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Ludovico Ariosts berühmtestes Werk, entstanden 1516–1532 entführt in eine faszinierende Ritterwelt, deren Ge-stalten sich auf die vergebliche Suche nach dem voll-kommenen Glück begeben. Die Ritter zerstreuen sich inalle Winde und erleben in Märchen- und Zauberweltenvielfältige Abenteuer. Liebe, Wahnsinn und Tapferkeitsind Bestandteile dieses fein gesponnenen Erzähllaby-rinths, das immer wieder neue Rätsel aufgibt. Die vorliegende Ausgabe macht dieses Werk LudovicoAriosts in einer Nacherzählung von Italo Calvino wiederzugänglich. Ausgestattet mit 63 Zeichnungen von Johan-nes Grützke bietet es eine unnachahmliche Kombinationaus Stoffen und Motiven klassischer Epen, bretonischerSagen, Rittergeschichten und orientalischer Märchen. Der›Rasende Roland‹ zählt zu den unsterblichen Meister-stücken der Weltliteratur und gilt als eines der berühm-testen Kunstwerke der Renaissance.

Ludovico Ariost, geboren 1474 in Reggio Emilia, gestor-ben 1533 in Ferrara, verbrachte sein Leben im Dienste derHerzöge d'Este. Er war dort als Diplomat und Beratertätig und widmete sich der Sprach- und Dichtkunst. Spä-ter lebte der gebildete Humanist mit seiner Frau Ales-sandra Strozzi zurückgezogen in Ferrara und arbeitete anseinem Hauptwerk.

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Ludovico Ariost

Rasender Roland

Nacherzählt von Italo Calvino

Mit ausgewählten Passagen des Originalsin der Verdeutschung von Johann Diederich Gries

Aus dem Italienischen übersetzt, eingerichtetund kommentiert von Burkhart Kroeber

Mit 63 Zeichnungen von Johannes Grützke

Deutscher Taschenbuch Verlag

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Vollständige AusgabeJuni 2008

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,München

www.dtv.deDie italienische Ausgabe erschien 1970 unter dem Titel

›Orlando Furioso di Ludovico Ariosto raccontatoda Italo Calvino‹ bei Einaudi.

© 2002 by The Estate of Italo CalvinoFür die deutsche Ausgabe:

© Eichborn AG, Frankfurt am Main, April 2004Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlagbild: Szene aus ›Rasender Roland‹ (1888)gemalt von Gustave Doré (Bridgeman Giraudon)

Gesamtherstellung: Druckerei C.H.Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany · ISBN 978-3-423-13667-9

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Ludovico AriostsRasender Roland

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PRÄSENTAT ION

1. Rotholandus, Roland, Orlando

In jedem Atlas zur Geschichte des Mittelalters gibt eseine Karte, auf der, gewöhnlich in violetter Farbe, die

Eroberungen des Frankenkönigs und späteren KaisersKarl angeführt sind. Eine mächtige lila Wolke legt sichquer über Westeuropa, erstreckt sich im Osten bis überElbe und Donau, bleibt aber im Südwesten an der Grenzedes noch sarazenischen Spanien stehen. Nur am unter-sten Rand lappt die Wolke über die Pyrenäen und bedecktKatalonien: die Spanische Mark, das einzige Stück, dasKarl der Große in den letzten Jahren seines Lebens demEmir von Cordoba hatte entreißen können. Unter all den Kriegen, die Karl geführt und gewonnen hat, gegen Bayern, Friesen, Slawen, Awaren, Bretonen, Lan gobardenund andere, nehmen diejenigen gegen die Araber einenrelativ kleinen Raum in der Geschichte des Franken -kaisers ein; in der Literatur dagegen haben sie sichimmer riesenhafter vergrößert, bis sie das ganze Erden-rund überzogen und die Buchseiten ganzer Bibliothekenfüllten. In der Phantasie der Dichter – und davor nochder Völker – ordnen sich die Fakten in einer anderen Per-spektive als derjenigen der Geschichte: in der Perspektivedes Mythos.

