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RA 2002, H EFT 8 ÖFFENTLICHES RECHT -449- Öffentliches Recht Standort: Art. 4 GG Problem: Warnung vor “Osho”-Bewegung BV ERFG, B ESCHLUSS VOM 26.06.2002 1 B VR 670/91 (BISHER UNVERÖFFENTLICHT ) Problemdarstellung: Das BVerfG hat nunmehr endlich einen Strich unter die sogen. “Warnungsfälle” gezogen, welche die Fachgerichte seit Jahrzehnten beschäftigt haben: Äu- ßerungen von Hoheitsträgern in der Öffentlichkeit - typischerweise Warnungen vor angeblich oder tat- sächlich gefährlichen Produkten, Gruppierungen o.ä. - können in Grundrechte Dritter eingreifen. So hat z.B. das BVerfG im nachstehend wiedergegebenen Be- schluss zur Zulässigkeit von Warnungen der Bundes- regierung vor der “Osho”-Bewegung (auch als “Bhagwan”-Sekte bekannt) ausdrücklich bestätigt, dass die mittelbar-faktische Wirkung negativer Äuße- rungen über eine Glaubensgemeinschaft (im Fall: "de- struktiv", "pseudoreligiös" u.ä.) einen Eingriff in de- ren Glaubensfreiheit aus Art. 4 I GG darstellt. Liegt ein Grundrechtseingriff vor, stellt sich die Frage nach der Zulässigkeit desselben. Die Literatur fordert hier- für vielfach eine einfach-gesetzliche Ermächtigungs- grundlage, die - je nach Grundrecht als Konkretisie- rung eines Gesetzesvorbehalts oder einer verfassungs- immanenten Schranke - zugleich zur verfassungs- rechtlichen Rechtfertigung des Eingriffs führt. Gund- rechtseingriffe seien “wesentlich” i.S.d. Wesentlich- keitstheorie des BVerfG, und wesentliche Entschei- dungen müsse die Legislative durch ein Gesetz tref- fen, das bestimmt genug sei, Voraussetzungen und Rechtsfolgen solcher Warnungen durch die Exekutive zu regeln. Solche Ermächtigungen sind selten; gibt es sie (z.B. § 8 ProdSichG), ermächtigen sie in aller Re- gel nicht Verfassungsorgane, sondern die jeweils zu- ständigen Landesbehörden zum Tätigwerden. Die Rspr. ging demgegenüber schon immer davon aus, dass der Verfassung eine aus Art. 62 ff. GG ab- leitbare Ermächtigung der Bundesregierung zu öffent- lichen Äußerungen immanent sei. Diese könne als verfassungsimmanente Schranke auch Grundrechts- eingriffe decken, ohne dass es eines weiteren Tätig- werdens der Legislative in Form eines ermächtigen- den Parlamentsgesetzes bedürfe. Voraussetzung (“Schranken-Schranke”) sei dann (nur) die Zuständig- keit der Bundesregierung und die Verhältnismäßigkeit der Äußerungen. Beides, also sowohl die Befugnis zur Öffentlichkeitsarbeit als verfassungsimmanente Schranke als auch die Schranken-Schranken der Zu- ständigkeit und Verhältnismäßigkeit, werden vom BVerfG im vorliegenden Beschluss bestätigt. Hinsichtlich der Zuständigkeit stellt das BVerfG so- dann fest, dass die Bundesregierung überall dort zur Informationsarbeit berechtigt sei, wo ihr eine gesamt- staatliche Verantwortung der Staatsleitung zukomme, also etwa dann, wenn Vorgänge wegen ihres Aus- landsbezugs oder ihrer länderübergreifenden Bedeu- tung überregionalen Charakter haben und eine bun- desweite Informationsarbeit der Regierung die Effek- tivität der Problembewältigung fördere. Dabei hande- le es sich um eine ungeschriebene Kompetenz, von welcher der Verfassungsgeber - wie auch an anderen Stellen des GG deutlich werde - ausgegangen sei; Art. 83 ff. GG seien demgegenüber nicht anwendbar. Hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit stellt das BVerfG klar, dass die Äußerungen inhaltlich scharf und einprägsam, nicht aber diffamierend oder diskri- minierend sein dürfen. Gemessen an diesen Anforde- rungen hielt das Gericht Attribute wie "destruktiv" und "pseudoreligiös" sowie den Vorwurf der Manipu- lation der Sektenmitglieder für diffamierend und da- mit unverhältnismäßig, die Bezeichnung als “Sekte” (auch als “Psychosekte”) hingegen für angemessen und damit zulässig. Prüfungsrelevanz: Die Prüfungsrelevanz dieser Entscheidung kann gar nicht überschätzt werden. Die “Warnungsfälle” sind, wie auch die Parallelentscheidung des BVerfG zur Warnung vor Glykolwein (als “Urteil in Fallstruktur” in dieser Ausgabe) zeigt, brandaktuell. Die “RA” hat zudem in der jüngeren Vergangenheit über eine Viel- zahl anderer Entscheidungen berichtet, in denen es um rechtliche Probleme ging, die mit denen der “War- nungsfälle” in unmittelbarem Zusammenhang stehen, so etwa die Rechtswegfrage (VGH Mannheim, RA 2002, 386) und die Geltung des Vorbehalts des Ge- setzes (OVG Münster, RA 2002, 427 - mittlerweile bestätigt durch unveröffentlichte Entscheidung des BVerwG, Urteil vom 18.7.02, 3 C 53-56.01). Der Stoff ist zudem in verschiedenen Fallvarianten ab- prüfbar: 1. “Klassische” Fallgestaltung wäre eine Verfassungs- beschwerde des Betroffenen gegen die Warnung bzw. die sie bestätigenden Urteile der Fachgerichte. Diese

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RA 2002, HEFT 8ÖFFENTLICHES RECHT

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Öffentliches Recht

Standort: Art. 4 GG Problem: Warnung vor “Osho”-Bewegung

BVERFG, BESCHLUSS VOM 26.06.20021 BVR 670/91 (BISHER UNVERÖFFENTLICHT)

Problemdarstellung:

Das BVerfG hat nunmehr endlich einen Strich unterdie sogen. “Warnungsfälle” gezogen, welche dieFachgerichte seit Jahrzehnten beschäftigt haben: Äu-ßerungen von Hoheitsträgern in der Öffentlichkeit -typischerweise Warnungen vor angeblich oder tat-sächlich gefährlichen Produkten, Gruppierungen o.ä. -können in Grundrechte Dritter eingreifen. So hat z.B.das BVerfG im nachstehend wiedergegebenen Be-schluss zur Zulässigkeit von Warnungen der Bundes-regierung vor der “Osho”-Bewegung (auch als“Bhagwan”-Sekte bekannt) ausdrücklich bestätigt,dass die mittelbar-faktische Wirkung negativer Äuße-rungen über eine Glaubensgemeinschaft (im Fall: "de-struktiv", "pseudoreligiös" u.ä.) einen Eingriff in de-ren Glaubensfreiheit aus Art. 4 I GG darstellt. Liegtein Grundrechtseingriff vor, stellt sich die Frage nachder Zulässigkeit desselben. Die Literatur fordert hier-für vielfach eine einfach-gesetzliche Ermächtigungs-grundlage, die - je nach Grundrecht als Konkretisie-rung eines Gesetzesvorbehalts oder einer verfassungs-immanenten Schranke - zugleich zur verfassungs-rechtlichen Rechtfertigung des Eingriffs führt. Gund-rechtseingriffe seien “wesentlich” i.S.d. Wesentlich-keitstheorie des BVerfG, und wesentliche Entschei-dungen müsse die Legislative durch ein Gesetz tref-fen, das bestimmt genug sei, Voraussetzungen undRechtsfolgen solcher Warnungen durch die Exekutivezu regeln. Solche Ermächtigungen sind selten; gibt essie (z.B. § 8 ProdSichG), ermächtigen sie in aller Re-gel nicht Verfassungsorgane, sondern die jeweils zu-ständigen Landesbehörden zum Tätigwerden.Die Rspr. ging demgegenüber schon immer davonaus, dass der Verfassung eine aus Art. 62 ff. GG ab-leitbare Ermächtigung der Bundesregierung zu öffent-lichen Äußerungen immanent sei. Diese könne alsverfassungsimmanente Schranke auch Grundrechts-eingriffe decken, ohne dass es eines weiteren Tätig-werdens der Legislative in Form eines ermächtigen-den Parlamentsgesetzes bedürfe. Voraussetzung(“Schranken-Schranke”) sei dann (nur) die Zuständig-keit der Bundesregierung und die Verhältnismäßigkeitder Äußerungen. Beides, also sowohl die Befugniszur Öffentlichkeitsarbeit als verfassungsimmanente

Schranke als auch die Schranken-Schranken der Zu-ständigkeit und Verhältnismäßigkeit, werden vomBVerfG im vorliegenden Beschluss bestätigt.Hinsichtlich der Zuständigkeit stellt das BVerfG so-dann fest, dass die Bundesregierung überall dort zurInformationsarbeit berechtigt sei, wo ihr eine gesamt-staatliche Verantwortung der Staatsleitung zukomme,also etwa dann, wenn Vorgänge wegen ihres Aus-landsbezugs oder ihrer länderübergreifenden Bedeu-tung überregionalen Charakter haben und eine bun-desweite Informationsarbeit der Regierung die Effek-tivität der Problembewältigung fördere. Dabei hande-le es sich um eine ungeschriebene Kompetenz, vonwelcher der Verfassungsgeber - wie auch an anderenStellen des GG deutlich werde - ausgegangen sei; Art.83 ff. GG seien demgegenüber nicht anwendbar.Hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit stellt dasBVerfG klar, dass die Äußerungen inhaltlich scharfund einprägsam, nicht aber diffamierend oder diskri-minierend sein dürfen. Gemessen an diesen Anforde-rungen hielt das Gericht Attribute wie "destruktiv"und "pseudoreligiös" sowie den Vorwurf der Manipu-lation der Sektenmitglieder für diffamierend und da-mit unverhältnismäßig, die Bezeichnung als “Sekte”(auch als “Psychosekte”) hingegen für angemessenund damit zulässig.

Prüfungsrelevanz:Die Prüfungsrelevanz dieser Entscheidung kann garnicht überschätzt werden. Die “Warnungsfälle” sind,wie auch die Parallelentscheidung des BVerfG zurWarnung vor Glykolwein (als “Urteil in Fallstruktur”in dieser Ausgabe) zeigt, brandaktuell. Die “RA” hatzudem in der jüngeren Vergangenheit über eine Viel-zahl anderer Entscheidungen berichtet, in denen esum rechtliche Probleme ging, die mit denen der “War-nungsfälle” in unmittelbarem Zusammenhang stehen,so etwa die Rechtswegfrage (VGH Mannheim, RA2002, 386) und die Geltung des Vorbehalts des Ge-setzes (OVG Münster, RA 2002, 427 - mittlerweilebestätigt durch unveröffentlichte Entscheidung desBVerwG, Urteil vom 18.7.02, 3 C 53-56.01). DerStoff ist zudem in verschiedenen Fallvarianten ab-prüfbar: 1. “Klassische” Fallgestaltung wäre eine Verfassungs-beschwerde des Betroffenen gegen die Warnung bzw.die sie bestätigenden Urteile der Fachgerichte. Diese

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Problemstellung ist im “Urteil in Fallstruktur” in die-sem Heft gelöst, worauf hiermit verwiesen sei. 2. Es könnte ferner um eine verwaltungsgerichtlicheKlage auf Unterlassen und/oder Widerruf der War-nung gehen. Da es sich um Realakte handelt, wärehierfür eine positive (Widerruf) bzw. negative (Unter-lassen) Leistungsklage statthaft. Diese wäre auf dieauch im öffentlichen Recht gewohnheitsrechtlichanerkannten Ansprüche auf Folgenbeseitigung (Wi-derruf) bzw. Unterlassung zu stützen. Beide setzenvoraus, dass keine Duldungspflicht besteht, m.a.W.die Warnungen rechtswidrig sind. Dort wäre dann zuerörtern, ob zu deren Rechtmäßigkeit

a) überhaupt eine Ermächtigungsgrundlage erfor-derlich ist (Stichworte: Gesetzsvorbehalt, Wesentlich-keit, Grundrechtseingriff), und wenn ja,

b) ob eine solche vorliegt (Streit, ob Öffentlich-keitsarbeit der Regierung diesbezügl. ausreichend ist)und wenn ja,

c) worin sie ihre Schranken findet (Stichworte: Zu-ständigkeit, Verhältnismäßigkeit).Bzgl. des Widerrufsbegehrens würde sich i.Ü. dasSonderproblem stellten, dass der FBA nach der Rspr.nur gegen Tatsachenbehauptungen, nicht aber vorWerturteilen schützen soll (siehe hierzu Vertiefungs-hinweise).3. Denkbar ist schließlich eine staatshaftungsrecht-liche Klausur, in der Ansprüche des Betroffenen aufSchadensersatz infolge einer Warnung zu prüfen sind.Hier werden häufig Amtshaftung (Art. 34 GG i.V.m.§ 839 BGB) und enteignungsgleicher Eingriff (§§ 74,75 EALR in gewohnheitsrechtlicher Fortgeltung) inBetracht kommen, wobei die obigen Punkte 2a) bis2c) dann in der Amtspflichtverletzung (§ 839 BGB)bzw. im “Sonderopfer” (enteignungsgleicher Ein-griff), welches bei Rechtswidrigkeit der Maßnahmeindiziert ist, zu prüfen wären.

Vertiefungshinweise:

“ Entscheidungen des BVerwG zur Warnung vor derOsho-Bewegung: BVerwG, NJW 1991, 1770 (OshoI); BVerwGE 90, 112 (Osho II); BVerwG, NVwZ1994, 162 (Osho III)“ Weitere “Warnungsfälle”: OVG Münster, NVwZ1997, 302 und OVG Hamburg, NVwZ 1995, 498(beide zu Scientology); VGH München, NVwZ 1995,793 (“Universelles Leben”) “ Aufsätze zu staatlichen Warnungen: Lege, DVBl1999, 569; Muckel, JA 1995, 343; Discher, JuS 1993,463“ Zum Vorbehalt des Gesetzes: OVG Münster, RA2002, 427 = NWVBl 2002, 239“ Kein FBA auf Widerruf von Werturteilen: OVGMünster, NJW 1983, 2402

Kursprogramm:“ Examenskurs: “Trockenfisch”“ Examenskurs: “Der Minister und die Sekte”

Leitsätze (der Redaktion):1. Die Befugnis der Bundesregierung zur Öffent-lichkeitsarbeit lässt sich unmittelbar aus der Ver-fassung herleiten.2. Diese Befugnis erstreckt sich auch auf Äußerun-gen, die in Grundrechte Dritter (hier: Art. 4 I, IIGG) eingreifen. Einer einfach-gesetzlichen Er-mächtigung hierfür bedarf es daher nicht.3. Die Befugnis zur Öffentlichkeitsarbeit findetihre Schranken zum einen dort, wo die Bundes-regierung ihre Zuständigkeit überschreitet, zumanderen im Gebot der Verhältnismäßigkeit. Letz-teres verbietet es jedenfalls, sachlich unzutreffendeund/oder diffamierende Äußerungen zu tätigen.4. Auch mittelbar-faktisch wirkende Äußerungenkönnen in den Schutzbereich der Glaubensfreiheitdes Art. 4 I, II GG eingreifen. 5. Zur Zulässigkeit von Äußerungen über die“Osho”-Bewegung durch die Bundesregierung.

Sachverhalt: Seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhundertstraten in der Bundesrepublik Deutschland Gruppie-rungen in Erscheinung, die alsbald das Interesse derÖffentlichkeit fanden und zumeist als "Sekten", "Ju-gendsekten", "Jugendreligionen", "Psychosekten","Psychogruppen" oder ähnlich bezeichnet wurden.Wegen ihrer nach eigenem Verständnis überwiegendreligiös oder weltanschaulich geprägten Zielsetzun-gen, ihrer inneren Struktur und ihrer Praktiken imUmgang mit Mitgliedern und Anhängern wurden sieschnell Gegenstand kritischer öffentlicher Auseinan-dersetzung. Vorgeworfen wurde den genannten Grup-pen dabei vor allem, dass sie ihre Mitglieder von derAußenwelt abschotteten, insbesondere der eigenenFamilie entfremdeten, psychisch manipulierten undfinanziell ausbeuteten. Das führe zum Abbruch vonAusbildungen, zu Verstößen gegen arbeits- und so-zialrechtliche Vorschriften, zur Abhängigkeit der Mit-glieder von der jeweiligen Gruppierung und zuschweren seelischen Schädigungen vor allem jugend-licher Personen.Das Phänomen dieser Gruppierungen und der hinterihnen stehenden Bewegungen beschäftigte seit densiebziger Jahren auch die Regierungen in Bund undLändern, die sich in Antworten auf parlamentarischeAnfragen mehrfach zur Problematik dieser Gruppenäußerten und in Broschüren, Presseverlautbarungenund Vorträgen die Öffentlichkeit auch unmittelbardarüber informierten. Die Beschwerdeführer sind - jeweils in der Rechts-form eines eingetragenen Vereins des bürgerlichenRechts - Meditationsvereine der sog. “Shree Raj-

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neesh-“, “Bhagwan-“ oder “Osho-Bewegung” des vonseinen Anhängern erst “Bhagwan”, später “Osho”genannten indischen Mystikers Rajneesh ChandraMohan. Im verwaltungsgerichtlichen Ausgangsver-fahren verlangten sie von der BundesrepublikDeutschland die Unterlassung bestimmter Äußerun-gen; u.a. hatte die Bundesregierung die Bewegung als"Sekte", "Jugendsekte", "Jugendreligion" und "Psy-chosekte" bezeichnet und die Attribute "destruktiv"und "pseudoreligiös" verwendet sowie den Vorwurfder Mitgliedermanipulation erhoben. Das VG hat der Klage stattgegeben, soweit sie daraufgerichtet war, es der Beklagten zu untersagen, in amt-lichen Verlautbarungen jeder Art die Osho-Bewegungals "Jugendreligion", "Jugendsekte" oder "Psychosek-te" zu bezeichnen, mit den Attributen "destruktiv"oder "pseudoreligiös" zu belegen sowie weiterhin öf-fentlich zu behaupten, dass Mitglieder dieser Gemein-schaft weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeitmanipuliert würden. Dagegen hat es die Klage abge-wiesen, soweit außerdem begehrt worden war, derBeklagten auch den Gebrauch der Bezeichnungen"destruktiver Kult", "Psychokult" und "Sekte" zu ver-bieten. Das OVG hat auf die Berufung der Beklagtendie Klage in vollem Umfang abgewiesen und die An-schlussberufung der Beschwerdeführer zu 2 und 4,mit der diese die Abweisung der Klage hinsichtlichdes Gebrauchs des Begriffs "Sekte" angegriffen hat-ten, zurückgewiesen. Das BVerwG hat die Beschwer-de der Beschwerdeführer gegen die Nichtzulassungder Revision durch das OVG zurückgewiesen. Mit der Verfassungsbeschwerde wenden sich die Be-schwerdeführer gegen die genannten gerichtlichenEntscheidungen. Sie hatte in dem aus dem Leitsatzersichtlichen Umfang Erfolg.

Aus den Gründen:Die Verfassungsbeschwerde ist teilweise begründet.Im Ergebnis verfassungsrechtlich nicht zu beanstan-den ist, dass die Bezeichnungen "Sekte", "Jugendreli-gion", "Jugendsekte" und "Psychosekte", welche dieBundesregierung in der Unterrichtung über die Os-ho-Bewegung und die ihr angehörenden Gemein-schaften für diese verwendet hat, im Ausgangsverfah-ren für unbedenklich gehalten worden sind. Dagegenkann das Berufungsurteil des Oberverwaltungs-gerichts insoweit keinen Bestand haben, als es auchden Gebrauch der Attribute "destruktiv" und "pseudo-religiös" sowie den Vorwurf der Manipulation vonMitgliedern dieser Gemeinschaften als verfassungs-mäßig angesehen hat.

A. Verletzung der ReligionsfreiheitDas Urteil verletzt insoweit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG.

I. Schutzbereich betroffen

1. Personaler SchutzbereichDie Beschwerdeführer sind Träger dieses Grund-rechts.

a. Juristische PersonenDass sie als eingetragene Vereine des bürgerlichenRechts nach § 21 BGB juristische Personen sind, stehtdem nicht entgegen. Gemäß Art. 19 Abs. 3 GG giltdas Grundrecht der Religions- und Weltanschauungs-freiheit auch für inländische juristische Personen,wenn ihr Zweck die Pflege oder Förderung eines reli-giösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses ist (vgl.BVerfGE 19, 129 <132>; 24, 236 <247>; 99, 100<118>). Bei den Beschwerdeführern ist dies nach dentatsächlichen Feststellungen, die das Verwaltungs-und das Oberverwaltungsgericht im Ausgangsverfah-ren getroffen haben, der Fall. Danach verfolgen dieBeschwerdeführer ausweislich ihrer Satzungen je-weils den Zweck, gemeinschaftlich die Lehren desOsho-Rajneesh zu pflegen. Diese bestimmten, wie esdas Oberverwaltungsgericht ausgedrückt hat, die Zie-le des Menschen, sprächen ihn im Kern seiner Persön-lichkeit an und erklärten auf eine umfassende Weiseden Sinn der Welt und des menschlichen Lebens. Esist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenndas Oberverwaltungsgericht daraus gefolgert hat, dasses sich bei den Zielen und Inhalten der Os-ho-Bewegung jedenfalls um eine Weltanschauung imSinne des Art. 4 Abs. 1 GG handelt.

b. Auch wirtschaftliche Betätigung unschädlichDieser Annahme steht nicht entgegen, dass sich dieBeschwerdeführer wie die Osho-Bewegung insgesamtauch wirtschaftlich betätigen. Die ideellen Zielset-zungen dieser Bewegung dienen, wie die Tatsachen-gerichte im Ausgangsverfahren weiter festgestellt ha-ben, den Beschwerdeführern und ihren Anhängernnicht nur als Vorwand für wirtschaftliche Aktivitäten.Die Tätigkeit der Beschwerdeführer sei nicht einmalüberwiegend auf Gewinnerzielung gerichtet. Die Ver-waltungsgerichte haben den Beschwerdeführern aufder Grundlage dieser Tatsachenfeststellungen denSchutz des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zu Recht zuer-kannt.

2. Sachlicher SchutzbereichDas Grundrecht der Religions- und Weltanschauungs-freiheit umfasst neben der Freiheit des Einzelnen zumprivaten und öffentlichen Bekenntnis seiner Religionoder Weltanschauung auch die Freiheit, sich mit an-deren aus gemeinsamem Glauben oder gemeinsamerweltanschaulicher Überzeugung zusammenzuschlie-ßen (vgl. BVerfGE 53, 366 <387>; 83, 341 <355>).Die durch den Zusammenschluss gebildete Vereini-gung selbst genießt das Recht zu religiöser oder welt-anschaulicher Betätigung, zur Verkündigung desGlaubens, zur Verbreitung der Weltanschauung sowie

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zur Pflege und Förderung des jeweiligen Bekenntnis-ses (vgl. BVerfGE 19, 129 <132>; 24, 236 <246 f.>;53, 366 <387>). Geschützt sind auch die Freiheit, fürden eigenen Glauben und die eigene Überzeugung zuwerben, und das Recht, andere von deren Religionoder Weltanschauung abzuwerben (vgl. BVerfGE 12,1 <4>; 24, 236 <245>). Bedeutung und Tragweitedieser Gewährleistungen finden darin ihren besonde-ren Ausdruck, dass der Staat nach Art. 4 Abs. 1 GG,aber auch gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 1, Art. 33 Abs. 3und Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 1,4 und Art. 137 Abs. 1 WRV verpflichtet ist, sich inFragen des religiösen oder weltanschaulichen Be-kenntnisses neutral zu verhalten und nicht seinerseitsden religiösen Frieden in der Gesellschaft zu gefähr-den (vgl. BVerfGE 19, 206 <216>; 93, 1 <16 f.>;102, 370 <383>). Art. 4 Abs. 1 GG schützt daher ge-gen diffamierende, diskriminierende oder verfäl-schende Darstellungen einer religiösen oder weltan-schaulichen Gemeinschaft. Nicht aber sind der Staatund seine Organe gehalten, sich mit derartigen Fragenüberhaupt nicht zu befassen. Auch der neutrale Staatist nicht gehindert, das tatsächliche Verhalten einerreligiösen oder weltanschaulichen Gruppierung oderdas ihrer Mitglieder nach weltlichen Kriterien zu be-urteilen, selbst wenn dieses Verhalten letztlich religi-ös motiviert ist (vgl. BVerfGE 102, 370 <394>).Ebenso ist den staatlichen Verantwortungsträgern dieInformation des Parlaments, der Öffentlichkeit oderinteressierter Bürgerinnen und Bürger über religiöseund weltanschauliche Gruppen und ihre Tätigkeitnicht schon von vornherein verwehrt. Art. 4 Abs. 1und 2 GG schützt nicht dagegen, dass sich staatlicheOrgane mit den Trägern des Grundrechts öffentlich -auch kritisch - auseinander setzen. Nur die Regelunggenuin religiöser oder weltanschaulicher Fragen, nurdie parteiergreifende Einmischung in die Überzeu-gungen, die Handlungen und in die Darstellung Ein-zelner oder religiöser und weltanschaulicher Gemein-schaften sind dem Staat untersagt (vgl. BVerfGE 93,1 <16>; 102, 370 <394>). Weder dürfen von ihm be-stimmte Bekenntnisse - etwa durch Identifikation mitihnen - privilegiert noch andere um ihres Bekenntnis-inhalts willen - beispielsweise durch Ausgrenzung -benachteiligt werden. In einem Staat, in dem Anhän-ger unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicherÜberzeugungen zusammenleben, kann die friedlicheKoexistenz nur gelingen, wenn der Staat selbst inGlaubens- und Weltanschauungsfragen Neutralitätbewahrt (vgl. BVerfGE 93, 1 <16 f.> m.w.N.). Er hatsich deshalb im Umgang mit Religions- und Welt-anschauungsgemeinschaften besondere Zurückhal-tung aufzuerlegen, deren konkretes Maß sich nachden Umständen des Einzelfalles bestimmt.

II. EingriffDiesen Grundsätzen werden die Äußerungen der Bun-

desregierung, die im Ausgangsverfahren in Bezug aufdie Osho-Bewegung und ihre Gemeinschaften vomBerufungsgericht noch zu beurteilen waren, nicht invollem Umfang gerecht. 1. Bzgl. der Bezeichnungen als "Sekte", "Jugendreli-gion", "Jugendsekte" und "Psychosekte"Zuzustimmen ist den angegriffenen Entscheidungenallerdings darin, dass diese Äußerungen, soweit mitihnen die Osho-Bewegung und die zu ihr gehörendenGemeinschaften als "Sekte", "Jugendreligion", "Ju-gendsekte" und "Psychosekte" bezeichnet wurden,keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen.Diese Äußerungen berühren schon nicht den Schutz-bereich des Grundrechts der Religions- oder Welt-anschauungsfreiheit. Sie enthalten keine diffamieren-den oder verfälschenden Darstellungen, sondern be-wegen sich im Rahmen einer sachlich geführten In-formationstätigkeit über die betroffenen Gemein-schaften und wahren damit die Zurückhaltung, zuwelcher der Staat und seine Organe nach dem Gebotder religiös-weltanschaulichen Neutralität verpflichtetsind. Allerdings soll die Bezeichnung "Sekte" nachder Empfehlung der Enquete-Kommission "So-genannte Sekten und Psychogruppen" des DeutschenBundestags in Verlautbarungen staatlicher Stellenüber Gruppierungen der hier vorliegenden Art in Zu-kunft nicht weiter verwendet werden. Der Gebrauchim seinerzeitigen Kontext war aber verfassungsrecht-lich nicht zu beanstanden.

a. “Sekte”Das Verwaltungsgericht hat den Begriff "Sekte" unteranderem deshalb für unbedenklich gehalten, weil ersämtliche kleineren Religionsgemeinschaften unab-hängig von ihrer Herkunft umfasse und jedenfalls ei-ne weit über den Kreis der neuen religiösen und welt-anschaulichen Bewegungen hinausgehende Gruppesolcher Gemeinschaften bezeichne. Gegen diese Be-urteilung sind verfassungsrechtliche Einwände nichtzu erheben (vgl. zur Spannweite des Sektenbegriffsaußer dem Endbericht der Enquete-Kommission "So-genannte Sekten und Psychogruppen", BTDrucks13/10950, S. 18, etwa noch König, Sekten, in: Staats-lexikon, 7. Aufl., 4. Bd., 1988, Sp. 1147 ff.). Gleichesgilt für die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts,dass der Begriff "Sekte" seine allgemeine Verwen-dung typischerweise im religiösen Bereich erfahreund eine gegenüber den großen Glaubensgemein-schaften nicht selten durch besonders pointierte Un-terscheidungen in der Lehre unterstrichene Minder-heitenrolle indiziere, die bei der Osho-Bewegung ih-ren Ausdruck unter anderem darin finde, dass sichdiese vorrangig an Jugendliche und junge Erwachsenewende.Dass die Verwendung der Bezeichnung "Sekte" instaatlichen Verlautbarungen vor diesem Hintergrund

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im Lichte des Neutralitäts- und Zurückhaltungsgebotsin religiös-weltanschaulichen Fragen verfassungs-rechtlich keinen durchgreifenden Bedenken begegnet,wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass dieser Be-griff in Bezug auf die neueren religiösen und welt-anschaulichen Gruppierungen zum Teil als negativgefärbt verstanden wird. Dieses Verständnis ergibtsich notwendig aus der Weite und den inhaltlichenDifferenzierungen des Sektenbegriffs selbst. Im Übri-gen ist der Staat durch die Pflicht zur religi-ös-weltanschaulichen Neutralität nicht gehindert, inder öffentlichen Diskussion über religiöse oder welt-anschauliche Gruppen für diese die Bezeichnungen zuverwenden, die in der aktuellen Situation dem allge-meinen Sprachgebrauch entsprechen und in diesemSinne von den Adressaten der jeweiligen Äußerungauch verstanden werden.

b. "Jugendreligion" und "Jugendsekte"Entsprechendes gilt für den Gebrauch der Begriffe"Jugendreligion" und "Jugendsekte". Das Oberver-waltungsgericht hat sie auch mit Bezug auf die Os-ho-Bewegung und die sich zu ihr bekennenden Orga-nisationen als unbedenklich eingestuft, weil diese sichvorrangig an junge Erwachsene wendeten und dieLetzteren in einem erweiterten Sinne noch zum Be-reich der "Jugend" gerechnet werden könnten, dernach allgemeinem Sprachgebrauch und gesellschaftli-cher Praxis auch Angehörige von Altersgruppen deut-lich jenseits von 20 Jahren umfasse.Diese Einschätzung entspricht, wie die Ausführungenim Zwischenbericht der Enquete-Kommission "So-genannte Sekten und Psychogruppen" des DeutschenBundestags zeigen, dem Stand der öffentlichen Dis-kussion über die neuen religiösen und weltanschauli-chen Gruppen und Bewegungen, wie sie nach dendamals möglichen Erkenntnissen in den Jahren ge-führt wurde, in denen auch die hier in Rede stehendenÄußerungen gefallen sind. Danach wurden die ge-nannten Gruppierungen fast ausschließlich als einneues gesellschaftliches Problem wahrgenommen, dasvorwiegend Jugendliche oder junge Erwachsene be-traf (vgl. BTDrucks 13/8170, S. 52). Es verletzt nichtdas dem Staat in religiösen und weltanschaulichenAngelegenheiten auferlegte Neutralitäts- und Zu-rückhaltungsgebot, wenn dieser durch seine Organeim Rahmen einer solchen Debatte die Bezeichnungenund Begriffe verwendet, die in der aktuellen Situationden Gegenstand der Auseinandersetzung einprägsamund für die Adressaten seiner Äußerungen verständ-lich umschreiben, sofern die Äußerungen als solchenicht diffamierend oder sonst wie diskriminierendsind. Diese Voraussetzung war bei den Begriffen "Ju-gendreligion" und "Jugendsekte" unter den genanntenUmständen gegeben, zumal ihr Gebrauch nicht seltenmit einschränkenden und relativierenden Zusätzenund Ausdrucksformen ("so genannte", Verwendung

der Begriffe in Anführungszeichen) verbunden wur-de.

c. “Psychosekte”Schließlich wahrt auch der Gebrauch der Bezeich-nung "Psychosekte" noch die dem Staat vorgegebeneNeutralität in religiös-weltanschaulichen Fragen. DasOberverwaltungsgericht hat diesen Begriff mit Bezugauf die Osho-Bewegung damit erklärt, dass diese -nach der Beurteilung des Bundesverwaltungsgerichtsunstreitig - in großem Umfang therapeutische Medita-tionskurse anbiete und ihre Lehre selbst als eine Syn-these aus östlicher Weisheit und westlicher Psycholo-gie bezeichne.Auch dieser Befund stimmt mit den Erkenntnissenüberein, welche die Enquete-Kommission "Sogenann-te Sekten und Psychogruppen" des Deutschen Bun-destags für die Zeit gewonnen hat, in der die Äuße-rungen gemacht wurden, gegen deren weiteren Ge-brauch die Beschwerdeführer sich wenden. Danachgehörten zu dem so genannten Psychomarkt mit sei-nen vielfältigen psychologischen und pseudopsycho-logischen Angeboten zur Lebenshilfe, Lebensorientie-rung und Persönlichkeitsentwicklung außerhalb derfachlichen Psychologie und des Gesundheitswesens(vgl. BTDrucks 13/10950, S. 19) auch meditativ ori-entierte Strömungen wie die Bhagwan/Osho-Bewe-gung (vgl. ebd., S. 48, 86 f.). Es war vor diesem Hin-tergrund für die betroffenen Gruppen und ihre Ange-hörigen nicht diskriminierend, wahrte vielmehr dieverfassungsrechtlich gebotene Neutralität, wenn dieseGruppen in der öffentlichen Diskussion über sie vonstaatlicher Seite auch als "Psychosekten" bezeichnetwurden, zumal auch dies häufig in der Weise geschah,dass dem Begriff der einschränkende Zusatz "so ge-nannte" hinzugefügt wurde.

2. Bzgl. der Attribute "destruktiv" und "pseudoreligi-ös" und des ManipulationsvorwurfsNicht mehr in dem verfassungsrechtlich gebotenenSinne neutral sind dagegen die Attribute "destruktiv"und "pseudoreligiös", mit denen die der Os-ho-Bewegung angehörenden Gemeinschaften verse-hen wurden, und der Vorwurf, deren Mitglieder wür-den von der jeweiligen Gemeinschaft - weitgehendunter Ausschluss der Öffentlichkeit - manipuliert.

a. “Destruktiv" und "pseudoreligiös"Wie schon das Verwaltungsgericht in seinem insoweitnicht angegriffenen Urteil nachvollziehbar angenom-men hat, liegt der diffamierende Charakter der Attri-bute "destruktiv" und "pseudoreligiös" offen zu Tage.Es hat dazu weiterhin festgestellt, dass die Qualifizie-rung der Osho-Bewegung und der ihr zugehörigenGruppen als destruktiv sich nicht auf einzelne als ge-fährlich eingeschätzte Folgerungen aus der Mitglied-schaft in solchen Gemeinschaften beziehe, sondern

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dass die genannte Bewegung durch diese Bezeich-nung pauschal abgewertet werde und auch die Ver-wendung des Ausdrucks "pseudoreligiös" die Inhalteder Osho-Bewegung diffamiere und einen darüberhinausgehenden Sinngehalt nicht aufweise. Auch dasOberverwaltungsgericht hat in den genannten Attribu-ten eine abwertende Beurteilung der Osho-Bewegunggesehen. Dass es sie für gerechtfertigt hält, ändertnichts daran, dass damit die in der Auseinanderset-zung mit religiösen und weltanschaulichen Gemein-schaften gebotene Neutralität und Zurückhaltungnicht mehr gewahrt wurden.

b. ManipulationsvorwurfDas Gleiche trifft für den im Ausgangsverfahren fest-gestellten Vorwurf der Bundesregierung zu, Mitglie-der der Osho-Bewegung und ihrer Gemeinschaftenwürden weitgehend unter Ausschluss der Öffentlich-keit manipuliert. Nach der Deutung durch das Ver-waltungsgericht ist diese - von ihm als negativ ge-kennzeichnete - Aussage nicht auf bestimmte Tätig-keiten der Bewegung, etwa im Bereich des Arbeits-und Tarifrechts, sondern auf die ihr angehörendenVereinigungen in ihrer Gesamtheit bezogen. Es habezum Ausdruck gebracht werden sollen, die Os-ho-Bewegung wirke insgesamt auf ihre Mitglieder mitunlauteren Methoden ein. Das Oberverwaltungsge-richt hat die Würdigung der Äußerung als generelleAussage geteilt und auch eine stark abwertende Be-deutung des Begriffs "Manipulation" nicht in Abredegestellt (vgl. KirchE 28, S. 106 <125>). Von Verfas-sungs wegen begegnet diese Einschätzung keinen Be-denken.Mit den Begriffen "Manipulation" und "Manipulie-ren" wird nicht nur entsprechend dem allgemeinenSprachgebrauch die Vorstellung einer Beeinflussungvon Menschen durch andere verbunden. Durch denGebrauch dieser Wörter wird vielmehr auch der Ge-danke des Lenkens und Steuerns von Menschen ohneoder gegen ihren Willen, ihrer Benutzung als Objektund des Sichverschaffens von Vorteilen auf betrügeri-sche oder scheinlegale Weise zum Ausdruck gebracht(vgl. die Stichworte "Manipulation" und "manipulie-ren" in: Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Aufl., Bd. 27,1995, S. 2191; Duden, Das große Wörterbuch derdeutschen Sprache, 3. Aufl., Bd. 6, 1999, S. 2505 f.;Duden, Das große Fremdwörterbuch, 2. Aufl. 2000,S. 837). Damit ist die Grenze einer zurückhal-tend-neutralen Bewertung religiös-weltanschaulicherVorgänge und Verhaltensweisen jedenfalls dann über-schritten, wenn dies - wie hier - nicht auf konkreteTatsachen gestützt wird.

3. Kein “klassischer” GrundrechtseingriffDie Verwendung der Attribute "destruktiv" und"pseudoreligiös" und die Erhebung des Vorwurfs derMitgliedermanipulation beeinträchtigen danach das

durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG garantierte Recht derBeschwerdeführer auf eine in religiös-weltanschauli-cher Hinsicht neutral und zurückhaltend erfolgendeBehandlung. Die Merkmale eines Grundrechtsein-griffs im herkömmlichen Sinne werden damit aller-dings nicht erfüllt. Danach wird unter einem Grund-rechtseingriff im Allgemeinen ein rechtsförmigerVorgang verstanden, der unmittelbar und gezielt (fi-nal) durch ein vom Staat verfügtes, erforderlichenfallszwangsweise durchzusetzendes Ge- oder Verbot, alsoimperativ, zu einer Verkürzung grundrechtlicher Frei-heiten führt. Keines dieser Merkmale liegt bei denÄußerungen vor, die hier zu beurteilen sind.Die Kennzeichnung der Osho-Bewegung und der ihrzugehörigen Gemeinschaften als "destruktiv" und"pseudoreligiös" und die Behauptung, diese Gemein-schaften manipulierten - weitgehend unter Ausschlussder Öffentlichkeit - ihre Mitglieder, erfolgten nichtrechtsförmig, sondern waren in Parlamentsantwortenenthalten und außerhalb des Parlaments Gegenstandvon Rede- und Diskussionsbeiträgen. Sie waren auchnicht unmittelbar an die Organisationen der Os-ho-Bewegung und ihre Mitglieder adressiert, sondernwollten Parlament und Öffentlichkeit über die Grup-pen dieser Bewegung, ihre Ziele und Aktivitäten un-terrichten. Weiter war es nicht Zweck der Äußerun-gen, den angesprochenen Gemeinschaften und ihrenAnhängern Nachteile zuzufügen; beabsichtigt warvielmehr nur, Parlament, Öffentlichkeit und hier vorallem den interessierten und betroffenen Bürgerinnenund Bürgern die Risiken aufzuzeigen, die nach Auf-fassung der Bundesregierung mit der Mitgliedschaftin einer der Osho-Bewegung angehörenden Gruppie-rung verbunden sein konnten. Nachteilige Rückwir-kungen auf die einzelne Gemeinschaft wurden aller-dings in Kauf genommen. Sofern sie eintraten, beruh-ten sie aber nicht auf einem erforderlichenfallszwangsweise durchsetzbaren staatlichen Ge- oderVerbot, sondern darauf, dass der Einzelne aus der ihmzugegangenen Information Konsequenzen zog undder betreffenden Gruppe fernblieb, aus ihr austrat, aufAngehörige oder andere Personen einwirkte, sichebenso zu verhalten, oder davon absah, die Gemein-schaft (weiter) finanziell zu unterstützen.

4. Mittelbar-faktische Wirkung genügt (“erweiterterEingriffsbegriff”)Dies hindert jedoch nicht, Äußerungen der vorliegen-den Art an Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zu messen. DasGrundgesetz hat den Schutz vor Grundrechtsbeein-trächtigungen nicht an den Begriff des Eingriffs ge-bunden oder diesen inhaltlich vorgegeben. Die ge-nannten Äußerungen hatten in Bezug auf die Be-schwerdeführer eine mittelbar faktische Wirkung.

III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Als Beeinträchtigungen des Grundrechts aus Art. 4

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Abs. 1 und 2 GG sind aber auch sie von Verfassungswegen nur dann nicht zu beanstanden, wenn sie sichverfassungsrechtlich hinreichend rechtfertigen lassen.Das ist nicht der Fall. Zwar hat die Bundesregierungmit den angegriffenen Äußerungen im Rahmen ihrerInformationskompetenz gehandelt. Die Beschwerde-führer sind dadurch jedoch unverhältnismäßig in ih-ren Grundrechten aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG beein-trächtigt worden.

