Steingart.gabor.weltkrieg.und.Wohlstand

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Gabor SteingartWeltkrieg um Wohlstand

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Gabor Steingart

Weltkrieg um WohlstandWie Macht und Reichtumneu verteilt werden

Mit 24 schwarz-weißen und farbigen Grafiken

PiperMünchen Zürich

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Dokumentation:Rainer Lübbert, Bernd Musa, Holger WilkopGrafiken:Martin Brinker

ISBN-13: 978-3-492-04761-6ISBN-10: 3-492-04761-0© Piper Verlag GmbH, München 2006Satz: seitenweise, TübingenDruck und Bindung: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in Germany

www.piper.de

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Inhalt

Vorwort 9

KAPITEL 1 Europa über alles.Die Generalprobe der Globalisierung

Die Imperialisten kommen 15 • Rohstoff Mensch. DerIndustriekapitalismus entsteht 21 • Die neue Sicht derDinge. Entdecker werden zu Erfindern 25 • Der Fabrik-arbeiter. Fußsoldat des Industriezeitalters 29 • Schneller,höher, tiefer. Kapitalismus in der Krise32•Großbritannienim Größenwahn 35 • Deutschland. Die verspätete Kolo-nialmacht 38 • China. Ein Weltreich im Würgegriff desWestens 40 • Wer geht, wer kommt? Eine erste Globali-sierungsbilanz 44 • Der Fehlstart.WarumdieGeneralprobeder Globalisierung scheitern musste 49

KAPITEL 2 Das amerikanische Jahrhundert.Eine Schlussbilanz

Nation wider Willen 55 • Staat im Säurebad. Eine Welt-macht entsteht 81 DieSklavenhaltergesellschaft.Amerikabefreit sich selbst 65 • Hitlers Hilfe. Wie die USA vomZweiten Weltkrieg profitierten 75 • Totalglobal.EinLandblüht auf 80 • Kennedy und Keynes. Das Traumpaar der60er Jahre 86 • Das Optimismus-Gen. Wenn Stärken zuSchwächen werden 94 • Mittelschicht in Auflösung. Die

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neue Ungleichheit 97 • Die Dollarillusion 103 • Panik-blüte. Die Scheinerfolge der USA 107

KAPITEL 3 Neue Rivalen. Die asiatische Herausforderung

Monster Mao 115 • Der große Sprung zurück 117 • Dasrote China. Eine Schadensbilanz 121 • Deng Xiaoping.Kleiner Mann ganz groß 123 • China. Der Neustart 126 •Indien. Die Last der Vergangenheit 135 •DerKolonialkom-plex. Indiens Angst vor dem Ausverkauf 141 • DerWeckruf.Wie Gorbatschow die Inder zu Reformern machte 145 •Reformer Rao. Ein Rentner dreht auf 148 • Die Angreifer-staaten. Asien vibriert 156 • Die Abschiedsgesellschaften.Requiem auf die Sowjetunion 159

KAPITEL 4 Weltkrieg um Wohlstand. Wie Machtund Reichtum neu verteilt werden

Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Ein Weltarbeitsmarkt ent-steht 169 • Die eiserne Faust des Markts 177 ■ EinSchiffwird kommen. Die Arbeitskraft geht auf Reisen 184 • DieFabriken verlassen ihre Belegschaften 191 ■I Industriearbei-ter a. D. 199 • Mit Sozialstaat oder ohne? König Kunde imGlobalisierungsfieber 204 • Wer ist der Nächste? 210 •Der große Wissenstransfer 213 • Der nächste Einstein wirdInder sein 223 ■ Stille Abschiede. Kapitalismus ohneKapital 228 • »Schwärmt aus.« Die Asiaten kaufenZeit 231 • Schutzmacht Staat. Chinas gelenkte Marktwirt-schaft 236 • Verraten. Vergiftet. Verkauft. Umweltzer-störung als Wachstumsmotor 246 • Wer gewinnt und werverliert? Eine Zwischenbilanz 248 • Europa. Eine neueUnterschicht entsteht 255 • Viele Triumphe und ein Todes-fall. Die Tragik der Gewerkschaften 258

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KAPITEL 5 Aggressives Asien.Weltfrieden in Gefahr? 267

Reich und halbstark 267 • Wo liegt das neue Saraje-vo? 271 • Kontinent der Bombenbauer. Asien rüstetauf 281

KAPITEL 6 Scheitert Europa?Strategien der Gegenwehr 289

Der erschöpfte Kontinent 283 • Das Ende der Volksnar-kose 293 • Die neue Ehrlichkeit 299 • Vorbild Reichs-notopfer. Die Wende zum Weniger 302 • Die europäischeIdee. Den Primat der Vergangenheit überwinden 312 • Aufden Nationalstaat kommt es an. Ein Weckruf 318 • DerSozialstaat ist tot. Es lebe der Sozialstaat! 324 • Das euro-päische Wirtschaftskabinett. Politiker aller Länder, vereinigteuch 326 • Wer den Handelskrieg verhindern will, mussihnvorbereiten. Strategien einer Gegenwehr 329 • »Ein Haupt-günstling des Glücks«. Die Irrtümer des David Ricar-do 334 • Protektion! 351 • Westintegration. Die Ideeeiner europäisch-amerikanischen Freihandelszone 361 •Die große Kraftanstrengung 388

»Die Welt ist nervöser geworden« 371

Gespräch mit dem Wirtschaftsnobelpreisträger Paul A. Samu-elson, 91, über wachsende Arbeitslosenzahlen, schrumpfendeSozialstaaten und sein Leben im Zeitalter der Globalisie-rung 371

Literaturverzeichnis 3S8

Danksagung 398

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Vorwort

Wir wurden in eine Welt hineingeboren, die es bald nicht mehrgeben wird. Vor unser aller Augen findet eine Metamorphosestatt, wie sie im Leben der Nationen nicht alle Tage vorkommt.Milliardenvölker, die wir gestern noch als Teil der Dritten Weltansahen, richten sich auf. Wir sind Zeitzeugen eines unge-wöhnlichen Ausbruchs an Vitalität, wie Helmut Schmidt dasnennt.

Die Zeit westlicher Dominanz geht damit zu Ende. Der Mit-telpunkt der Welt wanderte nach zwei Weltkriegen von Europanach Amerika, um sich nun in Richtung Asien zu verschieben.Eine neue Topographie der Macht bildet sich heraus. Wir soll-ten mit Wohlwollen und Respekt nach Fernost blicken, aberfrei von Naivität. Es findet dort nicht eine Fortsetzung unsererGegenwart statt, sondern der Beginn einer neuen.

Was mit dem Aufstieg Japans begann, mit dem Erstarkender Tigerstaaten Singapur, Hongkong, Taiwan und Südkoreasich fortsetzte, wird nun von Chinesen und Indern vollendet.Ihre Erfolge der letzten zehn Jahre sind das Beeindruckendste,was die Wirtschaftsgeschichte der Erde je gesehen hat: DieEngländer brauchten knapp 60 Jahre, die USA rund 40 Jahre,um ihr Bruttosozialprodukt pro Kopf zu verdoppeln, Japanschaffte es in etwa der gleichen Zeit, China benötigte nurzwölf Jahre. Schon im Jahr 2035 dürften China und Indienzusammen mit ihrer Kaufkraft den Weltmarkt beherrschen.

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10 Vorwort

War der europäische Weltmarktanteil vor Ausbruch des Ers-ten Weltkriegs noch dreimal so groß wie der von China undIndien, wird er innerhalb der nächsten drei Jahrzehnte auf nurnoch die Hälfte der Wirtschaftskraft dieser beiden Länder ge-schrumpft sein. Selbst die USA, der heute beherrschende Spie-ler auf dem Weltmarkt, sind dann hinter China und Indien zu-rückgefallen. Die Wirtschaftsmaschine des Westens bleibtauch künftig stark, aber sie ist dann nicht mehr die stärkste.Die westlichen Werte von Demokratie und Freiheit geltennoch, aber bei weitem nicht universell. Das Leben in NewYork, Paris, London und Berlin geht weiter, aber im fernenAsien entsteht eine neue Hochkultur, deren Selbstbewusstseinschnell auch in Übermut umschlagen kann.

Die neue Welt ist keineswegs friedlicher als die alte. Diemodernen Siege werden auf dem Feld der Wirtschaft errungen.Aber von dort werden sie weitergetragen zu Politikern undMilitärs. Berauscht vom märchenhaften Aufstieg der vergan-genen Jahrzehnte erklärten die Ministerpräsidenten von Chinaund Indien erst kürzlich, dass es ihnen darum ginge, »die Weltneu zu ordnen«. Die Aufrüstung in Asien hat bereits heuteenorme Ausmaße angenommen. Die Atomrakete gilt als dasStatussymbol der neuen Reichen.

Trotz internationaler Warenströme und intensiver Handels-verflechtung ist die Gefahr kriegerischer Konflikte nicht ge-sunken. Der Aufstieg Asiens wird von fiebriger Nervositätauf dem eigenen Kontinent begleitet. Die neu gewonneneWirtschaftskraft hat das Selbstbewusstsein der Asiaten beflü-gelt und das Misstrauen untereinander verstärkt. Die ökonomi-schen Ungleichgewichte - die innerhalb der Nationen und diezwischen ihnen - sind ein Treibsatz von außerordentlicherSprengkraft.

In Asien werden derzeit über zwei Milliarden Menschen zuMitwirkenden an einem unerhörten Menschenexperiment, dases in dieser Größe und mit dieser Konsequenz nie zuvor gege-

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ben hat. Mit großer Brutalität gegenüber der natürlichen Um-welt und den eigenen Landsleuten konzentrieren die »Angrei-ferstaaten« ihre Mittel in der Exportindustrie. Dort herrschendie rauen Sitten eines ursprünglichen Kapitalismus. Die sozia-len Sicherungen bleiben ausgeschaltet, was den betroffenenArbeitern und dem Westen gleichermaßen zu schaffen macht.Die Übernahme der einfachen Lohnarbeit war nur das Eröff-nungsgebot der Asiaten. Der Angriff auf den Mittelstand unddie modernen Hightech-Arbeitsplätze des Westens steht un-mittelbar bevor. Die asiatischen Staaten haben ihre Investitio-nen in Forschung und Bildung in beeindruckende Höhen ge-schraubt. Ihr Ziel ist Dominanz, nicht stille Teilhabe. Siewollen führen, nicht folgen.

Dieses Buch geht den Kräften nach, von denen die weltweiteVeränderung angetrieben wird: Woher bezieht die Globalisie-rung ihre ungeheure Energie? Wie verändern und verformensich unter der Wucht dieser Prozesse unser Leben und die poli-tischen Systeme? Wer gewinnt und wer verliert auf dem neuentstehenden Weltarbeitsmarkt? Was bleibt von dem, was wirheute den Westen nennen?

Hier soll ein Blick auf eine Wirklichkeit geworfen werden,die in den Reden von Politikern und Wirtschaftsführern oftvernachlässigt, zuweilen verniedlicht und nicht selten ge-leugnet wird. Wenn es um das Verhältnis zu anderen Staatengeht, sprechen sie von Partnerschaft, um den Ereignissen dasSchroffe zu nehmen. Sie erklären die Globalisierung zumNaturereignis, zur »Sturmflut«, wie der ehemalige Daimler-Chef Edzard Reuter sagt, auch um ihre Verantwortung zu rela-tivieren. Viele behaupten noch immer, dass alle Völker glei-chermaßen von diesem Prozess profitieren, obwohl genau dasnicht der Fall ist. Doch so ist das zuweilen in der Politik: Mitder Sorge um die wählerwirksame Vermittlung von Erkenntnisverschwindet die Erkenntnis selbst.

Der Westen besitzt bis heute keine Bedrohungsanalyse. In

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12 Vorwort

der Stunde der Herausforderung sind Gegner wie Befürworterder Globalisierung im Irrtum vereint. Die Globalisierungsbe-fürworter glauben, man könne mit Hilfe des Freihandels undeines weltweiten Kapitalmarkts gefahrlos seine Absatzgebieteerweitern. Die Antreiber des Prozesses seien automatisch auchdie Gewinner. Die Globalisierungsgegner sehen mit den glei-chen Augen auf die Welt, nur durch eine andere Brille. Dieinternationale Wirtschaftsverflechtung bedeutet für sie nochimmer die Unterdrückung und Ausbeutung der Dritten Welt.

In Wahrheit haben Gewinner und Verlierer im Weltkrieg umWohlstand die Rollen getauscht. Die neue Stärke der Asiatenführt zur Schwächung des Westens. Ihr Aufstieg ist unserAbstieg. In Europa sind schon heute Massenarbeitslosigkeitund Staatsverschuldung zu besichtigen. In Amerika wachsenHandelsbilanzdefizite und der Schuldenstand der Privathaus-halte. Viele bezahlen den noch immer wachsenden Konsummit neuen Krediten, also einem Teil jener Zukunft, die siedadurch zerstören. Lange kann sich der Westen diese Gegen-wart nicht mehr leisten.

Die Globalisierungsbilanz ist für den Westen gekippt. DieAngreiferstaaten konnten in den vergangenen zwei Jahrzehn-ten den produktiven Kern ihrer Volkswirtschaften, also jeneSphäre, in der Kapital und Arbeit miteinander reagieren, umden Wohlstand einer Nation zu mehren, spürbar vergrößern.Der produktive Kern des Westens hingegen zieht sich zusam-men. China und Indien integrieren Jahr für Jahr Millionen vonMenschen in den Arbeitsprozess, der Westen steuert MillionenMenschen aus. Für die Noch-Beschäftigten gibt es von allemweniger - weniger Lohn, weniger Kündigungsschutz, undauch der Sozialstaat zieht sich aus ihrem Leben zurück.Die auf den Barrikaden der französischen Revolution er-richteten Gesellschaften, den Werten von Freiheit, Gleichheitund Brüderlichkeit verpflichtet, stehen vor historischenHerausforderungen. Die westlichen Politiker reagieren fahrig,

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Vorwort 13

verstört und oft widersprüchlich. Sie preisen die Vorzüge derGlobalisierung, um zeitgleich ihre Wähler auf die Wendezum Weniger einzuschwören. Dabei sind die Nationalstaatennicht so machtlos, wie sie glauben. Die Europäische Unionbesitzt mehr politischen Spielraum, als sie von sich behauptet.Der Westen ist wehrhafter, als er derzeit erscheint. Gute Politikbeginnt mit dem Aussprechen dessen, was ist. Dazu will diesesBuch ermuntern.

