einzelstoffen zusam-men; das Königinnenpheromon der Hummel Bombus terrestris enthält 300 verschiedene Komponenten. 16 davon erwiesen sich als physiolo-gisch aktiv.2)
Die natürlichen bisher chemisch identifizierten Infochemikalien ge-hören zu so unterschiedlichen Stoff-klassen wie Proteinen, Peptiden, Aminosäuren, Kohlenhydraten, Kohlenwasserstoffen, Aldehyden, Carbonsäuren, Lipiden, Lactonen, Steroiden, Phenolen, Terpenen, Phosphatidylcholinen oder Stick-stoffverbindungen.
Viele Organismen sind extrem empfindlich und reagieren auf Spu-
� Stellen Sie sich vor, Sie befänden sich in einer anderen Welt: Sie er-kennen am Geruch, dass es Nacht ist (1). Sie erschnuppern, dass Ihre Frau ungefähr einen Kilometer ent-fernt in einer bestimmten Richtung ist und gehen auf geradem Weg zu ihr (2). Auf Ihrem Weg dorthin wer-den Sie angegriffen und holen schnell und erfolgreich Hilfe, in-dem Sie einen anderen Geruch aus-strömen (3). Gleichzeitig reagiert Ihr Körper und bildet eine Art Rüs-tung aus, die Sie bei der nächsten Attacke dieses Angreifers besser schützt (4). So treffen Sie wohl-behalten Ihre Frau und gehen zu-sammen mit ihr nach Hause. Nach einer Weile dringt ein Riese bei Ih-nen ein, zerstört Ihre Speisevorräte, isst Ihre Kinder auf und nistet sich bei Ihnen häuslich ein, und nur weil er Ihr persönliches Parfum be-nutzt, dem Sie partout nicht wider-stehen können, laden Sie ihn auch noch täglich zum Essen ein (5).
Das ist keine Science Fiction, sondern normaler Alltag in der Na-tur. So machen es die Schmetter-lingsraupen Mythimna separata (1), zahlreiche Nachtschmetterlinge (2), Pflanzen, die Parasiten ihrer Fraß-feinde anlocken (3), viele Arten im Zooplankton, z. B. Daphnia (4, Abb. 1), und die Riesen sind Parasiten in Ameisenvölkern, z. B. die Raupen von Bläulingen (5).1)
Ursula Klaschka
Stören Duftstoffe aus Parfüm, Kosmetika, Wasch- und Reinigungsmitteln die Kommunikation und das
Leben von Umweltorganismen? Die Erforschung dieses Infochemikalieneffekts ist ein neuer Zweig der
Ökotoxikologie.
Spurenstoffe beeinflussen das Zusammenleben
�Ökotoxikologie�
Abb. 1. Süßwasserkrebse wie Daphnia nutzen natürliche Infoche-
mikalien, die Artgenossen, Feinde, Pflanzen oder andere Sender ab-
geben, für eine an die Umgebung angepasste Verhaltensweise und
Physiologie. Beide gezeigten Tiere stammen von dem gleichen Klon
von Daphnia cucullata ab, links mit Helm und Schwanzspitze,
rechts in der normalen Form (nach Lit.7)): Diese morphologischen
Veränderungen werden nachweislich durch Infochemikalien gesteu-
ert. Auch Faktoren wie Ernährungszustand, Temperatur, Alter,
Populationsdichte oder Jahreszeit haben einen Einfluss.
� QUERGELESEN
�� Manche Duftstoffe in Kosmetika oder Wasch- und
Reinigungsmitteln besitzen dieselbe chemische
Struktur wie natürliche Infochemikalien, die
Pflanzen und Tiere für ihre chemische Kommuni-
kation nutzen.
�� Anthropogene Infochemikalien sind damit poten-
zielle Störfaktoren in einem hochsensiblen System
des Zusammenlebens von Tier- und Pflanzenarten.
�� Die Untersuchung dieses Infochemikalieneffekts ist
eine interdisziplinäre Aufgabe für die chemische
Ökologie und die Ökotoxikologie.