1. Befugnis zur Öffentlichkeitsarbeit als Grundrechts-schrankeDie Bundesregierung durfte Parlament und Öffent-lichkeit über die Osho-Bewegung, die ihr angehören-den Gruppierungen sowie deren Ziele und Aktivitäteninformieren. Dabei konnte sie sich auf ihre verfas-sungsunmittelbare Aufgabe der Staatsleitung stützen,ohne dass es einer zusätzlichen gesetzlichen Ermäch-tigung bedurft hätte.

a. HerleitungDie Ermächtigung zur Erteilung derartiger Informa-tionen ergibt sich aus der der Bundesregierung zu-gewiesenen Aufgabe, im Rahmen ihrer Öffentlich-keitsarbeit auch auf aktuelle streitige, die Öffentlich-keit erheblich berührende Fragen einzugehen und da-mit staatsleitend tätig zu werden. Diese Aufgabe, beider es um die politische Führung, die verantwortlicheLeitung des Ganzen der inneren und äußeren Politikgeht und die sich die Bundesregierung mit den ande-ren dazu berufenen Verfassungsorganen teilt (zurStaatsleitung als Regierungsaufgabe vgl. schonBVerfGE 11, 77 <85>; 26, 338 <395 f.>), wird nichtallein mit den Mitteln der Gesetzgebung (zur Staats-leitung durch Gesetz vgl. BVerfGE 70, 324 <355>)und der richtungweisenden Einwirkung auf den Ge-setzesvollzug wahrgenommen. Staatsleitung durch dieBundesregierung wird vielmehr auch im Wege destäglichen Informationshandelns im Wechselspiel ins-besondere mit dem Parlament, aber auch mit der in-teressierten Öffentlichkeit sowie den jeweils betroffe-nen Bürgerinnen und Bürgern wahrgenommen.Die staatliche Teilhabe an öffentlicher Kommunikati-on hat sich im Laufe der Zeit grundlegend gewandeltund verändert sich unter den gegenwärtigen Bedin-gungen fortlaufend weiter. Die gewachsene Rolle derMassenmedien, der Ausbau moderner Informations-und Kommunikationstechniken sowie die Ent-wicklung neuer Informationsdienste wirken sich auchauf die Art der Aufgabenerfüllung durch die Regie-rung aus. Regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeitwar herkömmlich insbesondere auf die Darstellungvon Maßnahmen und Vorhaben der Regierung, dieDarlegung und Erläuterung ihrer Vorstellungen überkünftig zu bewältigende Aufgaben und die Werbungum Unterstützung bezogen (vgl. BVerfGE 20, 56<100>; 44, 125 <147>; 63, 230 <242 f.>). Informa-

tionshandeln unter heutigen Bedingungen geht übereine solche Öffentlichkeitsarbeit vielfach hinaus (vgl.auch VerfGH NW, NWVBl 1992, S. 14 <15 f.>). Sogehört es in einer Demokratie zur Aufgabe der Regie-rung, die Öffentlichkeit über wichtige Vorgänge auchaußerhalb oder weit im Vorfeld ihrer eigenen gestal-tenden politischen Tätigkeit zu unterrichten. In einerauf ein hohes Maß an Selbstverantwortung der Bürgerbei der Lösung gesellschaftlicher Probleme ausgerich-teten politischen Ordnung ist von der Regierungsauf-gabe auch die Verbreitung von Informationen erfasst,welche die Bürger zur eigenverantwortlichen Mitwir-kung an der Problembewältigung befähigen. Dement-sprechend erwarten die Bürger für ihre persönlicheMeinungsbildung und Orientierung von der Regie-rung Informationen, wenn diese andernfalls nicht ver-fügbar wären. Dies kann insbesondere Bereiche be-treffen, in denen die Informationsversorgung der Be-völkerung auf interessengeleiteten, mit dem Risikoder Einseitigkeit verbundenen Informationen beruhtund die gesellschaftlichen Kräfte nicht ausreichen, umein hinreichendes Informationsgleichgewicht herzu-stellen.Von der Staatsleitung in diesem Sinne wird nicht nurdie Aufgabe erfasst, durch rechtzeitige öffentlicheInformation die Bewältigung von Konflikten in Staatund Gesellschaft zu erleichtern, sondern auch, aufdiese Weise neuen, oft kurzfristig auftretenden He-rausforderungen entgegenzutreten und auf Krisen undauf Besorgnisse der Bürger schnell und sachgerechtzu reagieren sowie diesen zu Orientierungen zu ver-helfen (vgl. weiter Beschluss des Ersten Senats vom26. Juni 2002 - 1 BvR 558/91 und 1428/91 - Glykol-[in diesem Heft als Urteil in Fallstruktur]). EinSchweigen der Regierung in solcher Lage würde vonvielen Bürgern als Versagen bewertet werden. Dieskann zu Legitimationsverlusten führen.

b. Erstreckung auf GrundrechtseingriffeDie Unterrichtung der Öffentlichkeit über Vorgängeund Entwicklungen, die für den Bürger und das funk-tionierende Zusammenwirken von Staat und Gesell-schaft von Wichtigkeit sind, ist von der der Regierungdurch das Grundgesetz zugewiesenen Aufgabe derStaatsleitung auch dann gedeckt, wenn mit dem Infor-mationshandeln mittelbar-faktische Grundrechtsbe-einträchtigungen verbunden sind, wie dies bei denhier in Rede stehenden Äußerungen über die Os-ho-Bewegung und die ihr angehörenden Gemein-schaften der Fall war. Die Zuweisung einer Aufgabeberechtigt grundsätzlich zur Informationstätigkeit imRahmen der Wahrnehmung dieser Aufgabe, auchwenn dadurch mittelbar-faktische Beeinträchtigungenherbeigeführt werden können. Der Vorbehalt des Ge-setzes verlangt hierfür keine darüber hinausgehendebesondere Ermächtigung durch den Gesetzgeber, essei denn, die Maßnahme stellt sich nach der Zielset-

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zung und ihren Wirkungen als Ersatz für eine staatli-che Maßnahme dar, die als Grundrechtseingriff imherkömmlichen Sinne zu qualifizieren ist. DurchWahl eines solchen funktionalen Äquivalents einesEingriffs kann das Erfordernis einer besonderen ge-setzlichen Grundlage nicht umgangen werden.

aa. Gesetzliche Regelung nicht nötigUnter der Geltung des Grundgesetzes ist der Grund-rechtsschutz nicht auf Eingriffe im herkömmlichenSinne begrenzt, sondern auf faktische und mittelbareBeeinträchtigungen ausgedehnt worden. Damit rea-gierte die Rechtsordnung auf geänderte Gefährdungs-lagen. Zugleich ist der Gesetzesvorbehalt ausgedehntworden, und zwar nicht nur im Interesse des Schutzessubjektiver Rechte, sondern auch zur Stärkung derparlamentarischen Verantwortung und damit der de-mokratischen Legitimation staatlichen Handelns.Wegen der zum Teil unterschiedlichen Gründe für dieAusweitung des Grundrechtsschutzes einerseits unddes Gesetzesvorbehalts andererseits ist es nicht selbst-verständlich, dass der Gesetzesvorbehalt zwangsläu-fig mit der Ausweitung des Schutzes auf fak-tisch-mittelbare Beeinträchtigungen von Grundrech-ten in jeder Hinsicht mitgewachsen ist. Die Anforde-rungen an eine gesetzliche Ermächtigung werden da-durch mitbestimmt, ob diese dazu beitragen kann, dieim Rechtsstaats- und im Demokratieprinzip wurzeln-den Anliegen des Gesetzesvorbehalts zu erfüllen.Dies hängt auch von den hierauf bezogenen Erkennt-nis- und Handlungsmöglichkeiten des Gesetzgebersab. Der Sachbereich muss staatlicher Normierung zu-gänglich sein (vgl. BVerfGE 49, 89 <126>). Ob undinwieweit das der Fall ist, lässt sich nur im Blick aufden jeweiligen Sachbereich und auf die Eigenart desbetroffenen Regelungsgegenstandes beurteilen (vgl.BVerfGE 98, 218 <251>).

bb. Gesetzliche Regelung nicht möglichDie Aufgabe staatlichen Handelns kann der Gesetz-geber ohne weiteres normativ festlegen. Ebenso kanner die Voraussetzungen gezielter und unmittelbarerEingriffe normieren. Für die faktisch-mittelbaren Wir-kungen staatlichen Handelns gilt dies regelmäßignicht. Hier liegt die Beeinträchtigung nicht in einemstaatlicherseits geforderten Verhalten des Normadres-saten, sondern in den Wirkungen staatlichen Handelnsfür einen Dritten, die insbesondere vom Verhaltenanderer Personen abhängen. Die Beeinträchtigungentsteht aus einem komplexen Geschehensablauf, beidem Folgen grundrechtserheblich werden, die indirektmit dem eingesetzten Mittel oder dem verwirklichtenZ w e c k z u s a m m e n h ä n g e n . D e r a r t i g e f a k -tisch-mittelbare Wirkungen entziehen sich typischer-weise einer Normierung.So liegt es jedenfalls bei einer Informationstätigkeitder Regierung, die aufgrund der Reaktionen der Bür-

ger zu mittelbar-faktischen Grundrechtsbeeinträchti-gungen führt. Die Voraussetzungen dieser Tätigkeitlassen sich gesetzlich sinnvoll nicht regeln.

(1). Vielseitigkeit der InformationstätigkeitIst eine Aufgabe der Regierung zum Informations-handeln gegeben, steht damit im Hinblick auf dieVielgestaltigkeit und Veränderlichkeit der in Betrachtkommenden Lebenssachverhalte in aller Regel nichtim Vorhinein fest, aus welchen Anlässen es zu wel-chem Informationshandeln der Regierung kommenwird. Die Themen denkbarer staatlicher Informations-tätigkeit betreffen praktisch alle Lebensbereiche.Dementsprechend vielfältig sind die Zwecke staatli-chen Informationshandelns. Die Art und Weise desstaatlichen Vorgehens werden durch den konkretenAnlass der Äußerung bestimmt, der oft kurzfristigentsteht, sich unter Umständen schnell wieder ändertund deshalb vielfach ebenfalls nicht prognostiziertwerden kann. Ungewiss sind auch und vor allem dieWirkungen und weiteren Folgen der staatlichen Infor-mationstätigkeit für den Bürger. Ob und welche nach-teiligen Konsequenzen diese Tätigkeit im Einzelfallfür den Grundrechtsträger hat, hängt im Allgemeinenvon einer Vielzahl unterschiedlichster Faktoren undderen Zusammenwirken ab. Häufig ist hierfür dasVerhalten Dritter ausschlaggebend, das, weil es aufderen freier Entscheidung beruht, regelmäßig nichtabschätzbar ist und hinsichtlich seiner Folgen nurschwer kalkuliert werden kann.

(2). Generalklauseln brächten keinen Gewinn an Be-stimmtheitWeder die rechtsstaatliche, grundrechtsschützendeund den Rechtsschutz gewährleistende noch die de-mokratische Funktion des Gesetzesvorbehalts fordertunter diesen Umständen eine über die Aufgabenzu-weisung hinausgehende gesetzliche Ermächtigung.Gegenstand und Modalitäten staatlichen Informa-tionshandelns sind so vielgestaltig, dass sie angesichtsder eingeschränkten Erkenntnis- und Handlungs-möglichkeiten des Gesetzgebers allenfalls in allge-mein gehaltenen Formeln und Generalklauseln gefasstwerden könnten. Ein Gewinn an Messbarkeit und Be-rechenbarkeit staatlichen Handelns ist für den Bürgerauf diesem Wege regelmäßig nicht zu erreichen odernur in einer Weise, die den Erfordernissen staatlicherInformationstätigkeit nicht gerecht wird. Gleiches giltfür das Ziel, die Entscheidung grundsätzlicher, ins-besondere für die Verwirklichung der Grundrechtewesentlicher Fragen (vgl. BVerfGE 47, 46 <79>; 98,218 <251>) aus Gründen der demokratischen Legiti-mation wenigstens in den Grundzügen dem parlamen-tarischen Gesetzgeber vorzubehalten. Angesichts derzwangsläufig weiten und unbestimmten Fassung einereinfachgesetzlichen Ermächtigung zum Informations-handeln der Regierung wäre mit einer solchen Er-

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mächtigung eine Entscheidung zur Sache in Wirklich-keit nicht verbunden.

2. Schranken-SchrankenDass der Vorbehalt des Gesetzes über die Aufgaben-zuweisung hinaus keine besondere gesetzliche Er-mächtigung der Bundesregierung zum Informations-handeln erfordert, bedeutet allerdings nicht, dass die-ser Tätigkeit keine verfassungsrechtlichen Grenzengesetzt wären.

a. ZuständigkeitAuch beim Informationshandeln ist die Kompetenz-ordnung zu beachten. Auf der Ebene des Bundes er-gibt sich die Zuständigkeit im Verhältnis zwischenBundeskanzler, Bundesministern und der Bundesre-gierung als Kollegium aus Art. 65 GG. Darüber hin-aus ist die föderale Kompetenzaufteilung zwischenBund und Ländern zu wahren (vgl. BVerfGE 44, 125<149>). Dabei hängt die Entscheidung über die Ver-bandskompetenz davon ab, ob die jeweils zu erfüllen-de Informationsaufgabe dem Bund oder den Ländernzukommt oder ob parallele Kompetenzen bestehen.

aa. Umfang der Kompetenzen der BundesregierungDie Aufgabe der Staatsleitung und der von ihr als in-tegralem Bestandteil umfassten Informationsarbeit derBundesregierung ist Ausdruck ihrer gesamtstaatlichenVerantwortung. Für die Regierungskompetenz zurStaatsleitung gibt es, anders als für die Gesetz-gebungs- und Verwaltungszuständigkeiten, keine aus-drücklichen Bestimmungen im Grundgesetz. DasGrundgesetz geht aber stillschweigend von entspre-chenden Kompetenzen aus, so etwa in den Normenüber die Bildung und Aufgaben der Bundesregierung(Art. 62 ff. GG) oder über die Pflicht der Bundesre-gierung, den Bundestag und seine Ausschüsse zu un-terrichten; Gleiches gilt für die Verpflichtung der Re-gierung und ihrer Mitglieder, dem Bundestag auf Fra-gen Rede und Antwort zu stehen und seinen Abge-ordneten die zur Ausübung ihres Mandats erforderli-chen Informationen zu verschaffen (vgl. zu LetzteremBVerfGE 13, 123 <125 f.>; 57, 1 <5>; 67, 100<129>). Die Bundesregierung ist überall dort zur In-formationsarbeit berechtigt, wo ihr eine gesamtstaatli-che Verantwortung der Staatsleitung zukommt, diemit Hilfe von Informationen erfüllt werden kann. An-haltspunkte für eine solche Verantwortung lassen sichetwa aus sonstigen Kompetenzvorschriften, beispiels-weise denen über die Gesetzgebung, gewinnen, undzwar auch unabhängig von konkreten Gesetzesinitiati-ven. Der Bund ist zur Staatsleitung insbesondere be-rechtigt, wenn Vorgänge wegen ihres Auslandsbezugsoder ihrer länderübergreifenden Bedeutung überregio-nalen Charakter haben und eine bundesweite Informa-tionsarbeit der Regierung die Effektivität der Pro-blembewältigung fördert. In solchen Fällen kann die

Bundesregierung den betreffenden Vorgang aufgrei-fen, gegenüber Parlament und Öffentlichkeit darstel-len und bewerten und, soweit sie dies zur Problembe-wältigung für erforderlich hält, auch Empfehlungenoder Warnungen aussprechen.

bb. Kein Rückgriff auf Art. 83 ff. GGMit dieser Ermächtigung der Bundesregierung zumInformationshandeln trifft das Grundgesetz zugleichim Verhältnis zu den Ländern eine andere Regelungim Sinne des Art. 30 GG. Maßgebend für die Kompe-tenz der Bundesregierung im Bereich des Informa-tionshandelns sind nicht die Art. 83 ff. GG. Die Re-gierungstätigkeit ist nicht Verwaltung im Verständnisdieser Normen. Zur Ausführung von Gesetzen durchadministrative Maßnahmen ist die Bundesregierungim Zuge ihrer Staatsleitung nicht befugt.

cc. Keine Beeinträchtigung von LänderkompetenzenDie Informationskompetenz der Bundesregierung en-det nicht schon dort, wo zur Behandlung einer The-matik zusätzlich ein Handeln von Staatsorganen mitanderer Verbandskompetenz in Betracht kommt, etwadas der Landesregierungen im Zuge der Wahr-nehmung ihrer eigenen staatsleitenden Aufgabe oderdas der Verwaltung im Rahmen polizeilicher Gefah-renabwehr. Das Ziel der Aufklärung der Bevölkerungkönnte verfehlt werden, wenn die Informationstätig-keit der Bundesregierung sich auf alles andere zurErreic hung dieses Ziels Wichtige beziehen, nicht abereinen Hinweis auf die Gefährlichkeit bestimmter Um-stände enthalten dürfte. Die Vollständigkeit einer In-formation ist ein wichtiges Element der Glaubwürdig-keit. Die problemangemessene und gegebenenfallsKompetenzen anderer Staatsorgane übergreifendeUnterrichtung durch die Bundesregierung ist unterdem Aspekt der föderalen Kompetenzaufteilung un-bedenklich, da dieses Informationshandeln weder dasder Landesregierungen für ihren Verantwortungsbe-reich ausschließt oder behindert noch den Ver-waltungsbehörden verwehrt, ihre administrativenAufgaben zu erfüllen.

dd. Subsumtion für den konkreten FallNach diesen Maßstäben sind die Äußerungen derBundesregierung unter Kompetenzgesichtspunktennicht zu beanstanden. [...] Die Bundesregierung konn-te sich für ihre Äußerungen auch auf die Verbands-kompetenz des Bundes für ein Informationshandelnder Regierung stützen. Die über die Osho-Bewegungund die zu ihr gehörenden Gruppen abgegebenen Be-wertungen waren überregional geprägt. Sie sind durchVorgänge und Erscheinungen ausgelöst worden, dienicht auf den Bereich eines Bundeslandes oder einigerweniger Länder beschränkt waren und außerdem auchBezüge zu religiösen und weltanschaulichen Gruppie-rungen im Ausland hatten (vgl. BTDrucks 13/10950,

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S. 38, 105 ff., 118 ff.). Die Bundesregierung durftedavon ausgehen, dass bewertende Äußerungen alleinim Verantwortungsbereich der Länder und ihrer Re-gierungen dem öffentlichen Handlungsbedarf nichtgerecht geworden wären.

b. VerhältnismäßigkeitDie Bezeichnung der Osho-Bewegung und ihrer ein-zelnen Gruppen als "destruktiv" und "pseudoreligiös"und der gegen diese gerichtete Vorwurf, ihre Mitglie-der würden weitgehend unter Ausschluss der Öffent-lichkeit manipuliert, halten als das Neutralitätsgebotverletzende Äußerungen der verfassungsgerichtlichenPrüfung gleichwohl nicht stand. Sie sind nach denMaßstäben des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nichtgerechtfertigt.Geht es wie hier um die Bewertung von Vorgängen,die religiöse oder weltanschauliche Gruppen, ihreZiele und ihre Verhaltensweisen betreffen, müssenÄußerungen, die den Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1und 2 GG beeinträchtigen, danach insbesondere demAnlass, der sie ausgelöst hat, angemessen sein; in die-sem Zusammenhang is t von Bedeutung, welche bela-stenden Folgen die mittelbar-faktisch betroffenenGrundrechtsträger nachvollziehbar zum Abwägungs-gegenstand machen können. Die Bezeichnung derOsho-Bewegung und ihrer Gruppierungen als "de-struktiv" und "pseudoreligiös" und der Vorwurf, diesemanipulierten - weitgehend unter Ausschluss der Öf-fentlichkeit - ihre Mitglieder, waren unangemessen.Zwar konnte die Bundesregierung nach den tatsäch-lichen Feststellungen vor allem des Oberverwaltungs-gerichts von der Einschätzung ausgehen, dass insbe-sondere Jugendliche und junge Erwachsene weiterhinunter den Einfluss der Osho-Bewegung und ihrer Ein-zelorganisationen geraten und dadurch für sie, aberauch für ihre Familien und für die Gesellschaft ins-gesamt Folgen entstehen könnten, die zum damaligenZeitpunkt weite Kreise der Bevölkerung erheblichbeunruhigten. In dieser Lage durch aufklärendes In-formationshandeln zur Orientierung der Bürger bei-zutragen, war legitim.

Es war jedoch nicht gerechtfertigt, die Osho-Bewe-gung und die ihr angehörenden Gruppen mit den At-tributen "destruktiv" und "pseudoreligiös" zu verse-hen und ihnen vorzuwerfen, sie manipulierten ihreMitglieder. Diese Attribute und dieser Vorwurf sindfür die Beschwerdeführer diffamierend. Es ist auchnachvollziehbar, wenn diese geltend machen, infolgedieser Äußerungen hätten sie schwerwiegende Nach-teile zu befürchten, etwa den Verlust vorhandener unddas Ausbleiben neuer Mitglieder oder das Unterblei-ben finanzieller Unterstützungsleistungen. Hinrei-chend gewichtige, durch konkrete Tatsachen gestützteGründe, welche die Äußerungen der Bundesregierungangesichts des Zurückhaltungsgebots trotzdem recht-fertigen könnten, sind von dieser weder vorgetragenworden noch sonst ersichtlich. Sie lassen sich insbe-sondere nicht der Situation entnehmen, in der die Be-wertungen durch die Bundesregierung vorgenommenwurden. Sowohl in der Rede des Bundesministers fürJugend, Familie und Gesundheit als auch in den Ant-worten, welche die Bundesregierung auf die ihr ge-stellten Anfragen gegenüber dem Bundestag gab, hät-ten deshalb Ausdrücke und Bezeichnungen, wie siehier in Rede stehen, vermieden werden müssen. InAnbetracht der Bedeutung des Grundrechts der Welt-anschauungsfreiheit und der Neutralitätspflicht desStaates war es überzogen und unangemessen, die ge-nannten Äußerungen über die Osho-Bewegung undOrganisationen zu treffen, die sich - wie die Be-schwerdeführer - zu dieser Bewegung bekennen. [...]

B. Sonstige Grundrechte Weitere Verfassungsrechte der Beschwerdeführersind nicht verletzt. Insbesondere haben das Oberver-waltungsgericht und das Bundesverwaltungsgericht,deren Entscheidungen insoweit allein angegriffensind, im Zusammenhang mit den Äußerungen derBundesregierung, die nach den Ausführungen unter BI im Lichte des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nicht zu bean-standen sind, nicht gegen ihre Verpflichtung versto-ßen, den Beschwerdeführern rechtliches Gehör zugewähren [wird ausgeführt].

Standort: Widerspruch Problem: Auslegung anwaltlicher Schriftsätze

BVERWG, URTEIL VOM 12.12.2001

8 C 17.01 (DVBL 2002, 1043)

Problemdarstellung:

Im vorliegenden Fall nimmt das BVerwG zur Aus-legung eines anwaltlichen Schriftsatzes Stellung, mitdem der Anwalt die Aufhebung eines seinen Mandan-ten drittbelastenden Verwaltungsakts begehrte, ohnejedoch ausdrücklich Widerspruch einzulegen. DasOVG hatte die anschließende Klage in zweiter Instanzwegen fehlender Durchführung eines Vorverfahrens(§ 68 I 1 VwGO) abgewiesen, wobei sich das Gericht

auf den Standpunkt stellte, anders als von einem Lai-en könne man von einem Anwalt erwarten, dass ersich bei der Wahl seiner juristischen Mittel klar undeindeutig äußere. Lege er daher nicht ausdrücklichWiderspruch ein, sondern fordere er nur zur Rücknah-me des Verwaltungsakts auf, sei für eine Auslegungbzw. Umdeutung dieser Erklärung kein Raum, zumales nicht Aufgabe der Gerichte sei, durch Auslegungbestimmter Erklärungen die Erfolgsaussichten einesRechtsbehelfs einseitig zugunsten einer Partei zu ver-schieben.Das BVerwG sieht dies anders. Auch anwaltliche

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Schriftsätze können auslegungsbedürftig sein. Mögli-cherweise könne man von einem Anwalt erwarten,dass er sich hinreichend klar äußere; lasse er es je-doch hieran fehlen, bestünde gleichwohl das Rechtund die Pflicht der mit der Erklärung befassten Ho-heitsträger (i.d.R. Behörden und Gerichte), diese aus-zulegen. Die Auslegung müsse dann maßgeblich be-rücksichtigen, dass der Anwalt jedenfalls das für sei-nen Mandanten Günstigste erklären wollte, weshalbunter mehreren Auslegungsmöglichkeiten gem. §§133, 157 BGB analog die potenziell Erfolgverspre-c hendste zu wählen sei. Dass dies das Prozessrechts-verhältnis zugunsten einer Partei beeinflusse, stündedem nicht entgegen, denn jede Auslegung führezwangsläufig zu einer Begünstigung der einen undBelastung der anderen Seite.

Prüfungsrelevanz:In Prüfungsaufgaben zum ersten juristischen Staats-examen sind auslegungsbedürftige Erklärungen derBeteiligten eher selten. Allerdings gibt es sie hierauch, z.B. dann, wenn die Anfechtungsklage gegeneine rechtswidrige, aber materiell nicht teilbare Ne-benbestimmung (§ 36 VwVfG) in eine Ver-pflichtungsklage auf eine weniger belastende Neben-bestimmung umgedeutet wird.Referendare hingegen sind immer wieder mit Aktens-tücken konfrontiert, die uneindeutige Schriftsätze be-inhalten. Gerade die hier einschlägige Fallvarianteeines nicht eindeutig als solcher bezeichneten Wider-spruchs (häufig liest man “Aufsichtsbeschwerde”,“Einspruch”, “Gegendarstellung” o.ä.) ist dabei sehrhäufig. Stammen diese Begriffe von einem Laien,besteht immer Anlass zur Auslegung, weil es sich umeine falsa demonstratio eines Rechtsunkundigen han-deln könnte. Selbst wenn also scheinbar ein nichtförmlicher Rechtsbehelf ergriffen worden ist, dasSchreiben also z.B. die Überschrift “Gegenvorstel-lung” o.ä. trägt, kann darin in Wahrheit ein Wider-spruch liegen, weil dieser für den Erklärenden vielgünstiger wäre (Devolutiv- und Suspensiveffekt, §§68, 70 ff., 80 I VwGO).Stammt der Schriftsatz hingegen von einem Anwalt,wollen Rspr. und Lit. teilweise eine Auslegung bzw.Umdeutung nicht zulassen. Das BVerwG sieht diesim vorliegenden Urteil zumindest dann anders, wenndie Erklärung mehrdeutig ist, also ein ungenauerWortlaut gewählt wurde oder, bei genauer Bezeich-nung des Rechtsbehelfs, zumindest auch die Möglich-keit besteht, dass der eigentlich rechtskundige Anwaltsich in der Bezeichnung geirrt und eigentlich etwasanderes gemeint hat.Für die Lösung solcher Auslegungsprobleme sollteman sich anhand des vorliegenden Falles dreierleieinprägen:

1. Behörden und Gerichte können und müssen Er-

klärungen der Beteiligten auslegen (vgl. §§ 24, 25VwVfG und §§ 86, 88 VwGO). Bei anwaltlichen Er-klärungen gilt dies (nur, aber immerhin) dann, wennsie nicht eindeutig sind (str., vgl. Vertiefungshinwei-se).

2. Auslegungsmaßstab ist analog §§ 133, 157 BGBder objektive Empfängerhorizont.

3. Lässt eine Erklärung mehrere Auslegungsmög-lichkeiten zu, ist diejenige zu bevorzugen, die für denErklärenden am günstigsten ist, da ein objektiverEmpfänger davon ausgehen muss, dass der Erklären-de im Zweifel das für ihn Günstigste wollte.

Vertiefungshinweise:“ Zur Auslegung und Umdeutung von Rechtsbehel-fen im öffentlichen Recht: BVerwG, BayVBl 1982,473 (“Einspruch” als Widerspruch); HessVGH,HessVGHRspr. 1974, 12, 14 (“Antrag” als Wider-spruch); BFH, BStBl 1974 II, 417 (“Erneuter Antrag”als Einspruch); ferner BVerwG, BayVBl 1990, 600“ Auslegungsmöglichkeit anwaltlicher Schriftsätze:Verneinend Pietzner/Ronellenfitsch, Das Assessor-examen im öffentlichen Recht, 10. Aufl., § 28 Rz. 4unter Berufung auf BVerwG, NJW 1985, 2658, 2660.

Leitsätze:1. Ein Verbot, Willenserklärungen zugunsten einesVerfahrensbeteiligten erfolgsorientiert auszulegen,kennt das Bundesrecht nicht.2. Eine Behörde, bei der der Widerruf bzw. dieRücknahme eines belastenden Verwaltungsakts(VA beantragt wird, muss zunächst prüfen, ob derVA gegenüber dem Antragsteller bestandskräftiggeworden ist, und andernfalls den Antrag auch alsWiderspruch gegen den VA auslegen.3. Zu den Förmlichkeiten bei einer Verlängerungder Berufungsbegründungsfrist [Nur Leitsatz].

Sachverhalt:Die Kl. begehrt die Aufhebung einer vom Bekl. zu-gunsten der Beige1. erteilten Grundstücksverkehrs-genehmigung. Das VG gab der Klage statt, das OVGwies sie auf die Berufungen der Bekl. und der Beigel.hin ab, da kein Vorverfahren durchgeführt wordensei. Die Revision der Kl. führte zur Wiederherstellungdes Urteils des VG.

Aus den Gründen:Das OVG hat gegen Bundesrecht verstoßen, indem esdas Urteil des VG aufgehoben und die Klage abge-wiesen hat. [...] Das OVG konnte den Berufungen nurstattgeben und die Klage abweisen, wenn es den vonder Klägerin in der ersten Instanz gestellten Haupt-und den Hilfsantrag für unzulässig oder unbegründethielt. Auch wenn dies dem Urteil nicht ausdrücklichzu entnehmen ist, war das OVG offenbar der Ansicht,

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die mit dem Hauptantrag von der Kl. verfolgte An-fechtungsklage sei unzulässig, weil die Kl. gegen dieGrundstücksverkehrsgenehmigung keinen Wider-spruch eingelegt habe. Mit dieser entscheidungstra-genden Annahme verstößt das Berufungsurteil gegenBundesrecht.Zu Unrecht meint das OVG, das anwaltliche Schrei-ben vom 2.1.1995 könne nicht als Widerspruch aus-gelegt werden. Damit verstößt es gegen revisible bun-desrechtliche Auslegungsgrundsätze (§§ 133, 157BGB). Außerdem hätte das OVG von seinem Rechts-standpunkt aus den von der Kl. im Dezember 1996ausdrücklich eingelegten Widerspruch gegen dieGrundstücksverkehrsgenehmigung in seine Betrach-tungen einbeziehen müssen. Sofern man nämlich mitdem OVG der Ansicht wäre, dass bis dahin noch keinWiderspruch eingelegt worden sei, wäre jedenfallsdieser Widerspruch zulässig gewesen.

A. Auslegung des Rücknahmebegehrens als Wider-spruchEntgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist dasanwaltliche Schreiben vom 2.1.1995 (auch) alsWiderspruch gegen die Grundstücksverkehrsgenehmi-gung auszulegen.

I. Prüfungskompetenz des BVerwGDa es sich bei der Einlegung des Widerspruchs nichtum eine Prozesshandlung, sondern um einen vorpro-zessualen Rechtsbehelf handelt, ist diese empfangs-bedürftige Willenserklärung grundsätzlich nicht vomBVerwG selbst auszulegen. Jedoch ist die Auslegungdurch die Tatsacheninstanz vom BVerwG daraufhinzu überprüfen, ob allgemeine Auslegungsregeln ver-letzt sind (BGH, NJW 2000, 2099 m.w.N.). Auch dieFrage, ob eine Willenserklärung eindeutig oder aus-legungsfähig ist, unterliegt der uneingeschränktenÜberprüfung durch das BVerwG (Buchholz 428 § 30 VermG Nr. 24, S.24, 28 m. w. N. aus der Rspr. des BGH).

II. Auslegungsmaßstäbe

1. Objektiver EmpfängerhorizontBei der Auslegung von Anträgen und von bei einerBehörde einzulegenden Rechtsbehelfen sind ebensowie bei der Auslegung von Prozesshandlungen die fürdie Auslegung von empfangsbedürftigen Willenserklä-rungen des bürgerlichen Rechts geltenden Rechts-grundsätze (§§ 133, 157 BGB) anzuwenden. Danachkommt es nicht auf den inneren Willen der erklären-den Partei, sondern darauf an, wie die Erklärung ausder Sicht des Empfängers bei objektiver Betrach-tungsweise zu verstehen ist. Dabei tritt der Wortlauthinter Sinn und Zweck der Erklärung zurück. Maßge-bend ist der geäußerte Wille des Erklärenden, wie eraus der Erklärung und sonstigen Umständen für den

Erklärungsempfänger erkennbar wird (BVerwG‚Buchholz 310 § 74 VwGO Nr. 9, S. 1, 5). Maßgeblichfür den Inhalt eines Antrages oder Rechtsbehelfs istdaher, wie die Behörde ihn unter Berücksichtigungaller ihr erkennbaren Umstände nach Treu und Glau-ben zu verstehen hat (BVerwG, Buchholz 428 § 3VermG Nr. 40 S. 31, 32). Dabei muss sich die Aus-legung auf den Schriftsatz in seiner Gesamtheit unddas mit ihm erkennbar verfolgte Rec htsschutzziel be-ziehen (BVerwG, Buchholz 3l0 § 124a VwGO Nr. 6,S. 12, 14). Bei der Ermittlung des wirklichen Willensist nach anerkannter Auslegungsregel zugunsten desBürgers davon auszugehen, dass er denjenigenRechtsbehelf einlegen will, der nach Lage der Sacheseinen Belangen entspricht und eingelegt werdenmuss, um den erkennbar angestrebten Erfolg zu errei-chen (BVerwG‚ Buchholz 310 § 74 VwGO Nr. 9, S.1, 6).

2. Auch anwaltliche Schriftsätze können auslegungs-fähig seinDies gilt im Grundsatz auch für anwaltliche Anträgeund Rechtsbehelfe, soweit diese auslegungsfähig und-bedürftig sind. Nur die Umdeutung nicht auslegungs-fähiger, weil eindeutiger Prozesserklärungen vonRechtsanwälten ist nach der st. Rspr. des BVerwGausgeschlossen (vgl. BVerwG, Buchholz 310 § 124aVwGO Nr.2, S. 2, 3; Buchholz 428 § 37 VermG Nr.23 m. w. N.). Zu Unrecht berufen sich der Bekl. und die Beigel. zu1 und 2 demgegenüber auf das Urteil des BGH vom4. 6. 1996 — IX ZR 51/95 — (NJW 1996, 2648,2650), wonach es Aufgabe des mit einer Rechtsgestal-tung beauftragten Rechtsanwaltes sei, schon durch dieWortwahl seiner Erklärung Klarheit zu schaffen, undwonach dieser es regelmäßig gar nicht dazu kommenlassen dürfe, dass der Wortlaut seiner Erklärungen zuZweifeln Anlass gebe, die erst Voraussetzung für eineAuslegung sein könnten.Denn diese Entscheidung, die einen Regressanspruchbetrifft, bezieht sich ausschließlich auf das Verhältniszwischen Rechtsanwalt und Mandanten, nicht aberauf die Frage, wie die Erklärungen des Anwalts imAußenverhältnis ggf. zu behandeln sind.

III. Auslegungsfehler des OVGGegen die dargelegten allgemeinen Auslegungsgrund-sätze hat das OVG verstoßen, indem es die Auslegungdes anwaltlichen Schreibens vom 2.1.1995 als Wider-spruch deswegen nicht zugelassen hat, weil eine sol-che Auslegung gegen das “Verbot” verstieße, “zu-gunsten eines Verfahrensbeteiligten erfolgsorientiertauszulegen”. Ein solches Auslegungsverbot kennt dasBundesrecht nicht. Vielmehr führt jede Auslegungeiner Erklärung letztlich zu einem bestimmten Erfolg.Soweit der VGH BW (VBlBW 1998, 347, 348) aus-geführt hat, es sei nicht Aufgabe der Gerichte, durch

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erfolgsorientierte, über den Wortlaut einer anwaltlichverfassten Klageschrift hinausgehende Auslegung denWeg für ein Obsiegen zu ebnen, lag dem eine Fall-gestaltung zu Grunde, in der die abgegebene Erklä-rung des Anwalts nach Ansicht des VGH eindeutig,und deswegen auch nicht auslegungsfähig war. ImÜbrigen hat sich der VGH BW in diesem Zusammen-hang zu Unrecht auf den Beschluss des Senats vom29.8.1989 - 8 B 9.89 - (Buchholz 310 § 88 VwGO Nr.17) berufen, denn diese Entscheidung verwendet denBegriff der “erfolgsorientierten Auslegung” nicht. ImÜbrigen verhält sich der Beschluss des Senats alleinzu der Vorschrift des § 88 VwGO, auf die es hier abernicht ankommt, weil der Inhalt der von der Kl. ge-stellten Klageanträge nicht zweifelhaft sein kann, unddas VG auch von deren Wortlaut gar nicht abgewi-chen ist.

IV. Richtige Auslegung durch das BVerwGDa die Auslegung des Schreibens vom 2.1.1995 durchdas OVG demnach gegen revisible Auslegungsgrund-sätze verstößt und für die Auslegung weitereTatsachenermittlungen nicht erforderlich sind, kannder Senat die Erklärung selbst auslegen (BVerwG,Buchholz 428 § 30 VermG Nr. 24, S. 24, 28 f. undBuchholz 428 § 3 VermG Nr. 40, S. 31, 33 m. w. N.;vgl. auch BGHZ 65, 107, 112; 109, 19, 22; 121, 284,289; BGH, NJW 2000, 2099).

1. Wortlaut lässt AuslegungsspielraumWie auch das OVG nicht verkannt hat, ist der Wort-laut des Schreibens vom 2.1.1995 keineswegs eindeu-tig. Schon im Betreff heißt es “Anspruch auf Wider-ruf/Aufhebung der Genehmigung”. Im Übrigen wirddie erteilte Grundstücksverkehrsgenehmigung als“fehlerhaft und sachlich unrichtig” bezeichnet undnamens der Rechtsvorgängerin der Kl. ein “Berichti-gungsanspruch dahin gehend geltend gemacht, dassdie Genehmigung mit einem rechtsmittelfähigen Be-scheid zu widerrufen resp. aufzuheben ist”. DieserText lässt entgegen der Ansicht des Bekl. nicht nurdie Auslegung zu, damit solle die Rücknahme derGenehmigung beantragt werden. Das Wort “Rücknah-

me” enthält der Schriftsatz überhaupt nicht. Vielmehrhat auch der Bekl. den Begriff “Widerruf” in“Rücknahme” umgedeutet.

2. Widerspruch entspricht dem AufhebungsbegehrenEindeutig zu entnehmen ist dem Schreiben aber dasZiel, die für rechtswidrig gehaltene Grundstücksver-kehrsgenehmigung zu beseitigen. Dabei entspricht dasWort “aufheben” dem üblichen Sprachgebrauch beieiner Anfechtungsklage oder einem Anfechtungswi-derspruch. Es kommt hinzu, dass die Behörde nachder Rspr. des BVerwG verpflichtet ist, dem Bürgerden erkennbar einfachsten Weg zu weisen, auf dem ersein Ziel erreichen kann. Deswegen hat das BVerwGes als selbstverständliche Pflicht der höheren Verwal-tungsbehörde bezeichnet, zunächst zu prüfen, ob derBewerber um eine Ausnahmebewilligung nicht etwaohne weiteres einen Rechtsanspruch auf Eintragung indie Handwerksrolle hat, der ihm den Weg über dieErteilung einer Ausnahmebewilligung erspart(BVerwGE 16, 94, 95, 98). Dementsprechend musseine Behörde, bei der der Widerruf bzw. die Rücknah-me eines belastenden VA beantragt wird, zunächstprüfen, ob der VA gegenüber dem Antragsteller be-standskräftig geworden ist, und andernfalls den An-trag auch als Widerspruch gegen den VA auslegen.So hat der Senat bereits entschieden, dass zu Gunsteneines Widerspruchsführers von demjenigen Inhalt desWiderspruchs auszugehen ist, der nach Lage der Sa-che in Betracht kommt und den Belangen des Wider-spruchsführers erkennbar entspricht, weil er Erfolghaben kann (BVerwG, Buchholz 428 § 16 VermG Nr.5, S. 3, 10; vgl. auch BFH, NVwZ 1988, 192).

B. Jedenfalls zweiter Widerspruch ausreichendDie Anfechtungsklage ist auch deshalb zulässig, weildie Kl. mit anwaltlichem Schreiben vom 20.12.1996ausdrücklich gegen die Grundstücksverkehrsgenehmi-gung vom 7.2.1992 Widerspruch eingelegt hat. Mitdiesem Widerspruch hat sich das OVG nicht befasst.Der Widerspruch vom 20.12.1996 war entgegen derAnsicht des Bekl. nicht wegen Verwirkung unzulässig[wird ausgeführt].

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Standort: VwGO Problem: Innerprozessuale Bedingung

BVERWG, BESCHLUSS VOM 10.04.2002

4 BN 12.02 (DVBL 2002, 1048)

Problemdarstellung:Das BVerwG nimmt vorliegend zu den Vorausset-zungen Stellung, unter denen Prozesshandlungen(hier: Klagerücknahme) mit Bedingungen verknüpftwerden können. Das Gericht stellt zunächst klar, dassdas Bedürfnis der Gegenpartei und des Gerichts nachRechtssicherheit, also der Klarheit darüber, ob und inwelchem Umfang ein Prozessrechtsverhältnis besteht,Prozesshandlungen - anders als Willenserklärungen -grundsätzlich bedingungsfeindlich mache. Dies gelteallerdings nicht für sogen. “innerprozessuale” Bedin-gungen, d.h. solche, deren Eintritt bzw. Nichteintrittfür das Gericht allein aus dem Prozessrechtsverhältnisersichtlich bzw. häufig sogar von dessen Vorverhalten(hier: Ablehnung eines Antrags auf Prozesskosten-hilfe) abhängig ist. In diesen Fällen kann keineRechtsunsicherheit über das Bestehen oder den Um-fang des Prozessrechtsverhältnisses aufkommen.Oftmals wird ein Prozessbeteiligter, der einen Antragvom Eintritt oder Ausbleiben bestimmter Ereignisseabhängig macht, nicht ausdrücklich von einer “Bedin-gung” sprechen. In diesem Fall ist das Gericht gehal-ten, durch Auslegung zu ermitteln, ob eine solchevorliegt, und bejahendenfalls zu klären, ob es sich umeine Inner- oder Außerprozessuale handelt. Währendersteres zur Wirksamkeit der Bedingung und damit -in Abhängigkeit von ihr - auch der Prozesshandlungführt, ist in letzterem Falle die gesamte Prozesshand-lung unwirksam und damit unbeachtlich. Gerichtesind in diesem Fall gut beraten, einen entsprechendenHinweis nach § 86 III VwGO zu erteilen, statt - wiedas OVG - ohne einen solchen zu entscheiden. Dasvorliegende Beschwerdeverfahren hätte sich leichtvermeiden lassen, wenn das OVG den ASt. auf seineRechtsansicht hingewiesen hätte.