Berlin, im September 2006 Gabor Steingart

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KAPITEL 1

Europa über alles.Die Generalprobe der Globalisierung

Die Imperialisten kommen

Wer die Mächtigen des 19. Jahrhunderts mit denen zu Beginndes 21. Jahrhunderts vergleicht, stellt fest: Zu Zeiten vonNapoleon, Königin Victoria und Kaiser Wilhelm II. ging esrauer zu als unter der Führung von Jacques Chirac, Tony Blairoder Angela Merkel. Die Herrschenden neigten dazu, dieDinge gewalttätig zu lösen. Sie waren roh und undemokratischund hielten wenig von Menschen, die sich in Herkunft undHautfarbe von ihnen unterschieden. Hunderttausende vonToten nahmen sie billigend in Kauf, wenn es denn der Durch-setzung ihrer Interessen diente. Was heute den Generalsekretärder Vereinten Nationen auf den Plan rufen und unweigerlichvor dem Kriegsverbrechertribunal enden müsste, garantierteseinerzeit einen goldumrandeten Eintrag im Buch der Ge-schichte. Eine mit Stolz zur Schau getragene Rücksichtslosig-keit war das Erkennungszeichen einer ganzen Epoche.

Nur eines hatten die Mächtigen von damals den heutigenStaats- und Regierungschefs voraus: Sie waren ehrlicher. Diekunstvoll ins Werk gesetzte Geheimdiplomatie überließ manden Botschaftern und Außenministern. Die Despoten pflegtenim Umgang miteinander den direkten Ton. Freund und Feindwussten, woran sie waren. Wer in die vergangenen Jahrhun-derte hineinhorcht, kann die mächtigen Männer hören, wiesie mit schnarrender Stimme ihr Wollen in Worte fassten,über Länder hinweg einander in Schonungslosigkeit verbun-

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den. Vom ewigen Frieden eines Immanuel Kant träumten diewenigsten. Napoleon bekannte vor kriegsgefangenen Österrei-chern in großer Schlichtheit, wonach ihm der Sinn stand: »Ichwill Schiffe, Kolonien, Handel.« Über ferne Kontinente wurdegesprochen wie über Schnäppchen, die es zu erhaschen galt,bevor der Nachbar Zugriff. »Brächte man den größten Teil derWelt unter unsere Herrschaft«, so der englische Kolonialpoli-tiker (und Besitzer zahlreicher Diamantengruben) Cecil Rho-des, »würde das das Ende aller Kriege bedeuten.« Der Mannging als der rücksichtsloseste Kolonialisierer in die afrikani-sche Geschichte ein. Sein Schlachtruf überdauerte die Jahr-hunderte: »Ausdehnung ist alles.«

Die Hymne seiner Soldaten war befeuert vom Überlegen-heitsgefühl, das sich zur Unterstützung gern auch der geradeerfundenen Maschinengewehre vom Typ »Maxim« bediente:

Vorwärts Ihr königlichen Soldaten, auf ins heidnische Land.Die Gebetsbücher in Euren Taschen, die Gewehre in der Hand.Tragt die ruhmreiche Botschaft dorthin, wo gehandelt werden

kann, es ist nicht schwerverbreitet die frohe Botschaft - mit einem Maxim-Gewehr.

Die Herzen der erbärmlichen Eingeborenen sind voller Sünde.Verwandelt ihre heidnischen Tempel in spirituelle Gründe.Und gehen sie mit Euren Lehren nicht einher,haltet ihnen eine weitere Predigt — mit dem Maxim-Gewehr.

Wenn sie die zehn Gebote ungefähr erkennen,müßt Ihr ihren Häuptling täuschen und ihr Land umbenennen;Und wenn sie fehlgeleitet Euch zur Rechenschaft zieh 'nHaltet ihnen noch eine Predigt - mit der Maxim.

Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts meldetensich auch jene unmissverständlich zu Wort, die sich bisher

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eher zurückgehalten hatten, Amerikaner und Deutsche. BeideNationen wollten mitreden, wenn es um die Neuaufteilung derErdkugel ging. Die USA, so ihr damaliger Präsident TheodorRoosevelt, müssten »mit sanfter Stimme sprechen, aber einendicken Knüppel in der Hand halten«. Der dicke Knüppel wardie eigene Seestreitmacht, deren Aufbau er zügig vorantrieb.

Der deutsche Kaiser Wilhelm II. war bald weit über dieGrenzen seines Reiches hinaus bekannt als Freund einer Spra-che, in der Größenwahn und die Geringschätzung seiner Zeit-genossen unverstellt zum Ausdruck kamen. Den widerspens-tigen Chinesen, die sich gegen westliche Willkür wehrten,schickte er Soldaten; sie sollten, so rief er den in Bremerhavenan Bord gehenden Militärs hinterher, im Reich der Mitte wüten»wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel«.Das taten sie dann auch.

Heute ist das öffentliche Leben dagegen eine raffiniert aus-geleuchtete Maskerade. Schon die unbedeutendsten Politikerkommen als Staatsmänner in die Manege marschiert. Diemeisten ihrer Posen sind nur geliehen. Wenn sie vom Kampfreden, dem gegen Massenarbeitslosigkeit und Armut, dem fürsaubere Luft oder den Weltfrieden, hoffen sie, dass auf dieseWeise unbemerkt bleibt, wie sich ihr politisches Wirken amEnde wieder nur in einer schwer lesbaren Parlamentsdruck-sache niederschlägt, die im wahren Leben des Landes kaummehr als ein Aufstöhnen der öffentlich Bediensteten auslöst.Sie sind unehrlich, meist schon zu sich selbst.

Die Führungskräfte der Wirtschaft kaufen beim selbenSchneider. Sie wollen als ehrsam gelten, auf keinen Fall alsgierig; schlau wollen sie sein, nur ja nicht als verschlagen be-zeichnet werden. Konzernherren nennen ihren Profit scham-voll Jahresüberschuss. Wer sie daran erinnert, dass dieserÜberschuss anderswo abgezapft, zuweilen auch abgepresstwurde, beim Kunden, beim Arbeiter und nicht selten vomStaat, macht sich unbeliebt.

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So ist es heute überall im öffentlichen Leben: Die Beteilig-ten versuchen, ihrem Tun das Schroffe zu nehmen. Sie meidendas Deutliche. Das bedeutet nun nicht, dass überall nur ge-logen wird. Aber die Wahrheit wird zuweilen verschleiert,bis man sie nur noch erahnen kann. Die Regierungsvertretersprechen von internationaler Partnerschaft, wo sie Dominanzmeinen. Die Wirtschaftskapitäne reden von Wettbewerb, ob-wohl sie nichts sehnlicher wünschen als die Errichtung vonMonopolen. Die Staaten lehnen Gewalt als Fortsetzung derPolitik feierlich ab, derweil sie Militärapparate unterhalten,deren sündhaft teure Ausrüstung nur darauf wartet, erprobtzu werden. Die Globalisierung verkaufen uns derzeit alle -Konzernherren und Politiker - als ein einziges großes Frie-denswerk, weil der Mensch, der mit einem anderen MenschenHandel treibt, ihm nicht zugleich nach dem Leben trachtenkann.

Das allerdings ist nicht so logisch, wie es klingt. Das neueWirtschaftssystem produzierte vom ersten Tag an Ungleichge-wichte und Spannungen, die schon einmal die Architektur derWelt zum Einsturz brachten. Auch die heutige Welt der Globa-lisierung ist nicht so stabil, wie sie scheint. Wer die einzelnenBauteile der Weltwirtschaft abtastet, spürt die Spannung, fühlt,wie es vibriert, bekommt eine Ahnung von dem, was uns nochbevorstehen könnte.

Der Blick in den Rückspiegel der Geschichte dient dem Ver-stehen unserer Gegenwart. Zumal es für uns Nachgeborene eingroßes Glück ist, dass zu jener Zeit, als die Generalprobe derGlobalisierung auf dem Spielplan stand, die Wahrheitsliebeweiter verbreitet war als heute. Die Demokratie war erfunden,aber nicht durchgesetzt. Die Pressefreiheit war ein Wunsch,aber noch nicht überall Wirklichkeit, sodass die Despotenweder Volk noch Pressezaren zu fürchten hatten. Sie sagten,was sie dachten, und oft genug plapperten sie auch nur so da-her. So können wir uns durch die Jahrhunderte hindurch einen

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Eindruck verschaffen von jener Zeit, als der Welthandel sichauszubreiten begann. Wir blicken auf die Urform unserer heu-tigen Wirtschaftsordnung, auf den Rohling der globalen Welt.

Damals ging es zum ersten Mal um jene Dinge, um die sichauch heute alles dreht: Arbeitslosigkeit und Ausbeutung, Roh-stoffhunger und Expansionslust, Arbeiterrechte und Unterneh-mergewinn, und für die Staaten ging es seit jeher um die Fragealler Fragen: Knechtschaft oder Weltherrschaft?

Als die ersten Fabriken ihre Arbeit aufnahmen und wenigspäter auch die großen Kriegsschiffe unter Dampf vom Stapelliefen, hatte ein Typus Mensch seinen Auftritt, der im kollekti-ven Gedächtnis als Widerling überlebte. Er war bemerkens-wert schon deshalb, weil er sich dazu bekannte, ein Raufboldzu sein. Er nannte sich Imperialist, was so rücksichtslos klang,wie es gemeint war. Kunst und Kultur waren sein Dekor, derGewaltanwendung im Inneren wie im Äußeren aber galt seineLeidenschaft, die Welt war für ihn ein großer Abenteuerspiel-platz.

Englands Königin Victoria schickte die Royal Navy in allerHerren Länder, um ein Territorium zu erobern, das ihr Heimat-land um ein Vielfaches übertraf. Spaniens Herrscher führtenallein in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fünf übersee-ische Kriege, die zum Ärger des Königshauses allerdings alleverloren gingen. Napoleon hat von seinen 16 Jahren an derSpitze Frankreichs kaum eines ohne Krieg ausgehalten. DerFreiheitsruf des französischen Bürgertums - Liberte, Egalite,Fraternite - wurde in der Praxis anders übersetzt: Infanterie,Kavallerie, Artillerie.

Das Kolonialfieber hatte schließlich ausnahmslos alleSchichten der europäischen Nationen angesteckt. Es ging denMächtigen der damaligen Zeit nicht darum, Geschichte zudurchleben oder sie gar zu erdulden, sondern Geschichte zuerschaffen. Die Herrscher hatten trotz all ihrer sprachlichenGrobheiten nichts zu fürchten, da selbst Arbeiterführer unter-

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einander die gepfefferte Ausdrucksweise pflegten. FriedrichEngels nannte Ferdinand Lassalle einen »krausen Judenkopp«.Marx titulierte den sozialdemokratischen Nebenbuhler sogarals »Niggerjuden«.

Die Mächtigen lebten wie die Fische im Wasser, es umgabsie eine Gesellschaft, in der die Sitten so ungehobelt warenwie die Sprache. Schriftsteller und Verleger, die Männer derWirtschaft und die Mehrzahl der kleinen Leute feuerten ihrePräsidenten und Kaiser an, nur ja kein Pardon zu geben. InEngland legte Charles Darwin seine Theorie vom »Kampfums Dasein« vor, wonach nur die »Passendsten« überlebten.In Amerika sprach man von der »auserwählten angelsächsi-schen Rasse«, wofür der Philosoph John Fiske, als eine ArtBerufungsinstanz für alle Amerikaner, das »Manifest Desti-ny«, das Manifest der historischen Vorhersehung seines Vol-kes, verfasste. In Deutschland fühlte man sich in ähnlicherWeise auserwählt, Großes und sogar Größtes zu leisten. Anjeder Straßenecke war im ausgehenden 19. Jahrhundert vonWeltherrschaft die Rede.

Die anderen Völker galten denen, die auf Eroberung auswaren, nicht viel. Die Chinesen verglich Johann Gottfried Her-der, der in den Büchern unserer Zeit als Mann der Aufklärunggeführt wird, mit einer »Kirchenmaus im Winterschlaf«, dernicht das Mindeste zuzutrauen sei: »Diese menschliche Rassein dieser Region wird nie wie Römer und Griechen werden.Die Chinesen sind und bleiben: ein Volk, das von Natur aus-gestattet wurde mit schmalen Augen, kurzen Nasen, einer fla-chen Stirn, wenig Bart, langen Ohren und vorstehenden Bäu-chen; was ihre Institutionen hervorbringen konnten, haben siehervorgebracht.«

Niemand in Europa widersprach, was die Chinesen uns bisheute verübeln. Es war geradezu modern, das asiatische Volkzu verleumden. Für Leopold von Ranke gehörte China zu den»Völkern des ewigen Stillstands«, der französische Philosoph

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und Außenminister Alexis de Tocqueville glaubte zu wissenwarum: »Die Chinesen haben die Kraft verloren, sich zu ver-ändern.«

Derartige Grobheiten waren meist das verbale Vorspiel fürdie Männer in Uniform, die danach umso beherzter zuschlagenkonnten. Europa bestand damals aus einer Ansammlung vonStaaten, denen das Morden in Übersee zur zweiten Naturgeworden war. In den Königshäusern wurde Walzer gespielt,außerhalb der Landesgrenzen aber dominierte die Marsch-musik. Der Buchautor Edward Morgan Forster ließ eine seinerRomanfiguren aussprechen, was damals von vielen Briten inden Kolonien gesagt oder zumindest gedacht wurde: »Wirsind nicht hier, um uns gut zu benehmen.« Das Recht des Stär-keren war den meisten damals Recht genug, um den Waffen-gang wider andere Völker zu wagen. Das Taufbecken einerganzen Generation war mit Blut gefüllt.

Rohstoff Mensch,Der Industriekapitalismus entsteht

Bevor die Imperialisten loslegen konnten, mussten erst nochdie technischen Voraussetzungen geschaffen werden. OhneFabriken keine Serienproduktion, ohne Dampfschiffe keinWeltverkehr, ohne Stahlfabriken keine Panzer, ohne Chemie-industrie keine Gasgranaten, kurz gesagt: ohne Industrialisie-rung war keine wirkliche Globalisierung der Wirtschaft unddes Krieges denkbar.

Erst mit einer Vielzahl von bahnbrechenden Erfindungenzur Mitte des 19. Jahrhunderts war es möglich, den weltweitenKapitalismus zu errichten. »Die Welt hatte sich wie ein Schiffaus der Vertäuung losgerissen«, sagt Harvard-Professor DavidLandes über die Ereignisse der damaligen Zeit. Dabei war eskeineswegs die ganze Welt, die sich da losgerissen hatte. Es

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war nur ihr westlicher Teil, ungefähr ein Siebtel der damaligenWeltbevölkerung.

Eine atemberaubende Aufwärtsbewegung begann, die erstEuropa und schließlich die USA zu den Sternen trug. Inderund Chinesen, die bis zum Jahr 1500 mit ihrem Pro-Kopf-Ein-kommen fast gleichauf mit Westeuropa gelegen hatten, warendie großen Verlierer im Wettlauf zum Wohlstand. Das Wissenexplodierte, aber nicht bei ihnen. Die Wirtschaft entfaltetesich, aber fernab ihrer Breitengrade.