Um den Ursprung dieser außerordentlichen Mythen-produktion zu benennen, verweist man gewöhnlich aufeine dunkle, unglückliche Episode: Im Jahre 778 unter-nahm Karl der Große einen Feldzug nach Saragossa,

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mußte sich aber schnell wieder über die Pyrenäen zurück-ziehen. Während dieses Rückzugs wurde die Nachhutdes fränkischen Heeres bei Ronceval (dem heutigen Ron-cesvalles, frz. Roncevaux) von baskischen Berg bewoh-nern angegriffen und vernichtet. Die offiziellen karo -lingischen Chroniken verzeichnen unter den Namen der getöteten fränkischen Würdenträger den eines gewissenHruod landus.

Soweit die Geschichte, doch die Wahrheit der Faktenhat wenig mit dem Epos zu tun. Das Chanson de Rolandwurde gut dreihundert Jahre nach der Schlacht von Ron-ceval geschrieben. Wir befinden uns etwa im Jahr 1100,zur Zeit des Ersten Kreuzzugs – dies ist die passendstehistorische Bezugnahme. Europa ist durchdrungen vomGeist des heiligen Krieges, der christliche und mus li-mische Welt einander gegenüberstellt. In diesem Klimaentsteht in Frankreich ein episches Gedicht unbekannterAutorschaft (der Name Turold erscheint erst im letztenVers) in schlichten, bewegenden und feierlichen Stro-phen: La Chanson de Roland. Karl der Große hat – so dieFabel – fast ganz Spanien erobert, nur nicht Saragossa,das noch in sarazenischer Hand ist. Dessen König Mar-silios bietet ihm Frieden und Bekehrung zum Christen-tum an, wenn das fränkische Heer dafür aus Spanien ab-zieht. Der tapfere Roland will den Kampf fortsetzen, aberKarl, der schon 200 Jahre alt und kriegsmüde ist, folgtdem gegenteiligen Rat seines Schwiegersohns Gane lon(Guenes oder Gano von Mainz), der jedoch Verrat begehtund mit Marsilios vereinbart, daß die Sarazenen mitüberlegenen Kräften die von Roland geführte fränkischeNachhut im Tal von Ronceval überfallen. Der Paladinvollbringt wahre Wunder mit seinem Schwert Durendal,dem Geschenk eines Engels, doch seine Krieger fallen

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rings um ihn her einer nach dem anderen. Erst als er tödlich verletzt ist, stößt Roland in sein Zauberhorn Olifant, um König Karl zu Hilfe zu rufen.

Man weiß nicht, ob Turold nicht bloß eine schon vor -handene Tradition poetisch aufgefrischt hat, das heißt,ob die Sage von Ronceval bereits zum Repertoire der sogenannten Vaganten- oder Spielmannsdichtung ge -hörte, mit dem fahrende Sänger von Hof zu Hof zogen,ein mündliches Repertoire, das an einem bestimmtenPunkt schriftlich fixiert wurde, sei’s in gereimten Epen(chansons de geste, it. cantari di gesta) oder in Prosa -erzählungen, aus denen die Verseschmiede dann ihreMotive be zogen. Zu letzteren gehört die dem ReimserErzbischof Turpin zugeschriebene lateinische Chronik Historia Karoli Magni et Ro tholandi, die als direktesZeugnis eines Zeitgenossen galt und von späteren Epen-dichtern und Romanautoren immer als zuverlässigeQuelle angeführt wurde, obwohl sie in Wirklichkeit eben-falls erst zur Zeit der Kreuzzüge abgefaßt worden war.