Prüfungsrelevanz:

Der wohl prominenteste Fall einer zulässigen inner-prozessualen Bedingung, die vom Kläger jedoch nichtals solche bezeichnet wird, ist der sogen. “Hilfs-antrag”, mit dem ein Begehren nur dann zur Entschei-dung gestellt wird, wenn das mit dem “Hauptantrag”verfolgte Ziel nicht erreicht werden kann. Hier hängtdie Frage, ob über den Hilfsantrag zu entscheiden istoder nicht, allein vom Vorverhalten des Gerichts ab(nämlich der Stattgabe oder Ablehnung des Haupt-antrages). Hilfsanträge, die auch mehrfach gestaffeltmöglich sind (häufig findet sich im zweiten Hilfsan-trag dann die Formulierung “höchst hilfsweise...”),werden daher allgemein für zulässig gehalten. Aller-

dings kann es u.U. notwendig sein, auch hier auszule-gen, ob überhaupt ein Hilfsantrag vorliegt, wenn derKläger dies nicht ausdrücklich sagt.Es handelt sich beim Hilfsantrag i.Ü. nach ganz h.M.um eine auflösende Bedingung um den Erfolg desHauptantrags, nicht etwa um eine aufschiebende Be-dingung um den Misserfolg des Hauptantrags. Dieshat zur Folge, dass zunächst alle Anträge rechtshängigwerden, der Hilfsantrag aber ex tunc wegfällt, soweitder Hauptantrag Erfolg hat. Die gegenteilige Ansicht,nach der zunächst nur der Hauptantrag rechtshängigwürde, hätte unzumutbare nachteilige Folgen für denKläger, etwa im Hinblick auf laufende Fristen für dasHilfsbegehren, Verjährungsunterbrechung, Prozess-zinsen usw. In keinem Fall darf in einem Gutachten auf den Hilfs-antrag eingegangen werden, wenn und soweit derHauptantrag Erfolg hat. Es verbietet sich daher vonvornherein, die Anträge zusammen zu prüfen. Viel-mehr ist allein mit dem Hauptantrag zu beginnen underst dann, wenn dessen (u.U. teilweise) Erfolglosig-keit festgestellt wurde, auf den Hilfsantrag einzuge-hen, wobei dann in aller Regel eine objektive Klage-häufung nach § 44 VwGO vorliegt, deren Zulässig-keit ebenfalls erörtert werden sollte. Für Referendareist darüber hinaus zu beachten, dass der Hilfsantragauch im Urteil nur auftaucht, soweit er zur Entschei-dung stand. Geht der Hauptantrag voll durch, darf derHilfsantrag mit keiner Silbe erwähnt werden, da er jaals nie rechtshängig geworden anzusehen ist.

Vertiefungshinweise:

“ Zur Bedingungsfeindlichkeit von Prozesshandlun-gen: BVerwG, DVBl. 1996, 105; BGH, NJW-RR1990, 67; NJW 1986, 1445; NJW 1984, 1240; NJW1996, 3147

Kursprogramm:“ Examenskurs: “Der teure Wachhund”“ Assessorkurs: “Das Prüfungsgespräch”

Leitsätze:1. Die Rücknahme einer Klage oder eines sonstigenRechtsbehelfs ist bedingungsfeindlich. Sie darfaber von innerprozessualen Vorgängen abhängiggemacht werden. 2. Trifft das OVG eine Sachentscheidung, obwohldie Klage wirksam zurückgenommen worden ist,so kann es im Nichtzulassungsbeschwerdeverfah-ren nach § 133 Abs. 6 VwGO mit einer Aufhebungdieser Entscheidung sein Bewenden haben.

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RA 2002, HEFT 8ÖFFENTLICHES RECHT

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Sachverhalt:Der Ast. begehrte für den von ihm gestellten Normen-kontrollantrag die Bewilligung von Prozesskosten-hilfe. Diesen Antrag lehnte das OVG mit Beschlussvom 24.08.2001 ab. Unter Bezugnahme auf dieseEntscheidung wurde der Ast. um Mitteilung gebeten,ob er den Normenkontrollantrag zurücknehme. Aufdiese Verfügung reagierte er mit Schreiben vom19.12. 2001 wie folgt: “Der Beschluss vom24.08.2001 liegt mir nicht vor. Er ist hier nicht auf-findbar, dadurch kann ich den Vorgang nicht erneutüberprüfen. [...] Sollte der Beschluss tatsächlich unan-fechtbar sein und die geschilderten Missstände mitdieser Normenkontrollklage nicht angegriffen werdenkönnen, so ziehe ich die Klage hiermit zurück, umeventuelle Kosten durch ein noch zu fällendes Urteilzu sparen.”Das OVG hat in dieser Erklärung eine Antrags-rücknahme gesehen, diese jedoc h für unzulässig ge-halten, da sie mit einer Bedingung verknüpft gewesensei. Es hat daher in der Sache entschieden und denNormenkontrollantrag des ASt. verworfen. Gegen dieNichtzulassung der Revision hat der ASt. Beschwerdeeingelegt. Diese führte zur Aufhebung der Entschei-dung und - klarstellend - zur Einstellung des Verfah-rens.

Aus den Gründen:Die angef. Entscheidung leidet an dem in der Be-schwerdebegründung bezeichneten Verfahrensman-gel. Das OVG hat den Normenkontrollantrag des Ast.verworfen. Es ist so verfahren, obwohl die prozessua-le Lage für eine Sachentscheidung keinen Raum ließ.Denn der Ast. hat seinen Normenkontrollantrag mitSchriftsatz vom 19. 12. 2001, beim OVG eingegan-gen am 20. 12. 2001, zurückgenommen. Das war zudiesem Zeitpunkt nach § 92 Abs. 1 Satz 1 VwGOmöglich. Der Beschluss vom 5. 12. 2001 war nochnicht rechtskräftig. Er wurde dem Ast. erst am 12. 1.2002 zugestellt.

I. Bedingungsfeindlichkeit von ProzesshandlungenDie Rücknahme ist wirksam. Sie lässt sich entgegender Auffassung des OVG nicht mit der Begründungals unbeachtlich abtun, sie sei “an Bedingungen ge-knüpft” gewesen. Richtig ist allerdings, dass die Rücknahme einer Kla-ge oder eines sonstigen Rechtsbehelfs zu denProzesshandlungen gehört, die bedingungsfeindlichsind. Die Rücknahme hat eine Gestaltungswirkung.Sie führt, ohne dass es zusätzlicher gerichtlicherMaßnahmen bedürfte, unmittelbar zur Beendigungdes Prozesses. Diese Rechtsfolge verbietet es, ihreWirksamkeit von einem außerprozessualen Ereignisabhängig zu machen. Ob die prozessbeendigendeWirkung eingetreten ist, darf nicht ungewiss bleiben.Wegen der Bedeutung für den Gegner, aber auch für

das Gericht verträgt die Rücknahme aus Gründen derRechtssicherheit keinen Schwebezustand (BVerwG,DVBl. 1996, 105; BGH, NJW-RR 1990, 67).

II. Zulässigkeit innerprozessualer BedingungenRechtlich zulässig ist es dagegen, auf Ereignisse ab-zuheben, die in einem innerprozessualen Abhängig-keitsverhältnis stehen. Wird die Wirksamkeit einerProzesserklärung mit Vorgängen verknüpft, die dasGericht in Ausübung seiner prozessualen Befugnisseselbst herbeigeführt hat oder herbeizuführen in derLage ist, so wird die Rechtssicherheit nicht beein-trächtigt. Als ein solcher prozessualer Vorgang, derzur Voraussetzung für die Beendigung eines Prozes-ses gemacht werden darf, kommt nicht zuletzt der Er-folg oder der Misserfolg einer eigenen oder vom Pro-zessgegner unbedingt vollzogenen anderweitigen Pro-zesshandlung in Betracht (vgl. BGH, NJW 1984,1240; NJW 1996, 3147). Dies hat das OVG verkannt.

III. Auslegung des Schreibens des ASt.[...] Das Schreiben schloss mit der Erklärung: “Sollteder Beschluß tatsächlich unanfechtbar sein und diegeschilderten Mißstände mit dieser Normenkontroll-klage nicht angegriffen werden können, so ziehe ichdie Klage hiermit zurück, um eventuelle Kosten durchein noch zu fällendes Urteil zu sparen.” Dieser Satzließ sich nicht als unzulässige Bedingung qualifizie-ren. Der Ast. brachte unzweideutig zum Ausdruck,den Normenkontrollantrag zurücknehmen zu wollen,falls der Beschluss vom 24. 8. 2001 unanfechtbar sei.Er erläuterte, weshalb er die Rücknahmeerklärung andiese Maßgabe knüpfte. Als Grund nannte er den Um-stand, dass der Beschluss vom 24. 8. 2001 ihm nichtvorliege bzw. nicht auffindbar sei, so dass er die hier-zu ihm gegenüber gemachten Angaben nicht überprü-fen könne. Diese vom OVG als unzulässiger Vorbe-halt gewertete Wendung war bei objektiver Würdi-gung nicht geeignet, Zweifel darüber aufkommen zulassen, ob die Erklärung die Wirkungen einer Antrags-rücknahme entfaltete oder nicht. Der Beschluss vom 24. 8. 2001, der in dem Schreibendes Ast. angesprochen wurde, war eine Tatsache, diedas OVG selbst geschaffen hatte. Dass diese Ent-scheidung nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbarwar, lag für das OVG ebenfalls auf der Hand. Nur soerklärt sich, wieso dem Ast. unter Hinweis auf denbesagten Beschluss indirekt nahe gelegt wurde, denNormenkontrollantrag zurückzunehmen. Das OVGkonnte auf die Erkenntnisse, über die es aufgrund ei-gener Tätigkeit und Sachkunde verfügte, problemloszurückgreifen, ohne darauf angewiesen zu sein, dassauch der Ast. insoweit vollständig im Bilde war.Machte der Ast. ungeachtet des von ihm behauptetenInformationsdefizits, ohne weitere Aufklärung zu er-bitten, die Rücknahme davon abhängig, dass einunanfechtbarer Beschluss vorliege, in dem die Gewäh-

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rung von Prozesskostenhilfe versagt werde, so war esfür das OVG ein Leichtes, sich Gewissheit darüber zuverschaffen, ob diese Voraussetzung vorlag odernicht. Ebenso wie es in seine Sphäre fiel festzustellen, dassdie vom Ast. genannte Bedingung erfüllt war, war esihre Sache, die Konsequenzen zu ziehen, die das Pro-zessrecht für diesen Fall vorsieht. Wird eine Klage

zurückgenommen, so fällt die Grundlage für eineSachentscheidung weg. Das Gericht hat nach § 92Abs. 3 Satz 1 VwGO das Verfahren durch Beschlusseinzustellen. Für die Rücknahme eines Normenkon-trollantrags gilt Entsprechendes. Der Beschluss desOVG vom 5.12.2001 trägt dieser Rechtslage nichtRechnung.

Standort: Versammlungsrecht Problem: Versammlungsverbot

VG STUTTGART , BESCHLUSS VOM 01.03.2002

1 K 782/02 (VBLBW 2002, 352)

Problemdarstellung:

Die Entscheidung des VG Stuttgart befasst sich mitder Rechtmäßigkeit eines Versammlungsverbots zumSchutz der öffentlichen Sicherheit nach § 15 I VersG.Es verdeutlicht, welch strenge Voraussetzungen dieüberwiegende Rspr. an ein solches Verbot stellt. Ins-besondere ist darauf hinzuweisen, dass § 15 I VersGnicht jede Gefahr für die öffentliche Sicherheit oderOrdnung ausreichen läst, sondern eine “unmittelbare”Gefahr fordert. Die Rspr. interpretiert dieses Merkmalals Steigerung des Wahrscheinlichkeitsgrades. Da-nach genüge nicht - wie beim herkömmlichen Gefahr-begriff ohne qualifizierte Anforderungen - die “hinrei-chende” Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts;vielmehr muss ein Schaden mit “an Sicherheit gren-zender” Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein.Ferner greift ein Verbot besonders intensiv in dieVersammlungsfreiheit des Art. 8 GG ein. Nach derRspr. müssen aber auch die Schranken des VersG ih-rerseits wieder im Lichte der in einer Demokratie alsbe sonde r s w ich t i ge s Grund rech t e rkann t enVersammlungsfreiheit ausgelegt werden. Diese - der“Wechselwirkungslehre” zu Art. 5 I GG vergleich-bare - Notwendigkeit führt dazu, dass jedenfalls vor-rangig mit Auflagen (§ 15 I, 2. Fall VersG) gearbeitetwerden muss, solange dies nur irgendwie sinnvollmöglich ist. Bei der “öffentlichen Ordnung” ist dieüberwiegende Rspr. besonders streng. Mit demBVerfG wird zum Schutze ungeschriebener Wertvor-stellungen, die nach Ansicht einer Mehrheit für eingedeihliches Zusammenleben unerlässlich sind (so dieDefinition der “öffentlichen Ordnung”) ein Versamm-lungsverbot in aller Regel ohnehin nicht in Betrachtkommen, da die Versammlungsfreiheit aus art. 8 GGauch und gerade ein Minderheitenrecht ist. Auf diesenPunkt geht das VG allerdings nur kurz ein.

Prüfungsrelevanz:

Das Versammlungsrecht gehört zu den beliebtestenPrüfungsthemen überhaupt. Die RA hat daher auch inder Vergangenheit ausführlich über dieses Themen-

gebiet berichtet, insbesondere über den Konflikt desBVerfG und des OVG Münster bei Versammlungs-verboten zum Schutze der “öffentlichen Ordnung”(RA 2001, 256 ff.). Während das BVerfG die obenangedeutete, strenge Linie vertritt, will das OVGMünster rechtsgerichteten Veranstaltern die Ver-sammlungsfreiheit des Art. 8 GG gänzlich abspre-chen, da das GG eine neonazistische Gesinnung nichtschütze. Könne sich ein Veranstalter aber nicht aufArt. 8 GG berufen, bestehe auch keine Notwendigkeiteiner engen Auslegung der “öffentlichen Ordnung”zum Schutz dieses Grundrechts. Das OVG hatte daherkeine Probleme damit, z.B. Versammlungsverbotezum Schutz der Besinnlichkeit des Osterfestes abzu-segnen.Der Konflikt hat mittlerweile eine persönliche Ebeneerreicht. So sah sich der Präsident des OVG Münster,Dr. Bertrams, genötigt, auf einen Beitrag des Richtersam BVerfG Prof. Dr. Hoffmann-Riem in der Frank-furter Rundschau vom 11.7.2002 (S. 14) im Wegeeiner Pressemitteilung des OVG zu antworten, die imInternet abrufbar ist (http://www.jura.uni-muens-ter.de/ovg/presse/2002/p020715.htm) und den Streit-stand zwischen OVG und BVerfG einschließlich der(in einer Sachdiskussion unangebrachten) verbalenSchärfe, derer sich die Parteien mittlerweile bedienen,zusammenfasst. Die Aktualität des Themas “Ver-sammlungsverbote” und damit dessen besondere Prü-fungsrelevanz bestehen also weiterhin, wie auch aktu-elle Beiträge in der Ausbildungsliteratur zeigen (s.nachfolgende Vertiefungshinweise).

Vertiefungshinweise:“ Weitere Entscheidungen zum Verbot rechtsgerich-teter Versammlungen: BVerfG, NJW 2001, 1407;NVwZ-RR 2000, 554; NVwZ 1992, 54; OVG Müns-ter, DVBl 2001, 584“ Aktueller Klausurfall zum einstweiligen Rechts-schutz gegen ein Versammlungsverbot: Arndt/Uhlen-brock, Jura 2002, 488

Kursprogramm:

“ Examenskurs: “Die nervigen Demonstranten”“ Assessorkurs: “Fieser Verein”

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Leitsatz:Eine das Verbot einer Versammlung unter freiemHimmel rechtfertigende unmittelbare Gefährdungim Sinne des § 15 Abs. 1 VersG kann erst ange-nommen werden, wenn der Eintritt eines Schadensfür die Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit mithoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (hierverneint bei befürchtetem Eingriff in das allgemei-ne Persönlichkeitsrecht eines Staatsanwalts, wenndie Veranstaltung nicht an dessen Wohnort, son-dern mehrere Kilometer hiervon entfernt durch-geführt werden soll).

Sachverhalt:Der ASt. beabsichtigt, eine Versammlung zu veran-stalten, um auf die nach seiner Meinung bestehendenFehlleistungen eines Staatsanwalts im Rahmen derErmittlungen gegen einen seiner politischen Gesin-nung nach rechtsgerichteten Liedermacher aufmerk-sam zu machen. Die Versammlung nebst Kundgabesollten einige Kilometer vom Wohnort des Staatsan-walts entfernt stattfinden. Die Antragsgegnerin verbotals zuständige Versammlungsbehörde diese Ver-sammlung und ordnete die sofortige Vollziehung desVerbots an. Zur Begründung führte sie vor allem an,das Versammlungsverbot sei zum Schutz des Persön-lichkeitsrechts des Staatsanwalts erforderlich. Auchsei die Begehung von Straftaten zu befürchten.Schlechte Erfahrungen aus der Vergangenheit mitähnlichen Veranstaltungen ließen zudem gewalttätigeAuseinandersetzungen mit Gegendemonstrationenbefürchten.Der ASt. hat gegen das Verbot Wiederspruch einge-legt und begehrt zugleich im Wege des vorläufigenRechtsschutzes die Wiederherstellung der aufschie-benden Wirkung desselben. Der Antrag hatte Erfolg. Aus den Gründen:Der Antrag ist gemäß § 80 Abs. 5 VwGO zulässigund auch begründet, wobei die Antragsgegnerin fürdie Durchführung der am morgigen Tag in der Lud-wigsburger Innenstadt geplanten Versammlung der„Jungen Nationaldemokraten“ Auflagen zu deren Ab-lauf erteilen kann (vgl. BVerfG, DVBl. 2000, 1607f.).

A. Formelle Rechtmäßigkeit der Anordnung der so-fortigen VollziehungDas besondere Interesse an der sofortigen Vollzie-hung des Demonstrationsverbots hat die Antragsgeg-nerin gemäß § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO zwar hinrei-chend schriftlich begründet.

B. InteressenabwägungBei der vorzunehmenden Interessenabwägung über-wiegt jedoch das Interesse des Antragstellers daran,dass die angefochtene Verbotsverfügung vor rechts-kräftigem Abschluss des Hauptsacheverfahrens nicht

durchgesetzt wird, das entgegenstehende öffentlicheInteresse an der sofortigen Vollziehung, da die Ver-fügung unter Berücksichtigung der ständigen Recht-sprechung der Verwaltungsgerichte und desBundesverfassungsgerichts (s. hierzu VGH Mann-heim, Urteil vom 16. 11. 1999 - 1 S 1315/98 -‚ Be-schluss vom 18.6.1999 - 1 S 1464/99 und Beschlussvom 25.4.1998 - 1 S 1143/98 - sowie BVerfG, Be-schluss vom 24. 3. 2001 - 1 BvQ 13/01 - und Be-schluss vom 12. 4. 2001 - 1 BvQ 19/01 -, RA 2001,256) voraussichtlich rechtswidrig ist.

I. ErmächtigungsgrundlageDenn es liegen die tatbestandlichen Voraussetzungendes § 15 Abs. 1, 1. Alt. Versammlungsgesetz (VersG)mit großer Wahrscheinlichkeit nicht vor. Nach dieserNorm kann eine Versammlung u. a. verboten werden,wenn die öffentliche Sicherheit oder Ordnung unmit-telbar gefährdet ist. II. Öffentliche SicherheitDer Begriff der öffentlichen Sicherheit umfasst denSchutz zentraler Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit,Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen des Einzel-nen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung undder staatlichen Einrichtungen. Dabei wird im Zusam-menhang mit Demonstrationen in der Regel eine Ge-fährdung der öffentlichen Sicherheit nur dann ange-nommen, wenn eine strafbare Verletzung dieserSchutzgüter droht (vgl. BVerfGE 69, 315, 352). DieseVoraussetzungen sind hier jedoch wohl weder beieiner Demonstration entlang der angemeldeten kon-kreten Route (vgl. Nr. 1 der Verfügung) noch bezüg-lich des übrigen Stadtgebietes (Nr. 2 der Verfügung)gegeben. Unter Berücksichtigung der grundlegendenBedeutung der gemäß Art. 8 Abs. 1 GG gewährleiste-ten Versammlungsfreiheit für eine freiheitlich demo-kratische Staatsordnung kann von der Eingriffsbefug-nis des § 15 Abs. 1, 1. Alt VersG nach ständigerRechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl.die oben zitierten Entscheidungen) nur dann Ge-brauch gemacht werden, wenn ausreichende tatsäch-liche Anhaltspunkte für eine unmittelbare Gefährdungder öffentlichen Sicherheit oder Ordnung gegebensind.

1. VoraussetzungenDie Eingriffsvoraussetzung der Unmittelbarkeit for-dert dabei eine Prognose, wonach aufgrund vorhande-ner tatsächlicher Umstände der Eintritt der Gefahrsofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist.Umgekehrt bedeutet dies, dass es nicht ausreichendist, wenn Tatsachen nur für eine wahrscheinliche,aber eben nicht für eine mit an Sicherheit grenzenderWahrscheinlichkeit zu erwartende Gefährdung spre-chen. Daraus folgt beispielsweise, dass vorhandenetatsächliche Kenntnisse über entstandene Gefährdun-

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gen anlässlich der Durchführung von Veranstaltungenin der Vergangenheit nur dann eine Gefahren-progno-se i. S. des § 15 Abs. 1 VersG für eine bevorstehendeVersammlung rechtfertigen können, wenn weitereUmstände vorliegen, aufgrund derer mit an Sicherheitgrenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dassauch die bevorstehende Versammlung in gleicherWeise wie die früheren Veranstaltungen zu einer un-mittelbaren Gefährdung führen wird (vgl. hierzuSächs. OVG, SächsVB1. 2001, 82 und BVerfG,BayVB1. 2001, 81 und Beschluss vom 24.3.2001 -1BvQ 13/01-).

2. SubsumtionSolche weiteren Umstände wurden von der Antrags-gegnerin nicht hinreichend vorgetragen; sie sind fürdas Gericht auch nicht ersichtlich.

a. StraftatenSoweit die Verfügung eine Gefährdung der öffentli-chen Sicherheit durch den Bezug der Demonstrationzu der Person des im Strafverfahren gegen einen denVeranstaltern nahestehenden Liedermacher beteilig-ten Staatsanwalts sieht, genügt dies nach Auffassungder Kammer für das Verbot der geplanten Versamm-lung und von Ersatzveranstaltungen nicht. Denn es istnicht hinreichend wahrscheinlich, dass aufgrund derZielrichtung der unter dem Motto „Meinungsfreiheitstatt Unterdrückung“ angezeigten Veranstaltung eineStraftat begangen wird. Die von dem Antragstellerunter freiem Himmel geplante Demonstration undKundgebung soll nicht mehr, wie dies bei der ur-sprünglich in Kornwestheim vorgesehenen Demon-stration der Fall wäre, vor der Privatwohnung desStaatsanwalts bzw. in unmittelbarer räumlicher Nähehierzu, sondern in der einige Kilometer entferntenNachbarstadt durchgeführt werden. Selbst wenn dieVersammlung - unter Einbeziehung ihres politischenUmfelds sowie bisheriger Vorkommnisse und entge-gen den Beteuerungen des Antragstellers - den Zweckverfolgen sollte, auf den Staatsanwalt und seine Fami-lie psychischen Druck auszuüben, ist hierdurch beisummarischer Prüfung die Schwelle zur Erfüllungeines Straftatbestandes nicht hinreichend wahrschein-lich überschritten.

aa. Versuchte NötigungEine versuchte Nötigung (§§ 240, 22 StGB) ist unterden konkreten Umständen kaum denkbar. Die Kam-mer übersieht dabei nicht, dass über das Internet so-wie durch Flugblätter „Telefonterror“, „Drohbriefe“und ähnliche Schikanen ein unerträglicher Druck aufden Staatsanwalt und seine Familie ausgeübt wird,was verschiedene Straftatbestände erfüllen kann (vgl.insbes. die Stellungnahme der StaatsanwaltschaftStuttgart v. 17. 1.2002). Dies entbindet aber nicht da-vor, zu prüfen, ob die geplante Demonstration, die der

Antragsteller bei der Stadt Ludwigsburg angemeldethat, als eine Straftat einzustufen ist, die eine Gefähr-dung der öffentlic hen Sicherheit darstellt und deshalbgeeignet ist, das Recht auf Demonstration und freieMeinungsäußerung des Antragstellers einzuschrän-ken.

(1). GewaltHier dürfte jedoch „Gewalt“ im Sinne des § 240 StGBnicht vorliegen. Anders als wenn die Demonstrationin räumlicher Nähe zur Privatwohnung des Staatsan-walts stattfinden würde, ist hier - selbst bei Zugrunde-legung des sog. vergeistigten Gewaltbegriffs (vgl.BGHSt. 23, 46, 54; 41, 350, 353) - die Ausübung ei-nes hiernach erforderlichen „unwiderstehlichenZwanges“ für den Genötigten nur schwer vorstellbar.

(2). Drohung mit empfindlichem ÜbelEventuelle Drohungen mit einem „empfindlichenÜbel“ gegen den Staatsanwalt oder seine Familie imSinne des § 240 StGB kann und muss die Antrags-gegnerin im Wege von Auflagen gemäß § 15 Abs. 1,2. Alt. VersG begegnen.

bb. Beleidigung und öffentliche Aufforderung zuStraftaten Ein Gleiches gilt für mögliche Beleidigungen desStaatanwalts (§ 185 StGB) oder für die öffentlicheAufforderung zu Straftaten gegen ihn (§ 111 StGB),etwa durch Verbreitung von Pamphleten, Spruchbän-dern, Reden und Parolen. Sollte der Antragsteller ge-gen solche Auflagen verstoßen, könnte die Versamm-lung unterbrochen oder aufgelöst werden (vgl. BVerf-GE 90, 241).

b. IndividualrechtsgüterEin Verbot der geplanten Demonstration ist auchnicht notwendig, um die Grundrechte des Staatsan-walts sowie die seiner Familienangehörigen wirksamzu schützen. Zwar gewährt Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1Abs. 1 GG dem Einzelnen um der freien und selbst-verantwortlichen Entfaltung seiner Persönlichkeit wil-len einen „Innenraum“, in den er sich zurückziehenkann, zu dem die Umwelt keinen Zutritt hat und indem er in Ruhe gelassen werden muss. Dieser jedemBürger zustehende, unantastbare private Bereich er-streckt sich jedoch nur auf den räumlich-gegenständli-chen Bereich von Ehe und Familie, insbesondere alsodie Privatwohnung (vgl. BVerfG 6, 32, 41; 27, 1, 6;32, 373, 378 f.; 54, 143, 146). Ein Eingriff in diesenSchutzbereich ist im vorliegenden Fall aber nicht zubefürchten, da die Veranstaltung nicht im Wohnortdes Staatsanwalts, sondern in einer mehrere Kilome-ter entfernt liegenden Stadt durchgeführt werden soll.Der Gefahr, dass einzelne Teilnehmer im Zusammen-hang mit der Demonstration die Wohnung des Staats-anwalts aufsuchen, wie die Antragsgegnerin erwogen

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hat, müsste die Polizei durch entsprechendeSchutzmaßnahmen begegnen. Im Übrigen ist der An-tragsteller dem mit dem Hinweis darauf entgegenge-treten, dass die Stadt Kornwestheim im Hinblick aufdas von ihr erlassene verbindliche Demonstrations-verbot für die Veranstaltungsteilnehmer „tabu“ sei.

c. GegendemonstrationenSoweit die Antragsgegnerin zur Begründung ihrerGefahrenprognose auf zu erwartende Gegendemon-strationen linksgerichteter, teilweise auch gewaltbe-reiter Organisationen sowie hieraus etwa zu erwarten-der Straftaten, wie Farbschmierereien oder sonstigeSachbeschädigungen, hinweist, können diese Umstän-de ein Demonstrationsverbot gemäß § 15 Abs. 1, 1.Alt. VersG gleichfalls nicht rechtfertigen. Denn be-züglich der Gefahr von Gegendemonstrationen giltnach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG (s.BVerfG, BayVB1. 2001, 79 und DVB1. 2001, 82),der sich die Kammer anschließt, dass sich behördlicheMaßnahmen bei drohenden Gewalttaten als Gegenre-aktion auf Versammlungen in erster Linie gegen dieStörer zu richten haben.Es ist nach Auffassung des BVerfG mit Art. 8 GGnicht zu vereinbaren, dass bereits mit der Anmeldungeiner Gegendemonstration erreicht werden kann, dassdem Veranstalter der zuerst angemeldeten Versamm-

lung die Möglichkeit genommen wird, sein Demon-strationsanliegen zu verwirklichen. Vielmehr ist esAufgabe der zum Schutze der rechtsstaatlichen Ord-nung berufenen Polizei, in unparteiischer Weise aufdie Verwirklichung des Versammlungsrechts hinzu-wirken. Gegen eine Versammlung als Ganzes darf ineiner solchen Situation grundsätzlich nur unter denbesonderen Voraussetzungen des polizeilichen Not-standes ein-geschritten werden (vgl. BVerfGE 69,315, 360). Dafür hat die Antragsgegnerin keine hin-reichenden Anhaltspunkte vorgetragen. [...]

III. Öffentliche Ordnung Auch ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnungkönnte ein Verbot der geplanten Demonstration nichtrechtfertigen. Solange die öffentliche Sicherheit nichtberührt ist, können versammlungsrechtliche Verboteoder Auflagen nur zum Schutze von Rechtsgüternergehen, die nicht durch den Inhalt der Äußerung,sondern auf andere Weise gefährdet werden. Insoweiterkennt § 15 VersG zwar auch die öffentliche Ord-nung als Schranke der Versammlungsfreiheit an;Mehrheitsanschauungen allein reichen aber zur Be-stimmung des Gehalts der öffentlichen Ordnung nachArt. 8 GG als einem Minderheitenschutzrecht nicht(vgl. auch VG Karlsruhe, Beschluss vom 23.4.2001 -11 K 936/01 -, m.w.N.).

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Zivilrecht

Standort: Allg. Teil des BGB Problem: Abschluss eines Maklervertrages

BGH, URTEIL VOM 11.04.2002III ZR 37/01 (NJW 2002, 1945)

Problemdarstellung:In diesem Fall musste der BGH die Frage nach einemkonkludent geschlossenen Maklervertrag zwischeneinem Verkäufermakler und dem Käufer klären.Tritt der bereits von einer Seite, hier von der Verkäu-ferseite, eingeschaltete Makler mit einem Interessen-ten in Kontakt, so muss er, wenn er im Erfolgsfallevon diesem ebenfalls eine Provision verlangen will,eindeutig zum Ausdruck bringen, dass er auch Maklerder anderen Seite sein will. Das geeignete Mittel hier-zu ist ein ausdrückliches Provisionsverlangen. EinKaufinteressent, der in Kenntnis des eindeutigenProvisionsverlangens die Dienste des Maklers in An-spruch nimmt, gibt damit grundsätzlich in schlüssigerWeise zu erkennen, dass er den in dem Provisions-begehren liegenden Antrag auf Abschluss eines Mak-lervertrags annehmen will. Etwas anderes gilt nurdann, wenn der angesprochene Interessent vorInanspruchnahme der Maklerdienste ausdrücklich er-klärt, eine solche Willenserklärung nicht abgeben zuwollen. Das ist der Fall, wenn ein Kaufinteressent eserklärtermaßen ablehnt, eine Maklerprovision zahlenzu wollen. Tut er dies, so begründet der Umstand,dass er sich gleichwohl die Dienste des Maklers gefal-len lässt, keine Provisionspflicht, insbesondere setzter sich mit diesem tatsächlichen Verhalten nicht inWiderspruch zu seiner ablehnenden Erklärung (st.Rechtsprechung).

Prüfungsrelevanz:Maklerrecht gem. §§ 652 ff. BGB, 93 ff. HGB wirdin der universitären Ausbildung nur marginal odersogar überhaupt nicht behandelt. Dadurch wird denJustizprüfungsämtern durch Stellen einer Makler-rechtsklausur die Möglichkeit gegeben, den Ex-amenskandidaten dahingehend zu prüfen, ob er inder Lage ist, in kurzer Zeit sich einen bis dato frem-den Vertragstyp allein anhand des Gesetzestextes zuerschließen.Das rechtsgültige Zustandekommen des Maklerver-trages setzt einen Vertragsabschluss zwischen Mak-ler und Mandanten gem. §§ 145 ff. BGB voraus, deraußer bei nicht gewerbsmäßigen Maklern auch kon-kludent erfolgen kann. Beim Interessenten führt

nicht jedes Sich-gefallen-lassen von Maklerdienstenzum Abschluss eines entsprechenden Vertrages. Er-forderlich ist vielmehr mindestens, dass er Makler-dienste entgegennimmt und dabei weiß oder wissenmuss, dass der Makler dafür eine Vergütung vonihm verlangen wird, wenn es zum Abschluss desanvisierten Hauptvertrages kommt. Wenn nach au-ßen der Anschein erweckt wird, dass der Makler be-reits für die andere Seite arbeitet, so kann der Inter-essent grundsätzlich davon ausgehen, dass auch nurdie andere Seite in einem Maklervertragsverhältnissteht. In diesen Fällen muss dem Interessenten erstein ausdrückliches Provisionsverlangen des Maklerszugehen, damit die Inanspruchnahme seiner Diensteein rechtsgeschäftlicher Erklärungswert in Form ei-ner Vertragsannahme zukommt (Palandt/Sprau,BGB 60. Aufl., § 652 Rz. 2; BGH, NJW-RR 1991,371).

Vertiefungshinweise:

“ Zum Abschluss eines Maklervertrages: OLG Cel-le, MDR 2001, 500; OLG Frankfurt a.M., NJW-RR2000, 751; LG Hannover, NZM 2000, 151

Kursprogramm:“ Assessorkurs: “Der Ehelohn”“ Klausurenkurs: “Der Makler”

Leitsatz:Zwischen dem Verkäufermakler und dem Käuferkommt nach vorangegangener Ablehnung desVertragsschlusses durch den Käufer ein Makler-vertrag nur zu Stande, wenn der Makler, insbe-sondere durch ein ausdrückliches Provisionsver-langen gegenüber dem Käufer, eindeutig zum Aus-druck bringt, dass er auch Makler der anderenSeite sein will. Sachverhalt: Der Kl. hat von den Bekl. Zahlung einer Makler-provision an sich und T verlangt, mit dem er sich zueiner Gesellschaft bürgerlichen Rechts „Häusermak-ler R & Partner“ (im Folgenden: R) zusammenge-schlossen hatte. 1996 bemühten sich die Bekl. umden Kauf eines Hauses in B. Im Ansc hluss an eineGrundstücksbesichtigung mit T am 29. 10. 1996 er-klärte dieser, er könne als weitere Kaufgelegenheitdie Doppelhaushälfte in der I.-Straße 10 in B. nach-

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RA 2002, HEFT 8ZIVILRECHT

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weisen. Die Eheleute B, die Eigentümer des Haus-grundstücks, hatten R mit der Vermittlung des Ver-kaufs beauftragt. Der Bekl. zu 2 machte T jedochdarauf aufmerksam, dass die Bekl. zu 1 und er denNachweis nicht benötigten, weil ihnen das Objektbereits bekannt sei. Dennoch übersandte der Kl.noch am selben Tag (29. 10. 1996) der Bekl. zu 1das Expose. Der Kaufpreis für das Hausgrundstückbetrug danach 1,4 Mio. DM; als Courtage solltenvom Käufer „bei Notariat“ 6% des Kaufpreises zu-züglich der gesetzlichen Mehrwertsteuer an R ge-zahlt werden. Die Bekl. reagierten auf das Schreibennicht. Nachdem die Eheleute B die Kaufpreisforde-rung auf 1,3 Mio. DM herabgesetzt hatten, rief TAnfang 1997 bei dem Bekl. zu 2 an und vereinbartemit ihm eine Innenbesichtigung, die am 14. 2. 1997stattfand. Durch notariellen Vertrag vom 12. 4. 1997kauften schließlich die Eltern des Bekl. zu 2 dasGrundstück für 1,12 Mio. DM; das Haus wurde vonden Bekl. bezogen.Das LG hat die Klage — sowie eine von dem Bekl.zu 2 gegen den Kl. und T. gerichtete Widerklage —abgewiesen. Das BerGer. hat den Bekl. zu 2 zurZahlung von 77 280 DM nebst Zinsen an den Kl.und Tals Gesellschafter einer Gesellschaft bürgerli-chen Rechts verurteilt; im Übrigen hat es die Ab-weisung der Klage und der Widerklage bestätigt. DieRevision des Bekl. zu 2 hatte Erfolg und führte zurvollständigen Abweisung der Klage.

Aus den Gründen:

A. Entscheidung und Begründung des BerGer.Das BerGer. hat im Wesentlichen ausgeführt: Zwi-schen R und dem Bekl. zu 2 sei ein Nachweismak-lervertrag zu Stande gekommen. T habe dem Bekl.zu 2 den Abschluss eines solchen Maklervertragsnamens R angeboten, indem er ihm bei vorausge-setzter Kenntnis von dem Verlangen einer Käufer-provision eine Innenbesichtigung des Hauses I.-Stra-ße 10 in B. angeboten habe. Dieses Anerbieten habeder Bekl. zu 2 angenommen, indem er am 14. 2.1997 an der Besichtigung teilgenommen habe. Dassder Bekl. zu 2 am 29. 10. 1996 den Abschluss einesMaklervertrags abgelehnt habe, sei unerheblich. Dieeinmal erklärte Ablehnung habe den Kunden nichtfür weitere Versuche des Maklers gesperrt, dochnoch zum Abschluss eines Maklervertrags zu gelan-gen. In diesem Fall könne der Kunde ohne Hinzutre-ten weiterer Umstände nicht davon ausgehen, derMakler handele jetzt im Auftrag einer anderen Seiteund sei von seiner ursprünglich unmissverständli-chen Provisionsforderung abgerückt. Der Hauptver-trag sei mit dem Kaufvertrag vom 12. 4. 1997 un-geachtet dessen, dass nicht die Bekl., sondern dieEltern des Bekl. zu 2 gekauft hätten, zu Stande ge-kommen.

B. Entscheidung des BGH in der RevisionDie vom Kl. in Prozessstandschaft für die Gesell-schaft bürgerlichen Rechts R erhobene Klage ist un-begründet. R kann von dem Bekl. zu 2 nicht gem. §652 I 1 BGB eine Maklerprovision beanspruchen.Die Annahme des BerGer., R habe mit dem Bekl. zu2 einen Maklervertrag geschlossen, wird von denFeststellungen nicht getragen.

I. Erfordernis eines ausdrücklichen Provisionsver-langen zwecks MaklervertragsabschlussesNach dem von dem BerGer. in Bezug genommenen,unwidersprochen gebliebenen Vortrag des Bekl. zu 2durfte dieser davon ausgehen, R hätten das Objekt I.-Straße 10 von den Eigentümern an die Hand bekom-men. Tritt der erkennbar bereits von einer Seite, hiervon der Verkäuferseite, eingeschaltete Makler miteinem Interessenten in Kontakt, so muss er, wenn erim Erfolgsfalle von diesem eine Provision verlangenwill, eindeutig zum Ausdruck bringen, dass er auchMakler der anderen Seite sein will. Das geeigneteMittel hierzu ist ein ausdrückliches Provisionsver-langen. Ein Kaufinteressent, der in Kenntnis des ein-deutigen Provisionsverlangens die Dienste des Mak-lers in Anspruch nimmt, gibt damit grundsätzlich inschlüssiger Weise zu erkennen, dass er den in demProvisionsbegehren liegenden Antrag auf Abschlusseines Maklervertrags annehmen will. Etwas anderesgilt nur dann, wenn der angesprochene Interessentvor Inanspruchnahme der Maklerdienste aus-drücklich erklärt, eine solche Willenserklärung nichtabgeben zu wollen. Das ist der Fall, wenn ein Kauf-interessent es erklärtermaßen ablehnt, eine Makler-provision zahlen zu wollen. Tut er dies, so begründetder Umstand, dass er sich gleichwohl die Dienstedes Maklers gefallen lässt, keine Provisionspflicht,insbesondere setzt er sich mit diesem tatsächlichenVerhalten nicht in Widerspruch zu seiner ablehnen-den Erklärung (Senat, NJW 2002, 817 = NZM 2002,171 m. w. Nachw.).Im Streitfall erhielt der Bekl. zu 2 Kenntnis von demProvisionsverlangen der R durch das am 29. 10.1996 übersandte Expose. Es enthielt einen deutli-chen Hinweis darauf, dass R bei Abschluss einesKaufvertrags vom Käufer eine Vergütung in Höhevon 6% des Kaufpreises zuzüglich Mehrwertsteuerverlange. Nach den Feststellungen des BerGer. hatder Bekl. zu 2 dieses Angebot zum Abschluss einesMaklervertrags indes abgelehnt. Er hat T bereits vorÜbersendung des Exposes, nämlich als ihm das Ob-jekt I.-Straße 10 am 29. 10. 1996 erstmals benanntworden ist, darauf hingewiesen, diese Kaufgelegen-heit schon zu kennen und deshalb einen Nachweisdurch ihn nicht zu benötigen. Auf das im Exposeunterbreitete Provisionsverlangen hat er nicht geant-wortet. Unter diesen Umständen konnte für R keinZweifel daran bestehen, dass der Bekl. zu 2 nicht

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bereit war, mit ihr einen Maklervertrag zu schließen.Dass das Expose einen gegenüber dem ursprüngli-chen Kaufpreisverlangen reduzierten Betrag nannte,ändert an dieser Beurteilung nichts.

II. Kein Maklervertragsabschluss durch die bloßeInanspruchnahme von MaklerdienstenEin Maklervertrag ist auch nicht dadurch zu Standegekommen, dass T dem Bekl. zu 2 kurz vor dem 14.2. 1997 eine Innenbesichtigung des Hauses 1.-Straße10 angeboten hat und der Bekl. zu 2 darauf einge-gangen ist. R, vertreten durch T, traten im Oktober1996 als von den Hauseigentümern B beauftragteMakler auf. Es besteht — was das BerGer. nicht be-rücksichtigt hat — kein Anhalt, dass sich daran imFebruar 1997 etwas geändert hätte, der Bekl. zu 2also nicht mehr hätte davon ausgehen können, R seiMakler des Verkäufers. Hatte R aber im Februar1997 damit zu rechnen, dass sie der kaufinteressierteBekl. zu 2 — weiterhin — für den Makler des Ver-

käufers halten könnte, musste sie eindeutig zumAusdruck bringen, dass sie auch Makler des Käuferssein wolle. Dazu genügte die Leistung von Makler-diensten, wie die Übermittlung von Informationenan Kaufinteressenten und Hausbesichtigungen, dieallein dem Verkäufer geschuldet sein konnten, nicht.R hätte nach der Ablehnung des vorangegangenenein erneutes ausdrückliches Provisionsverlangen anden Bekl. zu 2 richten müssen. Denn es ist Sache desMaklers, in dieser Hinsicht für klare Verhältnisse zusorgen. Ein ausdrückliches Provisionsverlangen hatR, vertreten durch T, aber im Februar 1997 unstreitignicht an den Bekl. zu 2 gestellt. Nach den Feststel-lungen des BerGer. hat sie die Innenbesichtigungvom 14. 2. 1997 nur unter „vorausgesetzter Kennt-nis“ von dem früheren, vom Bekl. zu 2 abgelehntenProvisionsverlangen vom 29. 10. 1996 angeboten.Darin kann noch kein Antrag auf Abschluss eines(Käufer-)Maklervertrags gesehen werden.