Das westeuropäische Pro-Kopf-Einkommen zu Beginn derindustriellen Revolution war erst doppelt so hoch wie das chi-nesische; zum Ende der Ära'des kommunistischen DiktatorsMao Zedong, also rund 150 Jahre später, verfugten die West-europäer im Durchschnitt über das vierzehnfache der Chine-sen. Die Inder besaßen zu Beginn des 18. Jahrhunderts, alsovor Eintritt in das Dampfmaschinenzeitalter, knapp die Hälfteder britischen Wirtschaftskraft. Zu Beginn des 20. Jahrhun-derts aber leistete der durchschnittliche Brite das Siebenfache,auch deshalb, weil künstlich erzeugte Energie ihm bei derArbeit half.

Nie zuvor gab es einen vergleichbaren Sprung in der Pro-duktivität. Dank der neuen Techniken hatte sich der Westen,erst Europa, dann die USA, vom Rest der Welt entkoppelt.Die Menschheit war geteilt in technologische Habenichtseund die Besitzer der neuen Wunderwerkzeuge. Uneinholbarwaren die Welten auseinander gerückt, so schien es hundertJahre lang, bevor dieser Rest seine atemberaubende Aufhol-jagd begann. Aber warum kam es überhaupt zum Urknall derWeltökonomie? Warum ausgerechnet zu jener Zeit? Undwarum nur im Westen?

Alles, was die Geschichtswissenschaft dazu herausgefundenhat, legt den Schluss nahe: Die mit Abstand wichtigste Trieb-kraft für die plötzliche Entfaltung des westlichen Erfindergeis-tes war der Zufall. Der eine Zufall tat sich mit einem zweiten

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Zufall zusammen, eine Kettenreaktion der Zufälligkeiten kamin Gang, die das Leben auf der Erde bis heute veränderte. Vie-les, was von den Experten dazu als Gewissheit präsentiertwird, ist vom Ende her gedacht. Niemand kann bis heute diewirklich entscheidenden Fragen klar beantworten: Warum zudieser Zeit? Warum nur in Europa? Warum passierte alles mitdieser unglaublichen, die Weltgeschichte bis heute verändern-den Wucht?

Viele im Westen glauben, es sei vor allem das protestan-tische Christentum mit seinem Arbeitsethos gewesen, das dieMenschen zu Erfindern machte. Andere behaupten, es sei dasgemäßigte Klima, das die europäischen Erfinder gegenüberihren Kollegen aus Schwarzafrika oder Zentralasien begüns-tigt habe. Doch warum sollen der englische Nieselregen unddas Aprilwetter in Deutschland besser zum Nachdenken geeig-net sein als die Sonne von Marrakesch und die schwülen Som-mer in Shanghai? Andere meinen denn auch, es war die Topo-grafie, die den Ausschlag gab. Auf den Britischen Inseln undin den Alpentälern, geborgen hinter Wasser- oder Gesteins-massen, habe sich freier, weil kleinteiliger denken lassen alsin den großen zentral gelenkten Reichen wie Russland oderChina. Aber befördert nicht das Leben von Insulanern und Ge-birgsdörflern eine Lebensform, die wir gemeinhin mit Pro-vinzlertum gleichsetzen?

Eine dritte Gruppe von Gelehrten verweist auf die segens-reiche Wirkung der Aufklärung und damit auch der staatlichenVorarbeit von Universitäten und Wissenschaftskollegien. Aberwieso perfektionierte ausgerechnet der Friseur und Perücken-macher Richard Arkwright die Spinnmaschine? Warum trugsich als Konstrukteur des ersten mit Dampfkraft betriebenenWebstuhls ein gewisser Edmund Cartwright ins Geschichts-buch ein, der eigentlich als Pfarrer und Schriftsteller seinBrot verdiente? Wieso verdankt die Welt den ersten brauch-baren elektromagnetischen Telegrafen dem Künstler Samuel

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Morse aus Massachusetts, der neben vielen Landschaften auchden US-Präsidenten James Monroe in Öl verewigte?

Besonderes Misstrauen ist gegenüber jenen angebracht, dieglauben, sie hätten eine historische Gesetzmäßigkeit ent-deckt. Der frühe Kapitalismus, sagen sie, habe naturgesetzlichall die Erfindungen hervorgebracht, die er zu seiner Entfaltungbrauchte. Es war vernünftig, also geschah es. Mit körperlicherKraft ließ sich die Arbeit der Textilarbeiterinnen nicht mehrsteigern, also kam die »Spinning Jenny« ins Spiel. Die Mas-senwaren ließen sich nicht länger mit Postkutsche und Segel-boot der Kundschaft zustellen, also war die Zeit von Ozean-dampfer und Lokomotive gekommen. Und wie sollten dieMenschen über die riesigen Weiten Amerikas miteinandersprechen, wenn nicht per Telegrafenleitung?

Aber seit wann siegt denn in der Menschheitsgeschichte dasVernünftige? Wenn die Geschichte eine vernunftbegabte Kraftwäre, warum blicken wir dann auf eine Abfolge tragischer Irr-tümer und folgenschwerer Fehlentscheidungen? Es war dochim höchsten Maße unvernünftig, dass die chinesischen Kaiserim 15. Jahrhundert ihre Handelsflotte verbrannten und demReich für Jahrhunderte die Isolation verordneten. Wäre esnicht vernünftig gewesen, die an einem Februarabend des Jah-res 1943 im Berliner Sportpalast Versammelten hätten diesemhysterischen Redner auf seine Frage »Wollt ihr den totalenKrieg?« ein entschiedenes »Nein« erwidert?

Alle genannten Bedingungen für die industrielle Revolutionsind Gründe, aber keiner ist der Grund. Die industrielle Revo-lution ist eine Aneinanderreihung von Zufällen, die schon indieser atemberaubenden Addition nichts anderes als zufälligsein können. Es war nicht Weltgeist und nicht Bestimmung,es war weder Gott noch die hohe Politik, es war für Europaund die USA das, was man gemeinhin eine glückliche Fügungnennt. Auch wenn dieses Glück zuweilen mehrere Anläufebrauchte, wie im Falle von Gottlieb Daimler.

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Der Maschinenbauingenieur wurde von seinem Chef gebe-ten, die Firma zu verlassen, weil seine dauernden Tüftelarbei-ten an einem Benzinmotor dem Inhaber missfielen. Daimlerging und fand in dem Konstrukteur Wilhelm Maybach zwareinen Gleichgesinnten, aber in ganz Deutschland keine einzigeFirma, die ihren gemeinsam entwickelten Benzinmotor inSerie herstellen wollte. Eine Pariser Maschinenfabrik bot sichschließlich als Lizenznehmer an, sodass die industrielle Revo-lution nach all diesen Irrungen nun auch die Fortbewegung desMenschen revolutionieren konnte.

Aber so ist es nun einmal: Ausgerechnet jene Entwicklung,die ein Höchstmaß an Rationalität mit sich brachte, war inihrer Entstehungsgeschichte irrational. Etwas Geheimnisvol-les war mit den Bewohnern des Westens geschehen; die größtealler Veränderungen fand im Innersten der Menschen statt.

Die neue Sicht der Dinge.Entdecker werden zu Erfindern

Irgendwann im 18. Jahrhundert erhielten die Naturwissen-schaften einen spürbaren Zulauf. Immer mehr junge Menschenwollten Mathematiker werden, immer weniger Theologen.Wohlhabende Bürger richteten sich zu Hause Laboratorienein und in den altehrwürdigen Clubs wie der Royal Society inLondon oder der Academie des sciences, ihrem Pariser Gegen-stück, trafen sich nun die Pioniere der neuen Zeit. Die LunarSociety versammelte ihre Mitglieder bevorzugt in Vollmond-nächten, weil man sich davon die größtmögliche Inspirationerwartete. Überraschend war die neue Denkweise der dort Ver-sammelten: Aus den Wissenschaftsgesellschaften, die vorheraus Angst vor Ausspähung wie Geheimbünde operiert hatten,waren Diskussionsforen und Kooperationsbörsen geworden.Es gründeten sich Zeitschriften, in denen Wissenschaftler vol-

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ler Stolz und erstmals auch mit nachprüfbarem Datum der Weltkundtaten, was sie bisher vor ihr verborgen hatten. Das war daseine.

Wichtiger noch war eine Bewusstseinsänderung, die sichzeitgleich ereignet hatte: Der Wissenschaftler, der bis dahinstolz auf eine gewisse Fremdheit gegenüber dem einfachenLeben war, verstand sich fortan nicht mehr allein als Beob-achter von Wirklichkeit, sondern als einer, der mithilft, sie zuverändern. Aus dem Zuschauer wurde ein Handelnder, derwissenschaftliche Entdecker sah sich nun auch als Eroberer.Anstatt die Welt hinter Mikroskop oder Fernglas nur zu bestau-nen, wollte er selbst Schöpfer von Wirklichkeit sein, weil sieihm so, wie er sie vorfand, ungenügend erschien. Die Wissen-schaftler waren dem normalen Volk damit auf halbem Wegeentgegengekommen. Nun machte auch das Volk einen großenSchritt in Richtung Wissenschaft.

Überall in Europa entwickelten sich Mechanikerschulenund Tüftlerclubs. Der erfindende Praktiker betrat die Welt-bühne. Er sah die Vögel und wollte fliegen, er beobachtetedie Fische und dachte an ein Unterseeboot, er spürte die Kraftvon Wasser und Hitze und machte sich daran, sie für sich zunutzen. Große Teile der Unternehmerschaft waren begierigdarauf, tausende von kleinen Produktionsverbesserungen inder Praxis zu erproben. Damit bot das Erfinden eine gute Mög-lichkeit, reich zu werden. Die Zahl der Patentanmeldungenstieg steil an, vor allem in England. Waren im Jahr 1770 erstknapp 300 Patente gemeldet worden, wurden 1810 bereits1124 und weitere 20 Jahre später schließlich 2452 Erfindungenvon Staats wegen registriert. Damit hatte die Wissenschaft ihreNische verlassen, um sich der Welt als Produktivkraft anzudie-nen. Nicht der einmalige Einfall, die Erfindung der Erfindungwar das Neue dieser Zeit.

Auch das Objekt des Interesses hatte sich verändert. Rich-tete sich in den Jahrhunderten vorher die Neugier auf die Ent-

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deckung geheimnisvoller Tiere, Pflanzen und Völker in Über-see, galt der Wissensdrang nun den Gesetzmäßigkeiten vonNaturwissenschaft, Mathematik und Astronomie. Nach denFernreisen der vorangegangenen Epoche ging der Mensch aufeine Reise ins Innere der Welt. Das 19. Jahrhundert konnte sozum Jahrhundert tollkühner Gedanken und unerhörter Neue-rungen werden. Die technischen Innovationen haben vieles,wie das Autofahren, erstmals möglich gemacht, und anderes,wie die Textilherstellung, enorm erleichtert. Und vor allemverlängerten sie das Leben, auch durch eine deutlich verbes-serte Hygiene. Ein Brite lebte am Ende des 19. Jahrhundertszwölf Jahre länger als zu seinem Beginn.

Es war vor allem ein europäisches Jahrhundert, wie sich imRückblick unschwer erkennen lässt. Nahezu alles, was dieWeltwirtschaft bis heute antreibt, wurde in jenen Ländern aus-getüftelt, die heute zum alten Europa zählen: Ein Italienererfand 1800 die elektrische Batterie, ein Franzose die Nähma-schine. Die Engländer ließen 1838 das erste große Eisenschiffzu Wasser, Ende der 20er Jahre entstand die Fotografie. Nahe-zu alle Nationen des Kontinents trugen etwas zum Gelingender Industrialisierung bei, auch die kleinen: ein Schwede er-fand das Dynamit, ein Böhme die Schiffsschraube.

So begünstigte eine Erfindung die nächste. Es reichte janicht, sich die Lokomotive auszudenken, ohne die Druckluft-bremse von George Westinghouse aus New York wäre das rol-lende Monstrum nicht schnell genug wieder zum Stehen ge-kommen. Über die Alpen hätte es selbst dieses Gefährt nichtgeschafft, wäre da nicht der neue schwedische WunderstoffDynamit gewesen. In einem neun Jahre dauernden monotonenWechsel von Sprengen und Schaufeln entstand der 15 Kilo-meter lange Sankt-Gotthard-Tunnel, der 1882 als Eisenbahn-strecke eingeweiht wurde.

Als sei der Westen an eine brennende Zündschnur ange-schlossen, funkte und blitzte es überall. Den großen Durch-

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brach in der Fertigungstechnik brachte schließlich Henry Ford,der als Erfinder der Fließbandproduktion in die Geschichteeinging. Dabei hatte er sie 1913 nicht erfunden, nur auf raffi-nierte Art abgekupfert. Der Besuch eines Schlachthofs öffneteihm die Augen. Er sah, wie das tote Vieh am Haken durch dieHallen wanderte, jeder Arbeitsgang wurde von einer anderenMetzgergruppe ausgeführt; die Ersten entfernten die Innereien,die Zweiten die Haut, bevor die Dritten die Filets abschnittenund wieder andere Haxen und Koteletts aus dem Restkörpertrennten, bis am Ende nur noch das Skelett übrig blieb. FordÜbertrag diese Idee auf die Autoherstellung, mit dem Unter-schied, dass er beim Skelett, dem Fahrzeug-Chassis, begann.Nacheinander ließ er von den unterschiedlichsten Expertenden Motorblock und das Getriebe einbauen, bevor die Kabelverlegt, die Fenster eingesetzt und schließlich die Türen mon-tiert wurden. Ford errichtete eine vierstöckige Produktionshal-le, in der die Autoteile von oben nach unten wanderten, um dieHalle schließlich als automobile Massenartikel zu verlassen.

Die Zeitgenossen waren überwältigt von dem, was sich vorihren Augen abspielte. Der deutsche Nationalökonom Fried-rich List, 30 Jahre vor Karl Marx geboren, verfasste eine Hom-mage an die Generation der Entdecker, die bis heute Gültigkeitbesitzt: »Sie haben den Menschen befähigt, die Schätze derErde aus den tiefsten Abgründen, wohin er früher nicht zudringen vermochte, hervorzuheben, die Macht des Windesund der Wellen zu bekämpfen, sich mit der Schnelligkeit desVogels von einem Ort zum anderen zu begeben; sie habenWohlstand, Genüsse und Bevölkerung der Länder vermehrt,und die wohltätigen Wirkungen ihrer Arbeit wachsen fortund fort von Generation zu Generation.«

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Der Fabrikarbeiter.Fußsoldat des Industriezeitalters

Den Präsidenten, Kaisern, Ministern und Spitzenbeamten derwestlichen Welt war schnell klar, dass die neuen Technikenfür das Wohl und Wehe ihrer Nationen bedeutender sein wür-den als eine fette Kriegsbeute. Den Tüftlern ging es um Ruhm,den Unternehmen um gesteigerten Gewinn, den Staatsmän-nern aber schon damals um nichts Geringeres als die Auswei-tung ihrer Macht. Nur wer technologisch hoch gerüstet war,konnte seine Handelsflotte mit Aussicht auf Erfolg in ferneLänder schicken. Und wenn der in Taler, Pfund oder Dollarzu zählende Profit auch zuweilen auf sich warten ließ, war zu-mindest sein kleiner Bruder, der Prestigegewinn, schnell zu er-zielen.