Was wir mit Sicherheit sagen können, ist, daß sich ausgehend vom Chanson de Roland eine lange Traditiongebildet hat und daß die Heldentaten der Paladine Karlsdes Großen, seit sie von Turolds strengem Kriegereposzur Literatur der höfischen Romane und Aventiuren über-gegangen waren, sehr populär wurden, in Spanien undItalien mehr noch als in Frankreich. Aus Roland wurdesüdlich der Pyrenäen Don Rol dán und südlich der AlpenOrlando. Die Verbreitungszentren der chansons de gestereihten sich längs der Pilgerrouten: am Jakobsweg nachSantiago de Compostela, der durch Ronceval führte, woman ein angebliches Grab von Roland-Roldán-Orlandobesichtigen konnte, und an der Straße nach Rom, die Karl der Große während seines Krieges gegen die Lango-

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barden und zu seinen Besuchen beim Papst benutzthatte. In den Pilgerherbergen priesen die fahrenden Sän-ger die Heldentaten der Paladine vor einem Publikum,das die Personen wie Familienmitglieder wiedererkannte.

In Italien waren diese fahrenden Sänger nicht nurdiejenigen, die aus Frankreich kamen; es gab auch vene-zianische giullari (Gaukler, Spielleute), wie sie auf ita -lienisch genannt wurden, die sich die französischen Verse der Ritterepen in eine den Dialekten der Poebenenäherstehende Sprache übersetzten. So entstand im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert eine »franko-venezianische« Literatur, die das französische Epen-Repertoire übernahm und mit neuen Taten bereicherte.Bald folgten auch Übersetzungen ins Toskanische: An die Stelle der monotonen einreimigen Laissen setzten dieToskaner eine narrative Strophe mit weitausgreifendemund bewegtem Rhythmus: die Stanze.

Von Roland berichtet die französische Tradition nurdas letzte Gefecht und den Tod. Sein ganzes übriges Leben, Geburt, Herkunft, Kindheit, Jugend, Abenteuer vor Ronceval, findet er unter dem Namen Orlando in Italien. Dort wird festgelegt, daß sein Vater ein FähnrichKarls des Großen namens Milon von Clermont (Milone da Chiaromonte) war und seine Mutter eine Schwe sterdes Königs namens Berta. Nachdem Milon das Mädchenverführt hat und den Zorn seines königlichen Schwagersfürchten muß, raubt er sie und flieht mit ihr nach Italien. Manchen Quellen zufolge ist Orlando in Imola in der Romagna geboren, anderen zufolge in Sutri im Latium;daß er Italiener ist, wird nirgendwo bezweifelt. Überdieswerden ihm die Titel eines Gonfaloniere di Santa Chiesa(Bannerträger der Kirche) und eines Senators von Romzugeschrieben.

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Mit alledem ist er jedoch noch keine »Person« im mo-dernen Sinne des Wortes geworden. Eine sparsam typi-sierte Figur bei Turold und beim Pseudo-Turpin (der ihnsogar zu einem Keuschheitsfanatiker macht: er hat sichnie einer Frau genähert, nicht einmal seiner Ehefrau),bleibt er eine solche auch in den italienischen Fassungen– mit einer melancholischen Note und einem unschönenkörperlichen Merkmal: Er schielt.

Als Rivale Orlandos, der mit zuviel hoher Verantwor-tung beladen ist, tritt sein Vetter Rinaldo von Chiaro -monte hervor (der Renaud eines französischen chansonde geste), ein abenteuerlustiger Paladin und rebellischerGeist, der sogar gegen Karl den Großen aufbegehrt. Inden populären italienischen cantari wird er bald zumLieblingshelden. Im Aufstieg Rinaldos zum Protagoni-sten und in der gleichzeitigen Erniedrigung Karls desGroßen zur fast komischen Figur eines leicht vertrottel-ten Alten sehen die Historiker einen Reflex des Auto -nomiestrebens der feudalen Vasallen oder der guelfi -schen Kommunen gegenüber der kaiserlichen Autorität,und sicher ist, daß beide Charakterisierungen in ersterLinie dazu dienen, der Erzählung Schwung zu geben.