Standort: Straßenverkehrsrecht Problem: Inline-Skating

BGH, URTEIL VOM 19.03.2002VI ZR 333/00 (NJW 2002, 1955)

Problemdarstellung:

In diesem Fall musste sich der BGH letztlich mit derFrage auseinander setzen, ob die Benutzung vonInline-Skates im Straßenverkehr dem Fußgängerbe-reich oder dem Fahrzeugbereich zuzuordnen ist unddamit den jeweils entsprechenden Regeln zu unter-werfen ist. Die StVO - als Rechtsverordnung zumStVG - differenziert zwischen Fahrzeugen (Kraftfahr-zeuge, Fahrräder, Krankenfahrstühle) und besonderenFortbewegungsmitteln gem. § 24 StVO (Rollstühle,Rodelschlitten, Kinderwagen, Kinderfahrrad, Roller,etc.), wobei letztere Fußgängern gleichgestellt wer-den. Der BGH ordnet Inline-Skates den besonderen Fort-bewegungsmitteln gem. § 24 I StVO zu und unter-wirft sie damit ihre Benutzung den Straßenverkehrs-regeln für Fußgänger. Zwar entsprechen Inline-Skatesnicht in jeder Hinsicht den in § 24 I StVO genanntenFortbewegungsmittel, die dadurch gekennzeichnetsind, dass ihre Benutzer aufgrund der Bauart, des Ge-wichts, der üblichen Geschwindigkeit und der sons-tigen Ausrüstung einer erhöhten Gefährdung ausge-setzt wären oder eine Behinderung für andere darstel-len würden, würden sie dem Fahrzeugbereich auf derFahrbahn zugewiesen werden. Denn bei der Benut-zung von Inline-Skates können Geschwindigkeitenwie bei einem Fahrrad erreicht werden. Aber bei derhier vorzunehmenden Zuordnung hat sich der BGHvon dem Gedanken leiten lassen, dass eine möglichst

geringe gegenseitige Gefährdung oder Behinderungaller Verkehrsteilnehmer gewährleistet sein muss.Daher ist es geboten, entsprechend der herrschendenMeinung in Rechtsprechung und Literatur Inline-Ska-ter wie Fußgänger zu behandeln.Dabei steht diese Entscheidung unter dem Vorbehalteiner anstehenden ausdrücklichen Regelung durchden Verordnungsgeber.

Prüfungsrelevanz:

Im Rahmen der Gefährdungshaftung ist die straßen-verkehrsrechtliche Haftung nach dem StVG bzw. derStVO nicht nur die praxisrelevanteste sondern auchdie examensrelevante Thematik.Nach § 7 I StVG unterliegen Halter eines Kraftfahr-zeugs einer verschuldensunabhängigen Haftung,wenn durch den Betrieb ihres KFZ eine Person getö-tet, verletzt oder eine Sache beschädigt wird. Auf-grund dieser Haftung für KFZ-Halter besteht aucheine allgemeine Versicherungspflicht mit der Folge,dass neben dem Halter auch zugleich seine Haft-pflichtversicherung gem. § 3 PflVG für solche Unfäl-le mithaftet. Für den Fall, dass der Fahrzeugführer mitdem Halter nicht identisch ist, besteht für diesen einezusätzliche, wenn auch verschuldensabhängigeSchadensersatzpflicht gem. § 18 StVG.Im Rahmen der Bestimmung des Schadensersatzum-fangs muss jedoch zu Lasten des Geschädigten einetwaiges Mitverschulden seiner Person an dem Unfallberücksichtigt werden. Bei der Berücksichtigung desMitverschuldens des Opfers muss danach differen-ziert werden, in welcher Art und Weise das Opfer am

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Straßenverkehr teilgenommen hat. Bei Fußgängern,Radfahrern, etc. ist ein etwaiges Mitverschulden gem.§§ 9 StVG, 254 BGB anzurechnen, bei einem anderenFahrzeughalter gem. § 17 I 2 StVG und bei einemanderen Fahrzeugführer gem. § 18 III StVG. Alleindiese Differenzierung zeigt, wie wichtig es ist, dieStraßenverkehrsteilnehmer richtig einzuordnen. Beineuen Straßenverkehrsmitteln, wie z.B. in diesem FallInline-Skates, muss dann - vorbehaltlich einer endgül-tigen Regelung durch den Gesetzgeber - durch Ver-gleiche zu den geregelten Verkehrsmitteln eine Zu-ordnung vorgenommen werden.

Vertiefungshinweise:

“ Zur Beurteilung von Inline-Skating nach der StVO:OLG Oldenburg, NJW 2000, 3793; OLG Karlsruhe,NZV 1999, 44; Bouska, NZV 2000, 470; Nakas, NZV1999, 278

Kursprogramm:

“ Examenskurs: “Das verhängsnisvolle Skateboard”“ Assessorkurs: “Die Fahrt zum Fest”

Leitsatz:Inline-Skates sind - bis zu einer ausdrücklichenRegelung durch den Verordnungsgeber - als „ähn-liche Fortbewegungsmittel“ i. S. des § 24 I StVOanzusehen; daher sind Inline-Skater grundsätzlichden Regeln für Fußgänger zu unterwerfen.

Sachverhalt: Die Kl. macht Schadensersatzansprüche aus einemVerkehrsunfall vom 13. 6. 1998 geltend. Sie fuhr aufeiner Straße im außerörtlichen Bereich auf Inline-Ska-tes. In einer langgezogenen Linkskurve stieß sie mitdem ihr auf einem bei der Bekl. zu 1 haftpflichtversi-cherten Motorroller entgegenkommenden Bekl. zu 2zusammen und zog sich schwere Verletzungen zu.Die Straße ist dort knapp fünf Meter breit und hatkeinen Rad- oder Fußgängerweg. Der linke Fahrbahn-rand wies zur Unfallzeit zahlreiche Unebenheiten auf.Die zulässige Höchstgeschwindigkeit an der Unfall-stelle betrug 30 km/h. Die Kl. hat behauptet, sie seinach Passieren des Ortsausgangsschildes sofort ineinem Bogen auf die — von ihr aus gesehen — linkeFahrbahnhälfte gefahren und habe sich dann in derenMitte weiterbewegt. Der Bekl. zu 2 sei ihr mit einerüberhöhten Geschwindigkeit von mindestens 50 km/hentgegengekommen, weshalb sie nicht mehr habeausweichen können. Die Bekl. haben eine überhöhteGeschwindigkeit des Bekl. zu 2 bestritten und be-hauptet, die Kl. sei zunächst in der Mitte der Gesamt-fahrbahn und erst unmittelbar vor dem Zusammenstoßauf die für sie linke Fahrbahnseite gefahren, so dassder Bekl. zu 2 nicht mehr rechtzeitig habe reagierenkönnen. Der Unfall sei deshalb für ihn unvermeidbar

gewesen.Das LG hat die Bekl. als Gesamtschuldner zur Zah-lung des geltend gemachten materiellen Schadens-ersatzes verurteilt und ihre Verpflichtung zum Ersatzzukünftiger materieller Schäden festgestellt; im Übri-gen — hinsichtlich des immateriellen Schadens — hates die Klage mangels Verschuldens abgewiesen. Aufdie Berufung der Bekl. hat das OLG — unter Abwei-sung der Klage im Übrigen — einen Anspruch der Kl.auf Ersatz ihres materiellen Schadens dem Grundenach (nur) zu 40% für gerechtfertigt erklärt und indiesem Umfang eine Ersatzpflicht für materielle Zu-kunftsschäden festgestellt. Die weiter gehende Beru-fung der Bekl. sowie die Berufung der Kl. hat es zu-rückgewiesen. Die Revision der Kl. hatte keinen Er-folg.

Aus den Gründen: A. Entscheidung und Begründung des BerGer.Das BerGer. hat ein Verschulden des Bekl. zu 2 andem Zustandekommen des Verkehrsunfalls als Vor-aussetzung für einen immateriellen Schadensersatz-anspruch i. S. der §§ 823, 847 BGB verneint.

I. Gefährdungshaftung der Bekl. nach StVGNach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe zwarfest, dass er mindestens mit einer Geschwindigkeitvon 37 km/h gefahren sei. Es sei jedoch nicht auszu-schließen, dass die Kl. — entsprechend dem Vorbrin-gen der Bekl. — erst so kurz vor dem Unfall in dieFahrbahn des Bekl. zu 2 gelaufen sei, dass dieser auchbei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeitvon 30 km/h den Unfall nicht mehr hätte vermeidenkönnen. Es könne auch nicht bewiesen werden, dassdie Kl. bei dieser Geschwindigkeit geringere Verlet-zungen erlitten hätte. Die Kl. habe aber dem Grundenach aus § 7 I StVG, § 3 PfIVG einen Anspruch aufErsatz ihres materiellen Schadens, da die Bekl. ihrer-seits nicht bewiesen hätten, dass der Unfall für denBekl. zu 2 i. S. des § 7 II StVG unvermeidbar gewe-sen wäre.

II. Mitverschulden der Kl. gem. § 254 I BGBDie Kl. müsse sich allerdings gem. § 254 I BGB einMitverschulden von 60% an dem Zustandekommendes Verkehrsunfalls anrechnen lassen. Ihr sei nämlichzur Last zu legen, dass sie nicht — wie es § 2 I und IIStVO für Fahrzeuge vorschreibe — die rechte Fahr-bahn benutzt habe. Hierzu sei sie verpflichtet gewe-sen, weil Inline-Skates als Fahrzeuge und nicht als„ähnliche Fortbewegungsmittel“ nach § 24 I StVO i.V. mit § 25 StVO nach den für Fußgänger geltendenRegeln zu behandeln seien. Selbst wenn dies der Fallwäre, hätte die Kl. in der konkreten Situation nichtauf der linken Seite laufen dürfen, weil ihr dies aufGrund der Linkskurve wegen der erheblichen Gefähr-dung durch den entgegenkommenden Verkehr nicht

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zumutbar gewesen sei. Darüber hinaus wäre es ihrallenfalls gestattet gewesen, am linken Fahrbahnrandzu laufen, nicht aber in der Mitte der linken Fahrbahn-hälfte. Schließlich sei der Kl. vorzuwerfen, dass sienicht unmittelbar vor dem Unfall richtig — durch einihr nach dem Sachverständigengutachten möglichesAusweichen — reagiert habe.

B. Entscheidung des BGH in der RevisionDas Berufungsurteil hält den Angriffen der Revisionim Endergebnis stand.

I. Keine Haftung der Bekl. wegen nicht bewiesenemVerschulden am UnfallDie tatrichterliche Würdigung des BerGer., ein Ver-schulden des Bekl. zu 2 an dem Zustandekommen desVerkehrsunfalls als Voraussetzung für einen immate-riellen Schadensersatzanspruch i. S. der §§ 823, 847BGB sei nicht bewiesen, ist revisionsrechtlich nichtzu beanstanden. Soweit die Revision in diesem Zu-sammenhang vermeintlich übergangene Beweisan-tritte der Kl. und nicht ausreichende Berücksichtigungihres Sachvortrags rügt, hat der Senat diese Rügengeprüft und nicht für durchgreifend erachtet. Von ei-ner Begründung wird abgesehen (§ 565 a ZPO a. F.).Entgegen der Auffassung der Revision ist es auchrechtlich nicht zu beanstanden, dass das BerGer. ausder mit 7 km/h festgestellten geringfügigen Über-schreitung der zulässigen Höchstgesc hwindigkeit von30 km/h keine Verschuldenshaftung des Bekl. zu 2hergeleitet hat. Das gilt auch hinsichtlich des Ausma-ßes der Verletzungsfolgen für die Kl. Das erleichterteBeweismaß des § 287 ZPO, das die Revision insoweitheranziehen will, ist in diesem Zusammenhang nichtanwendbar, da es um die haftungsbegründende Kausa-lität einer Geschwindigkeitsüberschreitung für — gra-duell nicht näher substanziierte — schwerere Verlet-zungen der Kl. geht. Dieser kommt auch kein An-scheinsbeweis zugute, da es keinen Erfahrungssatzgibt, dass bei einer Geschwindigkeit von 37 km/h diebei einem Zusammenstoß erlittenen Verletzungenschwerer sind als bei einem Aufprall mit 30 km/h.Schließlich ist — entgegen der entsprechenden Rügeder Revision — dem BerGer. kein Verfahrensfehlerdadurch unterlaufen, dass es zu dieser Frage kein me-dizinisches Sachverständigengutachten eingeholt hat.Unter den gegebenen Umständen durfte sich das Ber-Ger. — insbesondere im Hinblick auf das Fehlen vonAnknüpfungstatsachen — mit den Ausführungen desVerkehrsunfallsachverständigen begnügen.

II. Anrechenbares Mitverschulden der Kl. gem. § 254I BGBDas BerGer. hat im Rahmen der von ihm gem. § 7StVG, § 3 PflVG dem Grunde nach bejahten Haftungder Bekl. für die materiellen Schäden der Kl. dieserim Ergebnis mit Recht ein Mitverschulden i. S. der §

254 I BGB, § 9 StVG zur Last gelegt.

1. Kein Mitverschulden wegen Verstoßes gegen dasRechtsfahrgebot gem. § 2 I StVO mangels Anwend-barkeitAllerdings lässt sich ein Mitverschulden der Kl. nichtaus einem Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot des § 2I StVO herleiten. Entgegen der Meinung des BerGer.sind Inline-Skates keine Fahrzeuge im Sinne dieserVorschrift, die — wie insbesondere Fahrräder —grundsätzlich auf der rechten Fahrbahn so weit wiemöglich rechts fahren müssen. Sie sind vielmehr als„ähnliche Fortbewegungsmittel“ i. S. von § 24 I StVOzu behandeln.

a. Sinn und Zweck der Trennung zwischen Fahrzeu-gen und sonstigen Fortbewegungsmitteln„Besondere Fortbewegungsmittel“ werden vom Ver-ordnungsgeber in dieser Bestimmung rechtlich des-halb nicht als Fahrzeuge i. S. des § 2 I StVO behan-delt, weil ihre Benutzer auf Grund der Bauart, dernormalerweise zu erzielenden Geschwindigkeit undder sonstigen Ausrüstung einer erhöhten Gefährdungausgesetzt wären, würden sie dem Fahrzeugverkehrauf den Fahrbahnen zugeordnet. Zudem könnten siedort auf Grund der spezifischen Art ihrer Fortbewe-gung auch die übrigen Fahrzeugführer gefährden oderzumindest erheblich behindern. Deshalb sollen dieseFortbewegungsmittel dem Gehwegverkehr nach § 25StVO zugerechnet werden, weil sie dort — vor allemwegen ihres geringen Eigengewichts und der üblicher-weise niedrigen Geschwindigkeit — in der Regel kei-ne wesentliche Gefährdung des Fußgängerverkehrsdarstellen (vgl. hierzu Vieweg, NZV 1998, 1 [4];Schmid, DAR 1998, 8)

b. Zuordnung von Inline-Skates als “sonstige Fortbe-wegungsmittel”Inline-Skates sind allerdings Fortbewegungsmittel,die nicht in jeder Hinsicht den in § 24 I StVO aus-drücklich aufgezählten oder herkömmlicherweisehierzu gerechneten „ähnlichen Fortbewegungsmit-teln“ entsprechen. Sie haben zwar auch nur ein gerin-ges Eigengewicht und sind üblicherweise nicht mitBeleuchtungen und mehrfachen Bremssystemen aus-gestattet. Inline-Skater können jedoch die Geschwin-digkeit von Fahrradfahrern erreichen und sind damitdeutlich schneller als Fußgänger, wobei — in starkemMaße abhängig vom Können — die Bremswege er-heblich länger sind als bei Fahrrädern (vgl. Kramer,Verkehrsdienst (VD) 2001, 291 [293]; Robatsch,Zeitschrift für Verkehrssicherheit 1998, 25 [26 ff.]).In der Literatur wird deshalb weit gehend die Auf-fassung vertreten, dass die Besonderheiten der Inline-Skates neue, speziell zugeschnittene Vorschriften desVerordnungsgebers erforderlich machen (vgl. Bouska,NZV 2000, 472; Kramer, VD 2001, 255 [258];

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Schmid, DAR 1998, 8; Vieweg, NZV 1998, 1 [6 f.];Wiesner, NZV 1998, 177 [183]). Dieser ist mittler-weile bereits durch ein Forschungsprojekt „Nutzungvon Inline-Skates im Straßenverkehr“ vorbereitendtätig geworden (vgl. Kramer, VD 2001, 255 [259 u.291 ff.]).In Österreich ist mit der 20. Novelle zur dortigenStraßenverkehrsordnung (Österr. BGB1 1 92/1998)seit dem 22. 7. 1998 eine ausdrückliche Regelung (§88 a) in Kraft. Danach dürfen neben Gehwegen unteranderem auch Radfahranlagen mit Rollschuhen, wozunach dort herrschender Meinung auch Inline-Skatesgehören, befahren werden; dabei gelten für Roll-schuhfahrer die für Radfahrer maßgebenden Verhal-tensvorschriften. Bei der Benutzung von Fußgängerflä-chen haben sie sich dagegen — insbesondere im Hin-blick auf ihre Geschwindigkeit — dem Fußgängerver-kehr anzupassen. Über diese gesetzlichen Ausnahmenhinaus steht es den zuständigen Behörden frei, durchVerordnung das Rollschuhfahren auch auf sonstigenFahrbahnen zu gestatten.

c. Zuordnung vorbehaltlich einer gesetzlichen Rege-lungBis zu einer ausdrücklichen Regelung durch den deut-schen Verordnungsgeber muss die Einordnung derInline-Skates nach geltendem Recht so erfolgen, dasseine möglichst geringe gegenseitige Gefährdung oderBehinderung aller Verkehrsteilnehmer gewährleistetist. Dieser Gedanke, der auch der Abgrenzung derbesonderen Fortbewegungsmittel des § 24 StVO vonden „normalen“ Fahrzeugen zu Grunde liegt, legt esnahe, Inline-Skates entsprechend der herrschendenMeinung in Rechtsprechung und Literatur als „ähnli-che Fortbewegungsmittel“ i. S. des § 24 StVO anzu-sehen und Inline-Skater grundsätzlich den Regeln fürFußgänger zu unterwerfen; auf diese Weise kann denfür Inline-Skater bestehenden und von ihnen ausge-henden Gefahren derzeit noch am ehesten begegnetwerden (vgl. OLG Koblenz, NJW-RR 2001, 1392;OLG Karlsruhe, VersR 1999, 590; OLG Celle, NJW-RR 1999, 1187; Diehl, ZfS 1999, 376; Hentschel, §24 Rdnr. 6; Schmid, DAR 1998, 8; Seidenstecher,DAR 1997, 104 [105]; 36. VGT 1998, AK VII, 5. 13;a.A. Grams, NZV 1997, 65 [67]).So hat auch der Abschlussbericht des — bereitserwähnten — vom Bundesministerium für Verkehr,Bau- und Wohnungswesen in Auftrag gegebenen undvon der Bundesanstalt für Straßenwesen betreutenForschungsprojekts „Nutzung von Inline-Skates imStraßenverkehr“ zusammenfassend hervorgehoben,dass Inline-Skater auf der Fahrbahn mit der derzeiti-gen technischen Ausrüstung stärker gefährdet sind alsim Seitenraum einer Straße und die Verträglichkeitmit dem Fahrradverkehr geringer ist als die mit demFußgängerverkehr (vgl. Kramer, VD 2001, 291 [295]-). Dies spricht entscheidend dagegen, sie durch eine

rechtliche Einordnung als Fahrzeuge grundsätzlichzur Benutzung der Fahrbahn zu verpflichten, was aufGrund des im Vergleich zu Radfahrern größeren Brei-tenbedarfs, der (etwas) geringeren Durchschnittsge-schwindigkeit und des längeren Bremswegs der In-line-Skater zu größeren Behinderungen und Gefähr-dungen des Fahrzeugverkehrs und ihrer selbst führenkönnte. Demgegenüber zeigt die bisherige Erfahrung,dass Inline-Skater durch Anpassung ihrer Geschwin-digkeit an die jeweilige konkrete Situation und an ihrFahrkönnen die entsprechenden Wege — mangelsderzeit bestehender sinnvoller Alternativen — ge-meinsam mit Fußgängern nutzen können. Das setztallerdings die strikte Beachtung der Grundsätze des §1 II StVO voraus, wonach jeder Verkehrsteilnehmersich so zu verhalten hat, dass kein anderer geschädigt,gefährdet oder mehr, als nach den Umständen ver-meidbar, behindert oder belästigt wird. Zu verlangenist dabei vor allem eine besondere Rücksichtnahmeauf die Belange der Fußgänger, für die die Gehwegevorrangig bestimmt sind. Auf diese Weise könnennicht hinnehmbare gegenseitige Gefährdungen oderBelästigungen weit gehend vermieden werden.Darüber hinaus können im Rahmen einer künftigenRegelung durch den Verordnungsgeber die Gehwegevon Inline-Skatern dadurch entlastet werden, dassAlternativen geschaffen werden, etwa besondere We-ge für Inline-Skater, oder dass ihre Zulassung auf da-für — insbesondere im Hinblick auf ihre Breite —geeigneten Radwegen ermöglicht wird. Nach den Er-gebnissen des vorerwähnten Forschungsprojekts hatsich die derzeit unzulässige Benutzung von Radwegendurch Inline-Skater mit Ausnahme relativ wenigerAufkommensschwerpunkte nicht als problematischherausgestellt (vgl. Kramer, VD 2001, 291 [2951).

2. Rechtsfahrgebot für die Kl. gem. §§ 24 I, 25 I 3StVOSelbst wenn mithin Inline-Skates nicht als Fahrzeugezu behandeln sind, so hält das Berufungsurteil den-noch den Angriffen der Revision im Ergebnis stand,weil jedenfalls die Hilfsbegründung trägt, in der kon-kreten Situation hätte die Kl. auch unter Zugrundele-gung der §§ 24 I, 25 I 3 StVO allenfalls die rechteFahrbahnseite benutzen dürfen. Nach § 25 I 3 StVOmüssen Fußgänger außerhalb geschlossener Ortschaf-ten nur dann am linken Fahrbahnrand gehen, wenndies „zumutbar“ ist. Nach den Feststellungen des Ber-Ger. wies im vorliegenden Fall der linke Fahrbahn-rand zur Unfallzeit zahlreiche Unebenheiten auf, sodass der Kl. dort ein gefahrloses Fahren nicht zumut-bar war. Nach ihrem eigenen Sachvortrag, den sichdie Bekl . zumindest für den Zeitpunkt desZusammenstoßes hilfsweise zu Eigen gemacht haben,durchfuhr die Kl. denn auch tatsächlich die für sielanggezogene Linkskurve nicht am linken Fahrbahn-rand, wie es § 25 I 3 StVO entsprochen hätte, sondern

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mitten auf der Fahrbahn des Gegenverkehrs. Das aberwar ihr — schon im Hinblick auf ihre Pflichten aus §1 II StVO gegenüber den ihr entgegenkommendenFahrzeugen — keinesfalls gestattet. Sie wäre viel-mehr — wenn sie auf ein Skaten an der Unfallörtlich-keit nicht gänzlich verzichten wollte — jedenfallsunter den hier gegebenen Umständen gehalten gewe-sen, die rechte Fahrbahnseite zu benutzen, da dies dieGefahren für sie selbst und den Fahrzeugverkehrdeutlich herabgesetzt hätte. Hat die Kl. gleichwohl —noch dazu in einer Linkskurve — die Fahrbahnmittedes Gegenverkehrs benutzt, so gereicht ihr dies zumMitverschulden, da sie damit diejenige Sorgfalt außerAcht gelassen hat, die ein ordentlicher und verständi-ger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens an-zuwenden pflegt (vgl. etwa Senat, NJW 2001, 149 =

LM H. 8/2001 § 254 [Da] BGB Nr. 74 = VersR 2001,76 [77] m.w. Nachw.). Darüber hinaus hat das Ber-Ger. in tatrichterlicher Würdigung der Kl. weiter alsMitverursachungsbeitrag zur Last gelegt, nicht recht-zeitig und richtig reagiert zu haben, obwohl ihr diesdurch ein Ausweichen möglich gewesen wäre. DieseBeurteilung lässt Rechtsfehler nicht erkennen undwird von der Revision auch nicht angegriffen.

III. Ergebnis der RevisionNach alledem bestehen revisionsrechtlich im Ergebniskeine Bedenken dagegen, dass das BerGer. dasMitverschulden der Kl. am Zustandekommen desVerkehrsunfalls und an dem ihr dadurch entstandenen(materiellen) Schaden mit 60% bewertet hat

Standort: ZPO Problem: Prozessaufrechnung mit internationalen Forderungen

BGH, VERSÄUMNISURTEIL VOM 07.11.2001VIII ZR 263/00 (NJW 2002, 2182) Problemdarstellung:

In diesem Fall musste sich der BGH mit den Zulässig-keitsanforderungen an eine Prozessaufrechnung be-schäftigen.Da bestand zunächst das Problem, dass die Gegen-forderung ausländischer Natur war und daher die in-ternationale Zuständigkeit des angerufenen Gerichtsfür diese Prozessaufrechnung im Raum stand. Nachder bisherigen Rechtsprechung des BGH ist für dieEntscheidung über eine im Prozess erklärte Aufrech-nung die internationale Zuständigkeit der deutschenGerichte erforderlich, wobei sich diese analog § 33ZPO ergeben kann, wenn es sich um eine konnexeForderung handelt. Im Geltungsbereich des EuGVÜhat der Senat die Aufrechnung mit bestrittenen, in-konnexen Forderungen analog Art. 6 Nr. 3 des Ab-kommens mangels internationaler Zuständigkeit alsunzulässig bewertet. Diese Rechtsprechung ist nacheinem Urteil des EuGH (NJW 1996, 42), wonach Art.6 Nr. 3 EuGVÜ sich nur auf die Widerklage, abernicht auf die Prozessaufrechnung bezieht, überholt.Umstritten ist in der Literatur, ob aufgrund der Aus-führungen des EuGH nunmehr überhaupt eine inter-nationale Zuständigkeit für Prozessaufrechnungen mitausländischen Forderungen bestehen muss. Der BGHnimmt dazu leider in diesem Fall nicht abschließendStellung. Im Übrigen setzt sich der BGH mit demUmfang des Bestimmtheitserfordernisses bei Prozess-aufrechnungen zur Substanziierung der Gegenforde-rung (§ 253 II BGB) auseinander.

Prüfungsrelevanz:

Steht dem Beklagten gegenüber dem Kläger eine Ge-

genforderung zu, so kann er diese entweder im Wegeder Prozessaufrechnung oder im Wege der Widerkla-ge in das Verfahren einbringen.Zu den wichtigsten Verteidigungsmitteln eines Be-klagten gehört die Prozessaufrechnung, die damitnicht nur praxisorientierter sondern auch in examens-relevanter Hinsicht von Bedeutung ist. Als Doppeltat-bestand ist bei der Prozessaufrechnung zwischen derErklärung der Aufrechnung (materiell-rechtlicherTeil) und der Geltendmachung im Prozess (prozessua-ler Teil) zu unterscheiden. Die Erklärung der Auf-rechnung ist die Ausübung eines privatrechtlichenGestaltungsrechts, dessen Voraussetzungen undRechtsfolgen sich ausschließlich nach den §§ 387 ff.BGB richten; gleichgültig ist, ob sie innerhalb oderaußerhalb oder vor dem Prozess erklärt wird. Mit derGeltendmachung der erklärten Aufrechnung im Pro-zess erhebt der Beklagte verteidigungsweise dierechtsvernichtende Einwendung, dass der Klagean-spruch infolge der Aufrechnung erloschen sei. AlsProzesshandlung richtet sich diese Geltendmachungin Zulässigkeit, Voraussetzungen und Wirkungennach dem Prozessrecht allein. So unterliegt z.B. dieProzessaufrechnung dem Bestimmtheitserfordernis(§§ 253, 322 II ZPO), d.h. bei Geltendmachung meh-rerer Gegenforderung ist eine Rangfolge zur Verrech-nung festzulegen. Die zur Aufrechnung gestellte Ge-genforderung wird dadurch zwar nicht rechtshängig,aber die gerichtliche Entscheidung darüber erwächstin Rechtskraft.Die Widerklage ist hingegen kein Verteidigungsmit-tel, sondern ein eigenständiger Angriff des Beklagtengegen den Kläger. Sie ist eine Klage, die vom Beklag-ten im selben Verfahren mit eigenem Streitgegenstandgegen den Kläger erhoben wird. Sie unterliegt grund-sätzlich denselben Voraussetzungen wie eine “norma-le” Klage, aber es gelten einige Besonderheiten, ins-

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besondere muss nach h.M. zwischen Klage und Wi-derklage ein innerer Zusammenhang bestehen.

Vertiefungshinweise:

“ Zu dieser Fallgestaltung: Huber, LM H. 8/2002EGÜbk Nr. 64; Dietze/Schnichels, EuZW 2001, 581

Kursprogramm:“ Examenskurs: “Die gestohlene Jacke”“ Assessorkurs: “Immer Ärger mit den Akten”

Leitsätze:1. Zur Frage der internationalen Zuständigkeitdeutscher Gerichte für die Entscheidung über eineim Prozess erklärte Aufrechnung nach dem Urteildes EuGH vom 13. 7. 1995 (Slg. 1995, I-2053 =NJW 1996, 42 = EuZW 1995, 639 - Danvaern Pro-duktion/Schuhfabriken Otterbeck)2. Der Bestimmtheitsgrundsatz des § 253 II ZPOgilt auch für die Prozessaufrechnung.3. Wird im Prozess mit einer Mehrheit von Forde-rungen aufgerechnet, so ist der Bestimmtheits-grundsatz gewahrt, wenn die mehreren Forderun-gen in einer bestimmten Reihenfolge benannt undim Einzelnen hinreichend genau bezeichnet sind

Sachverhalt: Die Kl., ein in Dänemark ansässiges Unternehmen,verlangt von der Bekl. Bezahlung einer Lieferung von23,7 Tonnen Apfelsaftkonzentrat. Die Bekl. macht imWege der Aufrechnung und der Widerklage mehrereabgetretene Forderungen geltend. Forderung und Ge-genforderungen liegt folgender Sachverhalt zu Grun-de: Die Kl. kaufte bei der in Tschechien ansässigenFirma L wiederholt Apfelsaft- und Orangensaftkon-zentrat, das sie sodann an verschiedene deutsche Fir-men, unter anderem an die Bekl., weiterverkaufte. DieLieferungen erfolgten jeweils unmittelbar von dertschechischen Herstellerin an die deutschen Käuferin-nen. Gegenstand der Klage ist - neben außergericht-lichen Auslagen in Höhe von 21 DM - die Kaufpreis-forderung für eine Lieferung Apfelsaftkonzentrat vom31. 7. 1996, für die die Kl. der Bekl. unter dem 6. 8.1996 eine Rechnung über 20 145 DM stellte. DieseRechnung hat die Bekl. bislang — anders als die vor-angegangenen Rechnungen — nicht bezahlt. Mit Ur-kunde vorn 1./13. 7. 1998 trat die Firma L sechsForderungen, die ihr angeblich gegen die Kl. zustan-den und die sich auf insgesamt 82 251 DM beliefen,in Höhe eines Teilbetrags von 70 711,20 DM an dieBekl. ab. Mit diesen Forderungen rechnet die Bekl.bis zur Höhe der Klageforderung auf; den übersteigen-den Betrag von 50545,20 DM macht sie im Wege derWiderklage geltend. Hinsichtlich der Aufrechnungund der Widerklage hat die Kl. die internationale Un-zuständigkeit der deutschen Gerichte gerügt. Sie ist

der Auffassung, dass es an einem Zusammenhangzwischen der Klageforderung und den von der Bekl.geltend gemachten Gegenforderungen fehle und Auf-rechnung und Widerklage deshalb unzulässig seien.Überdies seien die Gegenansprüche auch unbegrün-det, weil die betreffenden Forderungen der Firma Lgegen sie — die Kl. — durch Aufrechnung bzw. Ver-rechnung im Rahmen der laufenden Geschäftsbezie-hungen erloschen seien. Das LG Rostock hat der Kla-ge im Wesentlichen stattgegeben. Aufrechnung undWiderklage hat es mit der Begründung, für eine Ent-scheidung über die Gegenforderungen fehle es an derinternationalen Zuständigkeit der deutschen Gerichte,für unzulässig erachtet. Die hiergegen gerichtete Be-rufung der Bekl. hat das OLG Rostock zurückgewie-sen. Mit ihrer Revision verfolgt die Bekl. ihre Anträ-ge zur Klage und Widerklage in vollem Umfang wei-ter.Die Revision hatte Erfolg. Die Sache wurde an dasBerGer. zurückverwiesen.

Aus den Gründen:

A. Entscheidung und Begründung des BerGer.Das BerGer. hat — insoweit in Übereinstimmung mitdem LG — die Klage auch unter dem Gesichtspunktder internationalen Zuständigkeit für zulässig und inder Sache für begründet gehalten. Entgegen der Auf-fassung des LG hat es jedoch die internationaleZuständigkeit hinsichtlich der Entscheidung über dieAufrechnung gleichfalls bejaht. Es hat offen gelassen,ob es nach dem Urteil des EuGH vom 13. 7. 1995(NJW 1996, 42 = EuZW 1995, 639), das für die Gel-tendmachung einer Forderung als Verteidigungsmitteldie Zuständigkeitsbestimmung des Art. 6 Nr. 3 EuG-VÜ für unanwendbar hält und insoweit auf das na-tionale Recht verweist, für die Entscheidung über eineProzessaufrechnung nach deutschem Verfahrensrechtnoch einer internationalen Zuständigkeit bedürfe undwie dieses Erfordernis gegebenenfalls zu begründensei. Jedenfalls sei die frühere Rechtsprechung desBGH, die hierzu die Vorschrift des Art. 6 Nr. 3 EuG-VÜ herangezogen habe, durch das Urteil des EuGHüberholt. Unabhängig von dem Meinungsstreit überdie Auslegung des Urteils hinsichtlich der Anwend-barkeit des nationalen Rechts sei im vorliegenden Falldie internationale Zuständigkeit zumindest deshalbgegeben, weil die deutschen Gerichte zur Entschei-dung über die Aufrechnungsforderung unter dem Ge-sichtspunkt des Erfüllungsorts nach Art. 5 Nr. 1 EuG-VÜ bzw. § 29 I ZPO (analog) international originärzuständig seien. Die Parteien seien nämlich still-schweigend davon ausgegangen, dass die Ware erstnach der Lieferung zu bezahlen sei. Daher seien gem.Art. 57 1 b CISG, dessen Bestimmungen auf deninternationalen Kaufvertrag zwischen der Firma Lund der Kl. anzuwenden seien, die Forderungen in

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Deutschland zu erfüllen.Im Übrigen ergäbe sich die internationale Zuständig-keit der deutschen Gerichte auch aus § 33 ZPO oderder analogen Anwendung des Art. 6 Nr. 3 EuGVÜ,weil die Klageforderung und ein Teil der Aufrech-nungsforderung sich auf dieselbe Lieferung bezögenund überdies insgesamt ein natürlicher und wirtschaft-licher Zusammenhang bestehe, so dass von einer Kon-nexität der beiderseitigen Forderungen auszugehensei.Das BerGer. hält die Aufrechnung aber deshalb fürunzulässig, weil sie nach dem insoweit maßgebendendeutschen Prozessrecht — hier: § 253 II ZPO — zuunbestimmt sei. Die Bekl. habe einen Teilbetrag von20 166 DM aus einer Gesamtforderung von 82 251DM zur Aufrechnung gestellt, deren „rangersten“ Teilin Höhe von 70711,20 DM sie durch Abtretung er-langt haben wolle. Damit sei unklar, welche von deninsgesamt sechs abgetretenen Einzelforderungen siezur Tilgung der Klageforderung verbrauchen wolle.Obwohl das OLG auf diesen — bereits von der Kl.gerügten — Gesichtspunkt hingewiesen habe, habedie Bekl. hierzu nichts weiter vorgetragen. Ihr Prozess-bevollmächtigter habe in der mündlichen Verhand-lung lediglich erklärt, ihm sei die Problematik be-kannt, mangels näherer Information seiner Mandantin„könne und wolle er (aber) nicht angeben, welcheRechnungsforderung er zur Aufrechnung stelle“. So-weit sich die Berufung der Bekl. gegen die Abwei-sung der Widerklage gerichtet hat, hält das OLG dasRechtsmittel für unzulässig, weil nur bedingt einge-legt. Die Bekl. habe die Entscheidung zur Widerklageausdrücklich nur hilfsweise angegriffen. Auch eineAuslegung der Berufungsbegründung ergebe nicht,dass die Bekl. insoweit eine unbedingte Berufung ein-legen und begründen wollte.

B. Entscheidung des BGH in der RevisionDiese Ausführungen halten einer rechtlichenÜberprüfung in den wesentlichen Punkten nicht stand.Hierüber war durch Versäumnisurteil zu entscheiden,da die Kl. trotz rechtzeitiger Ladung im Verhand-lungstermin nicht vertreten war. Das Urteil beruhtjedoch inhaltlich nicht auf der Säumnis der Kl., son-dern auf einer Sachprüfung (BGHZ 37, 79 [81 f.] =NJW 1962, 1149).

I. Zulässigkeit und Begründetheit der Berufung be-züglich der WiderklageSoweit das BerGer. die Berufung der Bekl. bezüglichder Widerklage als unzulässig angesehen hat, ist dieRevision kraft Gesetzes zulässig (§ 547 ZPO). Sie istauch begründet, weil die Berufung entgegen der Mei-nung des OLG auch insofern unbedingt eingelegt warund nur die Widerklage zulässigerweise von einerinnerprozessualen Bedingung abhängig sein sollte.Den von der Bekl. schriftsätzlich formulierten Anträ-

gen lässt sich nichts dafür entnehmen, dass bezüglichder Widerklage schon die Einlegung des Rechtsmit-tels mit einer Bedingung verknüpft werden sollte. Ob-wohl die Bekl. in ihrer Berufungsbegründung diesnicht ausdrücklich erklärt hat, lässt sich bei der gebo-tenen Gesamtbetrachtung der Berufungsanträge sowiedes Vorbringens der Bekl. und unter Berücksichti-gung des Grundsatzes der wohlwollenden Auslegungvon Prozesserklärungen (vgl. dazu BGH, NJW 2000,3216 = LM H. 3/2001 § 694 ZPO Nr. 4 m. w.Nachw.) auch hinreichend deutlich erkennen, dass derHilfsantrag nur für den Fall gestellt sein sollte, dassdie Klage auf Grund der Aufrechnung abgewiesenwerden würde; diese Abhängigkeit von einer inner-prozessualen Bedingung ist unschädlich. Selbst wenninsofern noch Bedenken blieben, hätte das BerGer.die Bekl. hierauf hinweisen müssen (§§ 139, 278 IIIZPO); das Unterbleiben eines solchen Hinweises rügtdie Revision zu Recht. Die Bekl. hätte dann, wie dieRevision weiter ausgeführt hat, ihre Berufungsanträgein dem dargelegten Sinn klargestellt.Dieser Hinweis war auch nicht deshalb entbehrlich,weil bereits die Kl. in ihrer Berufungserwiderung dieUnzulässigkeit der Berufung beanstandet hatte. Denndie Kl. hatte ihren Einwand lediglich auf die insoweitangeblich fehlende Berufungsbegründung gestützt;auf die Frage einer bedingten Berufungseinlegungwar sie nicht eingegangen.

II. Zum Umfang des Bestimmtheitserfordernisses beiProzessaufrechnungen, § 253 II ZPOSoweit das BerGer. die Klage für begründet erachtethat, weil es die Aufrechnung mangels hinreichenderBestimmtheit für unzulässig gehalten hat, kann demOLG ebenfalls nicht gefolgt werden. Zutreffend istdas BerGer. zwar unter Heranziehung des deutschenZivilprozessrechts als der maßgeblichen lex fori (Gei-mer, Int. ZivilprozessR, 3. Aufl., Rdnr. 868 b) davonausgegangen, dass auch für die Prozessaufrechnungder Bestimmtheitsgrundsatz des § 253 II ZPO gilt.Dieser ist hier jedoch gewahrt; denn die Bekl. hatte —worauf die Revision zu Recht hinweist — bereits inerster Instanz die schriftliche Abtretungsvereinbarungmit der Firma L vom 1./13. 7. 1998 vorgelegt. DieserVereinbarung war eine Aufstellung beigefügt, in derdie sechs abgetretenen Forderungen in zeitlicher Rei-henfolge mit Rechnungsdatum, -nummer und -betragsowie mit weiteren Einzelheiten vollständig aufge-führt waren. Schon für sich allein, jedenfalls aber inVerbindung mit der Auslegungsregel der §§ 396 I 2,366 II BGB ist klargestellt, in welcher Reihenfolgedie an die Bekl. abgetretenen, im Einzelnen indivi-dualisierten Forderungen der Firma L von ihr nun-mehr aufgerechnet werden sollten. Zwar hat der Pro-zessbevollmächtigte der Bekl. durch seine Bemerkungin der Berufungsverhandlung, er wolle und könnenicht angeben, mit welcher Rechnungsforderung er

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aufrechne, dies alles wieder in Frage gestellt; dennochwar die Bekl. nicht gehindert, noch in der Revisions-instanz die gebotene Klarstellung erneut vorzuneh-men (BGHZ 11, 192 [195] = NJW 1954, 757; Musie-lak/Foerste, ZPO, 2. Aufl., § 253 Rdnr. 28).Aus der schriftlichen Abtretungsvereinbarung vom1./13. 7. 1998 und der beigefügten Forderungsauf-stellung ergibt sich demnach folgende Berechnung:Von dem Gesamtbetrag der in der Aufstellung enthal-tenen Forderungen von 82251 DM hatte die Firma Lden „rangersten“ Teil in Höhe von 70 711,20 DM andie Bekl. abgetreten, also die Forderungen Nrn. 1 bis5 in Höhe von insgesamt 70 226 DM jeweils in vollerHöhe und die Forderung Nr. 6 (über 12025 DM) inHöhe des verbleibenden Restbetrags von 485,20 DM.Von dem abgetretenen Betrag hatte die Bekl. — wie-derum entsprechend der numerischen und chronologi-schen Reihenfolge der Aufstellung — 20 166 DM,das heißt 14 550,25 DM aus der Forderung Nr. 1 und5615,75 DM aus Nr. 2, zur Aufrechnung gegen dieKlageforderung, die sich aus der Kaufpreisforderungvon 20 145 DM und außergerichtlichen Auslagen von21 DM zusammensetzt, verwandt; der übersteigendeTeil der Abtretungssumme (70711,20DM ./. 20166DM =) 50545,20DM ist Gegenstand der Widerklage.