Die Statthalter der Monarchie waren nicht weniger ver-sessen auf glamouröse Einweihungsfeierlichkeiten als ihre de-mokratischen Nachfahren. Sie liebten es, Fabriken oder Berg-werksschächte zu eröffnen; gern warfen sie schon damalsChampagnerflaschen gegen frisch lackierte Schiffsbäuche.Bei aller Kooperation zwischen den Staaten ging es immerauch darum, den anderen zu zeigen, wo die Zukunft zu Hausewar. Die Weltausstellungen der damaligen Zeit waren dieOlympiaden der Wirtschaftsdarwinisten. Die europäischenReedereien wetteiferten auf ihren Atlantikrouten um das»Blaue Band« der Schnelligkeit; die »Norddeutsche Lloyd«gegen die »Compagnie Generale Transatiantique« und beidezusammen gegen die »White Star Line« der Briten. In derNacht vom 14. auf den 15. April des Jahres 1912 ging die»White Star Line« vor allen anderen in die Weltgeschichteein, wenn auch anders als von den Betreibern geplant. Dergrößte Ozeandampfer seiner Zeit erreichte schon bei der Jung-fernfahrt das andere Ufer nicht. Die meisten Passagiere er-

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froren und ertranken. Der Schiffsname »Titanic« hat als Wahr-zeichen des Machbarkeitswahns überlebt.

Die Menschheit erschrak, aber nur für wenige Sekunden.Der Weg in den Industriekapitalismus war unumkehrbar. Über-all im Westen rotierten die Maschinen, sie benötigten Kohle,Eisenerz und Wasser, ließen sich mit Getreide, Baumwolle,Tabak und Holz beschicken, um am Ende der Prozedur Ge-wehre, Seife, Streichhölzer, Textilien, Zigaretten und Lebens-mittel aller Art auszuliefern. Es wurden Produktivitätsrekordeaufgestellt wie nie zuvor und nie danach. Von der 1881 erfun-denen Zigarettenrollmaschine reichten 15 Stück, um den ge-samten jährlichen Zigarettenbedarf der USA zu decken. Biszum Anfang des 19. Jahrhunderts, als Bauern und Handwerkerihrem mühsamen, aber eben auch behäbigen Tagewerk nach-gingen, hatte es gerade mal für jährliche Steigerungsraten derProduktivität von 0,15 Prozent gereicht. Gegen Ende des Jahr-hunderts wuchs sie um das Vierfache pro Jahr. Die Eisenpro-duktion in Europa hatte sich allein zwischen 1870 und 1890fast verdoppelt, die Stahlproduktion legte zwischen 1880 und1900 um das Zehnfache zu.

Die neue Zeit veränderte so ziemlich alles; die Gesprächs-themen der Menschen, ihre Art zu denken, zu sehen, zu fühlen,zu wohnen. Die industrielle Revolution war die wohl größteRevolution aller Zeiten. Kein Kontinent konnte sich ihr aufDauer entziehen, kaum ein Land blieb unberührt, kein Mensch,keine Partei, kein Staat hat ihre Ergebnisse dauerhaft zu re-vidieren vermocht. »Alles Ständische und Stehende verdampft,alles Heilige wird entweiht«, heißt es im KommunistischenManifest von 1848 nicht ohne Ehrfurcht vor dem, was sich daabspielte.

Zugleich war das Entsetzen groß über die ungestüme Kraftder Veränderung, die beides erschaffen hatte - scheinbargrenzenlosen Reichtum und dicht daneben rechtlose Fabrik-arbeiter, die in bitterer Armut lebten.Der Schriftsteller Charles

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Dickens überlieferte ein Bild der damaligen Zustände: »EineStadt der Maschinen und Fabrikschlote; eine Stadt mit einemschwarzen Kanal und einem purpurrot schillernden, unan-genehm riechenden Fluss; eine Stadt mit riesigen Gebäudenvoller Fenster, hinter denen es den ganzen Tag lang ratterteund vibrierte und hinter denen sich der Kolben der Dampf-maschine monoton auf und nieder bewegte - wie der Kopfeines Elefanten in melancholischer Verwirrung.« Selbst einbürgerlicher Ökonom wie List sagte angesichts des Elends inden Arbeiterquartieren eine »Bestialisierung« der Gesellschaftvoraus.

Die neuen Kathedralen des Kapitalismus zogen die verarm-ten Massen vom Lande dennoch magisch an. Ein Zurück gabes nicht mehr. In den Dörfern wurden die immer zahlreicherwerdenden Menschen aufgrund moderner Anbaumethodennicht mehr in gleicher Anzahl gebraucht. Die Zukunft gehörteden Städten. Der Anteil der Landwirtschaft schmolz innerhalbweniger Jahrzehnte dahin. 1870 arbeiteten bereits 40 Prozentder Briten in der Industrie.

Die USA folgten mit Zeitverzug. 1870 arbeitete noch überdie Hälfte der Beschäftigten in der Landwirtschaft, und nureiner von vier Amerikanern lebte in einer Stadt mit 2500 odermehr Einwohnern. Innerhalb von 40 Jahren erhöhte sich derAnteil der Industriearbeiter auf zwei Drittel. Nahezu jederzweite Amerikaner lebte nun in einer Stadt.

Die soziale Lage verbesserte sich zunächst kaum. In Frank-reich, England und Deutschland entstanden Gewerkschaftenund Arbeiterparteien, die bereit waren, für die Rechte ihrerMitglieder zu kämpfen. Die Imperialisten aller Länder warenempört. Kaiser Wilhelm II. fühlte sich 1905 in seinen ehrgei-zigen außenpolitischen Plänen regelrecht behindert durch diedrohende Rebellion im Innern: »Dass wir wegen unserer Sozi-aldemokraten keinen Mann aus dem Land nehmen können,ohne äußere Gefahr«, das erzürnte ihn so sehr, dass er beide

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Probleme mit Gewalt lösen wollte: »Erst die Sozialisten ab-schießen, köpfen und unschädlich machen, wenn möglich perBlutbad, und dann Krieg nach außen, aber nicht vorher undnicht a tempo.«

Schneller, höher» tiefer.Kapitalismus in der Krise

Im Innern der neuen Industriegesellschaften hatte sich dieSpannung spürbar erhöht. Die Schlote rauchten, Maschineund Mensch arbeiteten im gleichen Takt, die neuen Produkti-onsanlagen spuckten massenhaft Waren aus, für die der Marktim Inland zu klein geschnitten war. Die entfesselte Produkti-onsenergie war gewaltig und das Einkommen der Arbeiter zugering, als dass der Warenausstoß in nur einem Land hätte auf-gefangen werden können.

Doch die neuen Fabrikbesitzer produzierten auf Teufelkomm raus. Erstmals deutete sich an, dass der Generalprobezur Globalisierung kein gutes Ende vorherbestimmt war. Dasneue System war und ist bis in unsere Tage hinein maßlos,schwankend, zur Übertreibung neigend. Es findet in der Praxisnicht von alleine jenes Gleichgewicht, dass die Theoretikersich von ihm erhofft hatten. So sackten vom Beginn der 70erbis zur Mitte der 90er Jahre im 19. Jahrhundert die Großhan-delspreise in Großbritannien um insgesamt 45 Prozent nachunten. Erstmals war die Arbeiterschaft mit jenen beiden Phä-nomenen konfrontiert, die wir heute nur zu gut kennen: Lohn-senkung wartete auf die einen, Arbeitslosigkeit auf die ande-ren. Willkür kam noch dazu: Wer aufbegehrte gegen seinenFabrikanten hatte womöglich Recht, aber keinerlei Rechte. Eswaren die Herrenjahre des Industriekapitalismus. Vorenthalte-ner Lohn, körperliche Züchtigung und willkürliche Kündigun-gen waren an der Tagesordnung. Der Arbeitstag hatte bis zu 18

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Stunden und das, was wir heute Sozialstaat nennen, existiertebestenfalls in Umrissen. 1891 musste Papst Leo XIII. die neuenHerren der Welt daran erinnern, dass sie »ihre Arbeiter nichtwie Sklaven behandeln dürfen«. Was viele dennoch taten. DieZustände waren mit jenen im heutigen China und Indien ver-gleichbar, wo Millionen von einfachen Fabrikarbeitern ohneVertretung ihrer Interessen bis zum Umfallen schuften müs-sen. Das neue System fiel schon in seiner Geburtsstunde durchrabiate Methoden auf.

Einen wirklichen Systemfehler schien der Industriekapita-lismus auch noch zu besitzen. Dem sich vergrößernden Waren-angebot der industriellen Megamaschine stand eine stagnie-rende Kaufkraft der Bevölkerung gegenüber. Oder andersgesagt: Die Arbeiter produzierten mehr Konserven und Klei-der als sie kaufen konnten.

Es gab nur zwei Möglichkeiten, mit der Warenflut fertig zuwerden. Möglichkeit eins lag in der Drosselung der Industrie-produktion, was ernsthaft nie erwogen wurde. Der Industrie-kapitalismus lebt von der angeborenen Sehnsucht der Men-schen nach mehr. Das Streben nach mehr Profit, mehr Lohnund mehr Wohlstand blieb die Antriebskraft bis in unsereTage.

Schnell rückte daher Möglichkeit zwei ins Bild, die sichzunehmender Beliebtheit erfreute: der Export. Denn im Han-del mit anderen lässt sich zuweilen loswerden, wofür zu Hausekein Käufer zu finden ist. Auch wenn der Markt daheim gesät-tigt ist, kann er anderswo durchaus aufnahmefähig sein. Wasim einen Land unverkäuflich scheint, wird sich im anderenwomöglich sogar zum Kassenschlager entwickeln. Erst recht,wenn dieses andere Land fern der Heimat liegt und der Kauf-mann bei dem, was er Markterschließung nennt, anders zuWerke gehen kann als zu Hause, brutaler zum Beispiel.

Die Überproduktion der Wirtschaft mit all ihren krisenhaf-ten Begleiterscheinungen - Lohnverfall und Arbeitslosigkeit -

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führte zum Gefühlsstau der betroffenen Gesellschaften. Un-ruhe machte sich breit, vor allem in der Arbeiterschaft. Werden Bürgerkrieg vermeiden wolle, müsse zum Imperialistenwerden, rief Cecil Rhodes den Machthabern zu. Also drängteder Imperialist nun mit aller Macht in fremde Länder. Er warverrückt nach Rohstoffen, nach Kautschuk, Zink, Erdöl, Kaf-fee, Tee, Gold und Diamanten; und er war scharf auf diefremde Arbeitskraft. Beides wollte er zu günstigem Tarif ansich reißen. Wenn schon exportieren, warum dann nicht gleichWaren, Gesetze und Polizeikräfte in einem Paket? Wenn manfremde Märkte beliefert, so die Grundidee, ist es doch besser,man besitzt sie auch.

Die britischen Flottenverbände und die Artillerie desKönigshauses mussten nur die Tür aufstoßen, um der neuenZeit den Weg zu bereiten. Italien vergrößerte zwischen 1800und dem Beginn des Ersten Weltkriegs sein Territorium um2,5 Millionen Quadratkilometer, Deutschland um 2,6 Millio-nen, Frankreich um rund neun Millionen und Großbritannienum rund zwölf Millionen Quadratkilometer. Der Weltkriegum Wohlstand hatte begonnen, lange bevor die Militärs dereuropäischen Länder sich für den Ersten Weltkrieg in Stellungbrachten.

Niemand bemerkte zunächst das herannahende Unheil. Dassbald schon 15 Millionen Europäer auf den Schlachtfeldern lie-gen würden, schien den Zeitgenossen ganz und gar undenkbar.Die Machtübernahme in den Kolonien streichelte die Seele derEuropäer und füllte vielerorts auch ihre Schatztruhen. Sie hat-ten ohne allzu große Mühen und Kosten etwa ein Viertel desErdballs neu aufgeteilt. Der Wohlstand im Westen stieg, derWelthandel erlebte seine vorläufige Blüte. Die Tonnage derHandelsschiffe hatte sich von 1850 bis 1875 vervierfacht undstieg in den folgenden vier Jahrzehnten nochmals um das Dop-pelte. Ein kraftvolles Europa war auf dem Zenit seiner Machtund seines Ansehens in der Welt angekommen. Die General-

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probe der Globalisierung schien überaus gelungen. Der Konti-nent stand prachtvoll und erhaben da.

Großbritannien im Größenwahn

Die Imperialisten der ersten Stunde kannten keine Scham. Siekamen als Besatzer und Protektoratsverwalter, als Fördererihrer heimischen Wirtschaft und kühl kalkulierende Zerstörerall dessen, was dabei hinderlich war. Auf kulturelle Traditio-nen und Menschenleben wurde keine allzu große Rücksichtgenommen, der Imperialist war ein Angreifer aus Überzeu-gung, der Mitleid als Ausdruck von Willensschwäche emp-fand. »Der Kapitalismus bringt den Krieg wie die Regenwolkeden Sturm«, sagte der französische Sozialist Jean Jaures.

Die Generalprobe zur Globalisierung können wir mit Fugund Recht als die enthemmteste Etappe auf der Jahrhundertewährenden Jagd nach Wohlstand bezeichnen. Die Einheimi-schen konnten schon froh sein, wenn sie als Arbeitssklaven,bürokratische Handlanger oder Mitglieder einer Marionetten-regierung mit dem Leben davonkamen. Mit ihnen ging manzuweilen rüder um als mit dem Schlachtvieh unserer Tage.Allein im Kongo, der als rohstoffreiches Land galt und dahervom belgischen König Leopold II. als »Privatkolonie« geführtwurde, sind im Gefolge der westlichen Landnahme nach neue-ren Schätzungen rund zehn Millionen Menschen gewaltsamumgekommen.

Das Wort Krieg war damals in aller Munde: Preiskrieg,Handelskrieg, Wirtschaftskrieg, Kolonialkrieg, von wo es biszum Weltkrieg nicht mehr allzu weit war. Die Bewohner frem-der Kontinente waren -je nach Interessenlage des Westens -willige Arbeitskräfte, Kanonenfutter oder eben auch Konsu-menten. Ihre Böden und Wälder dienten als kostenloses Roh-stofflager. Ganze Länder, samt ihrer Einwohner, wurden zu

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Tauschobjekten, die man sich gewalttätig aneignen oder imZuge von Vertragsverhandlungen friedlich erwerben konnte.Portugal versuchte sogar, seine überseeischen Besitztümerden Deutschen zu verpfänden.