In der Feindschaft der tapferen und loyalen Chiaro-montesi gegen die perfide Sippe der Maganzesi (Mainzer)schildern die italienischen Epen die Vorgeschichte vonGanelons Verrat in Ronceval. Dieses Hauptthema wirdvor dem Hintergrund der mythischen Eroberung Spani-ens durch Karl den Großen entfaltet, ein Anachronismus, der durch einen symmetrischen zweiten Anachronismusaufgewogen wird: Die sarazenischen Heere dringen vieltiefer nach Frankreich ein als zur Zeit von Karl Mar tell,nämlich bis vor die Mauern von Paris, das sie lange be-lagern. Neben all diesen Motiven lassen die italienischen

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Epen auch noch Raum für die Kriege zwischen Frankenund Langobarden sowie für märchenhafte Abenteuer der Paladine im Orient und ihre Liebesgeschichten mitmohammedanischen Prinzessinnen.

Die Zeit, in der sich die Taten dieser Heldenlieder ab-spielen, ist also ein Konzentrat aller Zeiten und Kriege,vor allem derer des Zusammenstoßes zwischen Islamund christlichem Abendland von Karl Martell bis zu Ludwig dem Heiligen. Und genau als die Kreuzzüge mitihrem propagandistischen Druck und ihrem mili tärischenGewicht nicht mehr Tagesaktualität waren, wurden Zwei-kämpfe und Schlachten zwischen christ lichen Ritternund Ungläubigen bloßer Erzählstoff, Symbol für jedenStreit, jede Großmut, jedes Abenteuer, und die Belage-rung von Paris durch die Mauren ein Mythos wie der desTrojanischen Krieges.

Im gleichen Maße, wie an den Höfen und in den Städ-ten ein lesekundiges Publikum heranwuchs, das nichtmehr nur aus Ge lehrten und Geistlichen bestand, ver-breiteten sich – neben den Versepen, die zum mündlichenVortrag oder Vorsingen gedichtet wurden – auch kurzeRomane in französischer und dann in toskanischer Sprache. Diese in Prosa geschriebenen Romane berich -teten nicht nur die Ereignisse des karolingischen Zyklus;es gab auch den »bretonischen Zyklus«, der von KönigArtus und seiner Tafelrunde handelte, von der Suchenach dem heiligen Gral, den Hexereien des ZauberersMerlin, den Lieben Isoldes und Genovefas. Diese kelti-sche Sagenwelt voller Zauber- und Liebesgeschichtenwurde in Frankreich sehr populär (und gelangte von dort nach England), so daß sie den eher strengen karo-lingischen Zyklus verdrängte. In Italien dagegen wurdesie vor allem an den Adelshöfen und von den Damen

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goutiert; das einfache Volk blieb Orlando, Rinaldo undGanelon treu. Die Zweikämpfe zwischen Paladinen undMauren waren auf der Apenninenhalbinsel in jenes extrem konservative Kulturdepot eingegangen, das wirFolklore nennen.

In Süditalien hat sich ihre Popularität bis in unsereTage gehalten: bei den neapolitanischen Bänkelsängern(zumindest bis ins vorige Jahrhundert), im sizilianischenPuppentheater (das noch heute lebendig ist) und bei den Malereien auf den Seiten der sizilianischen Karren.Das Repertoire des Teatro dei Pupi, das aus den mittel -alterlichen Ritterepen, den Poemen des Cinquecento undbarocken Kompilationen schöpfte, besteht aus zyklischenGeschichten, die in Fortsetzungen dargeboten wurdenund sich über viele Monate hinzogen, manchmal bis zueinem Jahr und mehr.

Und als mit der Einführung der allgemeinen Schul -pflicht in Italien auch auf dem traditionell wenig lese-freudigen Land ein paar Bücher zu zirkulieren begannen,war das am meisten gelesene eine mehrfach moderni-sierte und zurechtgestutzte Chronik, die zu Beginn des15. Jahrhunderts abgefaßt worden war, I Reali di Fran-cia (Die fränkischen Royals), eine Prosa-Nacherzählungder Geschichten des karolingischen Zyklus, verfaßt voneinem toskanischen Bänkelsänger namens Andrea daBarberino.