C. Aufhebung und Zurückverweisung zwecks erneuterVerhandlung an das BerGer.Nach alledem ist das Berufungsurteil insgesamt auf-zuheben.

I . Internationale Zuständigkeit für die durch Prozess-aufrechnung geltend gemachte GegenforderungDie der Klage stattgehende Entscheidung erweist sichnicht deshalb als richtig (§ 563 ZPO), weil die Auf-rechnung mangels internationaler Zuständigkeit derdeutschen Gerichte zur Entscheidung über die Gegen-forderung unzulässig wäre. Zu Recht hat das OLG diein jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prü-fende internationale Zuständigkeit der deutschen Ge-richte für den Fall bejaht, dass man eine solche Zustän-digkeit im gegebenen Fall voraussetzt. Nach der bis-herigen Rechtsprechung des BGH ist für die Entschei-dung über eine im Prozess erklärte Aufrechnung dieinternationale Zuständigkeit der deutschen Gerichteerforderlich, so dass eine Aufrechnung mit bestritte-nen, inkonnexen Gegenforderungen unzulässig ist,mit einer konnexen Gegenforderung aber in entspre-chender Anwendung des § 33 ZPO geltend gemachtwerden kann (vgl. BGH, NJW 1993, 2753 = LM H.10/1993 EGÜbk Nr. 39 unter m.w. Nachw.; Peters,in: MünchKomm-ZPO, 2. Aufl., § 145 Rdnr. 37). Fürden Geltungsbereich des EuGVÜ hat der Senat dieAufrechnung mit bestrittenen, inkonnexen Gegenfor-derungen in entsprechender Anwendung des Art. 6Nr. 3 EuGVU mangels internationaler Zuständigkeitals unzulässig angesehen (BGH, NJW 1993, 2753 =

LM H. 10/1993 EGÜbk Nr. 39 unter III 2b). An die-ser Rechtsprechung kann, soweit es den Anwen-dungsbereich dieses Übereinkommens anbetrifft,nicht mehr uneingeschränkt festgehalten werden. Sieist, wie das BerGer. zu Recht angenommen hat, durchdas Urteil des EuGH vorn 13. 7. 1995 (NJW 1996, 42= EuZW 1995, 639) überholt. Dort hat der EuGH aus-gesprochen, dass Art. 6 Nr. 3 EuGVÜ nur den Falleiner Klage des Bekl. auf gesonderte Verurteilung re-gelt, nach deutschem Rechtsverständnis also für eineWiderklage gilt. Die Vorschrift ist jedoch, wie derEuGH weiter klargestellt hat, nicht für den Fall heran-zuziehen, dass ein Bekl. eine Forderung gegenüberdem Kl. als bloßes Verteidigungsmittel in das Verfah-ren einführt. Die Verteidigungsmittel, die geltend ge-macht werden können, und die Voraussetzungen, un-ter denen dies geschehen kann, bestimmen sich — soführt der EuGH aus — vielmehr nach nationalemRecht.Wie dieser Hinweis auf das nationale Recht zu ver-stehen ist, ist, auch bei Heranziehung der Ausführun-gen des Generalanwalts (vgl. Coester-Waltjen, in:Festschr. f. Lüke, 1997, S. 35 f. [46/47]), umstritten.Teilweise wird die Ansicht vertreten, der EuGH habefür den Fall, dass der Rechtsstreit den Regelungen desEuGVÜ unterliege, das Erfordernis einer internationa-len Zuständigkeit für die Aufrechnung verneint undmit dem Verweis auf das nationale Recht das nationa-le materielle Recht gemeint, oder es wird darüber hin-aus — unabhängig vom Geltungsbereich des EuGVÜ— empfohlen, grundsätzlich auf das Erfordernis einerinternationalen Zuständigkeit für die Gegenforderungzu verzichten (Kannengießer, Die Aufrechnung imint. Privat- und VerfahrensR, 1998, 5. 184f., 217;Roth, RIW 1999, 819; Busse, MDR 2001, 729;Coester-Waltjen, in: Festschr. f. Lüke, 5. 48; offengelassen: Kropholler, Europ. ZivilprozessR, 6. Aufl.,Art. 6 EuGVÜ Rdnrn. 41 f.; vgl. auch Soergel/v.Hoffmann, BGB, 12. Aufl., Art. 32 EGBGB Rdnr.52). Die Gegenmeinung hält weiterhin ohne Ein-schränkung eine internationale Zuständigkeit nachdeutschem internationalem Prozessrecht, auch imGeltungsbereich des EuGVÜ, für erforderlich (Wag-ner, IPRax 1999, 65 [71 f., 76]; Jayme/Kohler, IPRax1995, 349; Geimer, Rdnr. 868 c; Schlosser, EuGVÜ1996, Art. 2 Rdnr. 15; Bülow/Böckstiegel/Auer, Int.Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen 1997, Art.6 Rdnr. 60). Nach dieser Auffassung ist das genannteUrteil des EuGH dahin zu verstehen, dass das EuG-VÜ sich insoweit nur mit der Widerklage befassen,die Regelung der Aufrechnung aber ebenso wie dieje-nige der sonstigen Verteidigungsmittel den nationalenProzessordnungen überlassen will. Die Streitfragebedarf jedoch keiner Entscheidung. Selbst wenn mandie internationale Zuständigkeit der deutschen Ge-richte für die Aufrechnung der Bekl. mit den ihr vonder Firma L abgetretenen Forderungen für erforder-

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lich hält, ist sie jedenfalls deshalb zu bejahen, weil dieVoraussetzungen einer analogen Anwendung des § 33ZPO erfüllt sind. Aus dem Grundgedanken der für dieWiderklage geltenden Vorschrift des § 33 ZPO istherzuleiten, dass eine internationale Zuständigkeit fürdie aufrec hnungsweise geltend gemachte Gegenforde-rung stets dann gegeben ist, wenn der Gegenanspruch— anders als in dem vom Senat entschiedenen Fall(BGH, NJW 1993, 2753 unter III 2b) — mit dem inder Klage geltend gemachten Anspruch oder mit dengegen ihn vorgebrachten Verteidigungsmitteln inZusammenhang steht. Ein solcher Zusammenhangliegt nach herrschender Meinung dann vor, wenn zwi-schen den beiderseitigen Ansprüchen eine rechtlicheVerbindung besteht, wobei dieser Begriff weit auszu-legen ist (BGHZ 53, 166 [1681 = NJW 1970, 707).Dies ist beispielsweise bei Verträgen im Rahmen lau-fender Geschäftsbeziehungen anzunehmen (Patzina,in: MünchKomm-ZPO, § 33 Rdnr. 21; Musielak/Smid, § 33 Rdnr. 2; Busse, MDR 2001, 729 [730];ähnl. Zöller/Vollkommer, ZPO, 22. Aufl., § 33 Rdnr.15). Die Voraussetzungen des § 33 ZPO hat das Ber-Ger. zu Recht bejaht. Die Klageforderung bezieht sichauf die Bezahlung von Apfelsaftkonzentrat, das dieFirma L im Auftrag der Kl. an die Bekl. geliefert hatund dessen Bezahlung die Firma L ihrerseits mit deran die Bekl. abgetretenen Forderungen begehrt. Über-dies standen die Parteien und die Firma L durch ge-genseitige Absprachen über die einzelnen Lieferun-gen und über die Zahlungswege wie bei einem zwei-seitigen Rahmenvertrag — hier ist ein Zusammen-hang i. S. des § 33 ZPO jedenfalls vorhanden (Busse,MDR 2001, 729 [730]) — in laufender geschäftlicherVerbindung. Nach alledem ist die Aufrechnung derBekl. auch dann zulässig, wenn man für die Entschei-dung über die geltend gemachten Gegenforderungeneine internationale Zuständigkeit der deutschen Ge-richte fordert. Auf die Frage, ob sich diese Zuständig-keit auch aus dem Gesichtspunkt des Erfüllungsorts(Art. 5 Nr. 1 EuGVÜ) ergibt und ob, wie die Revisionannimmt, die Abtretung der Kaufpreisforderung auseinem internationalen Kaufvertrag Einfluss auf dieBestimmung des Erfüllungsorts nach Art. 57 CISGhat (vgl. dazu Schlechtriem/Hager, CISG, 3. Aufl.,Art. 57 Rdnr. 8 m.w. Nachw .; Achilles, Komm. z.

UN-KaufR, Art. 57 Rdnr. 4a.E.), kommt es demnachnicht mehr an.

II. Internationale Zuständigkeit für die Widerklage Auch die für die Entscheidung über die Widerklagegern. Art. 6 Nr. 3 EuGVÜ erforderliche internationaleZuständigkeit ist gegeben. Diese setzt voraus, dass dieWiderklage auf denselben Vertrag oder Sachverhaltwie die Klage gestützt wird. Zwar kann insoweit nichtunmittelbar auf die deutsche Rechtsprechung zu § 33ZPO zurückgegriffen werden; denn das EuGVÜ istals internationales Abkommen im Interesse einer ein-heitlichen Anwendung in seinem Geltungsbereichautonom, das heißt aus sich selbst heraus auszulegen.Ob der Begriff des für die Anwendung des Art. 6 Nr.3 EuGVÜ erforderlichen Zusammenhangs enger ein-zugrenzen ist als im Anwendungsbereich des § 33ZPO (vgl. dazu Kropholler, Rdnr. 35; Musielak/Weth,EuGVU Art. 6 Rdnr. 7; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO,22. Aufl., EuGVÜ Art. 6 Nr. 5; für eine weite Aus-legung ausdrücklich Zöller/Geimer, EuGVÜ Art. 6Rdnr. 4; ähnl. Gottwald, in: MünchKommZPO, Art. 6EuGVÜ Rdnr. 16), kann hier dahinstehen. Angesichtsder einem Rahmenvertrag vergleichbaren engenrechtlichen Beziehungen zwischen der Firma L, derKl. und der Bekl. sowie des unmittelbaren wirtschaft-lichen Zusammenhangs sämtlicher den Forderungenzu Grunde liegender Einzellieferungen ist auch dasMerkmal der Konnexität i. S. des Art. 6 Nr. 3 EuGVÜzu bejahen. Sämtlichen von der Bekl. widerklagewei-se geltend gemachten Forderungen liegen Lieferun-gen der Firma L zu Grunde, für die die Bekl. bereitsdas Entgelt an die Kl. geleistet hat.

III. Erfordernis einer Prüfung der Begründetheitdurch das BerGer.Das BerGer. hat — aus seiner Sicht folgerichtig —nicht geprüft, ob die im Wege der Aufrechnung undder Wider-klage geltend gemachten Gegenforderun-gen der Bekl. begründet sind. Der Senat ist insoweitan einer eigenen Entscheidung gehindert, weil es hier-zu weiterer Feststellungen bedarf. Gemäß § 565 IZPO war die Sache daher an das BerGer. zurückzuverweisen.

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Standort: Verbraucherrecht Problem: Verbrauchereigenschaft beim Strohmann

BGH, URTEIL VOM 13.03.2002VIII ZR 292/00 (NJW 2002, 2030) Problemdarstellung:

In diesem Fall hatte sich der BGH mit den Anforde-rungen an den Verbraucherbegriff § 1 I VerbrKrGa.F./ § 13 BGB n.F. auseinander zu setzen. Im Rah-men eines Finanzierungsleasinggeschäfts hat dieBekl. zu 1, die als selbstständige Versicherungsfach-frau arbeitete, einen Schuldbeitritt erklärt, nachdemsie zuvor als Strohfrau das Gewerbe des Leasingneh-mers auf ihren Namen angemeldet hatte. Nunmehrberief sich die Bekl. zu 1 auf die Nichtigkeit ihresSchuldbeitritt nach Verbraucherschutzrecht. Umstrit-ten war in diesem Zusammenhang ihre Person alsVerbraucherin.Der BGH stellt dazu fest, dass das Vorschieben einesStrohmanns im rechtsgeschäftlichen Verkehr nichtzum Schein erfolgt, sondern ernstlich gewollt ist.Denn ansonsten ist der damit angestrebte wirtschaftli-che Zweck nicht oder nicht in rechtlich beständigerWeise erreichbar. Daher sind solche Rechtsgeschäftenach ständiger Rechtsprechung für den Strohmannbindend; dies gilt auch für eine Gewerbeanmeldung.Daher war die Bekl. zu 1 als Gewerbetreibende an-zusehen.Im Übrigen lag in ihrer Person auch kein Fall einerdurch das Verbraucherrecht zu schützenden Existenz-gründung vor, § 1 I VerbrKrG a.F./ § 507 BGB n.F.Dabei schadete nicht die Tatsache, dass sie bereits alsselbstständige Versicherungsfachfrau tätig war, dadiese Tätigkeit mit dem neu angemeldeten Gewerbenicht im Zusammenhang stand und von diesem klarabgrenzbar war. Aber die dem Schuldbeitritt bereitsvorausgehende Gewerbeanmeldung zeigt, dass zumZeitpunkt des Schuldbeitritt das neue Gewerbe bereitsausgeübt wurde. Die Frage, von welchem Zeitpunktan eine gewerbliche oder selbstständige beruflicheTätigkeit „bereits ausgeübt“ ist und damit keineschützenswerte Existenzgründung mehr darstellt, hat-te der BGH noch nicht entschieden. Im Schrifttumwird sie ganz überwiegend dahin beantwortet, dassbereits die Eröffnung eines Geschäftslokals bzw. dasAnbieten der Tätigkeit am Markt ausreicht. Hier wa-ren zwischen Gewerbeanmeldung und Schuldbeitrittmehrere Wochen vergangen.

Prüfungsrelevanz:

Verbraucherschutzrecht gehört zu den examensrele-vantesten Themengebieten im Zivilrecht, sodass vonjedem Kandidaten grundlegende und fundierte Kennt-nisse erwartet werden. Die Anwendung von Verbrau-

cherschutzvorschriften setzt in persönlicher Hinsichtdas Vorliegen eines Verbraucher - Unternehmer -Verhältnis voraus. Der Verbraucherbegriff war früheraufgrund der Zersplitterung des Verbraucherschutz-rechts uneinheitlich und wurde erst mit der Einfüh-rung des § 13 BGB harmonisiert. Verbraucher ist da-nach jede natürliche Person, die das fragliche Rechts-geschäft seinem Inhalt nach nicht gewerblichen oderselbstständig beruflichen Gründen eingeht. Der jewei-lige Zweck des Rechtsgeschäfts ist dem Vertragsin-halt zu entnehmen; er muss nicht ausdrücklich beiVertragsabschluss benannt worden sein; vielmehrreicht es aus, wenn er durch Auslegung ermittelt wird.Geschützt werden damit Rechtsgeschäfte, die aus-schließlich privaten Zwecken (jede Art von Lebens-bedarf), der Veranlagung und -waltung des eigenenVermögens oder der unselbstständigen Berufstätigkeitdienen. Ergibt sich ein Mischfall (z.B. teils berufli-cher, teils privater Zweck des Rechtsgeschäfts) und istdas Rechtsgeschäft nicht logisch teilbar, so ist derüberwiegende Zweck für die Einordnung entschei-dend.

Vertiefungshinweise:“ Zu dieser Thematik: BGH, WM 2000, 429; Graf v.Westphalen, EWiR § 1 VerbrKrG 3/2000, 839

Kursprogramm:“ Examenskurs: “Existenzgründung auf Raten”“ Assessorkurs: “Ehemaklerlohn”

Leitsatz:Ist der Kredit für eine gewerbliche Tätigkeit be-stimmt, die eine natürliche Person als Strohmannfür einen anderen ausübt, ist der Strohmanngrundsätzlich nicht Verbraucher. Sachverhalt: Am 20. 12. 1994/6. 1. 1995 schlossen die später in dieKl. umgewandelte R-Leasing GmbH als Leasinggebe-rin und die D und B-GmbH als Leasingnehmerin ei-nen Leasingvertrag über einen Porsche 911. Zugleichübernahm der Bekl. zu 2, der damalige Geschäftsfüh-rer der Leasingnehmerin, neben dieser die gesamt-schuldnerische Verpflichtung aus dem Vertrag. Alsdie Leas ingnehmerin, die sich inzwischen E & B Dund B-GmbH nannte, notleidend wurde, meldete dieBekl. zu 1, die damalige Lebensgefährtin des Bekl. zu2, auf dessen Veranlassung am 27. 8. 1996 als Gewer-be die „Reinigung, Beschichtung und Sanierung vonDächern und Fassaden (keine Dachdeckerleistungen)“an. Durch “Beitrittserklärung“ vom 16. 10. 1996 tratsie „auf Seiten des o. a. Leasingnehmers als mithaf-

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tender Gesamtschuldner dem o. a. Leasingvertrag mitallen Rechten und Pflichten“ bei. In dem von derBekl. zu 1, dem Bekl. zu 2 für die Leasingnehmerinund einem Vertreter der Kl. unterzeichneten Schrift-stück heißt es unter anderem weiter, dass der„Vertragsbeitretende [...] Besitzer des Leasing-objekts“ sei. Neben der Angabe der Kontoverbindungder Bekl. zu 1 befindet sich der Stempelaufdruck „E-Dach & Fassade“. Dieser Betrieb wurde nicht von derBekl. zu 1 geführt, die sich in einer Selbstauskunftgegenüber der Kl. als „Vers icherungsfachfrau, selbst-s tändig“ bezeichnete, sondern ausschließlich vomBekl. zu 2, der in der Gewerbeanmeldung auch alsvertretungsberechtigte Person benannt war. Ausweis-lich des Fahrzeugbriefs wurde der Pkw am 14. 1.1997 auf die Bekl. zu 1 an deren Wohnort mit demZusatz „E-Dach- u. Fass.“ und am 2. 9. 1997 an ei-nem anderen Ort auf die Bekl. zu 1 ohne Zusatz um-gemeldet. Nach Ablauf des Leasingvertrags fordertedie Kl. die Bekl. zu 1 mit Sc hreiben vom 16. 1. 1998auf, das Fahrzeug zurückzugeben und eine rückständi-ge Leasingrate zu zahlen. Als die Bekl. zu 1 demnicht nachkam, erstattete die Kl. Strafanzeige wegendes Verdachts der Unterschlagung. Die Ermittlungender StA ergaben, dass der Bekl. zu 2, der im Besitzdes Kfz-Briefs war, das Fahrzeug Ende Januar 1998für 80000 DM verkauft hatte. Er wurde deshalb straf-rechtlich wegen Unterschlagung verurteilt. Das Er-mittlungsverfahren gegen die Bekl. zu 1 wurde gem.§ 170 II StPO eingestellt. Im vorliegenden Rechts-streit hat die Kl. die Bekl. als Gesamtschuldner aufZahlung der rückständigen Leasingrate und Leistungvon Schadensersatz wegen Unmöglichkeit der He-rausgabe des Leasingfahrzeugs in Anspruch genom-men. Insgesamt hat sie nach teilweiser Klagerücknah-me zuletzt Zahlung von 76 140,91 DM nebst Zinsenbegehrt.Das LG hat der Klage stattgegeben. Der Bekl. zu 2hat seine hiergegen gerichtete Berufung zurückgenom-men. Auf die Berufung der Bekl. zu 1 hat das OLGdie gegen sie gerichtete Klage abgewiesen. Die Revi-sion führte zur Aufhebung und Zurückverweisung.

Aus den Gründen:

A. Entscheidung und Begründung des BerGer.Das BerGer. hat, soweit in der Revisionsinstanz vonInteresse, im Wesentlichen ausgeführt: Der Kl. stün-den aus dem Beitritt der Bekl. zum Leasingvertragweder Erfüllungs- noch Schadensersatzansprüche zu.Der Beitritt sei gem. § 4 I 1 VerbrKrG formnichtig.Der persönliche Anwendungsbereich des VerbrKrGsei hier gem. dessen § 1 I eröffnet. Ob das Leasing-fahrzeug nach dem Inhalt der Beitrittserklärung füreine gewerbliche Nutzung der Bekl. bestimmt gewe-sen sei, könne dahinstehen. Die Bekl. sei nämlich alsExistenzgründerin anzusehen. In der mündlichen Ver-

handlung habe die Bekl. unwidersprochen vorgetra-gen, die rund sechs Wochen vor ihrem Beitritt zu demLeasingvertrag erfolgte Gewerbeanmeldung aufWunsch des früheren Bekl. zu 2 vorgenommen zuhaben, um diesem nach der Insolvenz seines eigenenUnternehmens, der Leasingnehmerin, die Fortführungseiner Geschäfte einschließlich der Nutzung desLeasingfahrzeugs zu ermöglichen. Sie selbst habe dasUnternehmen nicht betrieben und das Leasingfahr-zeug nicht genutzt. Diese Darstellung werde dadurchbekräftigt, dass der frühere Bekl. zu 2 in der Gewer-beanmeldung als vertretungsberechtigte Person ge-nannt werde. Aus der Selbstauskunft der Bekl. ergebesich nichts anderes. Die Tatsache, dass die Bekl. da-nach möglicherweise bereits selbstständig als Versi-cherungsfachfrau tätig gewesen sei, schließe es nichtaus, sie bei Aufnahme einer damit nicht im Zusam-menhang stehenden neuen gewerblichen oder selbst-ständigen Tätigkeit als Existenzgründerin anzusehen.Auch die Ausnahmevorschrift des § 3 I Nr. 2 VerbrKrG greife nicht ein, da der Kreditbetrag zum Zeitpunktdes Beitritts der Bekl. zu dem Leasingvertrag 100.000DM nicht überstiegen habe. Der sachliche Anwen-dungsbereich des VerbrKrG sei ebenfalls eröffnet,wobei dahingestellt bleiben könne, ob es sich bei derVereinbarung vom 16. 10. 1996 um einen Schuldbei-tritt oder um eine Vertragsübernahme handele. DieVereinbarung genüge nicht der Schriftform des § 4 I 1VerbrKrG i.V. mit § 126 I BGB. Die Bekl. habeunwidersprochen vorgetragen, dass ihre Erklärung derKl. nur per Fax zugegangen sei. Eine Heilung desFormmangels gem. § 6 II VerbrKrG scheide aus, dadiese Vorschrift nach § 3 II Nr. 1 VerbrKrG aufFinanzierungsleasingverträge keine Anwendung fin-de. Die Berufung der Bekl. auf den Formmangel seiauch nicht treuwidrig i. S. des § 242 BGB.

B. Entscheidung des BGH in der RevisionDiese Ausführungen halten der revisionsrechtlichenNachprüfung in einem entscheidenden Punkt nichtstand. Nach den bisher getroffenen Feststellungen hatdas BerGer. den von der Kl. gegen die Bekl. geltendgemachten Erfüllungsanspruch aus § 535 S. 2 BGB(a. F.) auf Zahlung der rückständigen Leasingrate fürNovember 1997 in Höhe von 1958 DM sowie denvon ihr daneben eingeklagten Schadensersatzanspruchaus § 325 I BGB (Fassung 31. 12. 2001) wegen Un-vermögens der Bekl. zur Rückgabe des Leasingfahr-zeugs in Höhe von 74182,91 DM, insgesamt 76140,91 DM, zu Unrecht verneint. Mit Erfolg wendetsich die Revision gegen die Annahme des BerGer.,für den Beitritt der Bekl. vom 16. 10. 1996 auf Seitender E & B D und B-GmbH zu deren Leasingvertragmit der Kl. vom 20. 12. 1994/6. 1. 1995 gelte dasVerbrKrG (in der gem. § 19 VerbrKrG vor dem1.10.2000 geltenden Fassung) seinem persönlichenAnwendungsbereich nach.

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I. Anforderungen an die Verbrauchereigenschaft; Be-handlung von StrohmännernNach § 1I VerbrKrG ist jede natürliche Person Ver-braucher, es sei denn, dass der Kredit nach dem Inhaltdes Vertrags für ihre bereits ausgeübte gewerblicheoder selbstständige berufliche Tätigkeit bestimmt ist.Das BerGer. hat ausdrücklich offen gelassen, ob dasgeleaste Fahrzeug nach dem Inhalt der Beitrittsverein-barung vom 16. 10. 1996 für eine gewerbliche Nut-zung der Bekl. im Rahmen der von ihr angemeldetenFirma E-Dach & Fassade bestimmt war. Daher isthiervon in der Revisionsinstanz zu Gunsten der Kl.auszugehen. Dem steht nicht entgegen, dass die Bekl.nach den auf ihren unwidersprochenen Angaben inder mündlichen Verhandlung beruhenden Feststel-lungen des BerGer. das Unternehmen E-Dach & Fas-sade nicht selbst betrieben, sondern diese Firma le-diglich auf Wunsch des früheren Bekl. zu 2 angemel-det hat, um ihm nach der Insolvenz seines eigenenUnternehmens die Fortführung seiner Geschäfte ein-schließlich der Nutzung des Leasingfahrzeugs zu er-möglichen. Die Bekl. hat das Gewerbe am 27. 8. 1996als eigenes angemeldet und bei einer Gewerbeummel-dung vom 14. 1. 1997, in der sie eine Tätigkeit alsImmobilienmaklerin etc. neu angegeben hat, als „wei-terhin ausgeübt“ bezeichnet. Selbst wenn die Bekl.,wie sie es bei ihrer Anhörung durch das BerGer. auchausgedrückt hat, nur die „Strohfrau“ des früherenBekl. zu 2 gewesen sein sollte, ist nicht ausgeschlos-sen, dass sie das Leasingfahrzeug im Rahmen der vonihr angemeldeten Firma gewerblich genutzt hat unddeswegen in Bezug auf ihren Beitritt zum Leasingver-trag keine Verbraucherin ist. Das Vorschieben einesStrohmanns erfolgt im rechtsgeschäftlichen Verkehrnicht zum Schein. Vielmehr ist das Strohmann-geschäft ernstlich gewollt, weil sonst der damit er-strebte wirtschaftliche Zweck nicht oder nicht inrechtsbeständiger Weise erreicht würde. Daher ist einsolches Geschäft nach ständiger Rechtsprechung desBGH für den Strohmann rechtlich bindend (zuletztz.B. NJW 1995, 727; BGHZ 137,329 [336f.]).Für eine rechtsgeschäftsähnliche Handlung wie hierdie Anmeldung eines Gewerbes durch die Bekl. giltnichts anderes. Diese Anmeldung ist daher rechts-wirksam; hierdurch ist die Bekl. selbst dann Gewer-betreibende geworden, wenn sie lediglich Strohmanndes früheren Bekl. zu 2 gewesen sein sollte, weilsonst der mit der Gewerbeanmeldung verfolgteZweck, dem früheren Bekl. zu 2 nach der Insolvenzseines eigenen Unternehmens die Fortführung seinerGeschäfte einschließlich der Nutzung des Leasing-fahrzeugs zu ermöglichen, nicht rechtsbeständig er-reicht worden wäre. Etwas anderes käme in Bezug aufdie Beitrittsvereinbarung vom 16. 10. 1996 allenfallsdann in Betracht, wenn die Kl. Kenntnis davon gehabthätte, dass die Bekl. lediglich als Strohmann für denfrüheren Bekl. zu 2 aufgetreten ist. Dafür fehlt es je-

doch an Feststellungen des BerGer.

II. Abgrenzung zwischen Existenzgründer und bereitsgewerblich TätigenTrotz der — unterstellten — Bestimmung desLeasingfahrzeugs zur gewerblichen Nutzung durchdie Bekl. im Rahmen ihrer Firma hat das BerGer. denpersönlichen Anwendungsbereich des VerbrKrG be-jaht, weil die Bekl. als Existenzgründerin anzusehensei. Gemeint ist damit, dass der durch die Überlassungdes Leasingfahrzeugs gewährte Kredit nicht für eine„bereits ausgeübte“ Tätigkeit i. S. des § 1 I VerbrKrGbestimmt war, sondern erst für deren Aufnahme i. S.des § 3 I Nr. 2 VerbrKrG (vgl. dazu BGHZ 128, 156[161 f.] = NJW 1995, 722 = LM H. 6/1995 § 1VerbrKrG Nr. 1). Dem kann nicht gefolgt werden.Richtig ist nach den vorstehenden Ausführungenzwar, dass die Bekl. im Hinblick auf das von ihr ange-meldete Gewerbe als Existenzgründerin anzusehenist. Das gilt, wie das BerGer. weiter zutreffend ange-nommen hat, unabhängig davon, ob die Bekl. bereitszuvor als Versicherungsfachfrau selbstständig tätigwar, weil diese Tätigkeit gegebenenfalls mit dem neuangemeldeten Gewerbe nicht im Zusammenhangstand und von diesem klar abgegrenzt war (vgl.BGHZ 128, 156 [162f.] = NJW 1995, 722 = LM H.6/1995 § 1 VerbrKrG Nr. 1; Senat, WM 2000, 429m. w. Nachw.). Die Gewerbeanmeldung vom 27. 8.1996 lag jedoch zum Zeitpunkt der Beitrittsverein-barung vom 16. 10. 1996 schon sieben (nicht nursechs) Wochen zurück. Zu diesem Zeitpunkt übte dieBekl. das von ihr angemeldete Gewerbe entgegen dernicht näher begründeten Ansicht des BerGer. i. S. des§ 1 I VerbrKrG bereits aus.Die Frage, von welchem Zeitpunkt an eine gewerb-liche oder selbstständige berufliche Tätigkeit „bereitsausgeübt“ ist, hat der BGH noch nicht entschieden.Im Schrifttum wird sie ganz überwiegend dahin be-antwortet , dass berei ts die Eröffnung einesGeschäftslokals bzw. das Anbieten der Tätigkeit amMarkt ausreicht (z.B. Staudinger/Kessal-Wulf, BGB,13. Bearb. [2001], § 1 VerbrKrG Rdnr. 40; Ulmer, in:MünchKomm, 3. Aufl., § 1 VerbrKrG Rdnr. 26; Grafv. Westphalen/Emmerich/v. Rottenburg, VerbrKrG,2. Aufl., § 1 Rdnr. 55; wohl auch Bülow, VerbrKrG,4. Aufl., § 1 Rdnr. 42). Diese Frage bedarf hier keinerabschließenden Klärung. Wie bereits erwähnt, hat dasBerGer. auf Grund der eigenen Angaben der Bekl.festgestellt, dass ihre Gewerbeanmeldung dem frühe-ren Bekl. zu 2 die Fortführung seiner Geschäfte nachder Insolvenz seines eigenen Unternehmens ermögli-chen sollte. Danach kann schon allein wegen des Zeit-ablaufs von sieben Wochen seit der Gewerbeanmel-dung kein Zweifel daran bestehen, dass die Bekl. un-ter der Firma E-Dach & Fassade zum Zeitpunkt derBeitrittsvereinbarung die angemeldete Tätigkeit inFortführung der Geschäfte der £ & B D und B-GmbH

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bereits ausübte.

III. Ergebnis der RevisionRechtfertigen die bisher getroffenen Feststellungenmithin nicht die Annahme, dass die Bekl. bei Ab-schluss der Beitrittsvereinbarung vom 16. 10. 1996

Verbraucherin i. S. des § 1 I VerbrKrG war, und fin-det das VerbrKrG daher insoweit keine Anwendung,kommt es nicht darauf an und kann deswegen dahin-gestellt bleiben, ob die Formvorschriften dieses Ge-setzes gewahrt sind.

Standort: AGB-Recht Problem: Anwendbarkeit der Unklarheitenregelung

BGH, URTEIL VOM 22.03.2002V ZR 405/00 (NJW 2002, 2102)

Problemdarstellung:Bei dieser Revisionsentscheidung musste sich derBGH mit den Grenzen der Anwendbarkeit der Un-klarheitenregel für die Auslegung von AGB gem. § 5AGBG a.F./ § 305 c II BGB n.F. beschäftigen.Während das BerGer. die Anwendbarkeit der Unklar-heitenregel auf eine Vertragsstrafenklausel wegenobjektiver Unklarheiten hinsichtlich der Vorausset-zungen für die Vertragsstrafe bejaht hat, sieht derBGH in diesem Fall keinen Raum zur Anwendungvon § 5 AGBG a.F./ § 305 c II BGB n.F. Die Unklar-heitenregel greift nur ein, wenn man mit Mitteln derAuslegung nicht zu einem eindeutigen Ergebniskommt. Ein Auslegung vorgeschaltet ist jedoch diePrüfung, ob die fragliche Klausel von den Parteienübereinstimmend in einem bestimmten Sinn verstan-den worden ist. Ist dies der Fall, so geht dieser über-einstimmende Wille nicht nur der Auslegung einerIndividualabrede, sondern auch der Auslegung vonAGB vor. Das übereinstimmende Verständnis derParteien ist dann entsprechend einer Individualverein-barung zu behandeln, die gem. § 4 AGBG a.F./ § 305b BGB n.F. Vorrang vor den AGB hat. Im Übrigen lag die Anwendungsvoraussetzung einerUnklarheit trotz aller Auslegungsmethoden im kon-kreten Fall nicht vor. § 5 AGBG a.F./ § 305 c II BGBn.F. kommt nur zum Zuge, wenn nach Ausschöpfungaller in Betracht kommender AuslegungsmethodenZweifel mit mindestens zwei vertretbaren Aus-legungsergebnissen verbleibt. Aufgrund des Wort-lauts und des Regelungsziels der Vertragsstrafenklau-sel lässt sich jedoch ein eindeutiges Auslegungsergeb-nis finden, sodass Unklarheiten erst gar nicht aufkom-men. Prüfungsrelevanz:

Die Auslegung von AGB richtet sich grundsätzlichnach den für Rechtsgeschäfte geltenden allgemeinenRegeln, §§ 133, 157 BGB. Aber auch bei Anwendungder §§ 133, 157 BGB können die einseitig festgeleg-ten AGB nicht schematisch mit Individualabredengleichgestellt werden; um der Eigenart von AGBRechnung zu tragen, haben Rechtsprechung und Lite-ratur bestimmte Auslegungsregeln herausgebildet,

von denen das Gesetz in § 5 AGBG a.F./ § 305 c IIBGB n.F. die sog. Unklarheitenregelung übernommenhat.Diese Regel beruht auf dem Gedanken, dass es Sachedes Verwenders ist, sich klar und unmissverständlichauszudrücken. Voraussetzung für ihre Anwendbarkeitist, dass nach Ausschöpfung der in Betracht kommen-den Auslegungsmethoden ein nicht behebbarer Zwei-fel bleibt und mindestens zwei Auslegungsergebnisserechtlich vertretbar sind. Wenn die Klausel aber beiobjektiver Auslegung einen eindeutigen Inhalt auf-weist, ist für die Unklarheitenregelung kein Raum,wie der vorliegende Fall auch zeigt.Liegt eine Unklarheit aufgrund mehrerer möglicherAuslegungsergebnisse vor, so ist die dem anderenTeil günstigste Auslegung gem. § 5 AGBG a.F./ §305 c II BGB zu wählen. Dies kann in doppelter Wei-se erfolgen. Im Verbandsprozess (§ 13 AGBG a.F./UKLG n.F.) Ist die Unklarheitenregel umgekehrt an-zuwenden, d.h. soweit mehrere Auslegungsergebnissebleiben, ist von der Auslegung auszugehen, die zurUnwirksamkeit der Klausel führt. Maßgebend ist da-mit die kundenfeindlichste Auslegung, da sie inWahrheit die günstigere ist. Im Individualprozess istdie Unklarheitenregel auch zunächst umgekehrt an-zuwenden, d.h. es von der kundenfeindlichsten Aus-legung auszugehen, um die Wirksamkeit der Klauselnach den Klauselverboten zu überprüfen. Erweist sichdie Klausel in diesem ersten Auslegungsschritt alswirksam, ist in einem zweiten Auslegungsschritt dieUnklarheitenregel “unmittelbar” anzuwenden, d.h. esgilt die kundenfreundlichste Auslegung.

Vertiefungshinweise:“ Zur Anwendbarkeit der Unklarheitregel des § 5AGBG (§ 305 c BGB n.F.): LAG Hamm, NZA-RR2000, 541; OLG Köln, NJW 1999, 2601; Roth, WM1991, 2085 und 2125

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Leitsatz:§ 5 AGBG kommt nicht zur Anwendung, wenn die

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fragliche Klausel von den Parteien übereinstim-mend in einem bestimmten Sinn verstanden wor-den ist.

Sachverhalt: Mit notariellem Vertrag vom 20. 10. 1992 verkauftedie R-GmbH, gesetzlich vertreten durch dieNamensvorgängerin der Kl., an den Bekl. ein Grund-stück in R. für investive Zwecke. Der Bekl. verpflich-tete sich in dem Vertrag, ein näher bezeichnetes Vor-haben bis zum 31. 12. 1995 fertig zu stellen und „da-bei etwa 3 500 000 DM zu marktüblichen Konditio-nen in den Kaufgegenstand und in den auf dem Kauf-gegenstand geführten Gewerbebetrieb zu investieren“.Für den Fall der nicht fristgerechten Durchführungder versprochenen Maßnahme, bei einem erheblichenAbweichen davon oder im Falle des Widerrufs desInvestitionsvorrangbescheids ist eine Vertragsstrafevon 25% des bei Fristablauf nicht investierten Teilsder geschuldeten Investitionssumme vereinbart. DieKl. ist aus diesem Vertragsstrafenversprechen unmit-telbar berechtigt. Der Vertrag enthält ferner die Klau-sel, dass etwaige im Investitionsvorrangbescheid er-teilte Auflagen oder Bestimmungen, die von den Ver-tragsvereinbarungen abweichen, an deren Stelle tretensollen. Für diesen Fall wurde dem Bekl. einRücktrittsrecht zugebilligt. Am 30. 11. 1993 erließ dieKl. einen Investitionsvorrangbescheid mit der Auf-lage, dass sich der Bekl. verpflichtete,„a) im Falle des Widerrufs des Investitionsvorrang-bescheidsaa) den Vermögensgegenstand zurückzuübertragenundbb) für den Fall der Nichtdurchführung der vertrag-lich zugesagten Investitionen innerhalb der vorgege-benen Frist eine Vertragsstrafe in Höhe von 25% dervertraglich zugesagten und bei Fristablauf noch nichtinvestierten Investitionssumme zu zahlen“.Der Bekl. wurde als Eigentümer des gekauften Grund-s tücks in das Grundbuch eingetragen. In den Kauf-gegenstand investierte er innerhalb der Frist lediglich62 368,50 DM netto (= 71 723,28 DM brutto). DieKl. macht die Vertragsstrafe geltend. Ihrer auf Zah-lung von 859 407,87 DM nebst Zinsen (ausgehendvon der Nettoinvestition des Bekl.) gerichteten Klagehat das LG in Höhe von 857 069,05 DM nebst Zinsen(berechnet nach der Bruttoinvestition des Bekl.) statt-gegeben. Das OLG hat die Klage abgewiesen. DieRevision der Kl. hatte Erfolg.

Aus den Gründen:

A. Entscheidung und Begründung des BerGer.Das BerGer. meint, die Vertragsstrafe sei nach dendurch die Auflagen des Investitionsvorrangbescheidsmodifizierten Vertragsbestimmungen nur dann ver-wirkt, wenn der Bekl. nicht nur die zugesagten In-

vestitionen nicht fristgerecht vorgenommen habe,sondern wenn außerdem der Investitionsvorrangbe-scheid widerrufen worden sei.Dies ergebe sich zwar nicht zwingend aus den Be-stimmungen. Da diese jedoch unklar seien, müssesich die Kl. nach § 5 AGBG diese für den Bekl. güns-tigste Auslegungsmöglichkeit entgegenhalten lassen.Mangels Widerrufs des Investitionsvorrangbescheidssei eine Vertragsstrafe folglich nicht geschuldet.

B. Entscheidung des BGH in der RevisionDiese Ausführungen halten den Angriffen der Revisi-on nicht stand.

I. Annahme von AGB bei VertragsabschlussOhne Erfolg wendet sich die Revision allerdings ge-gen die Annahme des BerGer., bei der Vertragsstra-fenregelung handele es sich um einen Teil Allgemei-ner Geschäftsbedingungen, die die Kl. bzw. die Ver-käuferin dem Vertrag zu Grunde gelegt habe. Hiervondurfte das BerGer. auch ohne ausdrücklichen Vortragdes Bekl. ausgehen, da ihm auf Grund einer Vielzahlvon Verfahren bekannt war, dass die Kl. sich inGrundstückskaufverträgen, die investiven Zweckendienen, zur Sicherung der versprochenen Investitio-nen inhaltlich gleichartiger Vertragsstrafenregelungenbedient. Dies entspricht der Rechtsprechung des Se-nats (NJW 1998, 2600). Zwar mag es vorkommen,dass einzelne Klauseln in solchen Verträgen nichtvorformuliert sind. Dann aber wäre es Sache der Kl.gewesen, darzulegen und im Bestreitensfalle zu be-weisen, dass das bei den hier maßgeblichen Klauselnder Fall ist (BGHZ 83, 54 [58]). Daran fehlt es.

II. Fehlerhafte Anwendung von § 5 AGBGZu Recht rügt die Revision jedoch die Anwendungdes § 5 AGBG.

1. Anwendungsvoraussetzungen für § 5 AGBG: Vor-rang der AuslegungZweifelhaft ist schon, ob überhaupt Raum für eineAuslegung ist, was indes Voraussetzung für die An-wendung der Unklarheitenregelung (§ 5 AGBG) ist.Denn diese Regelung greift nur ein, wenn man mitMitteln der Auslegung nicht zu einem eindeutigenErgebnis gelangt. Einer Auslegung vorgeschaltet istjedoch die Prüfung, ob die fragliche Klausel von denParteien übereinstimmend in einem bestimmten Sinnverstanden worden ist. Ist das der Fall, so geht dieserübereinstimmende Wille nicht nur der Auslegung ei-ner Individualvereinbarung vor, sondern auch derAuslegung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen(BGHZ 113, 251 [259]; BGH, NJW 1995, 1494[1496]). Das Verständnis der Parteien ist dann wieeine Individualvereinbarung zu behandeln, die nach §4 AGBG Vorrang vor Allgemeinen Geschäftsbedin-gungen hat. Hier spricht viel dafür, dass die Parteien

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die Vertragsstrafenregelung übereinstimmend in demSinn verstanden haben, dass sie schon dann eingreift,wenn der Bekl. innerhalb der Frist nicht vertrags-gemäß investierte. Dass zusätzlich der Widerruf desInvestitionsvorrangbescheids ergehen musste, hat vor-prozessual niemand auch nur in Erwägung gezogen.Gestritten wurde vielmehr darum, ob der Bekl. Inves-titionen vorgenommen hat, die den vertraglich ge-schuldeten gleichzustellen sind, und ob eine Befrei-ung von der Vertragsstrafenverpflichtung wegen nichtvoraussehbarer dringender betrieblicher Erfordernisse(§ 9 III des Vertrags) anzunehmen ist.