613
ren von Infochemikalien in piko- oder nanomolaren Konzentratio-nen.2–5)
Insbesondere Wasserorganismen haben entscheidende Vorteile, wenn sie sich auf chemische Reize verlas-sen, da diese auch bei Nacht oder in trübem Wasser zuverlässige Informa-tionen liefern und Hindernisse wie Wasserpflanzen ihre Wahrnehmung nicht beeinträchtigen. Zum Beispiel entnehmen Daphnien (kleine Süß-wasserkrebse) sehr viele Informatio-nen aus ihrer Duftumgebung und reagieren darauf entsprechend: Die
Duftsignale im Wasser lassen sich als mobile Wolken vorstellen (Abbil-dung 2). Duftwolken können sich überlagern (Abbildung 3), so dass die Organismen vielen Duftsignalen ausgesetzt sind, die sie für ihre Ori-entierung und Wahrnehmung ihrer Umwelt nutzen. In den letzten Jah-ren gab es große Fortschritte bei der Aufklärung der chemischen Kom-munikation von Umweltorganismen mit immer neuen Hinweisen auf die Komplexität dieser chemischen Sprache.
Störungen der Duftwelten
� Wenn Umweltorganismen die na-türlichen Infochemikalien als Gerü-che wahrnehmen, beeinflussen dann auch vom Menschen in die Umwelt eingetragene Duftstoffe aus Parfüm, Kosmetika, Wasch- und Reinigungs-mitteln die Kommunikation von Um-weltorganismen und damit ihr Zu-sammenleben? Dafür gibt es starke Indizien: Viele in Produkten einge-setzte Stoffe sind chemisch identisch mit natürlichen Infochemikalien (Ta-belle, S. 617). Empfänger können dann nicht zwischen natürlichen und anthropogenen Infochemikalien un-terscheiden, da diese am selben Duft-rezeptor binden. Da die Organismen sehr empfindlich auf Infochemika-lien reagieren können, bewirken be-reits minimale Mengen Effekte.
Abb. 2. Ähnlich wie blaue Tinte in Wasser Schlieren bildet, verteilen
sich Infochemikalien unsichtbar im Wasser mit einem sich ändern-
den Konzentrationsgradienten.8)
Tiere wandern horizontal oder ver-tikal im See, werden unterschiedlich groß und bekommen ihre ersten Nachkommen, wenn die Situation dafür geeignet ist. Sie können sich so-gar gegenseitig mit Gerüchen darü-ber informieren, wenn ein hungriger Fressfeind im Gewässer ist, der gera-de Appetit auf Daphnien hat. Als Re-aktion können sie in andere Bereiche des Gewässers fliehen oder rasch Hel-me und Stacheln auf ihrem Panzer wachsen lassen, so dass sie weniger leicht verschluckt werden können6)
(Abbildung 1, S. 613).
� Welche Folgen haben Störungen der Geruchswahrnehmung beim Menschen?
Betroffene leiden in sehr unter-
schiedlichem Maß unter dieser
Einschränkung. Vor allem ältere
Menschen bemerken den lang-
samen Verlust kaum, während vie-
le jüngere Personen, die den Ge-
ruchssinn plötzlich einbüßen, mit
schweren emotionalen Verstim-
mungen und Depressionen kämp-
fen. Das Essen schmeckt fad, der
Partner hat keinen stimulierenden
Geruch mehr, die Düfte der Natur
und der gewohnten Umgebung
fehlen, und nicht zu wissen, wie
der eigene Körper riecht, macht
unsicher.12,13)
Der Geruchssinn und die Wahr-
nehmung chemischer Signale
spielen auch für den Menschen ei-
ne Rolle; erst wenn dieser Sinn be-
einträchtigt ist, stellt sich heraus,
wie wichtig er ist. Störungen des
Geruchssinns können beim Men-
schen gefährliche Folgen haben:
Personen, die unter Anosmie, dem
kompletten Verlust des Geruchs-
sinns, leiden, sind auf Mitmen-
schen angewiesen, denn sie erken-
nen verdorbene Nahrung nicht,
nehmen einen Brandgeruch nicht
wahr und riechen auch gefähr-
liche Gase nicht.