2. Wie sich Roland verliebt

Zwischen den Intellektuellen und den populären Kunst-erzeugnissen hat es schon immer (und erst recht im zwanzigsten Jahrhundert mit den modernen Formen der

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»Massenkultur«, vor allem des Kinos) ein wechselvollesVerhältnis gegeben: erst Ablehnung oder süffisante Über-heblichkeit, dann ironisches Interesse, dann Entdeckungvon Werten, die man anderswo vergeblich sucht. AmEnde macht sich der gebildete Leser wie der hochkulti-vierte Dichter zu eigen, was naive Unterhaltung war, undformt es um.

So war es auch bei der Ritter- und Abenteuerliteraturder Renaissance. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhun-derts stieg die Popularität der Geschichten von Orlandound Rinaldo fast gleichzeitig an den beiden kultivier -testen Höfen Italiens, dem der Medici in Florenz und demder Este in Ferrara, aus den Niederungen der Straßen und Plätze zu den Höhen der gebil deten Kreise auf. InFlorenz war es ein noch etwas biederer Dichter, LuigiPulci (1432–84), der – offenbar auf Bestellung der Mut-ter von Lorenzo Magni fico – bekannte Abenteuer paro -distisch-karikierend in Reime setzte. So nannte er seinPoem auch nicht nach den im Vordergrund stehendenheroischen Paladinen, sondern nach einer der groteskenFiguren in ihrem Umfeld, dem Riesen Morgante, denOrlando bezwungen und zu seinem Schildknappen ge-macht hat.

In Ferrara war es ein Edelmann am Hofe der Este,Matteo Maria Boiardo, Conte di Scandiano (1441–94), der sich dem Ritterepos gleichfalls distanziert näherte,aber durchzogen von der melancholischen Nostalgie dessen, der enttäuscht über seine Zeit die Phantasmender Vergangenheit wiederzubeleben sucht. Am Hof vonFerrara wurden die Romane des bretonischen Zyklus vielgelesen, in denen es nur so wimmelt von Zaubereien, Drachen, Feen, einsamen Prüfungen schweifender Ritterund dergleichen; die Vermengung dieser märchenhaften

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Geschehnisse mit den karolingischen Sagen hatte be -reits in einigen französischen chansons de geste und invielen italienischen cantari begonnen, bei Boiardo trafennun die beiden Stränge erstmals auf die humanistische Kultur mit ihrem Be streben, wieder an die Klassiker der heidnischen Antike jenseits des Mittelalters anzuknüp-fen. Die technischen Mittel des Dichters waren allerdingsnoch primitiv, die großzügige Vitalität, die seine Verseausströmen, kommt weitgehend aus ihrem herben Ton.Das Epos vom »verliebten Roland«, Orlando innamorato,das beim Tod des Autors noch unvollendet war, ist ein Gedicht in grob gezimmerten Versen, geschrieben ineinem unsicheren Italienisch, das ständig in den Dialektübergeht. Sein Glück war zugleich sein Unglück: dieLiebe, die andere Dichter ihm entgegenbrachten, war sobefrachtet mit der Aufforderung, ihm zu Hilfe zu kom-men wie einem Geschöpf, das nicht aus eigener Kraft zu leben vermag, daß sie ihn schließlich verdunkelte und vom Markt verdrängte: Im 16. Jahrhundert, als sichder Primat des Toskanischen in der literarischen Sprachedurchgesetzt hatte, schrieb Francesco Berni den gan-zen Orlando innamorato in »guter« Sprache neu, und drei Jahrhunderte lang wurde das Werk nur in dieser Bearbeitung gedruckt, bis man im 19. Jahrhundert denauthentischen Text wiederentdeckte, dessen Wert für unsgerade in dem liegt, was die Puristen wegzensiert hatten:in seinem Charakter als Monument eines anderen Ita-lienisch, das aus den Dialekten der Poebene entstandenwar.

Doch vor allem wurde der Innamorato durch den Furi-oso verdunkelt, also durch die Fortsetzung, die LudovicoAriosto zehn Jahre nach Boiardos Tod zu schreiben be-gann, eine Fortsetzung, die sogleich etwas ganz an deres

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war – aus der rauhen Schale des Quattrocento bricht dasCinquecento explosionsartig wie eine üppige Vegetationvoller Blüten und Früchte hervor.