2. Anwendung auf den konkret vorliegenden Fall:Widerruf des Investitionsvorrangsbescheids keineVoraussetzung für die VertragsstrafeJedenfalls bestehen aber auch keine Zweifel bei derAuslegung, die es rechtfertigen, ein für die Kl. un-günstiges Verständnis der Vertragsstrafenregelung zuGrunde zu legen. Das BerGer. verkennt nicht, dass §5 AGBG nur eingreift, wenn nach Ausschöpfung derin Betracht kommenden Auslegungsmöglichkeiten einnicht behebbarer Zweifel bleibt und mindestens zweiAuslegungen rechtlich vertretbar sind (BGHZ 91, 98;BGH, NJW 1997, 3434 [3435] = LM H. 10/1997 §399 BGB Nr. 36). Zu Unrecht bejaht es diese Voraus-setzungen aber im vorliegenden Fall. Dass die Ver-tragsstrafe nur dann verwirkt ist, wenn neben demAusbleiben der versprochenen Investitionen innerhalbder vereinbarten Frist auch der Investitionsvorrang-bescheid widerrufen worden ist, kann nicht ernsthaftin Betracht gezogen werden.

a. Auslegung am Wortlaut orientiertAllerdings scheint der Wortlaut der Nr. 5 a desInvestitionsvorrangbescheids für diese Deutung zusprechen. Von ihm wäre aber nur auszugehen, wenner an die Stelle der vertraglichen Regelung getretenwäre, die — wie das BerGer. nicht verkennt — denWiderruf des Bescheids nur als alternative Möglich-keit, die Vertragsstrafe zu verlangen, behandelt. Un-abhängig von einem Widerruf wird die Vertragsstrafenach dem Vertrag auch dann fällig, wenn der Bekl.nicht vertragsgemäß investiert hat.Entgegen der Auffassung des BerGer. kann aber nichtangenommen werden, dass der Wortlaut desInvestitionsvorrangbescheids maßgeblich ist. Zwarsieht § 8 Nr. 5 II des notariellen Vertrags vor, dassBestimmungen des Bescheids, die von den vertragli-chen Vereinbarungen abweichen, an deren Stelle tre-ten sollen. Aus dem Gesamtzusammenhang ergibtsich indes, dass hiermit nur solche Bestimmungengemeint sind, die eine für den Bekl. im Verhältniszum Vertrag ungünstigere Regelung enthalten. Dasfolgt daraus, dass eine Änderung des Vertrags durchÜbernahme von Auflagen oder Bestimmungen ausdem Investitionsvorrangbescheid für den Bekl. ein

Rücktrittsrecht begründen sollte. Führt die Vertrags-änderung zu einer Verschlechterung der Situation desBekl., so stellt ein Rücktrittsrecht einen angemesse-nen und nahe liegenden Ausgleich dar. Verbessert dieVertragsänderung hingegen die Stellung des Bekl., sogibt es für eine Rücktrittsmöglichkeit keine Recht-fertigung. Letzteres wäre aber die Folge, legte manden Wortlaut des Investitionsvorrangbescheids zuGrunde und verlangte man neben der Nichterfüllungder Investitionszusage für die Verwirkung der Ver-tragsstrafe auch den Widerruf des Bescheids.

b. Auslegung nach Sinn und ZweckUnabhängig davon lässt aber auch der Wortlaut desInvestitionsvorrangbescheids bei verständiger Würdi-gung nicht die Deutung zu, dass entgegen der vertrag-lichen Regelung der Widerruf des Bescheids keinealternative Möglichkeit für die Verwirkung der Ver-tragsstrafe darstellen sollte, sondern zu der Nichterfül-lung der Investitionspflicht hinzutreten muss. Darinläge nämlich keine vernünftige Regelung, und diesentspräche nicht den Interessen der Parteien. Die Ver-einbarung der Vertragsstrafe dient dem Ziel, derDurchsetzung des Anspruchs auf Vornahme derInvestitionen Nachdruck zu verleihen. Die Verbin-dung von Nichterfüllung dieser Pflicht und Verwir-kung der Strafe ist augenscheinlich. Dass die Strafeauch — alternativ — verwirkt sein sollte, wenn derInvestitionsvorrangbescheid widerrufen wurde, be-deutet inhaltlich nichts wesentlich anderes; denn derWiderruf setzt seinerseits die Nichterfüllung der In-vestitionszusage voraus (§ 15 I 1 Investitionsvorrang-gesetz [InVorG]). Die Alternativität erleichtert aberdie Durchsetzung. Weist die Kl. die Nichterfüllungnach, kann sie die Vertragsstrafe verlangen, ohne denWiderruf abwarten zu müssen; ist widerrufen worden,kann sie die Strafe allein mit Rücksic ht darauf ver-langen, ohne die Nichterfüllung darlegen zu müssen.Eine kumulative Verbindung dieser beiden Vorausset-zungen erschwert demgegenüber die Geltendmachungder Vertragsstrafe, ohne dass dafür ein Grund ersicht-lich ist und obwohl inhaltlich allein entscheidendbleibt, dass die Investitionszusage nicht erfüllt wurde.Angesichts dessen kann nicht angenommen werden,dass mit der Formulierung im Investitionsvorrang-bescheid eine sachliche Anderung gegenüber demVertrag beabsichtigt war. Gemeint war vielmehr das-selbe. Misslungen ist nur die sprachliche Fassung.

III. Ergebnis der RevisionDass der Bekl. die versprochenen Investitionen nur zueinem geringen Teil fristgerecht erbracht hat, so dassdie Vertragsstrafe im Umfang der Nichterfüllung ver-wirkt ist, hat das LG bejaht. Seinen — auch im Übri-gen zutreffenden — Erwägungen liegt eine Vertrags-auslegung zu Grunde, der das BerGer. beigetreten istund die keine Rechtsfehler aufweist. Sie entspricht

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dem Wortlaut und berücksichtigt die Begleitumständeund steht insbesondere - entgegen der in der mündli-chen Verhandlung geäußerten Auffassung der Revi-sionserwiderung — nicht im Widerspruch zu demInvestitionsvorrangbescheid. Der Senat tritt dieserAuslegung bei. Richtig ist auch, dass die Fiktion des §

13 I 3 InVorG, beruhend darauf, dass ein Widerrufdes Bescheids nicht mehr möglich ist, nur den Verlustdes Rückübertragungsanspruchs zur Folge hat, nichtaber auch den der Vertragsstrafe (vgl. Rapp, in: RVI,§ 13 InVorG Rdnrn. 37a, 37b).

IMPRESSUM

HERAUSGEBERIN: JURA INTENSIV VERLAGS-GMBH & CO. KG, Salzstraße 18, 48143 Münster

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Strafrecht

Standort: § 142 StGB Problem: Mutmaßliche Einwilligung in das Sichentfernen

OLG KÖLN, BESCHLUSS VOM 12.03.2002

SS 54/02 (NJW 2002, 2334)

Problemdarstellung:Das OLG Köln hatte über die Strafbarkeit eines An-geklagten zu entscheiden, der mit einem geliehenenLkw zunächst gegen eine Straßenlaterne fuhr und sichdann ohne weiteres vom Unfallort entfernte. Der Ei-gentümer hatte dem Angekl. den Lkw überlassen, ob-wohl er wusste, dass dieser nicht im Besitz einer gül-tigen Fahrerlaubnis ist. Das Amtsgericht hat den An-geklagten wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahr-erlaubnis gem. § 21 I Nr. 1 StVG (s. dazu aktuellauch BGH, NJW 2002, 2330) in Tateinheit mit un-erlaubtem Entfernen vom Unfallort verurteilt. DieVerurteilung nach § 142 I Nr. 2 StGB hält nach An-sicht des Senats jedoch der materiell-rechtlichenNachprüfung nicht stand. Zwar hindere der Umstand,dass lediglich der Lkw und nicht die Straßenlaternebeschädigt worden sei, nicht die Verletzung der War-tepflicht, doch dränge sich das Vorliegen des Recht-fertigungsgrundes der mutmaßlichen Einwilligungauf. Denn da der Eigentümer dem Angeklagten dasFahrzeug in Kenntnis der diesem fehlenden Fahrer-laubnis überließ, musste er im Falle einer polizeili-chen Unfallaufnahme mit Ermittlungen wegen desVerdachts einer Straftat nach § 21 I Nr. 2 StVG rech-nen. Daher liege es nahe, dass der Eigentümer keinInteresse am Verbleib des Angeklagten am Unfallortgehabt, sondern es ihm vielmehr genügt habe, dasssich der Angeklagte später mit ihn in Verbindung set-ze und ihn über seine Beteiligung am Unfall unter-richte. Das OLG Köln hat das Urteil daher aufgeho-ben und die Sache zur erneuten Verhandlung zu-rückverwiesen.

Prüfungsrelevanz:Die Entscheidung betrifft den sprüfungsrelevantenBereich der (mutmaßlichen) Einwilligung in das Sich-entfernen von der Unfallstelle i.S. des § 142 I StGB(vgl. zur Übersicht Lackner/Kühl, StGB, § 142, Rn.33 ff.). Die Voraussetzungen einer wirksamen Einwil-ligung hängen zunächst von der umstrittenen Frageab, wie der - tatsächliche oder mutmaßliche – Ver-zicht der Unfallbeteiligten und Geschädigten auf Fest-stellungen dogmatisch einzuordnen ist: Während einein der Literatur verbreitete Auffassung meint, aus demSchutzzweck des § 142 StGB folge, dass der Verzicht

bereits tatbestandsausschließend wirkt, mithin einEinverständnis darstellt (so z.B. Bernsmann, NZV1989, 51; Tröndle/Fischer, StGB, § 142, Rn. 15/17),geht die überwiegende Ansicht von einer rechtferti-genden Einwilligung aus, da ein Verzicht nicht dasBestehen, sondern nur die Durchsetzung des in § 142StGB geschützten Beweissicherungsinteresses betrifft(so etwa Schönke/Schröder/Cramer, StGB, 25. Aufla-ge, § 142, Rn. 71; Lackner/Kühl, StGB, § 142, Rn.33; SK-Rudolphi, StGB, § 142, Rn. 20 jeweilsm.w.N.). Nach der herrschenden Meinung, der auchdas OLG Köln folgt, gelten somit die allgemeinenRegeln zur Zulässigkeit von tatsächlicher und mut-maßlicher Einwilligung. Das ist insbesondere auch fürIrrtumsfälle von Bedeutung: Nimmt der Täter irrig dietatsächlichen Voraussetzungen eines Verzichts aufFeststellungen an, handelt es sich nach der erst-genannten Meinung um einen Tatbestandsirrtum nach§ 16 I 1 StGB, wohingegen die herrschende Meinungvon einem Erlaubnistatbestandsirrtum auszugehen hat(s. Schönke/Schröder/Cramer, StGB, 25. Auflage, §142, Rn. 78 m.w.N.). Die Grenzen der mutmaßlichen Einwilligung sindnach überwiegender Ansicht eher eng zu ziehen. Siekommt in Betracht, wenn nach den Umständen ver-mutet werden kann, dass der – nicht am Unfallort an-wesende Betroffene – keinen Wert auf Feststellungenlegt. Das wird in der Regel angenommen, wenn derGeschädigte ein naher Angehöriger, Bekannter, Nach-bar oder Arbeitgeber des Schädigers ist. Danebenkann die mutmaßliche Einwilligung auch dahin ge-hen, dass der Geschädigte sich mit bestimmten Artender Feststellung begnügt. So kann etwa gerechtfertigtsein, wer bei einem geringen Schaden lediglich seineAnschrift und seinen Namen hinterlässt. Das OLGKöln bestätigt mit der vorliegenden Entscheidung dieinsoweit überwiegende Ansicht, wonach der Geschä-digte mutmaßlich auch damit einverstanden seinkann, dass der Schädiger sich erst später mit ihm inVerbindung setzt und seine Unfallbeteiligung offenlegt.

Vertiefungshinweise:“ Allgemein zur mutmaßlichen Einwilligung: BGHSt35, 246 m. Anm. Müller-Dietz, JuS 1989, 280 undHoyer, StV 1989, 245; Lange/Ludwig, JuS 2000 446“ Zur mutmaßlichen Einwilligung in das Sichentfer-nen von der Unfallstelle: OLG Zweibrücken, DAR

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STRAFRECHT RA 2002, HEFT 8

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1982, 332; BayObLG, JZ 1983, 268; NZV 1992, 413;OLG Düsseldorf , NZV 1992, 246; Küper, JZ 1981,209; Bernsmann, NZV 1989, 49“ Einverständnis des Geschädigten mit späterer Kon-taktaufnahme des Schädigers: BayObLG, NZV 1992,413; OLG Düsseldorf , NZV 1992, 246

Kursprogramm:“ Examenkurs: „Fernfahrer“

Leitsatz:Hat der an der Unfallstelle nicht anwesende(Allein-)Geschädigte sein Fahrzeug dem Angeklag-ten in Kenntnis des Umstandes überlassen, dassder Angeklagte über keine Fahrerlaubnis verfügt,kann das (ohne Einhaltung der Wartezeit) Sich-entfernen des Angeklagten von der Unfallstelle dasTatgericht dazu drängen, den Rechtfertigungs-grund der mutmaßlichen Einwilligung zu erörtern.

Sachverhalt:Der Angeklagte fuhr mit dem Lkw des Zeugen K al-lein kurz vor 18 Uhr von J. aus in Richtung A.. In A.geriet der Angeklagte infolge von Unachtsamkeitbeim Einbiegen in die U.-Straße gegen den – aus sei-ner Fahrbahnrichtung gesehen – am rechten Straßen-rand befindlichen Straßenlaternenmast und fuhr mitdem rechten vorderen Kotflügel gegen diesen Later-nenmast. Sodann setzte der Angeklagte mit dem vonihm geführten Lkw ein kurzes Stück zurück, fuhr eiligwieder an und stieß erneut infolge Unachtsamkeit mitdem rechten vorderen Kotflügel gegen diesen Later-nenmast. Hierdurch entstand Sachschaden an demdem Zeugen K gehörenden Lkw in Höhe von minde-stens 1.000 DM, nicht hingegen an der Straßenlater-ne. Der Angeklagte fuhr schnell wieder an und mithoher Geschwindigkeit durch die U-Straße vorbei andem Zeugen P. Der Zeuge K hatte dem Angeklagtenden Lkw in Kenntnis des Umstandes überlassen, dassder Angeklagte über keine Fahrerlaubnis verfügt. DasAG hat den Angeklagten wegen vorsätzlichen Fah-rens ohne Fahrerlaubnis sowie wegen unerlaubtenEntfernens vom Unfallort in Tateinheit mit vorsätzli-chem Fahren ohne Fahrerlaubnis verurteilt. Die Revi-sion war erfolgreich.

Aus den Gründen:Die Verurteilung wegen unerlaubten Entfernens vomUnfallort hält materiell-rechtlicher Nachprüfung nichtstand.

I. Zur Tatbestandsmäßigkeit des VerhaltensNach den (bisherigen) Feststellungen durfte das LGallerdings davon ausgehen, dass der Angekl. den Tat-bestand des § 142 I Nr. 2 StGB verwirklicht hat. IhreÜberzeugung von der Täterschaft des Angekl. hat dieStrK rechtsfehlerfrei begründet. Ebenfalls zutreffendhat die StrK angenommen, dass der Angekl. der War-tepflicht des § 142 I StGB unterlag, obwohl nur dasvon benutzte Fahrzeug des Zeugen K beschädigt wor-den war und ein Eintreffen des Eigentümers an derUnfallstelle nicht zu erwarten war. Denn die Warte-pflicht besteht, sofern mit dem Eintreffen on Ver-kehrsteilnehmern oder Polizeibeamten zu rechnen ist,die zu Feststellungen über die Unfallbeteiligung be-reit sind (BGH; VRS 42, 97). Nach den Gesamtum-ständen durfte das LG davon ausgehen, dass mit sol-chen Personen zu rechnen war.

II. Zur Rechtfertigung durch mutmaßliche Einwilli-gungDie Feststellungen im Berufungsurteil zum Schuld-spruch wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallortsind aber insoweit in revisionsrechtlich bedeutsamerWeise materiell-rechtlich unvollständig, als sich ihnennichts zu dem nahe liegenden Rechtfertigungsgrundder mutmaßlichen Einwilligung entnehmen lässt. Einsolcher Rechtfertigungsgrund ist dann gegeben, wennauf Grund der näheren Umstände des Einzelfalls –insbesondere der Art der persönlichen Beziehungen,des Umfangs des Schadens und der Haftungslage –eine sachgerechte Interessenabwägung ergibt, dassder an der Unfallstelle nicht anwesende (Allein-)Ge-schädigte kein Interesse an einem Verbleiben des Un-fallverursachers an der Unfallstelle hat, es ihm viel-mehr genügt, wenn dieser sich anschließend mit ihmin Verbindung setzt und ihn über seine Beteiligungam Unfall unterrichtet (BayObLG, NZV 1992, 413[414] m. zahlr. Nachw.; Himmelreich/Bücken, Ver-kehrsunfallflucht, 3. Aufl., Rdnr. 238 m. Nachw.;Hentschel, StVR, 36. Aufl., StGB, § 142 Rdnr. 51 m.Nachw.). Hier drängte sich eine dahingehende Erörte-rung jedenfalls deshalb auf, weil - nach den bisheri-gen Feststellungen - der Zeuge K sein Fahrzeug demAngekl. in Kenntnis dessen überlassen hat, dass derAngekl. über keine Fahrerlaubnis verfügte. Im Falleder Unfallaufnahme durch die Polizei musste der Zeu-ge K nämlich mit Ermittlungen wegen des Verdachtseiner Straftat nach § 32 I Nr. 2 StVG rechnen.

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Standort: § 261 StPO Problem: Beweiswürdigung bei Teilschweigen des Angeklagten

BGH, URTEIL VOM 18.04.20023 STR 370/01 (NJW 2002, 2260)

Problemdarstellung:

Der Angeklagte hatte seine Geliebte getötet, da diesesich einem anderen Mann zugewandt hatte. Er stelltesich später der Polizei und teilte mit, es „gehe umMord“, er habe seine Geliebte „mit den Händen getö-tet“. In der Hauptverhandlung hat er dann erklärt, erhabe das Opfer auf dessen Verlangen getötet. SeineGeliebte sei zwischen ihm und dem anderen Mann sohin- und hergerissen gewesen, dass sie den Tod ge-wünscht habe. Die Strafkammer wertete dies alsSchutzbehauptung und stützt sich insbesondere da-rauf, dass der Angeklagte bei seiner polizeilichenVernehmung nichts von einem Tötungsverlangen be-richtet habe, obwohl dies nahegelegen hätte, um dieTat milder erscheinen zu lassen.Die Revision des Angeklagten hat mit der SachrügeErfolg. Der Senat ist der Ansicht, dass das Verhaltendes Angeklagten bei der polizeilichen Vernehmungnicht den Schluss auf die vom Landgericht getroffeneFeststellung zulässt. Zwar dürften grundsätzlich auseinem partiellen Schweigen des Angeklagten für ihnnachteilige Schlüsse gezogen werden, doch gelte diesnur dann, wenn nach den Umständen Äußerungen zudiesem Punkt zu erwarten gewesen wären, anderemögliche Ursachen des Verschweigens ausgeschlos-sen werden können und die gemachten Angaben nichtersichtlich fragmentarischer Natur sind. Da der Ange-klagte bei der Polizei ersichtlich keine umfassendeSchilderung des Tathergangs abgeliefert habe, seiennachteilige Schlüsse insoweit unzulässig. Da das Ur-teil auch keine weitergehenden Feststellungen ent-hielt, die den Schluss aus dem Aussageverhalten er-lauben, hob der BGH den Schuldspruch auf.

Prüfungsrelevanz:Die Entscheidung betrifft das insbesondere für Refe-rendare relevante Problem der Beweiswürdigung beisog. Teilschweigen des Angeklagten (vgl. zur Über-sicht Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, § 261, Rn.16 f.). Die heute ganz herrschende Meinung geht imGrundsatz davon aus, dass dann, wenn der Beschul-digte jede Aussage verweigert oder sich auf das Be-streiten seiner Täterschaft beschränkt, sein Schweigender Beweiswürdigung gänzlich entzogen ist. Selbstwenn es unwahrscheinlich ist, dass ein völlig Un-schuldiger schweigt, darf das Gericht nicht denSchluss ziehen, der Angeklagte hätte nicht geschwie-gen, wenn er die Tat nicht begangen hätte. DasSchweigen darf auch bei der Strafzumessung nicht

nachteilig berücksic htigt werden (s. BGH, StV 1992,555). Denn anderenfalls würde der Angeklagte in sei-nem „Recht auf Schweigen“ beeinträchtigt. Es giltinsoweit der Grundsatz, dass niemand verpflichtet ist,an seiner eigenen Überführung aktiv mitzuwirken (ne-mo tenetur-Prinzip), so dass der Angeklagte die freieWahl hat, ob er sich zur Beschuldigung äußern odernicht zur Sache aussagen möchte.Demgegenüber kann nach ständiger Rechtsprechungein partielles Schweigen im Vor- oder Hauptverfahrenvon indizieller Bedeutung sein. Sagt der Beschuldigtezu einem bestimmten, einheitlichen Geschehen ausund erklärt er sich lediglich zu einzelnen Punktennicht, macht er sich damit „in freiem Entschluss selbstzu einem Beweismittel und unterstellt sich damit derfreien Beweiswürdigung“ (BGHSt 20, 298, 300; 32,140; a. A. etwa Kühl, JuS 1986, 120). Dieses Teil-schweigen bildet dann einen negativen Bestandteil derAussage, die so insgesamt der freien richterlichen Be-weiswürdigung unterliegt (vgl. BGH, NStZ 2000, 495m.w.N.). Nachteilige Schlüsse sind nach der vorlie-genden Entscheidung des BGH jedoch nur dann zu-lässig, wenn nach den Umständen Angaben zu dembestimmten verschwiegenen Punkt zu erwarten gewe-sen wären, andere mögliche Ursachen des Verschwei-gens ausgeschlossen werden können und die gemach-ten Angaben ersichtlich nicht fragmentarischer Natursind.Wird bei der Beweiswürdigung aus dem Teilschwei-gen oder dem sonstigen Prozessverhalten (s. dazu et-wa BGH, NStZ 1994, 24) des Angeklagten ein un-zulässiger Schluss gezogen, so entsteht ein Beweis-verbot. Die Beweiswürdigung ist dann revisibel undmit der Sachrüge anzugreifen (s. BGH, NStZ 2000,269/483; Dahs/Dahs, Die Revision im Strafprozess,Rn. 423 ff.).

Vertiefungshinweise:“ Zur Beweiswürdigung bei sog. Teilschweigen:BGHSt 20, 298; 32, 140 m. Anm. Volk , NStZ 1984,377 und Kühl, JuS 1986, 115; BGH, NStZ 2000, 483m. Anm. Aselmann, JR 2001, 79; OLG Düsseldorf ,NStZ 2001, 260; Schneider, Jura 1990, 572.

Kursprogramm:“ Assessorkurs: “Berger”

Leitsatz: Macht ein Angeklagter Angaben zur Sache, wobeier einen bestimmten Punkt eines einheitlichen Ge-schehens von sich aus verschweigt, dürfen darausfür ihn nachteilige Schlüsse gezogen werden. Die

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Schlussfolgerung ist jedoch nur dann berechtigt,wenn nach den Umständen Äußerungen zu diesemPunkt zu erwarten gewesen wären, andere mögli-che Ursachen des Verschweigens ausgeschlossenwerden können und die gemachten Angaben nichtersichtlich fragmentarischer Natur sind.

Sachverhalt: Nach den Feststellungen hatte sich M., das spätereTatopfer, die ebenso wie der Angeklagte marokka-nischer Herkunft war, nach einer intensiven mehr-monatigen Liebesbeziehung zum Angeklagten in derHoffnung auf eine Existenzgrundlage in der Bundes-republik Deutschland einem deutschen Mann zuge-wandt, der ihr die Heirat versprochen hatte. Der An-geklagte hatte zwar die Aussichtslosigkeit seiner Lie-be zu dieser Frau erkannt, wollte ihre Entscheidungaber nicht akzeptieren, zumal sie ein Kind von ihmerwartete. Er besuchte sie immer noch fast täglich.Am Abend des 8. 1. 2000 fasste der Angeklagte imSchlafzimmer der M. aus Verzweiflung den Ent-schluss, sich umzubringen und sie mit in den Tod zunehmen. Als beide auf dem Bett lagen, begann derAngeklagte, sie kraftvoll zu würgen, und erdrosseltesie schließlich mit einem Ledergürtel. In den Folgeta-gen versuchte der Angeklagte, sich auf unterschiedli-che Weise das Leben zu nehmen, was ihm jedochmisslang. Am 10. 1. 2000 stellte er sich der Polizei. Der Angeklagte hat in der Hauptverhandlung erklärt,er habe M. auf ihr Verlangen getötet; sie habe dieTötung verlangt, weil sie zerrissen gewesen sei zwi-schen der Liebe zu ihm und der mit der bevorstehen-den Eheschließung verbundenen Hoffnung auf einsorgenfreies Leben mit dem anderen Mann. Die Straf-kammer hält diese Einlassung für eine Schutzbehaup-tung und stützt sich dabei unter anderem auch auf dasArgument, der Angeklagte habe von einem Tötungs-verlangen des Opfers "bei seiner Festnahme und beiseiner polizeilichen Vernehmung nichts berichtet. BeiVorliegen eines Tötungsverlangens hätte es nämlichnahegelegen, die vom Angeklagten verübte Tat durchumgehenden Hinweis darauf in einem strafrechtlichmilderen Licht erscheinen zu lassen". Das LG hat den Angeklagten wegen Totschlags inTateinheit mit Schwangerschaftsabbruch zu einerFreiheitsstrafe von 13 Jahren verurteilt. Die hiergegengerichtete Revision des Angeklagten hat bereits mitder Sachrüge Erfolg, eines Eingehens auf die Verfah-rensrügen bedarf es daher nicht.

Aus den Gründen:Die Erwägungen des LG halten rechtlicher Nachprü-fung nicht stand.

I. Würdigung des Teilschweigens des AngeklagtenSoweit die Strafkammer auf die Angaben des Ange-klagten bei seiner Festnahme am 10. 1. 2000 abstellt,

ist den Urteilsgründen zum äußeren Hergang zu ent-nehmen: Der Angeklagte hat von sich aus das Polizei-revier aufgesucht und mit der Bemerkung, es gehe umMord, nach dem Behördenleiter verlangt. Auf Nach-frage einer Polizeibeamtin äußerte er, dass er seineFreundin getötet und es "mit den Händen getan" habe.Dieser Geschehensablauf vermag den Schluss, dass esein Tötungsverlangen nicht gegeben habe, weil sichder Angeklagte nicht darauf berufen habe, nicht zutragen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH kann eszwar von indizieller Bedeutung sein, wenn ein Ange-klagter zu einem bestimmten, einheitlichen Gesche-hen Angaben macht und insoweit lediglich die Beant-wortung bestimmter Fragen unterlässt (sog. Teil-schweigen, vgl. BGHSt 45, 367, 369 f. m.w. Nachw.).Das Schweigen bildet dann einen negativen Bestand-teil seiner Aussage, die in ihrer Gesamtheit der freienrichterlichen Beweiswürdigung nach § 261 StPO un-terliegt (vgl. BGH NStZ 2000, 494, 495 m.w.Nachw.). Entsprechendes kann gelten, wenn er nichtdie Beantwortung an ihn gestellter Fragen verweigert,sondern zu einem Geschehen von sich aus nur lücken-hafte Angaben macht (vgl. Gollwitzer in Löwe-Ro-senberg, StPO 25. Aufl. § 261 Rdnr. 78). Auch danndürfen grundsätzlich für ihn nachteilige Schlüsse da-raus gezogen werden, dass er einen bestimmten Punkteines einheitlichen Geschehens von sich aus ver-schweigt. Die Schlussfolgerung ist jedoch nur dannberechtigt, wenn nach den Umständen Angaben zudiesem Punkt zu erwarten gewesen wären (vgl. Goll-witzer aaO; Schlüchter in SK-StPO, 13. ErgLfg § 261Rdnr. 39), andere mögliche Ursachen des Verschwei-gens ausgeschlossen werden können und die gemach-ten Angaben nicht ersichtlich fragmentarischer Natursind. Hier ging es dem Angeklagten nach den geschildertenUmständen nicht um eine vollständige Darstellungdes Tatablaufs und seiner Hintergründe, sondern le-diglich darum, erst einmal an den zuständigen Polizei-beamten weitergeleitet zu werden. Dies ergibt sichaus der Erklärung, "es gehe um Mord", und der Fragenach dem Behördenleiter; es lag nahe, dass es sich beiden gegen 22 Uhr auf einem Polizeirevier anwesen-den Beamten nicht um Sachbearbeiter für Tötungs-delikte handelte. Auch die auf Nachfrage einer Beam-tin nachgeschobene Erklärung, er habe seine Freundingetötet, er habe es mit den Händen getan, dienten nurder Bekräftigung seines Verlangens und stellten er-sichtlich keine umfassende Schilderung dar.

II. Zu den UrteilsfeststellungenSoweit das LG aus den Äußerungen des Angeklagtenbei seinen polizeilichen Vernehmungen Schlüsse ge-gen das behauptete Tötungsverlangen zieht, lässt dasUrteil die Mitteilung der den Schluss tragenden Tatsa-chen vermissen, so dass die Beweiswürdigung hierzu

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lückenhaft ist. Denn für den Ablauf und den Inhaltder polizeilichen Vernehmungen des Angeklagten am11. 1. 2000 ist den Urteilsgründen nichts zu entneh-men. Nach § 267 I Satz 2 StPO müssen die Tatsachenangegeben werden, aus denen auf die tatbestandsrele-vanten Umstände gefolgert wird. Ohne diese Angabeder Tatsachen ist eine revisionsrechtliche Nachprü-fung nicht möglich, ob der vom LG gezogene Schlussauf einer tragfähigen Grundlage beruht. Wenn sichhier etwa auch bei den polizeilichen Vernehmungendie Aussagen des Angeklagten in wenigen fragmenta-rischen Angaben erschöpft haben sollten, wie dies inder Verfahrensrüge des Bf. vorgetragen wird, würdendiese ebenso wenig wie die unter I. genannten Erklä-rungen am Vortag auf dem Polizeirevier die vom LGgezogenen Schlüsse erlauben. Der Hergang der Er-mittlungen und insbesondere der Inhalt der früherenAngaben eines Angeklagten oder Zeugen müssenzwar grundsätzlich in den Urteilsgründen nicht doku-mentiert werden. Solche Darstellungen erweisen sich,wenn sie für die Beweiswürdigung nicht von Bedeu-tung sind, als überflüssig und, worauf der BGH schonmehrfach hingewiesen hat, als vermeidbare Quellevon Rechtsfehlern (BGH NStZ-RR 1999, 272). Wirdaber wie hier aus dem Aussageverhalten ein bestimm-ter Schluss gezogen, so ist dieses in der Weise dar-zustellen, dass die Berechtigung dieser Folgerungnachvollziehbar ist.

III. Entscheidung des Senats und Segelhinweise

1. EntscheidungDie Rechtsfehler führen zur Aufhebung des Schuld-spruchs. Die übrigen von der Strafkammer gegen dieEinlassung des Angeklagten angeführten Indiziensind nicht so gewichtig, dass ausgeschlossen werdenkann, dass das Urteil auf den unzulässigen Erwägun-gen beruht. Bei dieser Sachlage braucht der Senat nicht abschlie-ßend dazu Stellung nehmen, ob die Beweiswürdigung

des LG auch im übrigen Lücken aufweist und recht-lichen Bedenken begegnet.

2. HinweiseEr weist jedoch für die neue Hauptverhandlung auffolgendes hin: Nach den Feststellungen hat der nach der Tat zumSelbstmord entschlossene Angeklagte am Abend des10. 1. 2000 von seiner Tante, der Zeugin Me., Ab-schied nehmen wollen und ihr von der Tat und seinerLage berichtet; erst der von der Tante verständigtenSchwester in Schweden, der Zeugin R., ist es nacheinem langen Telefonat mit dem Angeklagten gelun-gen, diesen von seinen Selbsttötungsabsichten abzu-bringen und dazu zu bewegen, sich der Polizei zustellen. Es liegt nicht fern, dass der Inhalt der Gesprä-che, den das LG nicht mitgeteilt hat, für die Beurtei-lung der Tatmotive des Angeklagten von Bedeutungsein könnte und aufgeklärt werden sollte. In die Bewertung der Art und Intensität der Bezie-hung des Angeklagten zum Tatopfer wird auch die imangefochtenen Urteil nicht gewürdigte Aussage desVermieters J. einzubeziehen sein. Darüber hinaus wird sich die neue Strafkammer - ge-gebenenfalls sachverständig beraten - näher mit derFrage auseinander setzen müssen, ob die Blutanhaf-tungen am Bettlaken im Hinblick auf Lage und Aus-maß Rückschlüsse darauf zulassen, ob die Schnitte anden Handgelenken des Opfers zu Lebzeiten gesetztworden sind. Dabei wird sie in Rechnung zu stellenhaben, ob relevante Mengen des Blutes vom Ange-klagten stammen können, wenn seine Verletzungenan den Handgelenken keine Blutgefäße eröffnet ha-ben, und inwieweit der Todeseintritt den Blutaustrittbeeinflusst hat, ob also auch nach Eintritt des Todesnoch große Mengen Blut austreten konnten. Insoweitwird auf die Ausführungen in der Revisionsbegrün-dung des Verteidigers Rechtsanwalt Prof. Dr. W. hin-gewiesen.

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Standort: § 240 StGB Problem: Nötigung durch Blockieren eines Fahrzeugs

BGH, BESCHLUSS VOM 23.04.2002

1 STR 100/02 (NSTZ-RR 2002, 236)

Problemdarstellung:

Der BGH hatte sich in der nachstehenden Entschei-dung zum wiederholten Male mit der Frage der Nöti-gung durch „menschliche Blockaden“ zu befassen.Der Angeklagte hatte die Zeugin zunächst an derWeiterfahrt gehindert, indem er sich mit ausgebreite-ten Armen vor ihr Fahrzeug stellte. Danach legte ersich mit seinem ganzen Körper auf die Motorhaube,um auf diese Weise die Weiterfahrt zu verhindern.Neben anderen Delikten hatte das Landgericht denAngeklagten auch wegen Nötigung verurteilt. DerBGH bestätigt im Ergebnis die Verurteilung, stelltaber klar, dass nötigende Gewalt nicht schon durchdas Versperren der Fahrbahn, sondern lediglich durchdas Legen auf die Motorhaube verwirklicht wordenist. Die nach der neueren Rechtsprechung des BVerfGerforderliche körperliche Kraftentfaltung und körper-liche Zwangwirkung seien nicht beim bloßen Ver-sperren der Fahrbahn gegeben. Dadurch, dass der An-geklagte sich auf die Motorhaube gelegt habe, habe erdagegen unter Einsatz seines Körpers auch ein physi-sches Hindernis geschaffen.

Prüfungsrelevanz:

Die Entscheidung betrifft das examensrelevante Pro-blem der nötigenden Gewalt, insbesondere im Zusam-menhang mit Blockadeaktionen. Nachdem dasBVerfG in seiner zweiten Sitzblockadenentscheidung(BVerfGE 92, 1 ff.) die frühere Rechtsprechung desBGH zum sog. vergeistigten Gewaltbegriff wegenVerstoßes gegen Art. 103 II GG als verfassungswidriggerügt hat, ist in Rechtsprechung und Literatur um-stritten, wie das Merkmal der Gewalt in § 240 I StGBim einzelnen auszulegen ist. Das BVerfG hatte in sei-ner Entscheidung ausgeführt, dass keine Gewalt i.S.des § 240 I StGB vorliegt, wenn die Handlung desTäters lediglich in seiner körperlichen Anwesenheitbesteht und die Zwangswirkung auf den Betroffenennur psychischer Natur ist (BVerfGE 92, 16 ff.). DerBGH ist in seiner Folgerechtsprechung davon ausge-gangen, dass nötigende Gewalt somit grundsätzlichein gewisses Maß an körperlicher Kraftentfaltung undeine – wenn auch psychisch vermittelte – physischeZwangswirkung erfordert. Bedeutsam ist insofern vorallem die sog. Zweite-Reihe-Rechtsprechung, nachder bei Sitzblockaden u.ä. regelmäßig nicht schon fürdie zuerst zum Anhalten gezwungen Autofahrer, wohlaber für die später hinzukommenden ein körperlichesHindernis geschaffen wird (vgl. BGH, NJW 1995,2643; s. auch NJW 1996, 203). Dementsprechend hatder Senat in der vorliegenden Entscheidung das Ver-

sperren der Fahrbahn und das Anhalten des einzigherannahenden Fahrzeugs für straflos erklärt.Zum Teil wird die Rechtsprechung des BVerfG aberauch dahingehend interpretiert, dass aus der o.g. ne-gativen Formulierung lediglich zu folgern sei, dassfür nötigende Gewalt entweder eine körperlicheKraftentfaltung (auch bei nur psychischer Zwangs-wirkung) oder eine körperliche Zwangswirkung (beifehlender körperlicher Kraftentfaltung) ausreichendsei (s. OLG Naumburg, NStZ 1998, 623).Mit der vorliegenden Entscheidung hält der BGH for-mal daran fest, dass körperliche Kraftentfaltung aufTäterseite und körperliche Zwangswirkung auf Opfer-seite kumulativ gegeben sein müssen. Wenn das Ge-richt allerdings annimmt, dass das Legen auf die Mo-torhaube „auch ein physisches Hindernis schafft“,weicht es offenbar von seiner bisherigen Rechtspre-chung ab. Denn in der grundlegenden EntscheidungBGH, NJW 1995, 2643 hatte der BGH noch gefor-dert, dass der Einfluss auf die Opfer „dergestalt physi-scher Art ist, dass die beabsichtige Fortbewegungdurch tatsächlich nicht überwindbare Hindernisse un-terbunden wird.“ Der Sache nach liegt der Senat mitder vorliegenden Entscheidung auf der Linie der An-sicht, die für das Vorliegen von nötigender Gewaltlediglich das alternative Vorliegen einer der beidenGewaltkomponenten fordert (s. OLG Naumburg,NStZ 1998, 623).So erklärt sich auch, dass der BGH zwar in dem Le-gen auf die Motorhaube, nicht aber in dem In-den-Weg-Stellen Gewalt sieht. Es bleibt abzuwarten, ob essich vorliegend lediglich um eine Einzelfallentschei-dung oder eine grundsätzliche Rechtsprechungsände-rung handelt.

Vertiefungshinweise:“ Zur nötigenden Gewalt: BVerfGE 92, 1 m. Anm.Altvater, NStZ 1995, 278; Krey, JR 1995, 221/265;Herzberg, GA 1996, 537; BGH, NJW 1995, 2643 m.Anm. Hoyer, JuS 1996, 200; Tolksdorf , DAR 1996,170; Hruschka, NJW 1996, 160“ Zu Blockadeversammlungen aus öffentlich-recht-licher Sicht: BVerfG, RA 2002, 1 ff.

Kursprogramm:“ Examenkurs: „Verkehrsblockade“

Leitsätze (der Redaktion):1. Stellt sich jemand auf die Straße und zwingt so –ohne Gefährdung anderer (vgl. § 315 b I Nr. 2StGB) – den ersten herannahenden Autofahrerzum Anhalten, so ist dies nicht als Nötigung straf-bar, da die Handlung dann lediglich in der körper-lichen Anwesenheit besteht und die Zwangswir-

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kung auf den Fahrer nur psychischer Natur ist.2. Legt sich der Anhaltende hingegen zum Zweckder Verhinderung einer Weiterfahrt mit seinemKörper auf die Motorhaube des Fahrzeugs, liegtGewalt i.S. des § 240 I StGB vor.

Sachverhalt:Der Angeklagte stellte sich mit ausgebreiteten Armenso auf die Fahrbahn, dass die Zeugin anhalten mussteund keine Möglichkeit mehr hatte, mit ihrem Fahr-zeug an ihm vorbeizufahren, ohne ihn zu gefährden.Nachdem der Angeklagte zunächst versucht hatte, dievon innen verriegelte Beifahrertür zu öffnen und dieZeugin Anstalten machte, wieder loszufahren, stellteer sich erneut vor den Pkw und legte sich dann mitseinem gesamten Körper auf die Motorhaube, um nunauf diese Weise die Weiterfahrt zu verhindern. DieZeugin hielt erneut an, weil sie wiederum nicht inKauf nehmen wollte, den Angeklagten durch eineWeiterfahrt zu gefährden. Der Angeklagte hatte mit der Zeugin eine auch inti-me, mittlerweile aber von der Zeugin beendete Bezie-hung. Er hatte diese unter dem Versprechen, sie"nicht anzufassen" veranlasst, mit ihm in seine Woh-nung zu gehen und sich mit ihm ins Bett zu legen.Der Angeklagte hat den gewaltsamen Beginn des Ge-schlechtsverkehrs eingeräumt, sich aber weiter dahineingelassen, die Zeugin sei während des andauerndenGeschlechtsverkehrs zum sexuellen Höhepunkt ge-kommen. Die Geschädigte hingegen hat ausgesagt,während des erzwungenen Geschlechtsverkehrs habeder Angeklagte ein entsprechendes Verlangen geäu-ßert und angekündigt "zu warten", bis sie auch "kom-me". Deshalb habe sie einen Höhepunkt vorgetäuscht,um das für sie nach wie vor unerwünschte Geschehenmöglichst rasch zu beenden.

Aus den Gründen Das LG hat den Angeklagten wegen Bedrohung, Ver-gewaltigung und Nötigung zur Gesamtfreiheitsstrafevon drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Die aufdie Sachrüge gestützte Revision des Angeklagtenführt zur Aufhebung des gesamten Strafausspruchs,ist im Übrigen indessen unbegründet i.S. des § 349 IIStPO.