Natürliche Infochemikalie 1
intraspezifischeInfochemikalie
anthropogeneInfochemikalie
natürlicheInfochemikalie 2
Abb. 3. Darstellung von Duftwolken. Die natürlichen spezifischen Infochemikalien, die z. B. ei-
ne Daphnienpopulation emittiert, können andere natürliche Infochemikalien (z. B. von Fi-
schen, Amphibien, Algen oder totem biologischen Material) und anthropogene Infochemika-
lien (z. B. aus den Einträgen von Kläranlagen oder aus der Luft) überlagern.8)
�Magazin� Ökotoxikologie 614
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Anthropogene Infochemikalien kön-nen auch die Reaktionsmuster der Empfänger beeinflussen. Abbildung 4 zeigt am Beispiel von Daphnien, wie anthropogene Infochemikalien auf verschiedenen biologischen Komple-xitätsebenen wirken können.
Sind diese Störungen relevant für das Ökosystem?
� Der Infochemikalieneffekt ent-spricht der logischen Übertragung von Kenntnissen aus der che-mischen Ökologie auf die Prinzipien in der Ökotoxikologie. Die Befunde sprechen dafür, dass es sich bei dem Infochemikalieneffekt um eine neue Wirkung in der Ökotoxikologie handelt, die bisher nicht beachtet wurde (Abbildung 5, S. 617).
Die ökotoxikologischen Stan-dardtests, die man gegenwärtig ein-setzt, sind nicht so konzipiert, dass sie alle wesentlichen Einflüsse von Chemikalien wiedergeben, die in die Umwelt eingetragen werden. Dafür dauern die Tests zu kurz, nutzen zu hohe Konzentrationen und die ge-messenen Effekte sind zu grob: Häu-fig werden nur Letalität oder Immo-bilität, nicht aber morphologische oder Verhaltensänderungen berück-sichtigt. Zudem lässt sich in Einzel-speziesansätzen keine Kommunika-tion zwischen verschiedenen Arten von Organismen analysieren.
Die ins Wasser eingetragenen Duftstoffe liegen mitunter in sol-chen Mengen vor, dass eine Konzen-trationsveränderung den Empfänger dieser Infochemikalie täuschen kann. Wolken anthropogener Stoffe können natürliche Duftwolken in der Umgebung eines Organismus überlagern und damit dessen Wahr-nehmung der Umgebung verändern (Abbildung 3). Diese Wirkung, dass anthropogene Umweltchemikalien diese hochempfindliche Wahrneh-mung beeinflussen, nennt man Info-chemikalieneffekt.2)
Duftstoffe mit derselben che-mischen Struktur wie natürliche In-fochemikalien sind die einfachste Möglichkeit, wie anthropogene Stof-fe eingreifen könnten. Substanzen anderer Zusammensetzung können auf verschiedene Weise wirken: • Sie konkurrieren mit natürlichen
Infochemikalien an den Riech-rezeptorproteinen,
• sie vergiften die Rezeptoren oder Neuronen,
• sie wirken als Hintergrundkon-zentrationen,
• sie interagieren mit den sekundä-ren Botenstoffen,
• sie beeinflussen die Fähigkeit von Organismen, Gerüche wahr-zunehmen,
• oder sie stören die Entwicklung eines funktionsfähigen chemo-sensorischen Gewebes.
Ökosystem
mehrere Arten
Population
Organismus
Organ
Gewebe
Zelle
Zellbestandteil
Molekül
möglicheWirkungen von anthropogenenInfochemikalien z.B. Bindung an Rezeptor
z.B. Membranveränderung
z.B. Helmbildung
z.B. Bewegungsänderung
z.B. Fortpflanzungsrate
z.B. Feinderkennung
z.B. Einfluss auf Nahrungskette
z.B. veränderte Ca-Konz.
z.B. Physiologie
Abb. 4. Anthropogene Infochemikalien können auf verschiedenen biologischen Komplexi-
tätsebenen wirken. Zur Verdeutlichung sind verschiedene Wirkungen von Infochemikalien
auf Daphnien angegeben.8)
�
Ökotoxikologie �Magazin� 615
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Wie wirken anthropogene Spuren-stoffe auf Umweltorganismen?