Boiardos Unglück im Glück dauert an: Auch wir spre-chen hier von seinem Innamorato nur als einem »Vor -läufer« des Furioso, um ihn rasch abzufertigen wie ineiner »Zusam menfassung der vorangegangenen Folgen«.Wir wissen, daß wir damit etwas Falsches und Ungerech -tes tun, denn die beiden Werke sind zwei eigenständigeWelten, aber es läßt sich hier leider nicht vermeiden.

Zu den wenigen psychologischen Zügen des übe r-lieferten Roland-Orlando gehörte, wie schon gesagt, daß er keusch und unerreichbar für Liebesverführungenwar. Boiardos »Neuheit« bestand darin, einen verlieb-ten Roland zu präsentieren. Um den christlichen KaiserKarl seiner besten Paladine zu berauben, vor allem derbeiden Vettern Orlando und Rinaldo, hat Galafron, derKaiser von Cathay (China), seine beiden Kinder nach Paris geschickt: die bildschöne Angelica, die sich aufHexen künste versteht, und den Recken Argalías, der eineunfehlbare Zauberlanze und einen gegen jede Klinge ge -feiten Helm besitzt. Als würde das noch nicht genügen,hat er auch einen Ring, der ihn unsichtbar macht.

Argalías fordert die Ritter zu einem Zweikampf heraus:Wer es schafft, ihn aus dem Sattel zu werfen, soll seineSchwester bekommen, und wer von ihm aus dem Sattelgeworfen wird, soll sein Sklave werden. Kaum haben sieAngelica erblickt, sind alle anwesenden Ritter, Christenwie Ungläubige (es herrscht die österliche Waffenruhe,und alle sind zu einem Turnier gekommen), in Liebe zuihr entbrannt, sogar König Karl verliert den Kopf. Nacheiner Reihe gewonnener Zweikämpfe wird Argalías vondem Sarazenen Ferragu getötet, doch nun greift Orlando

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ein, um dem Sieger die schöne Beute streitig zu machen.Angelica nutzt die Gelegenheit, um zu fliehen, indem siesich unsichtbar macht, vergeblich verfolgt von Rinaldo(hier Rainaldo oder Ranaldo). Während der Flucht trinktdie durstige Angelica aus einer magischen Quelle: Es istdie Quelle der Liebe, die Schöne verliebt sich in Rinaldo.Auch Rinaldo trinkt aus einer magischen Quelle, aber es ist die Quelle des Hasses: Aus dem Verliebten, der erwar, verwandelt er sich in einen Verächter Angelicas undflieht sie. Angelica, die nicht mehr ohne Rinaldo lebenkann, läßt ihn auf einem verzauberten Boot entführen,aber er will nichts von ihr wissen, und nach einer aben-teuerlichen Reise von Insel zu Insel gelingt es ihm, ihr zu entkommen. Nach Cathay zurückgekehrt, wo sie sichin der Festung Albracca verschanzt, wird Angelica vondem Tatarenkönig Agrican und dem TscherkessenkönigSacripant belagert, die sich ebenfalls unglücklich in sieverliebt haben. Ersterer behält die Oberhand, aber zurVerteidigung Angelicas taucht Orlando auf, der nochimmer in sie verliebt ist und diverse andere Zaubereienüberstanden hat. Er kämpft einen Tag und eine Nachtlang mit Agrican und tötet ihn schließlich. Dieser Zwei-kampf (Erstes Buch, 18.–19. Gesang) ist zu Recht diemeistbewunderte Episode des Poems: In später Nacht, als die beiden Recken müde vom Kämpfen sind, legen sie sich ins Gras und betrachten die Sterne. Orlandospricht mit Agrican über Gott, und der Tatarenkönig be-dauert, nie etwas von ihm gewußt zu haben. Am Morgennehmen sie ihren Zweikampf wieder auf, und als Agricantödlich ver wundet wird, bittet er seinen Gegner um dieTaufe.