I. Zur Verurteilung wegen Nötigung

1. Nötigende Gewalt durch Versperren des WegesZum Schuldspruch bemerkt der Senat, dass die Ver-urteilung des Angeklagten wegen Nötigung im FalleD. der Urteilsgründe (Tat vom 17. 5. 2001) im Ergeb-nis keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenkenbegegnet.

a. Die Ansicht der StrafkammerDie Strafkammer nimmt an, der Angeklagte habe den

Tatbestand des § 240 StGB dadurch verwirklicht,dass er die Zeugin P. durch Versperren der Fahrbahnan der Weiterfahrt mit ihrem Pkw Fiat gehindert habe.Den Feststellungen zufolge stellte sich der Angeklag-te mit ausgebreiteten Armen so auf die Fahrbahn, dassdie Zeugin anhalten musste und keine Möglichkeitmehr hatte, mit ihrem Fahrzeug an ihm vorbeizufah-ren, ohne ihn zu gefährden. Nachdem der Angeklagtezunächst versucht hatte, die von innen verriegelte Bei-fahrertür zu öffnen und die Zeugin Anstalten machte,wieder loszufahren, stellte er sich erneut vor den Pkwund legte sich dann mit seinem gesamten Körper aufdie Motorhaube, um nun auf diese Weise die Weiter-fahrt zu verhindern. Die Zeugin hielt erneut an, weilsie wieder nicht in Kauf nehmen wollte, den Ange-klagten durch eine Weiterfahrt zu gefährden.

b. Rechtliche Würdigung durch den SenatAllein durch das Versperren der Fahrbahn mit ausge-breiteten Armen ist der Nötigungstatbestand indessennicht erfüllt. Nach der Rechtsprechung des BVerfGzur Auslegung des Merkmals der Gewalt in § 240 IStGB liegt solche dann nicht vor, wenn die Handlunglediglich in körperlicher Anwesenheit besteht und dieZwangswirkung auf den Betroffenen nur psychischerNatur ist (BVerfGE 92, 1, 16). Stellt sich also jemandauf die Straße und zwingt so - ohne Gefährdung ande-rer (vgl. § 315b I Nr. 2 StGB) - den ersten heranna-henden Autofahrer zum Anhalten, so ist dies nichtstrafbar. Daran ändert nichts, dass die Entscheidungdes BVerfG im Zusammenhang mit Sitzdemonstratio-nen ergangen ist. Die Auslegung des Merkmals derGewalt in § 240 I StGB kann nicht davon abhängen,welche Ziele der Täter weiter verfolgt, ob er also vonseinem Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit Ge-brauch machen oder den zum Anhalten gezwungenenAutofahrer zu einem persönlichen Gespräch veranlas-sen will.

2. Nötigende Gewalt durch das Legen auf die Motor-haubeGleichwohl hat der Schuldspruch auch insoweit imErgebnis Bestand. Der Angeklagte hat sich anschlie-ßend, als die Geschädigte wieder anfahren wollte, mitseinem Körper auf die Motorhaube des Pkw Fiat ge-legt. Damit hat er nun unter Einsatz seines Körpersund unter Entfaltung gewisser Körperkraft auch einphysisches Hindernis geschaffen, von dem auf dieAutofahrerin nicht nur psychische Zwangswirkungdurch bloße Anwesenheit ausging (vgl. im übrigenzur Abgrenzung in der Rechtsprechung des BGHBGH NJW 1995, 3131 - Ausbremsen im Verkehr;BGHSt 41, 182 - sog. Zweite-Reihe-Rechtsprechung;BGH, Beschl. v. 1.8.95 - 1 StR 334/95 - Kreuzungs-blockade durch mehrere hundert Personen; BGHSt41, 231 - "Spaziergangs-Demonstrant"; BGHSt 44, 34- Gleisblockade mit Stahlkasten).

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II. Zur Verurteilung wegen VergewaltigungDie Zumessung der Strafe wegen der Vergewaltigungist indessen von einem Rechtsmangel mitbestimmt.Die Strafkammer wertet strafschärfend, dass der An-geklagte keine ernsthafte Auseinandersetzung mitdem Unrecht seines Handelns habe erkennen lassen.Der ablehnenden Haltung der Geschädigten (gegen-über dem vom Angeklagten gewollten und erzwunge-nen Geschlechtsverkehr) sowohl bei als auch nach derTat habe er nach wie vor mit Unverständnis gegen-übergestanden. Er sei davon überzeugt gewesen, wieer insbesondere durch seine Vorhaltungen währendder Vernehmung der Geschädigten gezeigt habe, dassder erzwungene Geschlechtsverkehr dann letztlichdoch auch von der Geschädigten gewollt und als an-genehm empfunden worden sei. Danach ist zu besorgen, dass die Strafkammer demAngeklagten bei der Strafbemessung letztlich seinVerteidigungsverhalten angelastet hat. Das ist nicht

statthaft. Prozessverhalten, mit dem ein Angeklagter -ohne die Grenzen zulässiger Verteidigung zu über-schreiten - den ihm drohenden Schuldspruch abzu-wenden oder die Tat sonst in einem milderen Lichterscheinen zu lassen versucht, darf grundsätzlichnicht straferschwerend berücksichtigt werden, weilhierin eine Beeinträchtigung seines Rechts auf Vertei-digung läge (vgl. nur BGHR StGB § 46 II Verteidi-gungsverhalten 17 m.w.Nachw.). Da von der rechts-fehlerhaften Erwägung die Einsatzstrafe betroffen ist,vermag der Senat nicht auszuschließen, dass auch dieGesamtstrafe und die anderen Einzelstrafen von demMangel beeinflusst sind. Die dem Rechtsfolgenaus-spruch zugrundeliegenden Feststellungen werden vonder zu beanstandenden Erwägung indessen nicht be-rührt; sie können bestehen bleiben, weil lediglich einWertungsfehler in Rede steht. Ergänzende Feststel-lungen, die den getroffenen nicht widersprechen, sindzulässig.

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Urteile in Fallstruktur

Standort: Öffentliches Recht Problem: Warnung vor Glykolwein

BVERFG, BESCHLUSS VOM 26.06.20021 BVR 558/91; 1 BVR 1428/91

(BISHER UNVERÖFFENTLICHT)

Problemdarstellung:

Vorliegend handelt es sich um einen weiteren “War-nungsfall”, diesmal vor Glykolwein durch Veröffent-lichung einer Liste durch das Bundesministerium fürJugend, Familie und Gesundheit, in der Produkt undAbfüller namentlich genannt wurden. Das BVerfGhatte über eine Verfassungsbeschwerde zu entschei-den, mit der sich betroffene Abfüller gegen die Ver-öffentlichung der Liste wandten. Die sich hieraus er-gebenden Probleme wurden bereits im Parallelfall zurWarnung vor der sog. “Osho-Bewegung” (in diesemHeft) dargestellt, worauf an dieser Stelle verwiesenwerden soll. Angemerkt sei lediglich, dass dasBVerfG dort die von ihm geforderten Voraussetzun-gen für die Öffentlichkeitsarbeit staatlicher Stellen(Zuständigkeit und Verhältnismäßigkeit) ausdrücklichin der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung des Ein-griffs in Art. 4 GG prüft, während es bei dem hiereinschlägigen Art. 12 GG bereits das Vorliegen desEingriffs selbst verneint. Dies lässt sich nur aus derRspr. des BVerfG zum Eingriff in die Berufsfreiheiterklären, nach der nicht jede mittelbar-faktische Aus-wirkung genügt, sondern eine “berufsregelnde Ten-denz” notwendig sein soll (Einzelheiten dazu in derFalllösung). Prüfungsrelevanz:

Auch hinsichtlich der Prüfungsrelevanz kann in vol-lem Umfang auf die obigen Ausführungen zum Be-schluss in Sachen der “Osho-Bewegung” verwiesenwerden. Darüber hinaus sollte der Fall zum Anlassgenommen werden, sich noch einmal das Verhältnisvon Art. 12 GG zu Art. 14 GG zu vergegenwärtigenund die Anforderungen an einen mittelbaren Eingriffin Art. 12 GG zu wiederholen. Vertiefungshinweise:“ Entscheidung des BVerwG zur Warnung vor Gly-kolwein: BVerwGE 87, 37“ Weitere “Warnungsfälle”: OVG Münster, NVwZ1997, 302 und OVG Hamburg, NVwZ 1995, 498(beide zu Scientology); VGH München, NVwZ 1995,793 (“Universelles Leben”)

“ Aufsätze zu staatlichen Warnungen: Lege, DVBl1999, 569; Muckel, JA 1995, 343; Discher, JuS 1993,463“ Zur “berufsregelnden Tendenz” bei Art. 12 GG:BVerfGE13, 183, 186; 82, 209, 223; BVerwGE 71,183, 191; 89, 281, 283; Gersdorf , JuS 1994, 955, 962(zur Begünstigung von Konkurrenten) Kursprogramm:

“ Examenskurs: “Trockenfisch”“ Examenskurs: “Der Minister und die Sekte”

Leitsätze (der Redaktion):1. Warnungen der Bundesregierung vor gefähr-lichen Produkten zum Zwecke des Verbraucher-schutzes greifen dann nicht in die Berufsfreiheitbetroffener Unternehmen aus Art. 12 GG ein,wenn die Äußerungen von der zuständige Stellestammen und inhaltlich richtig und sachlich sind.2. Art. 14 Abs. 1 GG erfasst nur Rechtspositionen,die einem Rechtssubjekt bereits zustehen, nichtaber in der Zukunft liegende Chancen und Ver-dienstmöglichkeiten.3. Zur Zulässigkeit der Veröffentlichung der"Vorläufigen Gesamt-Liste der Weine und ande-rer Erzeugnisse, in denen Diethylenglykol in derBundesrepublik Deutschland festgestellt wordenist" durch das Bundesministerium für Jugend, Fa-milie und Gesundheit. Sachverhalt:Im Frühjahr 1985 wurde bekannt, dass in der Bundes-republik Deutschland Weine vertrieben wurden, diemit Diethylenglykol (im Folgenden: DEG) versetztwaren. DEG wird normalerweise als Frostschutzmittelund als chemisches Lösungsmittel eingesetzt. Die als"Glykoskandal" bekannt gewordenen Vorgänge wa-ren Gegenstand zahlreicher Presseberichte und ab Mai1985 auch Anlass von Erörterungen im DeutschenBundestag sowie in den zuständigen Ausschüssen. Inder Bevölkerung herrschte eine erhebliche Beunruhi-gung, zumal nicht genau bekannt war, welche Weinemit DEG versetzt waren und welche gesundheitlichenFolgen der Verzehr eines solchen Weines habenkonnte. Die Verunsicherung führte zu einem massi-ven Rückgang des Konsums, weshalb eine Existenz-gefährdung der in der Weinwirtschaft tätigen Unter-nehmen befürchtet wurde. Vor diesem Hintergrund

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gab das Bundesministerium für Jugend, Familie undGesundheit Ende Juli 1985 eine "Vorläufige Ge-samt-Liste der Weine und anderer Erzeugnisse, indenen DEG in der Bundesrepublik Deutschland fest-gestellt worden ist", heraus. Der Liste, die veröffent-licht wurde und von jedermann angefordert werdenkonnte, standen folgende Hinweise voran:

“Die in der Liste aufgeführten Untersuchungsergeb-nisse beziehen sich lediglich auf den jeweils unter-suchten Wein. Es kann also Wein gleicher Bezeich-nung und Aufmachung desselben Abfüllers im Ver-kehr sein, der nicht mit DEG versetzt ist. Aus der An-gabe einer Lagebezeichnung bei den in dieser Listeaufgeführten deutschen Weinen darf nicht geschlos-sen werden, dass alle Weine dieser Lage DEG enthal-ten können. Nur wenn auf dem Etikett neben der La-gebezeichnung auch der in der Liste angegebene Na-me des Abfüllers und die in der Liste angegebeneamtliche Prüfungsnummer stehen, handelt es sich umWein, bei dessen Untersuchung DEG festgestellt wor-den ist. In dieser Liste werden die Namen der Abfül-ler lediglich deswegen genannt, um dem Verbrauchereine Identifizierung des beanstandeten Weins zu er-möglichen.”

Die Beschwerdeführer (Bf.) sind Weinkellereien, dieunter namentlicher Bezeichnung mit einigen der beiihnen abgefüllten Weinen in die Liste aufgenommenwurden. Nachdem sie durch alle Instanzen hindurcherfolglos Rechtsschutz gegen die Veröffentlichungder Liste gesucht haben, greifen sie nunmehr mit ihrerVerfassungsbeschwerde sowohl diese als auch dieablehnenden fachgerichtlichen Entscheidungen an.Sie macht Verstöße gegen Art. 12 Abs. 1, Art. 14Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG geltend. Zudem berufensie sich auf Willkür i.S.d. Art. 3 I GG deshalb, weilals zu früheren Zeitpunkten Monobrom- oder Homo-genessigsäure in Wein oder in Sekt festgestellt wor-den waren, auch keine Warnungen ausgesprochenworden seien.

Ist die zulässige Verfassungsbeschwerde begründet?

Lösung:Die Vb. ist begründet, soweit die Bf. durch die an-gegriffenen Akte der öffentlichen Gewalt in ihrenGrundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten ver-letzt sind.

A. Art. 12 GGIn Betracht kommt zunächst eine Verletzung der Be-rufsfreiheit, Art. 12 I 1 GG. Hierzu müsste ein verfas-sungsrechtlich nicht gerechtfertigter Eingriff in denSchutzbereich des Grundrechts vorliegen.

I. Schutzbereich betroffen

1. Sachlicher Schutzbereich“Die Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG gewährtallen Deutschen das Recht, den Beruf frei zu wählenund frei auszuüben.”

a. BerufDas BVerfG definiert zunächst den Berufsbegriff:"Beruf" ist jede Tätigkeit, die auf Dauer berechnet istund der Schaffung und Erhaltung der Lebensgrundla-ge dient (vgl. BVerfGE 7, 377 <397 ff.>; 54, 301<313>; 68, 272 <281>; 97, 228 <252 f.>).”

b. AusübungSodann nimmt das Gericht zum Umfang der Berufs-ausübungsfreiheit Stellung, deren Betroffenheit hier -in Abgrenzung zur Berufswahl - allein in Betrachtkommt:“In der bestehenden Wirtschaftsordnung betrifft dasFreiheitsrecht des Art. 12 Abs. 1 GG insbesondere dasberufsbezogene Verhalten einzelner Personen oderUnternehmen (vgl. BVerfGE 32, 311 <317>). DasGrundrecht schützt aber nicht vor der Verbreitungzutreffender und sachlich gehaltener Informationenam Markt, die für das wettbewerbliche Verhalten derMarktteilnehmer von Bedeutung sein können, selbstwenn die Inhalte sich auf einzelne Wettbewerbsposi-tionen nachteilig auswirken. [...] Art. 12 Abs. 1 GGsichert in diesem Rahmen die Teilhabe am Wettbe-w erb nach Maßgabe seiner Funktionsbedingungen.Die grundrechtliche Gewährleistung umfasst dement-sprechend nicht einen Schutz vor Einflüssen auf diewettbewerbsbestimmenden Faktoren. Insbesondereumfasst das Grundrecht keinen Anspruch auf Erfolgim Wettbewerb und auf Sicherung künftiger Erwerbs-möglichkeiten (vgl. BVerfGE 24, 236 <251>; 34, 252<256>). Vielmehr unterliegen die Wettbewerbspositi-on und damit auch der Umsatz und die Erträge demRisiko laufender Veränderung je nach den Marktver-hältnissen. Ein am Markt tätiges Unternehmen setztsich der Kommunikation und damit auch der Kritikder Qualität seiner Produkte oder seines Verhaltensaus. Gegen belastende Informationen kann sich dasbetroffene Unternehmen seinerseits marktgerechtdurch Informationen wehren, so durch eigene Wer-bung und Betonung der Qualität seines Produkts. Inden Schutz der Berufsausübungsfreiheit ist nämlichdie auf die Förderung des beruflichen Erfolgs einesUnternehmens gerichtete Außendarstellung ein-schließlich der Werbung für das Unternehmen oderfür dessen Produkte eingeschlossen (vgl. BVerfGE85, 97 <104>; 85, 248 <256>; 94, 372 <389>). “Demzufolge ist die Außendarstellung eines Unterneh-mens als Teil ihrer Berufsausübung durch Art. 12 GGgeschützt.

2. Personaler SchutzbereichFraglich ist, ob sich auch die Bf. als Unternehmen auf

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Art. 12 GG berufen können. Das BVerfG bejaht dieskurz unter Hinweis auf Art. 19 III GG:“Das Grundrecht ist nach Art. 19 Abs. 3 GG auch aufjuristische Personen anwendbar, soweit sie eine Er-werbszwecken dienende Tätigkeit ausüben, die ihremWesen und ihrer Art nach in gleicher Weise einer ju-ristischen wie einer natürlichen Person offen steht(vgl. BVerfGE 50, 290 <363>; stRspr). Das trifft aufdie Beschwerdeführerinnen zu.”

II. EingriffFraglich ist jedoch, ob in den Schutzbereich der Be-rufsausübungsfreiheit in Form der Außendarstellungeingegriffen worden ist. Hierunter ist jede Verkür-zung des Schutzbereichs zu verstehen; bloße Belästi-gungen oder Bagatellen genügen demgegenübernicht.

1. Unmittelbarer EingriffEine unmittelbare Verkürzung des Schutzbereichsliegt zunächst nicht vor, denn der Bf. bleibt es unge-nommen, selbst Außendarstellung zu betreiben undfür ihre Produkte zu werben. Etwas anderes würdenur gelten, wenn sie allein und ausschließlich berech-tigt wäre, sich über die von ihr abgefüllten Weine zuäußern. Ein solcher Ausschließlichkeitsanspruch exis-tiert nach Ansicht des BVerfG jedoch nicht:“Die Grundrechtsnorm verbürgt jedoch kein aus-schließliches Recht auf eigene Außendarstellung unddamit auf eine uneingeschränkte unternehmerischeSelbstdarstellung am Markt. Zwar darf ein Unterneh-men selbst darüber entscheiden, wie es sich und seineProdukte im Wettbewerb präsentieren möchte. Art. 12Abs. 1 GG vermittelt aber nicht ein Recht des Unter-nehmens, nur so von anderen dargestellt zu werden,wie es gesehen werden möchte oder wie es sich undseine Produkte selber sieht.”

2. Mittelbarer EingriffEine Verkürzung des Schutzbereichs kommt danachallenfalls mittelbar dadurch in Frage, dass infolge derHerausgabe und Veröffentlichung der Liste die Ver-braucher ihr Kaufverhalten geändert haben, was wie-derum zu Umsatzeinbußen bei den Bf. geführt hat.Allerdings kann nicht jedes staatliche Verhalten, dassauf Umwegen zu wettbewerbsrechtlichen Folgenführt, grundrechtsrelevant sein, da dies zu einer un-überschaubaren Vielzahl von Grundrechtseingriffenführen würde. Mit dem BVerfG ist daher zumindesteine “berufsregelnde Tendenz” der Maßnahme zu for-dern. Diese kann subjektiver oder objektiver Natursein.

a. Subjektiv berufsregelnde TendenzEine subjektiv berufsregelnde Tendenz liegt vor,wenn der Staat zielgerichtet (final) in die Berufsfrei-heit eingreift. Die Veröffentlichung der Liste diente

jedoch nicht dem Zweck, die Berufsausübung der be-troffenen Winzer und Abfüller zu beeinträchtigen,sondern in erster Linie dem Verbraucherschutz. Diesmachen schon die einführenden Hinweise in der Listedeutlich, die ausdrücklich darauf hinweisen, dass dieBetriebe nur zur besseren Information der Verbrau-cher über die betroffenen Weine genannt werden. Zu-dem ergibt sich dies auch aus dem Anlass für die He-rausgabe der Liste, der in der Verunsicherung derVerbraucher und der für diese bestehenden Gesund-heitsgefahren zu sehen ist.

b. Objektiv berufsregelnde TendenzEine objektiv berufsregelnde Tendenz liegt vor, wennein u.U. nicht gewollter, aber faktisch vorhandener,enger Zusammenhang der Maßnahme mit der Berufs-ausübung besteht (Sachs-Tettinger, GG, Art. 12 Rz.73 m.w.N.), wofür wiederum eine hohe Belastungs-intensität spricht (Schmalz, Grundrechte, Rz. 708m.w.N.). Für Produktinformationen hält das BVerfGeine solche nicht für gegeben, wenn diese im Rahmender Zuständigkeit der jeweiligen Stelle abgegebenwerden und die Informationen sachlich und richtigsind:“Marktbezogene Informationen des Staates beein-trächtigen den grundrechtlichen Gewährleistungsbe-reich der betroffenen Wettbewerber nicht, sofern derEinfluss auf wettbewerbserhebliche Faktoren ohneVerzerrung der Marktverhältnisse nach Maßgabe derrechtlichen Vorgaben für staatliches Informations-handeln erfolgt. Verfassungsrechtlich von Bedeutungsind das Vorliegen einer staatlichen Aufgabe und dieEinhaltung der Zuständigkeitsordnung sowie die Be-achtung der Anforderungen an die Richtigkeit undSachlichkeit von Informationen.”

Im Umkehrschluss liegt folglich jedenfalls dann einEingriff vor, wenn es an der Zuständigkeit der staatli-chen Stelle fehlt und/oder eine falsche bzw. unsach-liche Information verbreitet wurde.

aa. Zuständigkeit Die Zuständigkeit des Bundesministeriums für Ju-gend, Familie und Gesundheit setzt zunächst voraus,dass es sich bei der Warnung für Glykolwein über-haupt um eine staatliche Aufgabe handelte. Wäre diesnicht der Fall, würde es bereits an der Zuständigkeitstaatlicher Organe insgesamt fehlen. Ist dies hingegender Fall, stellt sich die weitere Frage, ob diese War-nungskompetenz gerade diesem Ministerium oblag.

(1). Information der Öffentlichkeit als staatliche Auf-gabe“Können Aufgaben der Regierung oder der Verwal-tung mittels öffentlicher Informationen wahrgenom-men werden, liegt in der Aufgabenzuweisung grund-sätzlich auch eine Ermächtigung zum Informations-

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handeln. Dies ist bei der Staatsleitung der Regierungder Fall. Diese Aufgabe zielt auf die in einer Demo-kratie wichtige Gewinnung politischer Legitimationund umfasst die Mitwirkung an der Erfüllung kon-kreter öffentlicher Aufgaben außerhalb der Tätigkeitder Administration. Staatsleitung wird nicht allein mitden Mitteln der Gesetzgebung und der richtungswei-senden Einwirkung auf den Gesetzesvollzug wahr-genommen, sondern auch durch die Verbreitung vonInformationen an die Öffentlichkeit (vgl. Beschlussdes Ersten Senats vom 26. Juni 2002 - 1 BvR 670/91 -Osho - [in diesem Heft]). [...] So gehört es in einerDemokratie zur Aufgabe der Regierung, die Öffent-lichkeit über wichtige Vorgänge auch außerhalb oderweit im Vorfeld ihrer eigenen gestaltenden politischenTätigkeit zu unterrichten. In einer auf ein hohes Maßan Selbstverantwortung der Bürger bei der Lösunggesellschaftlicher Probleme ausgerichteten politischenOrdnung ist von der Regierungsaufgabe auch die Ver-breitung von Informationen erfasst, welche die Bürgerzur eigenverantwortlichen Mitwirkung an der Pro-blembewältigung befähigen. Dementsprechend erwar-ten die Bürger für ihre persönliche Meinungsbildungund Orientierung von der Regierung Informationen,wenn diese andernfalls nicht verfügbar wären. Dieskann insbesondere Bereiche betreffen, in denen dieInformationsversorgung der Bevölkerung auf inter-essengeleiteten, mit dem Risiko der Einseitigkeit ver-bundenen Informationen beruht und die gesellschaftli-chen Kräfte nicht ausreichen, um ein Informations-gleichgewicht herzustellen. [...]

(2). Zuständigkeit des Bundesministeriums für Ju-gend, Familie und Gesundheit “Auf der Ebene des Bundes ergibt sich die Zuständig-keit im Verhältnis zwischen Bundeskanzler, Bundes-ministern und der Bundesregierung als Kollegium ausArt. 65 GG. Darüber hinaus ist die föderale Kompe-tenzaufteilung zwischen Bund und Ländern zu wah-ren (vgl. BVerfGE 44, 125 <149>). Dabei hängt dieEntscheidung über die Verbandskompetenz davon ab,ob die jeweils zu erfüllende Informationsaufgabe demBund oder den Ländern zukommt oder ob paralleleKompetenzen bestehen.”

(a). Keine ausdrückliche Regelung im GG“Die Aufgabe der Staatsleitung und der von ihr alsintegralem Bestandteil umfassten Informationsarbeitder Bundesregierung ist Ausdruck ihrer gesamtstaatli-chen Verantwortung. Für die Regierungskompetenzzur Staatsleitung gibt es, anders als für die Gesetz-gebungs- und Verwaltungszuständigkeiten, keine aus-drücklichen Bestimmungen im Grundgesetz.”

(b). Stillschweigende Kompetenzzuweisung an dieBundesregierung bei gesamtstaatlichem Interesse“Das Grundgesetz geht aber stillschweigend von ent-

sprechenden Kompetenzen aus, so etwa in den Nor-men über die Bildung und Aufgaben der Bundesregie-rung (Art. 62 ff. GG) oder über die Pflicht der Bun-desregierung, den Bundestag und seine Ausschüsse zuunterric hten; Gleiches gilt für die Verpflichtung derRegierung und ihrer Mitglieder, dem Bundestag aufFragen Rede und Antwort zu stehen und seinen Abge-ordneten die zur Ausübung ihres Mandats erforderli-chen Informationen zu verschaffen (vgl. zu LetzteremBVerfGE 13, 123 <125 f.>; 57, 1 <5>; 67, 100<129>). Die Bundesregierung ist überall dort zur In-formationsarbeit berechtigt, wo ihr eine gesamtstaatli-che Verantwortung der Staatsleitung zukommt, diemit Hilfe von Informationen erfüllt werden kann. An-haltspunkte für eine solche Verantwortung lassen sichetwa aus sonstigen Kompetenzvorschriften, beispiels-weise denen über die Gesetzgebung, gewinnen, undzwar auch unabhängig von konkreten Gesetzesinitiati-ven. Der Bund ist zur Staatsleitung insbesondere be-rechtigt, wenn Vorgänge wegen ihres Auslandsbezugsoder ihrer länderübergreifenden Bedeutung überregio-nalen Charakter haben und eine bundesweite Informa-tionsarbeit der Regierung die Effektivität der Pro-blembewältigung fördert. In solchen Fällen kann dieBundesregierung den betreffenden Vorgang aufgrei-fen, gegenüber Parlament und Öffentlichkeit darstel-len und bewerten und, soweit sie dies zur Problembe-wältigung für erforderlich hält, auch Empfehlungenoder Warnungen aussprechen.”

(c). SubsumtionFraglich ist, ob die Zuständigkeit des Bundesministe-riums für Jugend, Familie und Gesundheit nach dengenannten Voraussetzungen vorliegt. Diesbezüglichkann zwischen der Verbandskompetenz des Recht-strägers (hier: Bund) und der Organkompetenz derBehörde (hier: Bundesminister für Jugend, Familieund Gesundheit) differenziert werden:

(aa). Verbandskompetenz des Bundes“Die Verbandskompe tenz des Bundes zumRegierungshandeln war gegeben. Der "Glykolskan-dal" hatte - wie auch die Gerichte festgestellt haben -in der gesamten Öffentlichkeit Aufmerksamkeit ge-funden und forderte überregionale Reaktionen. DieVorkommnisse führten sogar über das Bundesgebiethinaus nach Österreich, wo zuerst Beimengungen vonDEG festgestellt worden waren. Zunächst musstendort auf diplomatischem Wege Informationen einge-holt werden und Fragen der Kontrolle durch den Zollbeim Weinimport bearbeitet werden. In der unklarenSituation über die Auswirkungen von DEG in Weinwar es sachgerecht, das Bundesgesundheitsamt ein-zuschalten. Eine den Bund einbeziehende, länderüber-greifende Koordination war ebenfalls zur Bewälti-gung der krisenhaften Situation sachgerecht. Auchwurde von der Bundesregierung eine Reaktion erwar-

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tet. Dies wurde bestätigt durch zahlreiche Anfragenim Bundestag nach den Aktivitäten der Regierung zudieser Frage. Darüber hinaus forderten die MedienAufklärung und Maßnahmen der Bundesregierung.Auf das so geprägte überregionale öffentliche Infor-mationsinteresse reagierte diese. Die Bundesregierungdurfte davon ausgehen, dass der Informationsbedarfdurch ein Handeln nur der Regierungen der Ländernicht mit gleichem Erfolg hätte befriedigt werdenkönnen. Daher sprach auch der Gesichtspunkt der Ef-fektivität der Bewältigung der verschiedenen Aspektedes Problems für die Notwendigkeit eines Handelnsdes Bundes.”

(bb). Organkompetenz des Ministers für Jugend, Fa-milie und Gesundheit“Die Veröffentlichung der Liste fiel als Maßnahmeder Staatsleitung in den Aufgabenbereich der Bundes-regierung. [...] Der Bundesminister für Jugend, Fami-lie und Gesundheit nahm eine Aufgabe der Staatslei-tung der Bundesregierung wahr. Sein Handeln zielteim Rahmen der Regierungsverantwortung auf die Be-wältigung einer die Öffentlichkeit beunruhigendenund den überregionalen Weinmarkt gefährdendenKrise durch Bereitstellung von Informationen. [...]Der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesund-heit handelte gemäß Art. 65 Satz 2 GG in seinem Ge-schäftsbereich.”

Mithin war der Bundesminister für Jugend, Familieund Gesundheit für die Herausgabe und Veröffentli-chung der Liste zuständig.

bb. Richtigkeit und Sachlichkeit“Die in der Liste enthaltenen Angaben waren unstrei-tig zutreffend. Die Einzelheiten der Liste beschränk-ten sich auf die für das Marktverhalten wichtige Mit-t e i l ung von gese t z l i ch n i ch t zuge l a s senenDEG-Gehalten in den untersuchten Weinen. Unter derÜberschrift "Wichtige Hinweise" wurde deutlich da-rauf aufmerksam gemacht, dass Wein gleicher Be-zeichnung und Aufmachung desselben Abfüllers imVerkehr sein konnte, der nicht mit DEG versetzt ist.Es wurde weiter ausgeführt, dass aus der Angabe ei-ner Lagebezeichnung nicht geschlossen werden dürf-te, dass alle Weine dieser Lage DEG enthalten könn-ten, sondern dass dies nur im Zusammenhang mitdem Namen des Abfüllers und der angegebenen Amt-lichen Prüfungsnummer gefolgert werden könnte.Die Liste war auch nicht deshalb unrichtig, weil dieFrage der Verkehrsfähigkeit und der gesundheitlichenBedenklichkeit bei Weinen mit niedrigem DEG-Ge-halt nicht geklärt war. Ein Informationsbedarf der inweiten Teilen beunruhigten Öffentlichkeit war gege-ben. Die Regierung teilte den ihr zugänglichen Wis-senss tand über DEG-haltige Weine mit. Die Richtig-keit dieser Information hing nicht davon ab, ob eine

Gefahr im ordnungsrechtlichen Sinne vorlag. Auchbestanden hinsichtlich der aus staatlichen Untersu-chungen der genannten Weine gewonnenen Erkennt-nisse keine Geheimhaltungspflichten. Im Übrigenwurden Richtigkeit und Sachlichkeit der Informationnicht dadurch in Frage gestellt, dass aus Kapazitäts-gründen nicht alle Weine untersucht werden konn-ten.”

III. Ergebnis“Da die Beschwerdeführerinnen in ihrem Grundrechtaus Art. 12 Abs. 1 GG durch die Veröffentlichung derListe DEG-haltiger Weine nicht beeinträchtigt sind,verstoßen auch die angegriffenen Gerichtsentschei-dungen jedenfalls im Ergebnis nicht gegen diesesGrundrecht. Es ist verfassungsrechtlich auch nicht zubeanstanden, dass die Gerichte davon ausgegangensind, ohne namentliche Nennung der Abfüller wärendie schnelle Groborientierung für die Verbrauchernicht möglich und damit die Tauglichkeit der Infor-mationen zur eigenbestimmten Problembewältigungnur begrenzt gegeben gewesen.”

B. Art. 14 GGDie Bf. könnten jedoch in ihren Eigentumsrechten ausArt. 14 GG verletzt sein.

I. Schutzbereich betroffenDann müsste zunächst der Schutzbereich der Eigen-tumsgarantie betroffen sein. Hierzu äußert sich dasBVerfG wie folgt:“Die Eigentumsgarantie soll dem Träger des Grund-rechts einen Freiheitsraum im vermögensrechtlichenBereich sichern und ihm damit eine eigenverantwort-liche Gestaltung des Lebens ermöglichen. Sie schütztden konkreten Bestand an vermögenswerten Güternvor ungerechtfertigten Eingriffen durch die öffentli-che Gewalt. Eine allgemeine Wertgarantie ver-mögenswerter Rechtspositionen folgt aus Art. 14 Abs.1 GG nicht (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Se-nats vom 5. Februar 2002 - 2 BvR 305/93 und 2 BvR348/93 -, Umdruck S. 19). Art. 14 Abs. 1 GG erfasstnur Rechtspositionen, die einem Rechtssubjekt bereitszustehen, nicht aber in der Zukunft liegende Chancenund Verdienstmöglichkeiten (vgl. BVerfGE 68, 193<222> m.w.N.).”

1. Verminderter Umsatz“Hieraus folgt, dass die von den Beschwerdeführer-innen vorgetragenen Beeinträchtigungen ihrer Absatz-möglichkeiten infolge der Listenveröffentlichung keinSchutzgut des Art. 14 Abs. 1 GG betreffen. Das ver-fassungsrechtlich geschützte Eigentum ist zwar durchdie dem Eigentümer zustehende grundsätzliche Ver-fügungsbefugnis über den Eigentumsgegenstand ge-kennzeichnet. Hierunter fällt grundsätzlich auch dasRecht des Eigentümers, sein Eigentum zu veräußern.

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In dem Recht, ihren Wein auf dem Markt anzubieten,sind die Beschwerdeführerinnen durch die Veröffent-lic hung der Liste jedoch nicht eingeschränkt worden.Beeinträchtigt war nach ihrem Vortrag die tatsäch-liche Möglichkeit, die Produkte weiterhin zu verkau-fen und damit die im Angebot liegende Chance einesgewinnbringenden Absatzes zu realisieren. Währenddie rechtliche Befugnis, Sachen zum Verkauf anzu-bieten, zum erworbenen und über Art. 14 Abs. 1 GGgeschützten Bestand zu rechnen ist, gehört die tat-sächliche Absatzmöglichkeit nicht zum bereits Erwor-benen, sondern zur Erwerbstätigkeit.”

2. Eingerichteter und ausgeübter Gewerbebetrieb “Auch aus dem Gesichtspunkt des Schutzes des ein-gerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs ergibts ich keine andere Bewertung. Das Bundes-verfassungsgericht hat bisher offen gelassen, ob undinwieweit der eingerichtete und ausgeübte Gewerbe-betrieb als tatsächliche Zusammenfassung der zumVermögen eines Unternehmens gehörenden Sachenund Rechte in eigenständiger Weise von der Gewähr-leistung der Eigentumsgarantie erfasst wird (vgl.BVerfGE 51, 193 <221 f.>; 68, 193 <222 f.>). DieVerfassungsbeschwerden geben keinen Anlass, dieseFrage nunmehr zu entscheiden. Auch wenn bloßeUmsatz- und Gewinnchancen oder tatsächliche Gege-benheiten für das Unternehmen von erheblicher Be-deutung sind, werden sie vom Grundgesetz eigen-tumsrechtlich nicht dem geschützten Bestand des ein-zelnen Unternehmens zugeordnet (vgl. BVerfGE 68,193 <222 f.>; 77, 84 <118>; 81, 208 <227 f.>).”

3. Ruf des Unternehmens“Nichts anderes gilt für den von den Beschwerdefüh-rerinnen als verletzt gerügten Unternehmensruf. Die-ser ist durch Art. 14 GG jedenfalls insoweit nicht ge-schützt, als es sich um Chancen und günstige Gele-genheiten handelt. Auch soweit der Unternehmensrufdas Resultat vorangegangener Leistungen darstellt, ister nicht dem Unternehmen im Sinne einer von Art. 14Abs. 1 GG geschützten Eigentumsposition zugewie-

sen (vgl. Philipp, Staatliche Verbraucherinformationim Umwelt- und Gesundheitsrecht, 1989, S. 175 ff.).Er stellt sich am Markt durch die Leistungen undSelbstdarstellungen des Unternehmens einerseits unddurch die Bewertung der Marktteilnehmer anderer-seits immer wieder neu her und ist damit ständigerVeränderung unterworfen. Art. 14 GG schützt nurnormativ zugeordnete Rechtspositionen, nicht aberdas Ergebnis situativer Einschätzungen der Markt-beteiligten, auch wenn dieses wirtschaftlich folgen-reich ist.”

II. ErgebnisDas Eigentumsrecht nach Art. 14 GG ist schon des-halb nicht verletzt, weil der Schutzbereich des Grund-rechts nicht betroffen ist.

C. Art. 2 I GG“Art. 2 Abs. 1 GG scheidet als Maßstab aus, weil diemit den Verfassungsbeschwerden aufgeworfenen Fra-gen des Schutzes von Marktteilnehmern im Wettbe-werb von der sachlich spezielleren Grundrechtsnormdes Art. 12 Abs. 1 GG erfasst werden (vgl. BVerfGE25, 88 <101>; 59, 128 <163>; stRspr).”

D. Art. 3 I GG “Art. 3 Abs. 1 GG ist entgegen der Auffassung derBeschwerdeführerin zu 1 nicht deshalb verletzt, weilkeinerlei Warnungen an die Öffentlichkeit gegebenworden seien, als zu früheren Zeitpunkten Mono-brom- oder Homogenessigsäure in Wein oder in Sektfestgestellt worden waren. Eine rechtmäßige Maßnah-me wird nicht dadurch gleichheitswidrig, dass inmöglicherweise vergleichbaren anderen Fällen andersverfahren worden ist. Dass im konkreten Fall will-kürlich, etwa unter Verwendung sachlich zu missbil-ligender Motive, gehandelt worden ist, wird von denBeschwerdeführerinnen nicht behauptet.”

E. ErgebnisDie Bf. sind nicht in ihren Grundrechten verletzt. DieVerfassungsbeschwerde ist daher unbegründet.

Standort: Zivilrecht Problem: Verjährungsfrist bei Bauwerken

BGH, URTEIL VOM 19.03.2002X ZR 49/00 (NJW 2002, 2100)

Problemdarstellung:

In diesem Revisionsfall musste sich der BGH mitder Frage beschäftigen, welche Verjährungsfrist aufeine Werkleistung anzuwenden ist, wenn der Bestel-ler des Werkobjekts dasselbe in seinem Bauwerkselbst einbauen möchte (Getriebegenerator für einkleines Wasserkraftwerk).

Nach § 638 I BGB a.F. musste zwischen Bauwer-kleistungen (Verjährung in fünf Jahren), Grund-stückswerkleistungen (Verjährung in einem Jahr)und sonstigen Werkleistungen (Verjährung nachsechs Monaten) differenziert werden. Fraglich war,ob in diesem Fall eine Bauwerkleistung vorlag, weildas Werkobjekt zum Selbsteinbau in ein Bauwerkbestimmt war. Der BGH hat diese Frage ebenso wiedie Vorinstanzen verneint, da die erbrachte Werklei-stung als maschinenbezogen und nicht als bauwerk-

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bezogen zu betrachten ist. Nach ständiger Rechtsprechung gilt die lange Verjäh-rung „bei Bauwerken“, wenn das geschuldete Werkselbst in der Errichtung oder der grundlegenden Er-neuerung eines Bauwerks besteht, wobei untergrundlegender Erneuerung Arbeiten zu verstehensind, die insgesamt einer ganzen oder teilweisenNeuerrichtung gleichzustellen sind. Fallweise kannGegenstand einer Arbeit „bei einem Bauwerk” aucheine technische Anlage sein, die für sich genommenkein Bauwerk ist. Auch in diesen Fällen müssen diegeschuldeten Arbeiten sich aber derart auf ein be-stimmtes Bauwerk beziehen, dass bei wertender Be-trachtung die Feststellung gerechtfertigt ist, der Un-ternehmer habe bei dessen Errichtung oder grundle-genden Erneuerung mitgewirkt. Auch die Ausnahmenach der Subunternehmer-Rechtsprechung kam indiesem Fall nicht zum Zuge. In ständiger Rechtspre-chung zum alten Recht wird vertreten, dass auch beiArbeiten eines Subunternehmers es sich um solche„bei Bauwerken“ handelt, wenn dieser weiß, dass dervon ihm herzustellende Gegenstand für ein bestimm-tes Bauwerk verwendet werden soll. Ein solc her Falllag aber hier nicht vor.

Prüfungsrelevanz:

Die Verjährung von vertraglichen Gewährleistungs-rechten gehört zu den klassischen Examensthemen,sodass von jedem Examenskandidaten fundierteKenntnisse auf diesem Gebiet erwartet werden.Im Kauf- und Werkvertragsrecht differenzieren dieVerjährungsregeln - nach altem wie neuem Schuld-recht - nach dem Gegenstand des Vertrages (vgl. §§477, 638 BGB a.F.; §§ 438, 634 a BGB n.F.). Nach §634 a I BGB n.F. muss bei der Verjährungsfrage zwi-schen Werken zur Herstellung, Wartung oder Ver-änderung einer Sache (Nr. 1: 2 Jahre) und Bauwerken(Nr.2: 5 Jahre) und sonstigen Werkleistungen (Nr. 3:3 Jahre) nach wie vor unterschieden werden; Plan-und Überwachungsleistungen, wie z.B. im Rahmeneines Architektenvertrages, unterliegen derselbenVerjährung wie ihr Bezugsobjekt. Grundsätzlich be-ginnt die Verjährung mit der Abnahme, § 634 a IIBGB n.F.Folglich ist davon auszugehen, dass die Rechtspre-chung ihre Anforderungen an ein Bauwerk, die sie fürdie lange Verjährungsfrist gem. § 638 I BGB a.F. ent-wickelt hat, auch auf das neue Schuldrecht übertragenwird. Daher ist dieses Urteil auch für Fälle, die demneuen Schuldrecht unterliegen, entscheidend und le-senswert. Anders ist die Frage zu beurteilen, ob derBGH an seiner Rechtsprechung zur Verjährung beiWerkleistungen eines Subunternehmers festhaltenwird. Nach § 651 BGB n.F. ist auf alle Verträge, diedie Herstellung neuer beweglicher Sachen zum Ge-genstand haben, ausnahmslos Kaufrecht anzuwenden,

wobei im Kaufrecht gem. § 438 I Nr. 2 BGB n.F.ebenfalls eine fünfjährige Verjährungsfrist für Sachengilt, die entsprechend ihrer üblichen Verwendungs-weise für ein Bauwerk verwendet worden sind. DieVerjährungsungereimtheiten, die der BGH mit dieserSubunternehmer-Rechtsprechung ausgleichen wollte,bestehen nach der Schuldrechtsreform nicht mehr,sodass dieser Rechtsprechung die Grundlage entzogenist.