� Um die Umweltrelevanz des In-fochemikalieneffekts in Experimen-ten zu prüfen, sind vorab grund-sätzliche Überlegungen sinnvoll (siehe Kasten S. 618).
Auf der einen Seite ist denkbar, dass die Beeinträchtigung der che-mischen Kommunikation sogar grö-ßere negative Folgen für das Überle-ben einer Population hat als direkte toxische Effekte: Reduzierte Nah-rungsaufnahme, das Nichterkennen eines Feindes, gestörtes Sexualver-halten oder anderes unpassendes Verhalten kann eine Population aus-löschen, auch wenn die Individuen völlig gesund sind.
Auf der anderen Seite ist es auch durchaus möglich, dass Organis-men mit manchen anthropogenen Veränderungen gut zurecht kom-men. Sie sind flexibel und verfügen über Strategien, um mit Störungen fertig zu werden. Zum Beispiel könnte die Mischung der natürli-chen Infochemikalien so spezifisch sein, dass sich ein Organismus nicht durch anthropogene Einträge aus dem Konzept bringen lässt. Po-pulationen könnten auch so groß sein, dass der Verlust einzelner In-dividuen durch Verständigungspro-bleme nicht ins Gewicht fällt. Oder die Organismen könnten in der La-ge sein zu lernen10) und die ver-änderte Zusammensetzung der che-mischen Umgebung korrekt inter-pretieren. Welche Rolle solche Stra-tegien als Schutz gegen den Info-chemikalieneffekt in der Natur spielen, muss erst noch untersucht werden.
Testsysteme entwickeln
� Es ist nicht einfach, geeignete Testsysteme für Infochemikalien-effekte zu etablieren, zumal man es mit sehr vielen Chemikalien, Re-zeptoren und Reaktionen zu tun hat und die wirksamen Konzentratio-nen voraussichtlich sehr gering sind. Entsprechende Tests sind auf jedem biologischen Komplexitäts-niveau möglich (Abbildung 4). Der
� Wissenschaftsforum Chemie - Ziel und Aufgabe
Ereignis mit dem interdisziplinär
ausgerichteten Marie-Curie-Sym-
posium, in dem Spitzenforscherin-
nen aus aller Welt ihre Ergebnisse
präsentieren. Die gemeinsam mit
der Chinesischen Chemischen Ge-
sellschaft und Kollegen aus Japan
ausgerichteten Symposien „Che-
mistry and Water“ bzw. „150 Years
of German-Japanese Collaborati-
on“ eröffnen Einblicke in die For-
schungslandschaft wichtiger
GDCh-Partner in Fernost. Der wis-
senschaftliche Nachwuchs wird
sich in der großen Bier-und-Brezel-
Postersession von der besten Seite
zeigen. Nicht versäumen sollte
man auch die Eröffnungsveranstal-
tung mit anschließendem Get to-
gether am Sonntag mit musika-
lischer Untermalung durch das ja-
panische Orchestra Chimica. Ich
freue mich auch schon auf den Ge-
sellschaftsabend am Dienstag im
„Universum Science Center“ mit
seinen interaktiven Installationen.
Unter dem Motto „Heute schon ge-
staunt?“ soll der spielerische Blick
auf die Natur, der Anfang aller For-
schertätigkeit, im Mittelpunkt ste-
hen. In den Gesellschaftsabend in-
tergiriert ist die Eröffnung der
Wanderausstellung „Nachhaltige
Chemie“ mit ihren Mitmachstatio-
nen. GDCh, Deutsche Bundesstif-
tung Umwelt, Dechema und VCI
sind daran beteiligt.
Bremen als Wissenschaftsstandort
lässt sich in der Exkursion „Chemie
vor Ort“ erleben. An einem Nach-
mittag werden vier Knotenpunkte
des breit angelegten regionalen
Forschungsnetzwerks angesteu-
ert: die Universität Bremen, das
Fraunhofer-Institut für Fertigungs-
technik und angewandte Materi-
alforschung, das Max-Planck-Insti-
tut für marine Mikrobiologie und
das Unternehmen Bruker Daltonik.