Damals glaubten die Mächtigen dem Aufstieg der eigenenNation, der Sicherung und dem Ausbau von Einfluss undWohlstand am besten durch die möglichst zügige Landnahmezu dienen. Es war eine wahrhaft ungestüme Variante des Welt-handels, deren Verletzungen und Demütigungen im Gedächt-nis der Völker bis heute weiterleben. Der Welthandel warvom ersten Tag an nicht das friedliche System des Warenaus-tausches, als das es heute vielfach ausgegeben wird. Esherrschte ein archaisches Verdrängen und Vernichten, wasdamals offen gesagt wurde und heute tunlichst verschwiegenwird. Von Anfang an gab England, eine Handelsnation schonvor Beginn der Industrialisierung, das Vorbild für die anderenab. Die Briten zerstörten die Handelsflotten und Produktions-standorte anderer Völker, um in deren Wirtschaftskreislauf zudrängen, was ihnen zunächst vortrefflich gelang. Sie mordetenfür ein bisschen mehr an Wohlstand, sie hofften, dass ein sicht-barer Ertrag am Ende in ihren Schatullen landen würde. Daswichtigste Instrument der britischen Exportförderung warendie gemeinsam ausrückenden Handels- und Kriegsflotten, diegrößten der damaligen Welt.

Erst als die anderen Handelsnationen ebenfalls starke Mee-resstreitkräfte aufboten, geriet die offene Seeschlacht aus derMode. Mit den anderen sich entwickelnden Industrieländern,die in der Wahl der Waffen ebenfalls nicht zimperlich waren,suchte England nun den friedlichen Ausgleich. Die wenigerentwickelten Regionen der Welt dagegen wurden weiterhinüberfallen und als Absatz- und Beschaffungsmärkte in dasEmpire eingefügt. 1882 erfolgte die Besetzung Ägyptens,1886 war Kenia dran, 1895 fasste die Britische Krone einigeTeilgebiete zur Kolonie Rhodesien zusammen, 1898 folgte

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der Vorstoß in den Sudan. Am Vorabend des Ersten Weltkriegsbeherrschte das Britische Empire rund 20 Prozent der bewohn-baren Erdoberfläche und der Weltbevölkerung. Jeder Englän-der hatte damit statistisch über acht Menschen das Sagen, aufjeden Quadratkilometer Heimatbodens kamen 100 Quadrat-kilometer fremden Territoriums. Frankreich, die zweitgrößteKolonialmacht der damaligen Zeit, konnte da nicht mithalten.Jedem Franzosen stand gerade mal ein Untertan gegenüber.Ein Quadratkilometer französischen Bodens wurde durch 18Quadratkilometer andernorts ergänzt.

Die britische Kriegsmarine sicherte die Seepassagen; betratman Terra incognita, wurde ein so genanntes Expeditionsheerlosgeschickt, um die Widerstandskraft der Einheimischen, dieWitterungsbedingungen und den Reichtum an Rohstoffen zuerkunden. Dank moderner Kriegsgeräte - und das hieß vorallem dank des tonnenweise mitgeschleppten Sprengstoffs -durchquerten sie die Gebiete fremder Herrscher. Kompliziertwurde es meist da, wo sie auf die Expeditionsheere andererImperialisten stießen.

So staunte der britische General Sir Horatio Kitchener nichtschlecht, als er mit fünf Kanonenbooten und einem Heer vonmehr als 1000 Mann Mitte September 1898 in der sudanesi-schen Stadt Faschoda landete und über den Dächern der Stadtbereits die französische Trikolore wehte. Der französischeMajor Jean-Baptiste Marchand hatte sich zehn Wochen zuvorin der Stadt am Nil festgesetzt.

Der Franzose möge weichen, forderte der Brite unmiss-verständlich. General Kitchener wollte sich im Auftrag desEmpire das fremde Afrika von Nord nach Süd einverleiben.Sein Ziel war eine Eisenbahnverbindung von Kairo bis zumsüdafrikanischen Kap der Guten Hoffnung, die Afrika wirt-schaftlich für die Briten erschließen sollte. Kurzum: Faschodawar als Teil des Ganzen unverzichtbar.Die Franzosen hatten ein ähnliches Ziel, wenn auch auf ande-

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rer Route, ins Visier genommen. Auf ihrer West-Ost-Querungwaren sie in einem strapaziösen 14 Monate dauernden Marschdurch die glühende Hitze des Schwarzen Kontinents bis hier-her vorgedrungen, angefeuert von den Politikern in Paris.»Wenn Frankreich verzichtet, werden andere seinen Platz ein-nehmen«, begründete der französische Ministerpräsident JulesFerry den Expansionsdrang seines Landes.

Und nun also das: Zwei Europäer standen sich in Afrikagegenüber, vereint in der aggressiven Absicht, den Sudan aufkeinen Fall sich selbst oder auch nur dem jeweils anderen zuüberlassen. Eine Feindseligkeit baute sich in den Heimatlän-dern auf, die sich schnell in einem europäischen Krieg hätteentladen können. Nach zähen Verhandlungen musste die Tri-kolore wieder eingerollt werden. Die Franzosen kamen zu derErkenntnis, dass ihre Truppen nicht so stark waren wie ihrMachtanspruch. Im Sudan-Vertrag wurden alle Details gere-gelt: Das noch heute ärmliche afrikanische Land ging an dieBriten; das angrenzende Tschadbecken wurde den Franzosenüberlassen. Die Afrikaner blieben, was sie schon vorher waren:Menschen ohne Rechte.

Deutschland, Die verspätete Kolonialmacht

Die Deutschen spielten auf der Bühne der Weltpolitik nur eineNebenrolle, zunächst gewollt und dann wider Willen. Otto vonBismarck hatte das im Januar 1871 von ihm gegründete Deut-sche Reich in kluger Selbstbeschränkung für »saturiert« er-klärt: »Wir gehören zu den saturierten Staaten, wir habenkeine Bedürfnisse, die wir durch das Schwert erkämpfen könn-ten«, sagte er 1887.

Die Vernunft war auf seiner Seite. Bismarck hatte die Süd-länder Bayern, Württemberg, Baden und Hessen-Darmstadtmit dem Norddeutschen Bund zum Deutschen Reich fusio-

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niert. Der bisher vergleichsweise kleine Staat Preußen stiegdadurch zum größten des Kontinents auf. Ohne Waffengewaltund ohne das bisherige Gleichgewicht der europäischenMächte zu zerstören war ein Koloss entstanden. Damit dasneue Reich nicht gleich umzingelt und überfallen würde, be-teuerte Bismarck dessen Friedfertigkeit. Er war beileibe keinPazifist. Er hatte selbst drei Kriege geführt - 1864 gegen Däne-mark, 1866 gegen Österreich und Bayern, 1870/71 gegenFrankreich. Aber jetzt ging es ihm darum, das neu gegründeteReich zu stabilisieren. Das war nur ohne Krieg zu erreichen.Bismarck, der zeitlebens ein listiger Politiker, aber kein Hasar-deur war, wusste genau, in welcher fiebrigen Erregung sich dieVölker befanden. Die Stimmung der Zeit war aufgekratzt,viele waren geradezu fanatisch auf Eroberung und Unterwer-fung aus. Er aber wusste: Wer mehr wollte, würde weniger be-kommen.

Der junge Kaiser Wilhelm II. sah es anders. Bismarckmusste im März 1890 abtreten und der Monarch ging unver-züglich daran, die nachfolgenden Politiker auf einen »neuenKurs« festzulegen. »Wir wollen niemanden in den Schattenstellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne«,meldete der Außenminister des Reiches, Bernhard von Bülow,die deutschen Begehrlichkeiten an.

Aber wohin sollte der Kaiser seine Blicke richten? Was wardas geeignete Objekt der Begierde? Afrika war vergeben undsollte es auch auf Jahrzehnte bleiben. Nach der Einigung vonFaschoda war die Neigung von Franzosen und Briten groß,auch die übrige Welt zu filetieren. 1904 verabredeten sich diezwei europäischen Imperialmächte, welche Länder der GrandeArmee und welche den Truppen der britischen Majestät zu ge-horchen hatten. Die Deutschen waren empört.

Nicht das Prinzip der Machtverteilung störte sie. Das wardie zeitgemäße Art, Politik zu machen, gegen die sie schlechtetwas einwenden konnten. Aber die Tatsache, dass Deutsch-

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land nicht bedacht worden war, stieß bitter auf. In einem Briefan seine Frau ließ der Vortragende Rat des AußenministeriumsFriedrich von Holstein seiner Verärgerung freien Lauf: »Jetzthaben wir die Bescherung. England und Frankreich werdenuns schwerlich angreifen, aber wir sind außerstande, irgend-welche überseeischen Erwerbungen zu machen. Ich verlangesolche Erwerbungen nicht, aber eine Masse Menschen schreiendanach und wundern sich, dass für Deutschland nichts abfällt.«Also wurde in Berlin die Weltkarte erneut entrollt. Indienwar besetzt, Afrika vergeben, Amerika uneinnehmbar, so ge-riet Asien ins Visier. Die Eroberung eines chinesischen Zipfelssollte zum Gesellenstück deutscher Kolonialpolitik werden.

China.Ein Weltreich im Würgegriff des Westens

Das China des 19. Jahrhunderts war eine leichte Beute. DasLand war groß, aber nicht stark. Es war reich an Tradition,aber arm an Militärtechnik. Der chinesische Kaiser Qianlonghatte dem Westen den Rücken gekehrt, was von all seinenFehlern der gravierendste war. Im Herbst 1793 verpasste erdie letzte Gelegenheit, sich friedlich mit der Weltmacht Eng-land zu verständigen. Danach überfiel ihn der Westen. SeinLand wurde bei lebendigem Leibe gefleddert wie eine Lei-che, was die meisten Europäer heute verdrängt haben. Dashistorische Gedächtnis der Chinesen funktioniert deutlichbesser.

Es fing harmlos an. Eine Gesandtschaft der britischenKrone war im September 1793 in die Pekinger Sommerresi-denz gereist und hatte dem Kaiser schöne Geschenke mitge-bracht: ein aus Deutschland stammendes Planetarium, Fern-rohre, Luftpumpen, Fenstergläser, Eisen- und Stahlprodukteaus Birmingham und Sheffield. Die Briten wollten Handel

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treiben. Der Mann in Peking sollte sehen und fühlen, welcheNovitäten da im Angebot auf ihn warteten. Doch der Chinesewies die Visitenkarte der Moderne schnöde zurück. »Wirhaben technologische Waren noch nie geschätzt und habenauch jetzt nicht den geringsten Bedarf an den Manufaktur-waren deines Landes«, teilte er dem britischen König schrift-lich mit. In völliger Fehleinschätzung seiner Machtpositionschrieb er auch noch jenen Satz, den die britischen Übersetzermit Rücksicht auf den Gemütszustand des Königs gar nichterst übersetzten: »Wir, Kaiser durch die Gnade des Himmels,instruieren den König von England, unsere Anweisung zurKenntnis zu nehmen.«

China war nicht willig, da gebrauchte England Gewalt. Mitseiner Handelsflotte belieferte das geschäftstüchtige Inselvolknun die Schwarzhändler im Reich der Mitte. UnvorstellbareMengen an Opium, hergestellt in Indien, gelangten nach Chi-na, in der Spitze 2500 Tonnen pro Saison. Die chinesische Be-völkerung war bald wie narkotisiert. Das Rauschgift zersetzteden Staat und schädigte die Volkswirtschaft. Überall in denStädten waren Drogenabhängige zu sehen. Experten schätzen,dass nahezu ein Viertel der chinesischen Bevölkerung zu die-ser Zeit süchtig war. Die Briten waren einmarschiert, ohne dasLand betreten zu haben.

Als der chinesische Kaiser Kisten voller Rauschgift be-schlagnahmen ließ, war der Krieg mit den unsichtbaren Ein-dringlingen unvermeidlich. Die Briten hatten ohnehin nur aufein Signal zum Losschlagen gewartet. Nun bekam das chine-sische kaiserliche Heer jene tödliche Kollektion der Modernegeschickt, die aus den Waffenfabriken Englands stammte.Kanonen rollten an. Moderne Gewehre besorgten den Rest.Im August 1842 wurde China zwangsweise an den Weltmarktangeschlossen.

In den Küstenstädten Kanton, Shanghai, Amoy, Fuzhou undNingbo eröffneten die Briten Handelsniederlassungen, die als

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exterritoriale Gebiete nicht dem chinesischen Gesetz unter-standen. Die Insel Hongkong nahmen sich die Sieger als Tro-phäe. Das Monopol für die chinesischen Handelshäuser wurdeaufgehoben, der Opiumhandel de facto legalisiert. Im Gefolgedes gewonnenen Kriegs führten sie das System »ungleicherVerträge« weiter. Sie saßen bei dieser Art Handelsabkommenauf beiden Seiten des Schreibtisches: Sie setzten die Zölleherab und räumten sich zugleich selbst die günstigsten Han-delsbedingungen ein. Kein Wunder also: Auf die anderenKolonialmächte wirkte die britische Kriegsbeute wie ein Auf-putschmittel. Die heute friedlichen Handelspartner der Chine-sen aus dem fernen Europa, die Peking gern an die Einhaltungder Menschenrechte erinnern, haben dem damaligen 400-Mü-lionen-Volk übel mitgespielt.

Die Russen besetzten die nördliche Mandschurei, die Fran-zosen annektierten Tongking, die Japaner nahmen sich dieInsel Formosa und drängten darauf, dass Chinas bisherigerVasallenstaat Korea unabhängig wurde. Die Bucht von Kiaut-schou mit dem Hafen von Tsingtau fielen an das DeutscheReich, Port Arthur ging an die Russen, Weihai an Englandund die Region Kwangtschouwan gehörte fürs Erste zu Frank-reich. Besonders groß war das Gedränge in der HafenstadtShanghai, wo sich Franzosen und Briten mal wieder nicht eini-gen konnten, wer nun das Sagen hatte.

Im Westen erinnert sich an all das kaum noch jemand, inChina ist jeder Student im Bilde. Alle Menschenrechtsverlet-zungen, die der Westen dem heutigen China vorwirft, hat eran den Chinesen selbst begangen. Das Land wurde erniedrigt,gedemütigt und in Armut gehalten. Eine der ältesten Kultur-nationen der Welt - in China wurde das Schwarzpulver erfun-den, die Pockenschutzimpfung, Papier, Porzellan, Seide undder Kompass - diente den Staaten des Westens 70 Jahre langals Selbstbedienungsladen. Lässt man Japan außen vor, so hatsich der Lebensstandard in Asien vom Beginn des 19. Jahrhun-

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China. Ein Weltreich im Würgegriff des Westens 43

derts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts hinein nicht erhöht.Der Kontinent stand still - 150 Jahre lang.