Die Schlachten und Zweikämpfe um Albracca zu er-zählen ist schwierig, weil immer neue Heere und neue

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Vorkämpfer hinzukommen, darunter Galafron, AngelicasVater, der seinen getöteten Sohn rächen will, und Mar-fisa, die Königin Indiens, die niemals ihre Waffen ablegt,und alle führen gleichzeitig eigene Sonderkriege mithäufigem Tausch der Feinde und der Verbündeten. AuchRinaldo erscheint, getrieben vom Haß auf Angelica, umseinen Vetter Orlando daran zu hindern, sich in seinerhoffnungslosen Leidenschaft zu verlieren. Angelica läßtsich von Orlando verteidigen (der freilich, als der voll-kommene Ritter, der er ist, sich hütet, sie zu berühren),aber sie denkt nur daran, Rinaldos Leben vor der (un -begründeten) Eifersucht Or landos zu retten. ZahlloseNebengeschichten von Feen und Riesen und Verzaube-rungen verzweigen sich aus den Hauptsträngen – so gelingt es zum Beispiel Angelica, Orlando vom Streit mit Rinaldo abzubringen, indem sie ihn mit der schwie-rigen Aufgabe betraut, einen verzauberten Garten zu entzaubern.

Während die Paladine durch den Orient streifen, wirdFrankreich von immer neuen Invasionen bedroht. Zuerstvon Gradasso, dem König von Sericana, dem es gelingt,sogar König Karl gefangenzunehmen, und der dann vonAstolfo besiegt wird, als dieser, ohne es zu bemerken, in den Besitz der unfehlbaren Lanze des verstorbenenArgalías gelangt ist. Dann von Agramante, dem Königvon Afrika, auf dessen Geheiß König Rodomonte (hierRodamonte) in die Provence übersetzt und König Mar-silio (angestachelt von dem perfiden Ganelon/Gano) diePyrenäen überquert. Rinaldo eilt dem bedrohten Karl zu Hilfe, und Angelica folgt ihm, ihrerseits verfolgt von Orlando. Sie kommen an den zwei magischen Quellenvorbei, und diesmal trinkt Angelica aus der des Hassesund Rinaldo aus der der Liebe. Orlando und Rinaldo

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sind erneut Rivalen; in einem für die christlichen Heereso ernsten Moment denken die beiden Vettern nur anihren Streit.

Da bietet sich König Karl als Schiedsrichter an: An -gelica soll in die Obhut des greisen Herzogs Naims vonBayern gegeben und demjenigen der beiden Recken zu -gesprochen werden, der sich im Kampf gegen die Un-gläubigen am besten bewährt. Bei Montalban nördlichder Pyrenäen kommt es zur entscheidenden Schlacht:entscheidend vor allem deshalb, weil – obwohl BoiardosPoem noch einige Gesänge weitergeht, um die Belagerungvon Paris zu erzählen – es diese Schlacht ist, bei derAriost sein Poem einsetzen läßt, indem er die Fäden derdiversen Handlungsstränge aufnimmt. Aber entschei-dend auch, weil es diese Schlacht ist, in der Ruggiero, ein sarazenischer Ritter, der seinen Stammbaum auf Hektor von Troja zurückführt, der christlichen KriegerinBradamante begegnet (hier Bradiamonte oder Brandia-mante), der Schwester Rinaldos, wodurch die beidenschlagartig von Feinden zu Verliebten werden.

Die Episode ist deshalb so wichtig, weil es BoiardosAbsicht war (offenbar auf ausdrücklichen Wunsch desHerzogs Ercole I. von Ferrara), die Legende zu beglau bi-gen, nach welcher das Haus Este sich auf die Ver mählungdes Ruggiero von Risa (Reggio di Calabria) mit Brada-mante von Chiaromonte zurückführte. Damals war eineGenealogie, mochte sie auch imaginär sein, von großerBedeutung: Gegner des Hauses Este hatten das Gerüchtverbreitet, die Herren von Ferrara stammten von dem Verräter Ganelon ab; dem galt es zu widersprechen. Boiardo hatte das genealogische Motiv allerdings erstziemlich spät in sein Gedicht eingeführt und nicht mehrdie Zeit gehabt, es zu entfalten; so kam es Ariost zu,