Und wer auf dem Sprung ins Be-
rufsleben steht, darf natürlich auf
keinen Fall die Jobbörse verpassen.
Gerhard Karger
koordiniert für
die GDCh-Ge-
schäftsstelle alle
Aktivitäten rund
um das Wissen-
schaftsforum
Chemie in Bremen. Er erhofft sich
„Breite und Tiefe, Begegnung und
Inspiration“.
Nachrichten aus der Chemie: Herr
Karger, wie definieren Sie Ziele und
Aufgaben des Wissenschaftsforums?
Gerhard Karger: Die GDCh hält
auch in Zeiten der thematisch im-
mer spezieller werdenden Kongres-
se an einem integrativen Konzept
mit einem breit aufgestellten Pro-
gramm fest, das aber auch eine
Vertiefung bei besonders wichti-
gen Fragen zulässt; dazu kommen
noch Symposien von interdiszipli-
närem Zuschnitt. Was wir wollen,
ist Breite und Tiefe, Begegnung
und Inspiration. Die Angebote und
eine gerade noch überschaubare
Zahl von Teilnehmern bieten die
Chance, mit Kollegen aller Fach-
richtungen ins Gespräch zu kom-
men und sich einen Überblick über
aktuelle Themen zu verschaffen.
Damit leistet das Wissenschafts-
forum einen Beitrag zu einer offe-
nen Innovationskultur, wie sie auch
die chemische Industrie immer
wieder fordert.
Nachrichten: Was sollten die Teil-
nehmer auf keinen Fall verpassen?
Karger: Jeder Teilnehmer wird in
seinem persönlichen Fahrplan
wohl zunächst seine fachlichen In-
teressen berücksichtigen. Das Wis-
senschaftsforum bietet aber reich-
lich Gelegenheit, über den Teller-
rand zu blicken. Ein interdisziplinä-
res Symposium möchte ich heraus-
greifen: Das diesjährige Internatio-
nale Jahr der Chemie erinnert auch
an das 100-jährige Jubiläum der
erstmaligen Vergabe des Chemie-
Nobelpreises an eine Frau. Der
GDCh-Arbeitskreis Chancengleich-
heit in der Chemie würdigt dieses
�Magazin� Ökotoxikologie 616
Nachrichten aus der Chemie | 59 | Juni 2011 | www.gdch.de/nachrichten
beste Weg, um ein passendes Ver-fahren zu finden, ist die systemati-sche Prüfung entlang der Reakti-onskaskade:11) • Bindungsstudien an Riechrezep-
toren zur Identifizierung von Riechstoffen durch In-situ-Hybri-disierung und immunohistoche-mische Tests,
• Registrierung der Geruchswahr-nehmung durch Messung elektri-scher Signale von Riechsinneszel-len im Gewebe (z. B. Elektrool-faktogramme, Elektroantenno-gramme) und Reaktionen der Empfänger durch Nachweis der phänotypischen Veränderungen (z. B. mikroskopische Beobach-tungen),
• Messung physiologischer Para-meter und Verhaltenstests (z. B. In-situ-online-Biomonitoring,
Verwendung von T-förmigen Ol-faktometern, Untersuchung des Meideverhaltens),
• Messung von Populationsver-änderungen (z.B. Bestimmung von Zelldichte oder Trübung) und Mikro- und Mesokosmen, wobei die Struktur und Funktion der Lebensgemeinschaft beob-achtet werden kann.
Für Labor und Umweltschutz erge-ben sich drei Schlussfolgerungen:
1. Das Wissen um den Infoche-mikalieneffekt trägt dazu bei, einige bisher unverstandene Beobachtun-gen bei ökotoxikologischen Labor-experimenten und in der Natur zu erklären. Effekte, die bisher als un-spezifisch oder als Artefakte be-schrieben oder die Stress zuge-schrieben wurden, könnten auf die subtile Wirkung einer gestörten
Infochemikalien-effekt
akuteToxiztät
hormonartigeWirkung
BioakkumulationReproduktions-
toxizität
evt. Einfluss auf das Ökosystem
Neuer Endpunkt undneues Teilgebiet
der Ökotoxikologie
Abb. 5. Zu den bisherigen Beurteilungsgrößen in der Ökotoxikologie wird in der Zukunft die
Wirkung des Infochemikalieneffektes dazukommen.