Jeder Aufstand der Chinesen hat die Lage des Landes nurverschlimmert. Sie führten Krieg gegen die Franzosen - dasnördliche Vietnam wurde französisches Protektorat. Sie wehr-ten sich gegen die Briten - und verloren ihren Einfluss aufBurma. Sie widersetzten sich den Japanern - Korea stand fort-an unter japanischem Einfluss. Im Sommer 1900 erhob sichschließlich das einfache Volk gegen die Besatzer. »FremdeTeufel sind gekommen«, beginnt ein Aufruf zum Widerstandgegen die Eindringlinge des Westens. Die Volkserhebungwurde vom Westen auf den Namen Boxeraufstand getauft,weil viele der Aufständischen aus den ländlichen Boxervereini-gungen stammten. Auch er wurde schließlich von einer interna-tionalen Truppe niedergeschlagen. Ein erneutes Zeichen derDemut war nun gefragt. Eine »Sühnemission« der Chinesenmusste nach Potsdam an den Hof von Kaiser Wilhelm II. rei-sen, um sich für den Aufstand zu entschuldigen.

Das stolze China war nur noch die Attrappe eines souverä-nen Staates. Gesang, Schriftzeichen und Polizeigewalt bliebenerhalten, doch die Regierung in Peking war nicht mehr Herr imHause. Der westliche Poltergeist hatte das Regiment übernom-men. China, das am Vorabend des Ersten Weltkriegs ein Vier-tel der Weltbevölkerung stellte und mit damals 440 MillionenEinwohnern mehr als eineinhalbmal so viele Menschen be-herbergte wie Westeuropa, war eine Kolonie des Westens ge-worden.

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Wer geht, wer kommt?Eine erste Globalisierungsbilanz

Die Europäer wollten mehr Wohlstand und zusätzliche Machtund bekamen am Ende doch nur wieder Krieg und Zerstörung.Der weltweite Kolonialismus entpuppte sich ökonomisch alseine große Fehlkalkulation. Jene Gesellschaften, in denen dieModerne begann, sahen sich in einen Jahrzehnte dauerndenErregungszustand versetzt. Am Ende entluden sich Abstiegs-ängste und Großmachtsträume in zwei bestialisch geführtenKriegen, wobei der erste zu Unrecht Weltkrieg heißt. Es warin Wahrheit ein europäischer Krieg, weil er in Europa angezet-telt wurde, von dort aus bis ans Ende der Welt wütete, um zumgrausamen Finale ins Zentrum der Eruption zurückzukehren.

In einer Zeitspanne von nur drei Jahrzehnten verschwandEuropa ein zweites Mal unter Bergen von Schutt und Leichen.Ausgerechnet der Kontinent, der die Welt mit seinem Erfin-dungsreichtum beeindruckt, eingeschüchtert und schließlichin nahezu jeder Hinsicht dominiert hatte, ging erneut in Flam-men auf. In Berlin sah man aus mehreren Kilometern Entfer-nung auf die Überreste der Gedächtniskirche, weil ringsumalles zusammengesackt war. Selbst als in der Londoner Citydie Häuser wieder standen, blieb das Weltfinanzzentrum inNew York beheimatet, wohin es in den Kriegstagen umgezo-gen war. Angesichts der Kriegswirren in Europa hatte esSicherheit gesucht und sie nur in Übersee gefunden.

Hatte der Erste Weltkrieg mit 15 Millionen Toten geendet,fügte der Zweite dieser Bilanz weitere 60 Millionen Tote hin-zu. Die Entscheidungsgewalt über die europäischen Angele-genheiten lag seit dem Mai 1945 in Washington und Moskau.Deutschland war auf Lebensmittelspenden aus den USA ange-wiesen, in Osteuropa sang man gezwungenermaßen die Inter-nationale.

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Wer geht, wer kommt? 45

Das militärische Ringen brach nicht aus heiterem Himmellos. Ihm war ein jahrzehntelanger Weltwirtschaftskrieg vor-ausgegangen. Den friedlichen Warenaustausch gab es nur inden Werken der ökonomischen Klassiker. Die Briten produ-zieren Tuch, die Portugiesen Wein, und der Austausch Tuchgegen Wein würde sich für beide günstig auswirken, so hattees der britische Nationalökonom David Ricardo beschrieben.So hätte es sein können, aber so war es nicht. Während KarlMarx die Klugheit des Kapitalismus unterschätzte, hat Ricardosie zu hoch eingestuft.

Jenes System, das in seinen besten Tagen aus Geld mehrGeld entstehen lässt, bedarf einer gut geölten politischen Rege-lungstechnik. Fehlt oder versagt sie, bricht der Geldkreislaufund überhaupt jedes vernünftige Wirtschaften zusammen. Dasweit verzweigte Leitungssystem des Welthandels läuft heißund explodiert, wenn die Machtfragen alles andere beiseitedrängen. Die Welt gehört dann den Militärs, die Kaufleutesind bestenfalls noch als Finanziers der Völkerschlacht gefragt.

Wenn man der europäischen Geschichte einen Fehler vor-halten will, dann den: Der industriellen Revolution folgtekeine Revolution des politischen Denkens. Die Erfinder undTüftler hatten die Welt der Wirtschaft beschleunigt, die Staa-ten aber blieben stehen. Die Demokratie steckte noch in denAnfängen, sodass die Mächtigen der Politik weiter ihr Spielspielen konnten: Nation gegen Nation, Armee gegen Armee.Die USA schauten aus der Ferne zu, besorgt und verängstigt,aber zunehmend auch auf ihre Chance lauernd.

Den Europäern der damaligen Zeit fehlte vieles, um mitei-nander in Frieden zu leben. In der Kompromisssuche war nie-mand geübt, es mangelte am Willen zum Ausgleich, vor allemaber gab es keine Institutionen, die Gelassenheit hätten vermit-teln können: Es gab keine Europäische Union, keine VereintenNationen, es existierte kein Währungsverbund von Bedeutung,die G-8- und G-20-Gipfeltreffen waren noch nicht erfunden,

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Weltwährungsfonds und Weltbank existierten noch nicht malals Idee. Stattdessen Geraune und Gedröhne: Die Kirchen hat-ten ihre prägende Kraft bereits verloren, ein fiebriger Nationa-lismus drängte sich als Ersatzreligion auf. Die Spannung stieg,aber es fehlten die Sicherungen.

Die Interessenkonflikte zwischen den Nationalstaaten hat-ten sich über die Jahrzehnte verschärft. Denn der wachsendeWohlstand besaß von Anfang an einen Zwillingsbruder, derihm auf Schritt und Tritt folgte: die Angst. Wo immer sichdas Leben verbessert, folgt die Befürchtung, im nächsten Mo-ment könne alles vorbei sein. Das Streben nach Wohlstand unddie Angst, ihn zu verlieren, sind bis heute die zwei wichtigstenAntreiber der neuzeitlichen Geschichte.

Das englische Königreich wirkte früh schon erschöpft. Derschnelle Aufstieg vom Inselvolk zur Weltmacht hatte die poli-tischen und ökonomischen Kräfte überdehnt. Die Neuerwer-bungen in Übersee mochten prestigeträchtig und exotisch sein,rentierlich waren sie oft nicht. Zu den Kosten der Eroberungkamen die Kosten der Besatzung hinzu, die schnell ins Uner-messliche steigen konnten. Wer gehofft hatte, mit dem Qua-dratmeilen-Imperialismus das Fundament für den weltgrößtenBinnenmarkt gelegt zu haben, sah sich getäuscht. EnglandsBedeutung für die Weltwirtschaft schrumpfte. DeutschlandsAnteil an der weltweiten Industrieproduktion hatte bereits1913 den der Engländer überholt.

Das Deutsche Reich war allein schon aufgrund seiner Ein-wohnerzahl ein großer Brocken, der jährlich schwerer wog.Aus den 40 Millionen Deutschen des Jahres 1870 waren vorKriegsbeginn 65 Millionen geworden. In Europa lebten nur inRussland mehr Menschen. Durch seine Mittellage war dasReich politisch zwar im Zentrum aller Konflikte, aber derHandel profitierte. Die deutsche Industrieleistung schoss em-por, überragte bald die der Nachbarstaaten. Aus den deutschenHochöfen floss in den Jahren vor Kriegsbeginn mehr Rohstahl,

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als Franzosen, Russen und Engländer gemeinsam produzier-ten. Auch die neu entstandene chemische Industrie war einGlanzstück. Mit Firmen wie Bayer, BASF und Hoechst produ-zierte sie damals rund 90 Prozent der industriellen Farbstoffeder Welt.

Die Konzerne bauten so die Bühne, auf der sich die Natio-nalisten aller deutschen Parteien wichtig taten. »Wir müssenkolonisieren, ob wir wollen oder nicht«, rief ReichskanzlerBülow seinen Landsleuten zu. Der liberale Politiker FriedrichNaumann glaubte »in den deutschen Gliedern frühlingsartigenSaft« zu spüren. So begann das aufwärtsstrebende DeutscheReich mitten im Steigflug, den Absturz vorzubereiten. AufBismarcks Reichsgründung folgte bald schon das Unterneh-men Größenwahn. Der Erste Weltkrieg begann nicht in Saraje-wo, er begann in den europäischen Metropolen.

Tür auf für die Demokratie: Kaiser und Generalität überga-ben schließlich ein geschundenes Land, unter dessen Acker-krume der alte Völkerhass schon wieder keimte. Hitler undseine Nazipartei fanden reichlich Nahrung, die ihnen dieMonarchie hinterlassen hatte.

Auch die anderen Europäer verrechneten sich gründlich.Die von ihnen so hitzig betriebene Kolonialpolitik brachte kei-nen dauerhaften Wohlstand. Frankreich, die zweitgrößte Kolo-nialmacht, war noch vor Kriegsausbruch ein Verlierer. Derweilsich das französische Imperium von 1871 bis 1900 um rundneun Millionen Quadratkilometer ausweitete, sackte sein An-teil an der Weltproduktion im selben Zeitraum um 20 Prozentnach unten. Wohin man auch schaute, die Franzosen konntenden Gewinn an Quadratmeilen nicht in ökonomische Stärkeverwandeln. Ihre relative Bedeutung schrumpfte.

Die Franzosen waren schon damals eine politische Nation;ihr Geltungsdrang war größer als ihre ökonomische Leistung.Fortwährend tauschten sie, wie die anderen Kolonialmächteauch, ihr ökonomisches Kapital gegen politisches Prestige.

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Sie taten es in der Hoffnung, dieser Tausch würde sich amEnde auch wirtschaftlich rentieren, was er aber nicht tat. Mil-liarden wurden in den Kolonien und vor allem in den Ländernder diversen Bündnispartner ausgegeben, in der Türkei, aufdem Balkan, und auch die Russen profitierten. Als Gegenge-wicht zu den verhassten Deutschen wurden sie von den spen-dierfreudigen Pariser Politikern aufs Schönste verwöhnt. Alldiese politischen Gratifikationen haben sich nie ordentlichverzinst, die Rendite der französischen Außenpolitik bliebkümmerlich. Am Vorabend des Kriegs war das Industriepoten-zial der Franzosen um 60 Prozent kleiner als das der Deut-schen. Selbst die Landwirtschaft, seit jeher in Frankreich einnationales Heiligtum, erreichte pro Hektar nur 65 Prozent desdeutschen Ausstoßes. Das Land war im Zuge der industriellenRevolution relativ zu den Konkurrenten Deutschland undAmerika ärmer geworden.

Italien war von Anfang an der Nachzügler der Moderni-sierung. 1913 lag das industrielle Produktionsvolumen beieinem Sechstel des britischen und bei einem Siebtel des deut-schen. Vom großen Kuchen der Weltindustrieproduktion konn-ten die Italiener zur Jahrhundertwende nur 2,5 Prozent ergat-tern. Der Anteil sank sogar noch bis zum Kriegsbeginn. DieFamilienclans, die damals schon das Land beherrschten, warenmächtig, aber im Weltmaßstab eben nicht mächtig genug. Ita-lien blieb ein Agrarstaat mit angeschlossener Industrieproduk-tion.

Russland hatte die Morgenstunde der Globalisierung ver-schlafen. Schon vor Beginn der industriellen Revolution lagdas große Land wirtschaftlich hinter den Staaten Westeuropas,danach driftete man noch weiter auseinander. Der Westen desKontinents war immer schon wohlhabender, aber zunächstklaffte keineswegs der breite Wohlstandsgraben zwischenOstund West. Im Jahr 1700 war das Pro-Kopf-Einkommen inWesteuropa (ohne Großbritannien) rund 60 Prozent höher als

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Der Fehlstart 49

im Osten Europas. 120 Jahre später hatte sich der Abstandkaum verringert. Dann erst setzte die Kontinentaldrift ein:Nach der Jahrhundertwende ging es den Weststaaten mehr alsdoppelt so gut wie ihren östlichen Nachbarn. Die Völker desOstens hatten wenig erfunden und auch die Erfindungen deranderen fanden kaum Beachtung. Die Bauernvölker sahenwohl, dass sich nebenan Großes tat, aber sie eiferten dem nichtnach. Sie waren Zuschauer, nicht Teilnehmer der Weltge-schichte.

Vor der eigenen Haustür konnten die westlichen Europäerschon früh die Widersprüchlichkeit der Globalisierung studie-ren: Die Welt war enger zusammengerückt und zugleich tiefgespalten. Bald schon würden sich die russischen Moderni-sierungsverlierer dem Gegenentwurf zum Westen, dem Kom-munismus und seiner Planwirtschaft, verschreiben. Die öko-nomische Spaltung war der politischen und militärischenEntfremdung vorangegangen. Die spätere Zweiteilung desKontinents war in der wirtschaftlichen Kontinentaldrift an-gelegt, lange bevor Lenin, Trotzki und Stalin die politischeBühne betraten.

Der Fehlstart, Warum die Generalprobe derGlobalisierung scheitern musste

Der sich verschärfende Weltwirtschaftskrieg bedeutete vorallem für die Briten den Abstieg. Früh schon fielen AdamSmith die hohen Kosten auf, die zur Sicherung der Koloniennötig waren. »Unsere Staatsmänner sollten endlich den golde-nen Traum, den sie und wohl auch das Volk geträumt haben,verwirklichen oder aber aus ihm aufwachen«, rief der Ökonomseiner Nation zu. Wenn die Provinzen des britischen Reichsnicht dazu gebracht werden konnten, zum Unterhalt des Em-pire beizutragen, sollte man sich von ihnen trennen. Großbri-

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50 Europa über alles. Die Generalprobe der Globalisierung

tannien sei gut beraten, Ansichten und Pläne der tatsächlichenMittelmäßigkeit seiner Lage anzupassen.

Die britische Krone aber wollte nichts hören und nichtssehen. Sie litt an einem heftigen Kolonialfieber, auch wenn dieEroberungszüge zunehmend einem Substanzverzehr gleich-kamen. Die Siege, die England über andere Völker feierte,waren getarnte Niederlagen, denn sie gingen mit einer Erosionder ökonomischen Macht einher. Was hatte man da eigentlicherobert: große Wüsten, hohe Gebirgsketten, undurchdring-liches Dschungelland, und nicht zu vergessen die MillionenMenschen, die sich über Kontinente hinweg einig waren, anihre Imperatoren nur das Nötigste abzuliefern.