Vertiefungshinweise:

“ Zu dieser Verjährungsproblematik: OLG Düssel-dorf , NJW-RR 2001, 1531; BGH, NJW-RR 2001,1531; NZBau 2001, 201

Kursprogramm:

“ Examenskurs: “Die sturm- und wetterfeste Alumi-niumfassade”

Leitsatz:Die lange Verjährungsfrist „bei Bauwerken“kommt nicht alle in deshalb in Betracht, weil derBesteller einer Anlage ein Angebot zum Selbstein-bau in seinem Bauwerk erbeten hatte.

Sachverhalt: Im Februar 1994 erbat der Kl. von dem Bekl. ein An-gebot für einen Getriebegenerator zum Selbsteinbauin seinem kleinen Wasserkraftwerk. Daraufhin bot derBekl. Getriebe und Generator als mit einer Kupplungverbundene und in einem Tragegestell montierte Ein-heit an und lieferte sie, nachdem er Generator undGetriebe von einem Fachunternehmen bezogen hatte,am 17. 10. 1994 an den Kl. aus. Der Kl. baute dieVorrichtung in seinem kleinen Wasserkraftwerk einund bezahlte die Rechnung des Bekl. am 10. 11.1994. Der Kl. hat verschiedene Mängel geltend ge-macht, deren Ursache er darauf zurückführt, dass dasGetriebe die vom Generator vereinbarungsgemäß er-brachte Leistung von 7,5 Kilowatt nicht übertragenkönne. Er hat deshalb am 11. 3. 1999 beim LG Klageeingereicht, mit der er Ersatz der Kosten für die Liefe-rung eines Ersatzgetriebes verlangt.

Zu Recht?

Lösung:

Anspruch auf Schadensersatz aus werkvertraglichemGewährleistungsrechtDer Kl. könnte gegenüber dem Bekl. einen Schadens-ersatzanspruch wegen des mangelhaften Getriebege-nerators gem. § 635 BGB a.F. (Vgl. §§ 634 Nr. 4, 280I, III, 281 I BGB n.F.) haben.

A. Abschluss eines WerklieferungsertragesZunächst müsste dafür zwischen den Parteien ein

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wirksamer Werkvertrag zustande gekommen sein.Dabei ist der Werkvertrag vom Werklieferungsvertragzu unterscheiden, wenn der Unternehmer das fragli-che Werk aus eigenen Stoffen bzw. Materialien her-zustellen hat, § 651 I BGB a.F. Der BGH führt dazuaus: “Das BerGer. hat den Vertrag, der zwischen den Par-teien auf der Grundlage der Anfrage des Kl. und desAngebots des Bekl. zu Stande gekommen ist, als Wer-klieferungsvertrag angesehen. Das begegnet unterRechtsgründen keinen Bedenken. Auch die Revisionerhebt insoweit Beanstandungen nicht.”

B. Anzuwendendes Recht: Kauf- oder Werkvertrags-recht, § 651 BGB a.F. Wenn ein Werklieferungsvertrag abgeschlossen wor-den ist, kommt es entscheidend darauf an, ob auf die-sen Vertrag Kauf- oder Werkvertragsrecht anzuwen-den ist. Diese Abgrenzung hängt davon ab, ob es sichbei der herzustellenden Werklieferung um eine ver-tretbare oder um eine unvertretbare Sache handelt, §91 BGB. Diesbezüglich konnte der BGH nur folgen-des feststellen:“Ob auf den geschlossenen Vertrag nach § 651 I 2BGB in der vor dem 1. 1. 2002 geltenden Fassung (imFolgenden: a. F.) die dort im ersten Halbsatz genann-ten Vorschriften über den Kauf Anwendung findenoder ob die im zweiten Halbsatz genannten Vorschrif-ten über den Werkvertrag anzuwenden sind, hat dasBerGer. nicht näher geprüft. Mangels tatrichterlicherFeststellungen dazu, ob die von der Bekl. versproche-ne Leistung auf die Herstellung einer unvertretbarenSache gerichtet war, ist deshalb für die revisionsrecht-liche Überprüfung zu Gunsten des Kl. davon auszu-gehen, dass die zwischen den Parteien streitige Verjäh-rung nicht bereits mit der Ablieferung der Teile, son-dern erst mit ihrer Abnahme durch den Kl. begann (§638 I 2 BGB a. F.).”Zugunsten des Kl. ist damit von einem unvertretbarenWerklieferungsobjekt auszugehen, so dass Werkver-tragsrecht Anwendung findet.

C. Mangelhaftigkeit der WerklieferungAn dem vom Bekl. hergestellten und geliefertenWerkobjekt müssen nunmehr Sachmängel i.S.d. § 633I BGB bestehen, d.h. am gelieferten Getriebegenera-tor müssen Fehler vorliegen oder zugesicherte Eigen-schaften fehlen.Der Kl. hat verschiedene Mängel geltend gemacht,deren Ursache er darauf zurückführt, dass das Getrie-be die vom Generator vereinbarungsgemäß erbrachteLeistung von 7,5 Kilowatt nicht übertragen könne.Folglich ist der Generator mangelhaft.

D. Verschulden des beklagten UnternehmersGem. § 635 BGB muss der festgestellte Mangel aufeinem Umstand beruhen, den der Unternehmer zu

vertreten hat. Diesbezüglich sind keinerlei Ausführun-gen gemacht worden. Jedoch tritt hier eine Umkehrder Darlegungs- und Beweislast ein, so dass der Un-ternehmer nach den Grundsätzen der Beweislastver-teilung nach Gefahrenbereichen sein fehlendes Ver-schulden zu beweisen hat (vgl. BGHZ48, 310; § 280 I2 BGB n.F.). Demzufolge ist zu Lasten des Bekl. von seinem Ver-schulden hinsichtlich der Mangelhaftigkeit des Gene-rators auszugehen.

D. Kein Ausschluss der GewährleistungAusschlussgründe für die Gewährleistungspflicht desBekl. - rechtsgeschäftlicher oder gesetzlicher Natur -sind nicht ersichtlich.

E. Keine Verjährung, § 638 I BGB a.F.Der Gewährleistungsanspruch dürfte zudem nochnicht verjährt sein, wobei sich die Verjährungsfristnach der Art des Werkobjekts orientiert und mit Ab-nahme des Werks beginnt. (Vgl. § 634 a BGB n.F.)

I. Abnahme als VerjährungsbeginnGem. § 638 I 2 BGB a.F. beginnt die Verjährung miterfolgreicher Abnahme. Dazu stellt der BGH fest:“Zur Frage der Abnahme selbst hat das BerGer. aufdie Gründe der Entscheidung des LG Bezug genom-men. Danach erfolgte die Abnahme durch den Kl. am10. 11. 1994 durch schlüssiges Handeln dadurch, dassder Kl. die Rechnung des Bekl. bezahlte. Da damals24 Tage seit der Lieferung verstrichen gewesen seien,habe der Bekl. davon ausgehen dürfen, dass der Kl.den Getriebegenerator zwischenzeitlich in Betriebgenommen und überprüft gehabt habe; er habe des-halb die Bezahlung der Rechnung als Anerkennungdieses Werks verstehen dürfen. Das begegnet eben-falls keinen rechtlichen Bedenken. Auch die Revisionmacht nicht geltend, dass diese tatrichterliche Würdi-gung durch Rechtsfehler beeinflusst sei.”

II. Ablauf der Verjährungsfrist, § 638 BGB a.F.Zum zwischenzeitlichen Ablauf der Verjährungsfriststellt der BGH fest:“Das BerGer. hat weder zu einem arglistigenVerschweigen der behaupteten Mängel, noch zu einerzwischenzeitlichen Hemmung oder Unterbrechungder Verjährung, noch zu einer vertraglichen Verlänge-rung der Verjährungsfrist Feststellungen getroffen. Dadie Revision auch insoweit Rügen nicht erhebt, warmithin ein etwaiger Gewährleistungsanspruch des Kl.bei der Klageerhebung im Frühjahr 1999 nach § 638 IBGB a. F. nur dann nicht verjährt, wenn für diesenAnspruch die bei Bauwerken gesetzlich vorgeseheneVerjährungsfrist von fünf Jahren galt.Das BerGer. hat das verneint. Dabei hat es unterstellt,dass das Wasserkraftwerk selbst, in das der Kl. denGetriebegenerator einbaute, ein Bauwerk ist. Das Ber-

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Ger. hat aber die hier streitige Leistung des Bekl.nicht als bauwerksbezogen, sondern als typisch ma-schinenbezogen angesehen. Auch das begegnet imErgebnis keinen durchgreifenden rechtlichen Beden-ken; die insoweit erhobenen Rügen der Revision blei-ben ohne Erfolg.

1. Zum Begriff der “Bauwerkleistung”Nach ständiger Rechtsprechung des BGH zum vordem 1. 1. 2002 geltenden Recht gilt die lange Verjäh-rung „bei Bauwerken“, wenn das geschuldete Werkselbst in der Errichtung oder der grundlegenden Er-neuerung eines Gebäudes oder eines anderen Bau-werks besteht, wobei unter grundlegender ErneuerungArbeiten zu verstehen sind, die insgesamt einer gan-zen oder teilweisen Neuerrichtung gleichzuachtensind (BGH, NJW 1999, 2434). Fallweise kann Gegen-stand einer Arbeit „bei einem Bauwerk“, welche zurGeltung der langen Verjährungsfrist führt, darüberhinaus auch eine technische Anlage sein, die für sichgenommen kein Bauwerk i. S. von § 638 BGB ist(z.B. BGH, NJW-RR 1998, 89; NJW 1997, 1982[1983]). Auch in diesen Fällen müssen die geschulde-ten Arbeiten sich aber derart auf ein bestimmtes Bau-w erk beziehen, dass bei wertender Betrachtung dieFeststellung gerechtfertigt ist, der Unternehmer habebei dessen Errichtung oder grundlegenden Erneue-rung (jedenfalls) mitgewirkt.

2. Keine Feststellung einer Bauwerkleistung des Bekl.im vorliegenden FallDas kann hier nicht angenommen werden. Nac h deninsoweit nicht beanstandeten Feststellungen des Ber-Ger. hatte der Bekl. eine Leistung zu erbringen, diedurch anlagentypische Merkmale bestimmt war. Inder Anfrage des Kl. waren nur die Leistung des Gene-rators, die Eingangsdrehzahl und die Herrichtung füreinen vertikalen Einbau genannt. Der Bekl. sollte dieinsoweit benötigten Geräte besorgen und diese in undmit einem Gestell zu einer Einheit, dem geschuldetenLiefergegenstand, zusammenfügen. Zu beurteilen istdeshalb ein bloßes Beschaffungsgeschäft, das sich aufeine bewegliche Sache bezog. Mit der Erstellung desWasserkraftwerks des Kl. hatte das nur insofern etwaszu tun, als der Kl. bei seiner Angebotsaufforderungferner noch angegeben hatte, die Anlage in seinemkleinen Wasserkraftwerk einbauen und betreiben zuwollen. Damit war jedoch nur der Grund der in Aus-sicht genommenen Bestellung offenbart worden; dasssie (auch) eine Mitwirkung des Bekl. bei der Erstel-

lung des Wasserkraftwerks zum Gegenstand habensollte, kann allein hieraus nicht entnommen werden.

3. Keine Ausnahme nach der Subunternehmer-Recht-sprechungEin Fehler des BerGer. bei der Rechtsanwendung er-gibt sich auch nicht daraus, dass in ständiger Recht-sprechung zum alten Recht vertreten wird, auch beiArbeiten eines Subunternehmers könne es sich umsolche „bei Bauwerken“ handeln, wenn dieser weiß,dass der von ihm herzustellende Gegenstand für einbestimmtes Bauwerk verwendet werden soll (z. B.BGH, NJW-RR 1990, 1108; NJW 1999, 2434 = LMH. 10/1999 § 638 BGB Nr. 87, jew. m. w. Nachw.).Der vorliegende Sachhalt kann nämlich nicht den Fäl-len gleich geachtet werden, in denen ein bei der Her-stellung eines Bauwerks eingesetzter Unternehmer dieHerstellung in das Bauwerk einzubauender Sacheneinem Subunternehmer überlässt. Der Unterschiedbesteht darin, dass über den Hauptunternehmer unddessen Verpflichtung ein werkvertraglicher Bezug derLeistung des Subunternehmers zu dem Bauwerk undden dieses betreffenden Arbeiten geschaffen ist. Daskann es gerechtfertigt erscheinen lassen, von einerMitwirkung des Subunternehmers bei dem Bauwerkzu sprechen, wenn er Gegenstände herstellt, damit siedort Verwendung finden. Ein solcher Bezug fehlt imvorliegenden Fall. Außerdem mindert besagte Recht-sprechung Ungereimtheiten, die auftreten können,w enn unterschiedliche Verjährungsfristen zwischenHauptunternehmer und Auftraggeber einerseits undSubunternehmer und Hauptunternehmer andererseitszu beachten wären (Soergel, in: MünchKomm, 3.Aufl., § 638 Rdnr. 29). Solche Ungereimtheiten sindhier nicht zu besorgen. Für den Kl. musste deshalb diekurze Verjährungsfrist gelten, die das Gesetz für denBesteller vorsieht, wenn kein besonderer Sachverhaltgegeben ist.”

4. Ergebnis zu E.Mangels einer Bauwerkleistung des Bekl. greift indiesem Fall nur die sechsmonatige Verjährungsfristmit der Folge ein, dass am 10.05.1995 (6 Monatenach Abnahme) Verjährung eingetreten war.

Endergebnis:Die im Jahr 1999 erhobene Klage hat wegen zwi-schenzeitlicher Verjährung des eingeklagten Gewähr-leistungsanspruchs gem. § 638 I BGB a.F. keine Aus-sicht auf Erfolg.

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Standort: Strafrecht Problem: Einschränkungen des Notwehrrechts

BGH, URTEIL VOM 07.03.2002

3 STR 490/01 (NSTZ 2002, 425)

Problemdarstellung:

Der Angeklagte war in einer Gaststätte in eine Schlä-gerei verwickelt. Nachdem er sich in der Wohnungseiner Freundin ein „Tomatenmesser“ organisiert hat-te, kehrte er zur Gaststätte zurück, um sich seine„Latschen“ zu holen. Es kam erneut zu einer Schläge-rei, in dessen Verlauf der Angeklagte ohne Ankündi-gung zweimal mit seinem Messer zustach und einemBeteiligten dadurch lebensgefährliche Verletzungenzufügte. Das Landgericht vertrat die Ansicht, dass dieTat weder gerechtfertigt noch entschuldigt ist. DerSenat bestätigt die Verurteilung wegen gefährlicherKörperverletzung. Der Angeklagte habe nur einge-schränkte Verteidigungsrechte besessen, weil er dieNotwehrlage durch sein Vorverhalten selbst schuld-haft herbeigeführt habe. Eine anhand der konkretenUmstände des Einzelfalles ausgerichtete Abwägungder Angriffe des Angeklagten und der ihm drohendenVerletzungen führe zu dem Ergebnis, dass der Ange-klagte bei Einsatz des Messers besondere Zurückhal-tung hätte walten lassen müssen. Er hätte dem An-greifer zunächst ausweichen müssen und diesen war-nen müssen, selbst auf die Gefahr hin, dass er weitereMisshandlungen erleiden würde und eine Warnungerfolglos blieb.

Prüfungsrelevanz:Die sog. sozial-ethischen Notwehreinschränkungenzählen zu den prüfungsrelevantesten Themenberei-chen des Allgemeinen Teils. Namentlich die Fallgrup-pe der schuldhaften Herbeiführung der Notwehrlage(Notwehrprovokation) ist immer wieder Gegenstandvon Examensaufgaben. Die herrschende Meinungdifferenziert insoweit zwischen der Absichtsprovoka-tion, die aus Gründen des Rechtsmissbrauches zumAusschluss des Notwehrrechts führt, und der sonstschuldhaften Herbeiführung der Notwehrlage, die ei-ne Einschränkung des Notwehrrechts bewirkt (vgl.insbesondere zu den umstrittenen Voraussetzungender fahrlässigen Notwehrprovokation Kühl, AT, § 7,Rn. 248 ff.). Die vorliegende Entscheidung setzt sichdetailliert mit dem Umfang der Notwehreinschrän-kung auseinander und präzisiert die von der Recht-sprechung vertretene sog. Drei-Stufen-Lehre (s. zurÜbersicht z.B. Lackner/Kühl, StGB, § 32, Rn. 13 ff.;Kühl, AT, § 7, Rn. 258 ff.): Der Provokateur ist zu-nächst verpflichtet, dem Angriff auszuweichen, so-weit damit nicht eine unzumutbare Beeinträchtigungeigener Interessen verbunden ist. Erst wenn er demAngriff nicht zumutbar entgehen kann, darf er zursog. Schutzwehr übergehen und muss versuchen, den

Angreifer durch eine besonders maßvolle, defensiveVerteidigung abzuwehren. Ein Waffeneinsatz ist inso-weit auch dann anzudrohen, wenn durch das Andro-hen Zeit für eine effektivere Verteidigung verlorengeht; der Provokateur ist gezwungen, ein erhöhtesRisiko auf sich zu nehmen und etwaige geringereVerletzungen zu dulden (s. etwa BGHSt 26, 143; 42,97). Allerdings betont der BGH auch in der vorliegen-den Entscheidung, dass der Angegriffene zur Trutz-wehr übergehen darf, wenn die defensive Verteidi-gung erfolglos bleibt, wobei auch auf dieser Stufe dasGebot der schonenden Verteidigung besteht.In diesem Zusammenhang ist auf eine weitere aktuel-le Entscheidung des BGH zu den sozial-ethischenNotwehreinschränkungen im Rahmen von engen per-sönlichen Beziehungen, namentlich beim Angriff un-ter Ehegatten, hinzuweisen (s. zur Übersicht Kühl,AT, § 7, Rn. 198 ff.). Rechtsprechung und Literaturhatten bisher überwiegend angenommen, dass prä-ventive Verteidigungsbedürfnis der Ehefrau, die vonihrem Ehemann geschlagen wurde, sei aufgrund derbestehenden Schutzgarantenpflicht grundsätzlich ein-geschränkt. Das die Notwehr mit begründendeRechtsbewährungsprinzip werde durch die Einstands-pflicht unter Ehegatten überlagert, so dass gewisseNotwehreinschränkungen hinzunehmen seien (s. etwaBGH, NJW 1969, 802; Roxin, AT I, 15/81; Kühl, AT,§ 7, Rn. 201 ff.). Umstritten war geblieben, ob die abweichende Ent-scheidung BGH, NJW 1984, 986 eine grundsätzlicheÄnderung dieser Rechtsprechung mit sich gebrachthat (vgl. die unterschiedlichen Bewertungen durchLoos, JuS 1985, 863; Schroth, NJW 1984, 2562 undMontenbruck, JR 1985, 116). In seiner aktuellen Ent-scheidung lässt der BGH zunächst ausdrücklich offen,ob an der bisherigen Rechtsprechung festgehaltenwerden kann. Das Gericht legt dem Opfer aber dannZurückhaltung auf, wenn es selbst immer wieder dieNähe zum Täter gesucht und damit gleichsam dieNotwehrlage provoziert hat (BGH, NStZ 2002, 203).

Vertiefungshinweise:

“ Zu den Einschränkungen des Notwehrrechts beisonst schuldhafter Herbeiführung der Notwehrlage:BGHSt 39, 374; 42, 97 m. Anm. Krack, JR 1996, 466;Lesch, JA 1996, 883; Kühl, StV 1997, 298.“ Zu den Angriffen unter Ehegatten: BGH , NJW1975, 62; NJW 1984, 986 m. Anm. Loos, JuS 1985,859; Montenbruck, JR 1985, 116; Schroth, NJW1984, 2562; Spendel, JZ 1984, 507.

Kursprogramm:“ Examenskurs: „Autofahrer“

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Leitsätze (der Redaktion):Allein aus dem Umstand, dass der Angegriffeneseine Lage (mit-)verschuldet hat, lässt sich keineallgemeine Aussage ableiten, in welchem Maße ersich im Vergleich zu einem schuldlos in eine Not-wehrsituation Geratenen bei der Abwehr des An-griffs zurückzuhalten hat. Dies hängt vielmehr vonden Umstände n des konkreten Einzelfalles ab. Jeschwerer einerseits die rechtswidrige und vorwerf-bare Verursachung der Notwehrlage durch denAngegriffenen wiegt, um so mehr Zurückhaltungist ihm bei der Abwehr zuzumuten; andererseitssind die Beschränkungen des Notwehrrechts um sogeringer, je schwerer das durch den Angriff dro-hende Übel einzustufen ist.

Sachverhalt:Der Angeklagte A hatte sich am 7. 3. 2001 gegen 0.30Uhr in erheblich angetrunkenem Zustand zusammenmit zwei Freunden in die Gaststätte "E. Treff" in S.begeben. Als ihm dort der Zeuge J. schließlich mitdem Hinweis, er habe bereits genug getrunken, denAusschank eines weiteren Bieres verweigerte, warfder Angeklagte einen Aschenbecher nach dem Zeu-gen, der ihn daraufhin im Ausgangsbereich der Gast-stätte in den Schwitzkasten nahm und ihm Schläge insGesicht versetzte. Der Angeklagte blutete stark ausder Nase, seine Lippe war aufgeplatzt. Sein Freund D.half ihm, sich von dem Zeugen J. zu lösen, und brach-te ihn zu der Wohnung der Zeugin C., der Freundindes Angeklagten, wo er sich von diesem trennte. DerAngeklagte holte sich in der Küche der Wohnung ein"Tomatenmesser" und ging zu der Gaststätte zurück.Er wollte sich seine Latschen holen, die er bei derAuseinandersetzung mit dem Zeugen J. verloren hat-te, und diesen zur Rede stellen. Das Messer nahm ermit, um im Falle einer weiteren Auseinandersetzungmit dem Zeugen, mit der er rechnete, einen besserenSchutz zu haben. Zwar wollte er den Zeugen nichtunbedingt mit dem Messer angreifen, er wollte jedochsichergehen, dass ihn der körperlich überlegene Zeu-ge nicht wieder verletzen werde. Die Gaststätte warzwischenzeitlich verschlossen. Jedoch wurde im Inne-ren weiter ein Geburtstag gefeiert. Nachdem der An-geklagte seine Latschen, die der Zeuge J. mit in dieGastwirtschaft genommen hatte, auf der Straße nichtfinden konnte, klopfte er an die Tür und rief, er wolleseine Latschen wiederhaben. Die Zeugin W. - dieWirtin - öffnete und gab dem Angeklagten seine Lat-schen. Dieser packte die Tür und fragte in aggressi-vem Ton, ob der Mann noch da sei, womit er denZeugen J. meinte, "mit dem er sich auseinander setzenwollte". Die Zeugin W., die neuen Streit befürchtete,verneinte und versuchte die Tür zuzuziehen, was ihrjedoch nicht gelang. Der Angeklagte zog die Tür wie-der auf und äußerte nun, er wolle noch ein Bier. Alser die Zeugin W. mit der Tür fast aus der Gaststätte

herausgezogen hatte, griff der Nebenkläger, der Zeu-ge St., der sich bei der Geburtstagsgesellschaft be-fand, ein. Er ging auf den Angeklagten zu, versetzteihm einen Stoß und unmittelbar danac h zwei Faust-schläge oder Ohrfeigen in das Gesicht. Der Angeklag-te ging im Bereich der Tür zu Boden. Als er sich wie-der aufrappelte, gab ihm der Nebenkläger erneut ei-nen Stoß. Der Angeklagte taumelte zurück und stürzteauf dem Bürgersteig wiederum zu Boden. Der Neben-kläger folgte ihm, möglicherweise auf Grund der mitdem Stoß verbundenen Eigenbewegung oder weil ihnder Angeklagte mitzog, eventuell aber auch auf Grundseines eigenen Entschlusses, "sich weiter mit demAngeklagten auseinander zu setzen". Als sich der An-geklagte aufsetzte, war der Nebenkläger dicht beiihm. Der Angeklagte befürchtete, vom Nebenklägererneut angegriffen und verprügelt zu werden. Er zogdaher das Messer aus der Kleidung und führte, ohneden Nebenkläger vorher zu warnen oder mit demMesser zu bedrohen, zwei bogenförmige Bewegungenin Richtung auf den Nebenkläger. Hierbei brach seinelatente Aggression durch. Er wollte nicht wieder un-terlegen sein und sich nicht erneut, wie zuvor vondem Zeugen J., verprügeln lassen, sondern sich zurWehr setzen. Er wollte sich auch nicht aus der Gefah-renzone wegbewegen oder dem Nebenkläger mittei-len, dass er aufgeben und gehen werde, "obwohl ihmdies möglich gewesen wäre". Er erkannte, dass derNebenkläger ihn nicht zusammenschlagen, "sondernlediglich vertreiben wollte". Bei der ersten bogenför-migen Bewegung des Messers traf der Angeklagteden Nebenkläger am linken Oberschenkel. Die zweiteBewegung führte zu einer Schnitt-/Stichverletzung imBereich des Bauches mit Durchtrennung der Bauch-decke und Eröffnung des Dünndarms, wodurch sichDarminhalt in die Bauchhöhle ergoss, was zu lebens-gefährdenden Entzündungen führte.

Strafbarkeit des A?

Lösung:A. Strafbarkeit des A wegen gefährlicher Körperver-letzung gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2, 5 StGB durch dieMesserstiche

I. Tatbestand

1. GrundtatbestandDurch die beiden Messerstiche hat A den St sowohlan der Gesundheit geschädigt als auch körperlichmisshandelt.

2. Qualifikationsmerkmale i.S. des § 224 I StGBDas bei der Tat eingesetzte „Tomatenmesser“ stelltein gefährliches Werkzeug i.S. des § 224 I Nr. 2 StGBdar. Darüber hinaus führte der zweite Messerstic h zulebensgefährdenden Entzündungen, so dass auch der

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Qualifikationstatbestand des § 224 I Nr. 5 StGB ver-wirklicht ist.

3. VorsatzA handelte sowohl hinsichtlich der Verwirklichungdes Grundtatbestandes als auch hinsichtlich der Quali-fikationsmerkmale jedenfalls mit bedingtem Vorsatz(dolus eventualis).

II. RechtswidrigkeitDie Tat könnte durch Notwehr gem. § 32 II StGB ge-rechtfertigt sein.

1. Zur NotwehrlageEs müsste zunächst eine Notwehrlage, mithin ein ge-genwärtiger, rechtswidriger Angriff vorgelegen ha-ben. Hierzu führt der BGH aus:

a. Die Ansicht des Landgerichts „Das LG ist der Ansicht, die Tat des Angeklagten seinicht durch Notwehr gerechtfertigt (§ 32 StGB). Zwarhabe sich der Angeklagte im Zeitpunkt des Messer-einsatzes an sich in einer Notwehrlage befunden.Denn nur die "ursprünglic he Aktion" des Nebenklä-gers im Bereich der Gaststättentür zur Abwehr desbevorstehenden Hausfriedensbruchs des Angeklagtensei durch ein Nothilferecht zugunsten der GastwirtinW. gerechtfertigt gewesen; da es aber genügt habe,den Angeklagten von der Tür wegzuschieben und die-se dann zu verschließen, habe der Nebenkläger durchseine weiteren Angriffe die Grenzen seines Nothilfe-rechts überschritten und seinerseits rechtswidrig ge-handelt. Jedoch habe der Angeklagte seine nunmehrbestehende Notwehrlage durch den Versuch desHausfriedensbruchs "provoziert", so dass seine Ab-wehrrechte eingeschränkt gewesen seien. Die Gren-zen dieses eingeschränkten Notwehrrechts habe er beiseiner Verteidigung überschritten, seine Tat sei dahernicht gerechtfertigt.“

b. Die Ansicht des BGHZu dieser Würdigung durch die Strafkammer stellt derBGH fest: „Es bedarf dabei keiner Entscheidung, obdie Ansicht des LG zutrifft, der Angeklagte habe sichim Zeitpunkt des Messereinsatzes in einer Notwehr-situation befunden. Hiergegen könnten Bedenken be-stehen, denn die getroffenen Feststellungen lassennicht eindeutig erkennen, ob in dem Moment, als derNebenkläger den Angeklagten zum zweiten Mal zuBoden gestoßen hatte und erneut auf ihn eindrang, derAngriff des Angeklagten auf das Hausrecht und dieFreiheit der Willensbetätigung der Gastwirtin W. be-reits endgültig abgewehrt und damit ohne Befürch-tung unmittelbarer Wiederholung vollständig abge-schlossen war (vgl. BGHSt 27, 336, 339; BGH NStZ1987, 20; Tröndle/Fischer, StGB 50. Aufl. § 32 Rdnr.10 m.w. Nachw.), so dass sich das weitere Vorgehen

des Nebenklägers als gegenwärtiger rechtswidrigerAngriff auf den Angeklagten darstellte. Das LG stelltnicht fes t, dass der Angeklagte auf Grund des Ein-greifens des Nebenklägers erkennbar seine Absichtaufgegeben hätte, eine Auseinandersetzung mit demZeugen J. oder den Ausschank eines weiteren Biereszu erzwingen. Hiergegen könnte sprechen, dass er beidem Messereinsatz immer noch durch die aggressiveStimmung beherrscht war, die aus der vorangegange-nen Auseinandersetzung mit dem Zeugen J. resultier-te.“

c. ZwischenergebnisEs steht nicht fest, ob eine Notwehrlage bestand. Dieskann jedoch dahinstehen, wenn eine Rechtfertigungdes A aus einem anderen Grund nicht in Betrachtkommt. 2. Notwehrhandlung

a. Geeignetheit und ErforderlichkeitDie Notwehrhandlung muss geeignet und erforderlichgewesen sein. Der Messereinsatz stellte ein tauglichesAbwehrmittel dar und es ist auch nicht ersichtlich,dass dem A gegen einen - unterstellten - Angriff desSt ein gleich effektives, aber milderes Mittel zur Ver-fügung gestanden hat.

b. Einschränkung des Notwehrrechts wegen schuld-hafter Herbeiführung der NotwehrlageEs kommt jedoch eine Einschränkung des Notwehr-rechts wegen schuldhafter Herbeiführung der Not-wehrlage in Betracht. Hierzu stellt der BGH fest: Eskann dahinstehen, ob eine Notwehrlage bestand, „weildem LG im Ergebnis jedenfalls darin beizupflichtenist, dass der Angeklagte gegenüber einem rechtswidri-gen Angriff des Nebenklägers in seinen Verteidi-gungsrechten eingeschränkt war, weil er die Notwehr-lage durch sein vorangegangenes Verhalten selbstschuldhaft herbeigeführt hatte (vgl. allg. BGHSt 24,356; 26, 256; 39, 374; 42, 97); durch den Messerein-satz überschritt er die Grenzen dieses eingeschränktenNotwehrrechts; er handelte daher seinerseits rechts-widrig.“

aa. Umfang der Einschränkung„Allein aus dem Umstand, dass der Angegriffene sei-ne Lage (mit-) verschuldet hat, lässt sich allerdingskeine allgemeine Aussage ableiten, in welchem Maßeer sich im Vergleich zu einem schuldlos in eine Not-wehrsituation Geratenen bei der Abwehr des Angriffszurückzuhalten hat. Dies hängt vielmehr von den Um-ständen des konkreten Einzelfalles ab. Je schwerereinerseits die rechtswidrige und vorwerfbare Verursa-chung der Notwehrlage durch den Angegriffenenwiegt, um so mehr Zurückhaltung ist ihm bei der Ab-wehr zuzumuten; andererseits sind die Beschränkun-

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URTEILE IN FALLSTRUKTURRA 2002, HEFT 8

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gen des Notwehrrechts um so geringer, je schwererdas durch den Angriff drohende Übel einzustufen ist(BGHSt 39, 374, 379; 42, 97, 101).Im Rahmen dieser Abwägung ist dem Angeklagtenhier sein Angriff auf das Hausrecht und die Freiheitder Willensbetätigung der Gastwirtin W. anzulasten,weil er versuchte, widerrechtlich in die Gaststätte ein-zudringen und dabei die Wirtin gewaltsam am Schlie-ßen der Türe hinderte, um die beabsichtigte Ausein-andersetzung mit dem Zeugen J. bzw. den Ausschankeines weiteren Bieres, der ihm wegen seiner Alkoholi-sierung schon bei seinem ersten Aufenthalt in derGaststätte verweigert worden war, zu erzwingen.Demgegenüber ist nach den insoweit nicht ganz ein-deutigen Feststellungen des LG zugunsten des Ange-klagten davon auszugehen, dass ihm jedenfalls weite-re Schläge des Nebenklägers drohten. Lebensgefähr-dende oder seine Gesundheit nachhaltig schädigendeVerletzungshandlungen des Nebenklägers standenjedoch ersichtlich nicht zu erwarten.“

bb. „Drei-Stufen-Lehre“ „Die Abwägung zwischen der dem Angeklagtendurch den Angriff des Nebenklägers danach drohen-den weiteren Verletzung seiner körperlichen Integritätund dem Maß seines Verschuldens an der Entstehungseiner Notwehrlage ergibt für die Einschränkung sei-ner Notwehrbefugnisse folgendes“:

(1). Grundsätze„Der Angeklagte musste zunächst versuchen, demAngriff des Nebenklägers auszuweichen (BGHSt 24,356, 358; 42, 97, 100). Konnte er dem Angriff da-durch nicht entgehen, war er zwar nicht verpflichtet,auf den Einsatz des Messers als Abwehrmittel unterallen Umständen zu verzichten (vgl. BGHSt 24, 356,358 f.). Denn allein auf Grund dessen, dass er rechts-widrig und schuldhaft die Ursache für seine Notwehr-lage gesetzt hatte, war ihm sein Notwehrrecht nichtvollständig genommen. Vielmehr war dieses Rechtlediglich Beschränkungen unterworfen, die ihrerseitsnicht unbegrenzt andauerten (BGHSt 39, 374, 379m.w. Nachw.). Auch war sein vorhergegangener An-griff auf die Rechtsgüter der Gastwirtin W. nicht sogewichtig, dass er allein deshalb unabhängig von derweiteren Entwicklung der "Kampflage" unter allenUmständen die weitere Auseinandersetzung mit demNebenkläger nur mit bloßen Händen hätte führen dür-fen (vgl. BGHSt 24, 356, 359; 39, 374, 379; 42, 97,100). Jedoch war er vor und bei dem Einsatz des Mes-sers zu besonderer Zurückhaltung verpflichtet. Er hat-te daher den Messereinsatz zunächst anzudrohen, umdem Nebenkläger das erhöhte Risiko eines weiterenAngriffs aufzuzeigen, und zwar auch dann, wenn erdurch dieses Androhen Zeit für eine effektivere Ver-teidigung verlor und daher Gefahr lief, zunächst wei-tere Schläge des Nebenklägers hinnehmen zu müssen.

Erst wenn auch dies erfolglos blieb, durfte er dasMesser einsetzen, wenn auch nicht sofort in lebens-gefährdender Weise, sondern zunächst nur zurSchutzwehr. Nur wenn der Nebenkläger auch hier-durch nicht von weiteren Angriffen abzuhalten war,durfte der Angeklagte zur Trutzwehr übergehen.“

(2). Zum vorliegenden Fall„Nach diesen Maßstäben war das Verteidigungsver-halten des Angeklagten nicht durch Notwehr gerecht-fertigt. Der Angeklagte hat schon nicht den gebotenenVersuch unternommen, sich dem Angriff des Neben-klägers durch tatsächliches Ausweichen oder denmündlichen Hinweis, er werde jetzt Ruhe geben, zuentziehen. Dabei kann dahinstehen, ob die Überzeu-gung des LG, der Nebenkläger hätte sich hierdurchtatsächlich von einem weiteren Vorgehen gegen denAngeklagten abhalten lassen, eine tragfähige tatsäch-liche Grundlage im Beweisergebnis findet. Hieraufkommt es nicht an, da der Angeklagte auf Grund sei-nes Verschuldens der Notwehrsituation auch dannversuchen musste, sich dem Angriff des Nebenklägersdurch Ausweichen zu entziehen, wenn der Erfolg die-ses Versuchs zweifelhaft war und daher die Gefahrbestand, zunächst weitere Schläge des Nebenklägershinnehmen zu müssen. Gleiches gilt bezüglich dergebotenen Warnung vor dem Messereinsatz. Auchinsoweit ist nicht entscheidend, ob ein mündlicherHinweis auf das Messer oder eine schlüssige War-nung vor dessen Einsatz vor den drohenden weiterenSchlägen noch so rechtzeitig möglich gewesen wäre,dass auch im Falle eines Misserfolgs der Warnungnoch ein effektiver Messereinsatz zur Schutzwehrgewährleistet war. Vielmehr musste der Angeklagtedas Risiko eingehen, dass seine Warnung nichtsfruchtete und er in der konkreten Kampflage wegender durch die Warnung eingetretenen Verzögerungeiner wirksameren Verteidigung zunächst weitereMisshandlungen erleiden werde; denn schwere odergar lebensgefährdende Verletzungen drohten ihm un-mittelbar nicht. Schon danach kommt eine Rechtferti-gung des Messereinsatzes nach § 32 StGB nicht inBetracht, so dass es keiner Erörterung mehr bedarf, obder Angeklagte bei diesem Einsatz mit der gebotenenZurückhaltung vorgegangen ist.“Die Tat des A ist nicht durch Notwehr gerechtfertigtund - in Ermangelung anderweitiger Rechtfertigungs-gründe - somit rechtswidrig.

III. SchuldA handelte auch schuldhaft. Insbesondere ist seine Tatnicht gem. § 33 StGB entschuldigt.

B. ErgebnisA hat sich wegen gefährlicher Körperverletzung gem.§§ 223 I, 224 I Nr. 2, 5 StGB strafbar gemacht.

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RA 2002, HEFT 8LITERATURAUSWERTUNG

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Literaturauswertung

Öffentliches Recht

Autor/Titel: Dietlein, Johannes: “Rechtsfragen des Zugangs zu öffentlichen Einrichtungen”

Fundstelle: Jura 2002, 445 (Heft 7)

Inhalt: Hervorragende, umfassende Darstellung aller Rechtsfragen zum Thema “Zugang zu öffentli-chen Einrichtungen”. Der Autor geht u.a. auf die Anspruchsvoraussetzungen, aber auchHaftungs- und Rechtswegfragen (einschließlich des vorläufigen Rechtsschutzes) ein und er-läutert die Probleme anhand kleiner Beispielsfälle.

Autor/Titel: Burkiczak, Christian: “Kanzlerwahl, Misstrauensvotum und Vertrauensfrage”

Fundstelle: Jura 2002, 465 (Heft 7)

Inhalt: Der Beitrag behandelt umfassend die Stellung des Bundeskanzlers nach dem Grundgesetz.Angesprochen werden u.a. seine Aufgaben, die Wahl des Bundeskanzlers und die Möglich-keiten zu seiner Ablösung, wobei neben der Darstellung der rechtlichen Rahmenbedingungenjeweils auch die bisherige Staatspraxis dargestellt wird. Das Thema ist anlässlich der bevor-stehenden Bundestagswahlen besonders interessant.

Autor/Titel: Proppe, Günter: “Die dienstlich angeordnete Ersatzaufsicht”

Fundstelle: JA 2002, 701 (Heft 8/9)

Inhalt: Eine (Anwalts-)Klausur für Assessoren, die einer mittelschweren Klausur aus dem 2. Staats-examen entspricht. Inhaltlich geht es um beamtenrechtliche Probleme, vor allem die gericht-liche Überprüfbarkeit innerdienstlicher Weisungen mittels Feststellungsklage, § 43 VwGO.

Zivilrecht

Autor/Titel: Münch, Joachim: “Die “nicht wie geschuldet” erbrachte Leistung und sonstige Pflichtverlet-zungen”

Fundstelle: Jura 2002, 361 (Heft 6)

Inhalt: Der Beitrag untersucht die Kodifizierung des Rechtsinstituts der “Positiven Forderungsverlet-zung” auf seine Beihaltung der durch Rechtsprechung und Literatur langjährig entwickeltenGrundsätze sowie seine Einbindung in das allgemeine Leistungsstörungsrecht.

Autor/Titel: Reinkenhof, Michaela: “Das neue Werkvertragsrecht”

Fundstelle: Jura 2002, 433 (Heft 7)

Inhalt: Der Beitrag stellt die vor allem das Gewährleistungsrecht betreffenden Veränderungen imWerkvertragsrecht infolge der Schuldrechtsmodernisierung dar; vgl. insoweit auch die Litera-turauswertung in RA 07/2002.

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LITERATURAUSWERTUNGRA 2002, HEFT 8

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Autor/Titel: Stadler, Astrid / Bensching, Claudia: “Die Vollstreckung in schuldnerfremde Sachen”

Fundstelle: Jura 2002, 438 (Heft 7)

Inhalt: Gelungene Aufarbeitung einer klassischen Examensthematik.

Autor/Titel: Wagner, Gerhard: “Das Zweite Schadensersatzrechtsänderungsgesetz”

Fundstelle: NJW 2002, 2049 (Heft 29)

Inhalt: Das neue Schadensersatzrecht, das zum 01.08.2002 in Kraft getreten ist, bringt tief greifendeVeränderungen in verschiedenen Bereichen des Haftungs- und Schadensersatzrechts, die indiesem Beitrag ausführlich dargestellt und erläutert werden.

Strafrecht

Autor/Titel: Kinzig, Jörg / Luczak, Anna: “Verscherbeln, abzocken und andere Geschäfte”

Fundstelle: Jura 2002, 493 (Heft 7)

Inhalt: Klausurfall mit Schwerpunkt im Strafrecht AT, namentlich bei der Abgrenzung von Mittäter-schaft und Beihilfe sowie den Versuchsproblemen (unmittelbares Ansetzen; Rücktritt bei Be-teiligung mehrerer). Im BT geht es um Vermögensdelikte (Raub, Hehlerei, Betrug), in prozes-sualer Hinsicht um das Tätigwerden verdeckter Ermittler.

Autor/Titel: Kudlich, Hans: “Neue Probleme bei der Hehlerei (§ 259 StGB)

Fundstelle: JA 2002, 672 (Heft 8/9)

Inhalt: Nach einer komprimierten Wiederholung der Grundstrukturen bietet der Beitrag eine umfas-sende Erörterung der in der aktuellen Rechtsprechung aufgekommenen Probleme bei § 259StGB, welche erfahrungsgemäß besondere Prüfungsrelevanz besitzen.

Autor/Titel: Fahl, Christian: “Taschenbuch-Fall”

Fundstelle: JA 2002, 649 (Heft 8/9)

Inhalt: Der Beitrag beschäftigt sich mit der berühmt gewordenen Entscheidung des OLG Celle (NJW1967, 1921) zur Zueignungsabsicht bei Rückgabewillen (gelesenes Buch), also der Abgren-zung zwischen strafbarem Diebstahl und strafloser Gebrauchsanmaßung. Der Autor bleibtnicht bei der - bereits für sich genommen sehr lehrreichen - Besprechung der historischen Ent-scheidung stehen, sondern stellt im Anschluss daran auch die weitere Entwicklung der Rspr.und Lit. dar.