Duftstoff C.A.S.-Nummer Rolle als Infochemikalien in der Natur
Benzaldehyd 100-52-7 Sexualpheromon
Benzoesäure 65-85-0 Phytoalexin
Kampfer 76-22-2 Nahrungserkennung, Allelopathie, Reizung, Insektenabwehr
Citral Linalool Terpinylazetat
5392-40-5; 624-15-7 78-70-6 80-26-2
Keimtötung, Nahrungserkennung, Signal für die Eiablage
Citral Citronellal
5392-40-5; 624-15-7 106-23-0
Verteidigung, Keimtötung
Isopentenylazetat 5205-07-2 Warnpheromone
-, -Pinen 7785-26-4, 18172-67-3
Abwehr, Verteidigung, Allelopathie, Reizung
Salizylaldehyd 90-02-8 Verteidigung, Hygiene
Terpinolen 586-62-9 Nahrungserkennung, Warnpheromon
Tridecanon 593-08-8 Abwehr
Stoffe, die in Parfümzubereitungen verwendet werden, und ihre Aufgaben in der Natur als
Infochemikalien.9)
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Ökotoxikologie �Magazin� 617
chemischen Kommunikation zu-rückzuführen sein.
2. Die computerbasierte Berech-nung von ökotoxikologischen Er-gebnissen ist im Vergleich zu Labor-tests finanziell attraktiv, spart Zeit und entspricht dem Tierschutz. Ein Nachteil ist, dass die Resultate in erster Linie bei unspezifischen Wir-kungen oder Wirkungen, deren Me-chanismus man kennt, funktionie-ren. Der Infochemikalieneffekt ist ein Beispiel für hochspezifische Wirkungen, deren Mechanismen bisher nur ansatzweise bekannt sind, und damit ein Argument da-für, berechnete Wirkdaten kritisch zu betrachten.
3. Der Infochemikalieneffekt weist Parallelen mit den endokri-nen Wirkungen von anthropogenen Stoffen und den Wirkungen von Arzneimittelwirkstoffen auf. Info-chemikalien wirken ebenso wie die-se beiden Stoffgruppen spezifisch bei sehr niedrigen Konzentratio-nen, und die Stoffvielfalt ist bei al-
len drei Gruppen groß. Auch viele Arzneimittelwirkstoffe und endo-krine Stoffe wirken im subletalen Bereich und können wie anthropo-gene Infochemikalien Populatio-nen, Lebensgemeinschaften oder Ökosysteme beeinflussen.
Neues Verständnis der Kommunikation im Ökosystem
� Der Infochemikalieneffekt zeigt, dass die derzeitigen wissenschaftli-chen Modelle des Zusammenspiels von Organismen in Ökosystemen noch sehr vereinfacht sind. Es wird sicher noch Jahre dauern, bis die Kommunikation über Düfte und die Bedeutung des Infochemika-lieneffekts zufriedenstellend geklärt sind. Noch sind wir weit davon ent-fernt, die Interaktionen ausrei-chend zu verstehen. Doch das be-ginnende Verständnis der che-mischen Kommunikation gibt neue Einblicke in die Komplexität von Ökosystemen. Schon die heutigen
Befunde machen deutlich, wie großartig die Leistungen der Um-weltorganismen sind und wie wich-tig es ist, sie vor negativen Einflüs-sen zu schützen. Ziel muss eine Stärkung des Vorsorgeprinzips und des Minimierungsprinzips sein: Der Eintrag von Chemikalien in die Umwelt sollte so gering wie mög-lich gehalten werden, gerade weil man bei den meisten Stoffen die umfassenden Wirkungen noch nicht kennt.
Literatur:
1) U. Klaschka In: Pharmaceuticals in the
environment. Sources, fate, effect and
risks[Hrsg.: K. Kümmerer], 3. Aufl., Sprin-
ger. 2008a, 305–320.