Es gab für viele Mitglieder der britischen Elite gute Gründe,das Kolonialsystem zu verlängern. Die Militärs ließen es sichgut gehen. Die Kolonialherren taten sich wichtig. Die Schiff-fahrtsgesellschaften atmeten durch. Aber die Wertschöpfungkam so nicht voran. Mutwillig, so scheint es im Rückblick,verabschiedete sich eine Weltmacht von der Bühne; jederWerktag war ein kleiner Schritt in Richtung Kulisse. Mit demdauernden Bewachen, Belauern und Niederkämpfen hatte dasLand seine Aufmerksamkeitsökonomie vergeudet, sodassnicht mehr ausreichend Reserven blieben für die eigentlicheWohlstandsmehrung.

Wer sehen wollte, konnte damals schon sehen: DiesesModell der Globalisierung, die Unterwerfung von Völkernund Kontinenten in der Absicht, sie auszubeuten, war nichtrentabel zu betreiben. Die Anfangsinvestition der Eroberungwar zu hoch. Für die Sicherheit musste auch danach bezahltwerden. Die Produktivität des ganzen Territoriums sank, weildie Neuerwerbungen zu allem Möglichen motiviert waren,aber nicht zum Arbeiten.

Die Briten waren zum Schluss nicht einmal mehr Eroberer,sondern nur noch Verteidiger. Die 350 Millionen Menschender Kolonien wollten sich partout nicht den 40 Millionen

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Briten unterordnen. Überall im weit verzweigten Imperiumbrannte es, Aufstände in Indien flackerten auf. Nahezu jederPrestigegewinn, vorneweg die Ernennung von Königin Victo-ria zur Kaiserin von Indien, wurde kurz darauf mit einem Ver-lust an Stabilität bezahlt. Ein Drittel des indischen Territo-riums musste bis zum Ende der 50er Jahre ein zweites Malerobert werden. Das britische Reich war reich, aber vor allemwar es reich an Konflikten. In London sprach man wichtigtue-risch von »permanenten Interessen«. Aber worin lagen dieseeigentlich begründet? Wem nutzte die ständige Keilerei? Washätte man nicht alles mit diesem Geld und dieser Energie be-gründen können, vielleicht sogar ein Weltreich von größererStabilität.

Der Erfindergeist aber, dem England in Wahrheit seinenmärchenhaften Aufstieg verdankte, verkümmerte zusehends.Die eigentliche Kernenergie des Kapitalismus, jene Sphäreder Wirtschaft, in der bahnbrechende Ideen entstehen, diedanach für technologische Sprünge sorgen, verlor spürbar anIntensität. Jeder verließ sich bald schon auf den anderen: ZuHause schaute man auf die Kolonie. In der Kolonie warteteman auf die Heimat. So war das Empire mit seinen Mandats-gebieten, Protektoraten, Dominions, strategischen Stützpunk-ten und Siedlungsgebieten der sicherste Weg, mit unermess-lichem Aufwand einen minimalen Ertrag zu erzielen. Derfünf Jahre tobende Unabhängigkeitskrieg mit den späterenBürgern der USA kostete England zu heutigen Preisen gerech-net rund 234 Millionen Pfund und endete 1783 mit dem Verlustder profitabelsten Kolonie. Die Briten wurden gedemütigt, dieAmerikaner aber waren endlich frei. Bald sollten sie starkgenug sein, das Mutterland auch ökonomisch in die Schrankenzu weisen.

Die Briten dachten nicht daran, die Gründe ihres Scheiternszu analysieren. Es gab für sie kein Innehalten und keine nochso kurze Phase der Besinnung. Politiker, Militärs und die Mit-

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glieder der Königsfamilie wollten die Schmach der amerika-nischen Unabhängigkeit vergessen machen, weshalb sie wiein Raserei darangingen, weitere Völker zu unterjochen. Mansprach in London vom »Zweiten Empire«, das es nun zu be-gründen gelte.

Das Territorium weitete sich, der Ideenhaushalt der Welt-macht aber schmolz weiter dahin. Die Weltausstellung 1851markiert den Höhe- und Wendepunkt des britischen Reichs.Im Londoner Crystal Palace konnten die englischen Exponatenahezu alle Preise gewinnen. Bei der Weltausstellung im Jahr1867 in Paris waren es nur noch 10 Prozent. Im produktivenKern des Landes brannte nicht mehr dasselbe Feuer wie inden Jahrzehnten zuvor. Da, wo in jeder Volkswirtschaft mitkühnen Ideen die großen Produktivitätsschübe ausgelöst wer-den, tat sich nicht mehr allzu viel. Wie unter der Lupe lässtsich erkennen, was wir bei anderen Nationen heute auch er-leben. Schmilzt das Innerste des produktiven Kerns, erkaltenschnell auch die äußeren Zonen, bald darauf setzt an den Rän-dern sogar ein Schrumpfungsprozess ein, der eine Volkswirt-schaft von einst stattlicher Größe binnen kurzer Frist zum Sor-genfall werden lässt.

Die Briten hatten innerhalb weniger Jahrzehnte ihren Anteilan der weltweiten Industrieproduktion annährend halbiert undverfügten im Vorkriegsjahr 1913 nur noch über 14 Prozent derweltweiten Wirtschaftleistung. Sie waren eine Abschiedsge-sellschaft geworden, die dem neuen Angreiferstaat Amerikanichts mehr entgegenzusetzen hatte. Die eine Weltmacht ging,die andere kam. Der Aufstieg Amerikas und der Abstieg derBriten bedingten einander. Die weltweite »Economie domi-nante«, die es nach Ansicht des französischen Wirtschaftswis-senschaftlers Perroux zu allen Zeiten gegeben hat, hieß nunnicht mehr Großbritannien. Mit den USA wuchs der neue»Master of the Universe« heran.

Die Wirtschaftskraft der Vereinigten Staaten von Amerika

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Der Fehlstart 53

wuchs in den Jahren 1870 bis 1880 je Einwohner um 2,7 Pro-zent. Die Briten schafften nicht mal das halbe Tempo. Und soging es weiter bis zum Kriegsbeginn: plus 1,5 Prozent Wachs-tum je Einwohner in den USA über 30 lange Jahre, in denenGroßbritannien nur noch zwei Drittel davon schaffte. Der rela-tive Abstieg des britischen Empire hatte begonnen. Die Verei-nigten Staaten überrundeten schließlich ihr wichtigstes Her-kunftsland auch absolut. Eine neue Supermacht zeigte sichder Welt, wenn auch am Ende des 19. Jahrhunderts erst sche-menhaft.

Die große Völkerschlacht bewirkte ein Übriges. Die Verei-nigten Staaten standen nach dem Ersten Weltkrieg besser daals vorher. Schon 1913 dürften die USA rund ein Drittel derWeltindustrieprodukte hergestellt haben; nur fünf Jahre später,der Krieg hatte Europa in eine Zone der Verwüstung verwan-delt, waren es über 50 Prozent. Mit dem Zweiten Weltkrieg,der gut zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Ersten folgte, hattesich Europa von der großen Bühne verabschiedet. Am Vor-abend des Ersten Weltkriegs herrschten die europäischenMächte, die zusammen weniger als zehn Prozent der Erd-bevölkerung stellten, über fast ein Drittel der Menschheit.Nahezu der gesamte afrikanische Kontinent und fast zwei Drit-tel Asiens wurden aus Europa regiert. Doch Lenin irrte, als erden Imperialismus als »das höchste Stadium des Kapitalis-mus« beschrieb. Es war im Gegenteil ein Kapitalismus kurzvor dem Kippen.

Der Imperialismus war bei Lichte besehen die Vorstufe zumtiefen Fall der freien Wirtschaftssysteme, an dessen Ende einGroßteil Afrikas, halb Europa und weite Gebiete Asiens sozia-listisch geworden waren. Eine Weltmachtposition des altenEuropa wäre damals ökonomisch möglich gewesen, aberpolitisch war sie nicht zu bewerkstelligen. Es gab Deutsche,Franzosen, Briten, Holländer und Spanier, aber es fehlte anEuropäern. Das Dampfmaschinenzeitalter hatte das Postkut-

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schenzeitalter abgelöst, ohne dass die Staaten sich im selbenUmfang verändert hatten. Sie waren Postkutschenstaaten ge-blieben. Vor allem Deutschland und England duellierten sich,bis keiner von beiden mehr stehen konnte.

Ökonomische Globalisierung, das zeigt die GeschichteEuropas im gesamten 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahr-hunderts, ist von allein kein Friedensgarant. Grob vereinfachtkönnte man sagen: Europas Aufstieg war das Werk von Tüft-lern, Technikern und Kaufleuten, der Niedergang ging auf dasKonto von Militärs und Politikern. Die westeuropäischen Im-perien zerfielen, der Wohlstand schrumpfte, Frankreich undGroßbritannien verließen die Weltbühne, der deutsche Natio-nalstaat verlor erst seine Selbstachtung und am Ende für meh-rere Jahrzehnte seine Souveränität. Die Generalprobe der Glo-balisierung war für alle europäischen Beteiligten gründlichschief gegangen. Ausgerechnet eine ehemalige Kolonie hattenun ihren großen Auftritt.

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KAPITEL 2

Das amerikanische Jahrhundert.Eine Schlussbilanz

Nation wider Willen

Eigentlich sprach alles dagegen, dass in Nordamerika jemalseine Weltmacht entstehen würde. Die bunte Schar, die imNovember des Jahres 1620 an Bord der Mayflower in der briti-schen Kronkolonie landete, zählte zu der Sorte Mensch, mit dereigentlich kein Staat zu machen ist. Wie die Neuankömmlingeder späteren Atlantikfrachter waren es vor allem religiöse Fana-tiker, Tagträumer und Glücksritter, die aus England und vielenanderen Staaten Europas den Weg in die Fremde gesucht hat-ten. Unter ihnen befanden sich auffällig viele, die man daheimals verschrobene Existenzen und Querulanten, im günstigstenFall als Idealisten bezeichnet hatte. Sie waren mehr gestrandetals gelandet. In der alten Heimat vermisste sie niemand.

Sie suchten freies Siedlerland, Gold, das große Glück; wasalle suchen, wenn sie ihre Heimat mit nicht viel mehr verlas-sen, als sie tragen können. Nichts anderes treibt auch Ukrainer,Russen, Serben, Kroaten, Äthiopier und Afghanen, wenn sieihre Freunde zurücklassen, um im Westen oder auch nur inder nächstgelegenen Millionenstadt ihrem Leben eine andere,erfreulichere Wendung zu geben. Umso stärker springt derUnterschied zu den damaligen Aussiedlern ins Auge: Sie wur-den vom Schicksal verwöhnt wie keine Siedlergeneration da-vor und keine danach. Sie bekamen von allem, was sie begehrthatten, derart reichlich, dass es nur verständlich ist, dass einigevon ihnen sich noch heute für das erwählte Volk halten.

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Sie waren in einem der größten, fruchtbarsten und klima-tisch angenehmsten Flecken der Welt gelandet, sie stießen aufGold und Öl in rauen Mengen. Fleißig waren sie dann vonalleine: Als die Zeit dafür reif war, trieben sie die Industriali-sierung in einem derart atemberaubenden Tempo voran, dasses den alten Europäern bald schon die Sprache verschlug. Sierammten Telegrafenmasten in die Landschaft, verlegten Bahn-schwellen, erfanden die Massenproduktion des Automobils,sie begründeten auf diesem Reichtum nicht nur eine »GreatPower«, wie der britische Historiker Paul Kennedy meint, son-dern das größte Imperium seit dem Untergang des RömischenReiches. Der Dollar dominiert heute noch weltweit das Wirt-schaftsgeschehen, das amerikanische Finanzsystem setzt denStandard. Wie einst die römischen Prokonsule sind die fünfRegionalkommandeure der US-Armee auf der Erdkugel ver-teilt, zuständig für Europa, Lateinamerika, den MittlerenOsten, den pazifischen Raum und Nordamerika. Außerhalbder USA sind derzeit rund 320 000 amerikanische Soldaten sta-tioniert, in etwa die gleiche Zahl an Menschen, die um 1700 inden nordamerikanischen Kolonien lebten. Sie leiten humani-täre Kampfeinsätze, helfen beim Wiederaufbau zerfallenerStaaten - und führen mit großer Selbstverständlichkeit Krieggegen jedermann, der ihren Wirtschafts- oder Sicherheitsinte-ressen in die Quere kommt.

Das Überraschende daran ist nicht, dass diese Supermachtsich über andere erhebt, arrogant wirkt und mit zuweilen un-glaublicher Härte zur Sache geht. Das ist das Wesen einerjeden Supermacht. Sobald sie sensibel und weich wird, nach-denklich oder gar nachgiebig, sind ihre Tage gezählt. EineGroßmacht hört auf, Großmacht zu sein, wenn sie ihre Fähig-keit zur Brutalität verliert. Sie wird dann vielleicht ein sympa-thischer Staat sein, wie die Schweiz oder Dänemark, aber keinmächtiger mehr.

Das Erstaunliche ist, dass Amerika sich überhaupt zu dieser

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Nation wider Willen 57

Supermacht entwickeln konnte. Der Weg zu Weltrang undWohlstand war keineswegs vorgezeichnet, auch wenn es heuteimmer wieder behauptet wird. Das ist Geschichte aus demBlickwinkel derer betrachtet, die schon den Ausgang desAbenteuers kennen. Aber zu Beginn zeigten die Wege überall-hin, auch in Richtung Abgrund. Die Voraussetzungen für einestarke, geeinte und dauerhafte Nation waren sogar eherungünstiger als anderswo. Denn vom Wesen der neuen Nationhatten die ersten Siedler keine Vorstellung, nicht einmal ihreWunschvorstellung ging in diese Richtung.

Eigentlich waren sie der Heimat entlaufen, weil ihnen derGroßkonflikt mit Krone und Kirche und all den anderen erstarr-ten Institutionen zu mühsam und wenig Erfolg versprechendschien. Eine Karriere im Zentrum des weltumspannendenEmpires interessierte sie nicht. Sie waren Nonkonformisten,all die einstudierten Rituale von Königshaus und Westminster-Parlament empfanden sie als zu affektiert, als dass sie langeüber deren Reform hätten nachdenken wollen. Sie suchtenbewusst die Nische, wollten im Windschatten der großen Poli-tik ihrem kleinen Glück zustreben, was im weitestgehendenFall das Glück einiger Glaubensbrüder mit einschloss.