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diese Aufgabe zu vollenden. Unterdessen waren jedochauf Ercole I., dem offenbar viel an der Sache gelegen war, seine Söhne Alfonso I. und Kardinal Ippolito ge folgt,die von solchen Phantastereien wenig hielten. Im übri-gen war Ariost gewiß nicht der Typ des schmeichleri-schen Höflings. Dennoch hielt er sich treu an die Auf-gabe, die er gern erfüllte, denn er hatte eigene Grün de:Zum einen handelte es sich bei dem Thema um ein er-zählerisches Motiv erster Ordnung – zwei Verliebte, dieloyale Kämpfer zweier feindlicher Heere sind und deshalbden ihnen vom Schicksal bestimmten Ehebund niemalsverwirklichen können –, zum anderen erlaubte es ihm,die mythische Zeit der Ritter mit dem aktuellen Gesche-hen zu verknüpfen, also die Gegenwart von Ferrara undItalien ins Spiel zu bringen.

3. Der weise Ludovico und der verrückte Orlando

Länger als ein Jahrhundert war Ferrara die Hauptstadtder epischen Dichtung. Die drei größten Versepen derRenaissance – der Orlando innamorato, der Orlandofurioso und Torquato Tassos Gerusalemme liberata – sindam Hof der Este entstanden.

Warum war dieser Teil der Poebene so fruchtbar anStanzen voller Waffengeklirr und Pferdegetrappel? Beiso unwägbarer Materie wird kein Erklärungsversuch je-mals erschöpfend sein, aber einige Gegebenheiten kannman gleichwohl benennen: Die ferraresische Gesellschaftwar eine reiche, dem Luxus zugetane, genießerische Ge-sellschaft; sie war eine gebildete Gesellschaft, die ihreUniversität zu einem wichtigen Zentrum humanistischerStudien gemacht hatte, und sie war vor allem eine mili -

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tärische Gesellschaft, die sich einen eigenen Staat ge-schaffen und verteidigt hatte, zwischen Venedig und demKirchenstaat und dem Herzogtum Mailand, ein beacht -liches Territorium im Herzen jenes Schlachtfeldes ewi-ger europäischer Kriege, das die Poebene damals war, und infolgedessen Prozeßpartei in allen Streitigkeitenzwischen Frankreich und Spanien um die Vorherrschaftauf dem Kontinent. Doch in der Epoche Franz’ I. undKarls V. ist es der neue Typus des großen Zentralstaates,der sich herausbildet, während das italienische Ideal des Stadtfürstentums an Bedeutung verliert. Der Orlandofurioso entsteht in einem Ferrara, in dem zwar der Krie-gerruhm noch das Fundament aller Werte bildet, das sich aber inzwischen bewußt ist, nur eine Randfigur ineinem sehr viel größeren diplomatischen und militäri-schen Spiel zu sein. Das Epos verdoppelt sich ständig auf zwei zeitlichen Ebenen: auf der des Rittermärchensund auf der der politisch-militä rischen Gegenwart, einStrom vitaler Impulse überträgt sich aus der Zeit derPaladine (wobei der episch-historische Hintergrund desKarolin gischen immer mehr vom Phantastisch-Arabes-ken überwuchert wird) auf die italienischen Kriege desCinquecento (wobei die Apologie der Unternehmungendes Hauses Este immer mehr von bitteren Tönen über dieLeiden des heimgesuchten Italien überlagert wird).

Wer ist dieser Ludovico Ariosto, der an die ritterlichenHeldentaten nicht mehr glaubt und dennoch all seineKräfte, seine Leidenschaften und seinen Perfektions -willen daransetzt, Kämpfe zwischen Paladinen und Mau-ren in einem mit minutiöser Sorgfalt ausgearbeitetenVersepos darzustellen? Wer ist dieser Dichter, der daranleidet, wie die Welt ist und nicht ist und sein könnte, und der sie dennoch als ein buntes und vielgestaltiges

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