2) U. Klaschka, Env. Sci. & Pollut. Res. 2008,
15, 448–458.
3) C. Brönmark, L. A. Hansson, Oikos 2000,
88, 103–109.
4) R. L. Burks, D.M. Lodge, J. Chem. Ecol.
2002, 28, 1901–1917.
5) S. I. Dodson, T. A. Crowl, B. L. Peckarsky,
L. B. Kats, A. P. Covich, J. M. Culp, J. N. Am.
Benthol. Soc. 1994, 13, 268–282.
6) S. Lass, P. Spaak, Hydrobiologia 2003,
491, 221–239.
7) A. A. Agrawal, C. Laforsch, R. Tollrian,
Nature 1999, 401, 60–63.
8) U. Klaschka, Umweltwiss. Schadst.
Forsch. 2009, 21, 378–392.
9) U. Klaschka, M. Kolossa-Gehring, Env. Sci.
& Pollut. Res. 2007, 14, 44–52.
10) Für ein Beispiel siehe: G. E. Brown,
D. P. Chivers In: C. Brown, K. Laland, J.
Krause, 2006, Fish Cognition and Beha-
viour, Blackwell Sc. Publ., Oxford, 49–69.
11) U. Klaschka, Env. Sci. & Pollut. Res. 2009,
16, 370–388.
12) M. Knecht, K.-B. Hüttenbrink, T. Hummel,
Schweiz. Med. Wochenschr. 1999, 129,
1039–1046.
13) T. Hummel, A. Hähner, M. Witt,
B.N. Landis, HNO 2007, 55, 827–838.
� Ist der Infochemikalieneffekt umweltrelevant?
und aufgefressen wird. Eindeutig
beeinflussen eingebrachte Info-
chemikalien auch die Funktion ei-
nes Ökosystems, indem sie die
chemische Kommunikation zwi-
schen Organismen und damit de-
ren Wechselwirkungen verändern.
Um hier eine Abweichung vom
Normalzustand als Beeinträchti-
gung festzulegen, muss die Fach-
welt pragmatisch Messgrößen
und -methoden festlegen. Im Bei-
spiel der Daphnien könnte man
z. B. Verhaltensänderungen oder
morphologische Auffälligkeiten
messen und die Folgen für die Po-
pulation abschätzen, um den Info-
chemikalieneffekt nachzuweisen
und zu parametrisieren. Es spricht
also vieles dafür, dass durch den
Infochemikalieneffekt Spurenstof-
fe das Zusammenleben stören. Es
gilt nun, diesen Effekt experimen-
tell zu prüfen und seinen Einfluss
auf das Ökosystem zu quantifizie-
ren.
Noch ist schwer zu beurteilen, in-
wieweit der Infochemikalieneffekt
das Ökosystem beeinträchtigt. Die
Definition, wann eine Abweichung
vom natürlichen Zustand auch ei-
ne Beeinträchtigung darstellt, ist
nicht banal. Es geht um die Frage:
Bis wann ist eine Abweichung to-
lerabel für das Ökosystem? Dies ist
nicht zuletzt deswegen schwierig
zu beantworten, da ein Ökosystem
im Normalzustand nicht statisch
ist, sondern sich in einem flexiblen
dynamischen Gleichgewicht befin-
det.
Ökosysteme charakterisieren sich
durch ihre Struktur (Organismen
und abiotische Faktoren) und
Funktion (Wechselwirkungen,
Stoff- und Energieflüsse).
Nach den bisherigen Erkenntnis-
sen kann der Infochemikalien-
effekt die Struktur eines Ökosys-
tems verändern: So geht die Ar-
tenvielfalt zurück, wenn eine Art
ihren Feind nicht mehr erkennt
Ursula Klaschka, Jahrgang
1961, ist Professorin für um-
weltverträgliche Produktion
und umweltorientierte Un-
ternehmensführung an der
Hochschule Ulm. Ihre aktu-
ellen Forschungsgebiete sind Duftstoffe und
Infochemikalien. [email protected]
�Magazin� Ökotoxikologie 618
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