Das mühsame Leben in den neuen Ländereien, das kam hin-zu, ließ ihnen kaum Zeit zum Nachdenken. Vor ihnen lag derfruchtbare Küstenstreifen, dahinter ein weites Land, für dessenDurchquerung zunächst nur Pferde und Planwagen zur Ver-fügung standen. Die Siedler besaßen weder Armee noch Ver-fassung. Der Kampf ums Überleben gestattete keine geistigenAusschweifungen. Überall stemmte sich die indianische Urbe-völkerung, die auf der Suche nach Nahrung das Land durch-streifte, den Neuankömmlingen entgegen. Deren Überlebens-wille stand gegen den Willen der Ankömmlinge, die das Landnun für sich beanspruchten. Es war wie so oft: Das Entsteheneiner neuen Kultur begann mit dem Zerstören der alten. Inner-halb von nur 100 Jahren nach dem ersten Kontakt verschwan-

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58 Das amerikanische Jahrhundert. Eine Schlussbilanz

den 90 Prozent der indianischen Urbevölkerung, die meistenstarben durch eingeschleppte Krankheiten. Die Überlebendenwurden in Reservate gesperrt oder mussten sich als lebendeMaskottchen verdingen. Der legendäre Häuptling der Hunkpa-pa-Sioux, Sitting Bull, endete als Darsteller in einer Wildwest-Show.

Die Neuankömmlinge darf man also, ohne ihnen zu nahezu treten, als zwiespältige Gesellen bezeichnen; einerseitsfrömmelnd und fleißig, hilfsbereit gegenüber dem Nächsten.Auf der anderen Seite waren sie aus einem erkennbar hartenHolz geschnitzt: Verdrängung und Unterdrückung waren dieWesensmerkmale schon ihres frühen Auftritts, die Ureinwoh-ner wurden ausgerottet, die aus Afrika verschleppten Arbeits-sklaven mussten arbeiten bis zum Umfallen. Wenige Jahrenach der Unabhängigkeitserklärung im Jahre 1776 zählten diespäteren USA bereits rund drei Millionen Einwohner, davon500000 Sklaven.

Aber noch immer deutete nichts daraufhin, dass diese Men-schen ihre Eltern und Großeltern bald schon übertrumpfensollten. Die Vereinigten Staaten lagen selbst 80 Jahre nachihrer Gründung deutlich hinter dem Standard des britischenMutterlandes, das als Pionier der Industrialisierung dafür ge-schaffen schien, die übrige Welt für Jahrhunderte zu dominie-ren. Das weite, in seiner frühen Stunde noch durch keinerleiKommunikationsstränge verbundene Amerika und die unter-schiedliche Herkunft der Neuamerikaner ließen ein Auseinan-derdriften erwarten, eher jedenfalls als die Ausbildung einereigenen nationalen Identität. Man ging sich aus dem Weg, an-statt die Nähe des ethnisch anderen zu suchen. Im heutigenNew York und den mittelatlantischen Kolonien tummeltensich zunächst Holländer und Skandinavier, Pennsylvania wardas Zentrum der Deutschen, die Briten besiedelten die nörd-lichen Küstenregionen, Schotten, Skandinavier und wiederumDeutsche verteilten sich im Mittleren Westen. Die Furcht vor

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den Deutschen beispielsweise, die insgesamt rund neun Pro-zent und in Pennsylvania bis zu einem Drittel der Einwohnerstellten, ließ Benjamin Franklin vor »Überfremdung« warnen.

Was die auseinander strebenden Teile des späteren Amerikazusammenhielt, war die Autorität der britischen Krone. Aberdiese Kraft wirkte verrückterweise erst ab dem Tag, als siesich gegen die Siedler richtete. England litt unter den Kostender Kolonialpolitik, weshalb König George III. nach neuenEinnahmequellen suchte. So fiel sein Blick auf die nordameri-kanischen Kolonien, die sich ökonomisch passabel entwickel-ten. Neue Steuern und Zölle wurden eingeführt. Was auchimmer die 13 Kolonien kauften oder verkauften, die Kronehielt die Hand auf. Es wurde ihnen verboten, bestimmte Pro-dukte wie Kleidung und Eisen herzustellen, da die Engländersich unliebsame Konkurrenz vom Hals halten wollten. EineSondersteuer auf alle Schriftstücke mit rechtlicher Bedeutung- darunter auch Zeitungen, Kalender, Urkunden - wurde ein-geführt. Die Krone begann sogar eine eigene königliche Büro-kratie zum Eintreiben der Gelder aufzubauen.

Wer so dreist die Hand aufhält, darf mit dem Applaus derGeschröpften nicht rechnen. Die Stimmung verdüsterte sich,die Loyalität zum Mutterland begann zu schwinden. BritischeFinanzbeamte wurden erstmals mit Teer bestrichen, um sie da-nach in einem Meer von Hühnerfedern zu baden. Teeren undFedern, das war im Amerika dieser Tage die gebräuchlicheForm, sein Missfallen zum Ausdruck zu bringen.

Ein Krieg wurde schließlich unvermeidlich. Die Details die-ses auf beiden Seiten fintenreich geführten Unabhängigkeits-kriegs müssen uns hier nicht interessieren. Die Rechnung amEnde der achtjährigen Schlacht aber sah so aus: Die Briten,die sich mit einigen Indianerstämmen und einer nennenswer-ten Zahl von Sklaven gegen ihre amerikanischen Landsleuteverbündet hatten, lagen bis zum Schluss gut im Rennen. So-lange sie es ausschließlich mit der Siedlerarmee unter Führung

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von George Washington zu tun hatten, schien ihr Sieg nur eineFrage der Zeit. Auf unter 5000 Mann waren die amerikani-schen Einheiten, die einst mit 20000 Mann gestartet waren,bereits dezimiert, als Washington in seiner übergroßen Notdie Franzosen, seit jeher die Erzrivalen der Briten, zu Hilferief. Die ließen sich nicht lange bitten, lieferten erst Kriegsge-rät und Geld, schließlich unverbrauchte Truppen, immerhinknapp 6000 Mann. Im Endspurt lagen die französisch-ameri-kanischen Verbände vorn, was für die Briten eine militärischeNiederlage, vor allem aber eine beispiellose politische Bla-mage bedeutete. 25000 Siedler waren gefallen, aber Amerikawar frei. Da kündigte sich das nächste Drama bereits an: Ame-rika wusste mit seiner neu gewonnenen Freiheit nichts anzu-fangen.

Als Akt der Notwehr und der Selbstbehauptung entstand einStaat, der eigentlich keiner sein wollte. Die Siedler schufenSymbole einer Staatlichkeit, die sie im Grunde ihres Herzensablehnten. Sie frönten bald schon einem Fahnenkult, den sie inEngland noch als albern empfunden hatten. Sie befassten sichmit Freiheitsrechten und Verfassungszielen, was bisher nichtihre Neigung war. Sie fanden zueinander, obwohl sie das nieim Leben vorgehabt hatten. »Entweder wir halten zusammenoder wir hängen einzeln«, soll Franklin seinen Landsleutenzugerufen haben. Ein Staat wider Willen war gegründet wor-den, nicht wie die Amerikaner bis heute glauben wollen vonFranklin, Washington und Jefferson, sondern von den da-maligen Weltmächten Frankreich und Großbritannien. Dieeinen hatten den Unabhängigkeitskrieg mit ihrer Zoll- undSteuerpolitik angezettelt, die anderen ihn siegreich beendet.Ohne die Briten kein Kampf, ohne die Franzosen kein Sieg.Wenn es in der Geschichtsschreibung ehrlich zuginge, was seitjeher nicht der Fall ist, müsste am amerikanischen Indepen-dence-Day den Staatsgründern George III. aus England undLouis XVI. aus Frankreich gedacht werden. Dann würden die

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amerikanischen Schulkinder als Erstes lernen, dass die Frei-heitsstatue im New Yorker Hafen ein Geschenk der PariserRegierung ist - als Symbol und Erinnerung einer von Franzosenerstrittenen Freiheit. Auch das Datum der Feierlichkeiten wärebei dieser Gelegenheit den tatsächlichen Gegebenheiten anzu-passen. Erst der Friedensvertrag von Paris am 3. Septemberdes Jahres 1783 begründete die Unabhängigkeit der VereinigtenStaaten, nicht die einseitige Willenserklärung, die am 4. Juli1776 veröffentlicht wurde. Sie war nur die Absichtserklärung,aber nicht die Siegerurkunde, als die sie heute dargestellt wird.

Die »Vereinigten Staaten von Amerika« waren zunächstnicht viel mehr als eine Hochstapelei. Vereint waren die drei-zehn Kolonien vor allem in ihrer Ratlosigkeit. Sollten sie einlockerer Freundschaftsverband bleiben, wie es zahlreiche Poli-tiker damals wünschten? Oder doch lieber einen Staatenbundbilden, dessen Machtzentrum die einzelnen Bundesländersein würden? Würde die Berufung eines mit Macht ausge-statteten Präsidenten der Sache der Siedler hilfreich sein oderhatten die Kritiker Recht, die darin den »Fötus der Monarchie«zu erblicken glaubten? Die Siedler konnten sich nicht ent-scheiden.

Der Krieg hatte die innere Zerrissenheit des Kontinents nurüberlagert, nicht geheilt. Ein Staat ohne Staatsidee, ohne Staats-volk und ohne allgemein akzeptierte Steuervollmacht war ent-standen, ein Gehäuse, dem im Innersten das Kraft- und Kon-trollzentrum fehlte.

Staat im Säurebad. Eine Weltmacht entsteht

Wäre die Geschichte einfach so weiter nach vorn gestolpert,hätte dem Gemeinwesen der USA alles Mögliche bevorgestan-den, nur kein erfülltes Leben. Die inneren Spannungen undWidersprüche hätten das Land immer wieder zur Beschäfti-

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gung mit sich selbst gezwungen und damit zur Erosion seinerohnehin losen staatlichen Substanz geführt. Die heutige US-Regierung würde mit der ihr eigenen Strenge wahrscheinlichvon einem »failing State« sprechen, einem zerfallenden Staat.

Es fehlten 240 Jahre nach Ankunft der ersten Siedler nochimmer die drei Mindestvoraussetzungen, um überhaupt Welt-macht werden zu können: Die USA brauchten dafür dringendeine stabile Staatlichkeit, kein britisches Hofzeremoniell undkeine preußische Bürokratie, aber doch eine Führung mitAutorität in den letzten Dingen, zum Beispiel beim Krieg-führen. Auch ein Ende der Kleinstaaterei - bei Zöllen, Wäh-rungen und Steuern - war vonnöten. Nur der große, von derWest- bis zur Ostküste, von den Großen Seen bis zum Golfvon Mexiko sich erstreckende Binnenmarkt würde die Magieder großen Zahl ermöglichen. Nur so war es im heraufziehen-den Zeitalter des Kapitalismus, das ein Zeitalter der Massen-produktion werden sollte, möglich, von allem die optimaleStückzahl herzustellen. Die dritte Voraussetzung war die amschwierigsten zu schaffende, aber die wichtigste. Sie war vonso hoher Bedeutung, dass sich hieran alles entscheiden würdeund es daher lohnend schien, notfalls eine gewaltsame Klärungherbeizuführen.

In dieser Frage konnte es auf Dauer keine Kompromissegeben und wenn, dann nur um den Preis, dass eineSupermachtUSA niemals das Licht der Welt erblicken würde: Die Sklave-rei musste aufhören. Diese dauernde Knechtschaft war mora-lisch verwerflich, sie brachte unendliches und bis heute nichtverheiltes Leid. Aber um Moral ging es nur am Rande. DieSklaverei war - und darauf kommt es hier an - auch ökono-misch und politisch ein Irrweg. Der Sklavenstaat war schondamals das Relikt einer versunkenen Epoche, ein Modell, daseiner Herrenschicht zwar ein Leben ohne allzu große Anstren-gung versprach, aber nicht im Mindesten geeignet war, dieAnforderungen der neuen Zeit zu erfüllen. Unmündige Skla-

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venarbeiter waren im besten Fall fleißige Handwerker, geistigeProduktivität aber war von ihnen nicht zu erwarten. Wer dasFundament seiner Volkswirtschaft aufweitgehend ungebildeteSklaven stützt, kann nicht sehr hoch bauen. Er schafft es nurbis zum Agrarstaat mit angegliederten Manufakturen. Ein im-posanter produktiver Kern mit bahnbrechenden Ideen in derMitte, um die herum sich die technische und naturwissen-schaftliche Intelligenz bilden kann, die ihrerseits eine stabileMittelschicht von gut ausgebildeten Arbeitern und Angestell-ten hervorbringt, kann so nicht entstehen. Der Sklavenstaat istein Niedrigenergiegehäuse, in dem eine Herrenschicht sichzwar aristokratisch gebärdet, bei all dem allerdings ökono-misch nicht viel zu Wege bringt.

Die eigentlichen Leistungsträger wachsen rechtlos und weit-gehend bildungsfrei auf, was den produktiven Kern von An-fang an auf ein Minimum reduziert. Unfreie Menschen meldenkeine Patente an; sie wissen und wagen wenig, sie sind mittel-mäßige Arbeiter und aufgrund ihrer Hungerlöhne taugen sieauch als Konsumenten nicht viel. Eine Hochleistungsmaschi-ne, die technologische Durchbrüche nicht im Ausnahmefallzulässt, sondern als Regelfall ermöglicht, lässt sich mit Heer-scharen von Entrechteten nicht in Gang setzen. Wer sich fürden Sklavenstaat entscheidet, handelte unmoralisch und un-klug. Die Lehre aus dem kränkelnden britischen Empire warja gerade, dass Besitzen und Besetzen noch keine Gewähr fürstolze Renditen bot. Warum war denn die East India Companyzuweilen klamm, trotz all der Monopolrechte, die sie imindisch-britischen Handel genoss? Warum erwies sich Afrikaals ein Milliardengrab für die Imperatoren vieler Länder, trotzder hemmungslosen Selbstbedienung? Wieso fiel EnglandsWirtschaftsleistung im Vergleich zu den anderen westlichenStaaten praktisch mit jeder neuen überseeischen Besitzungweiter zurück, wo doch das Beherrschen möglichst vieler Men-schen den Weg zu Reichtum und Macht weisen sollte?

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Die Klügeren in den USA sahen das Problem, aber sie konn-ten es allein nicht lösen. Der Norden drängte auf ein Ende derUnterdrückung, die eine ökonomische Begrenzung und mora-lische Selbstverstümmelung der noch jungen Nation bedeute-te. Der Süden aber weigerte sich. In den Sumpfgebieten, wodie großen Plantagen für Tabak und Baumwolle standen unddas Malariavirus heimisch war, kamen die Sklaven bevorzugtzum Einsatz. In South Carolina überstieg die Zahl der rechtlo-sen schwarzen Arbeiter die der weißen Farmerfamilien.

Eine Spaltung der Nation stand auf der Tagesordnung oderals Alternative - schon wieder Krieg. Diesmal würde es dergrausamste aller Kriegstypen sein, der Bürgerkrieg. BeideSeiten wollten dennoch kämpfen, wie sich bald zeigte. DasKriegsziel des Südens war der Erhalt des Status quo - unddamit der Abschied von jenen Aufstiegsphantasien, die imNorden herangereift waren. Das Kriegsziel des Nordens wares, eine Nation zu schaffen, die in der Lage sein würde, auchweltweit vorne mitzuspielen, die Grundvoraussetzungen dafür- der starke Staat, der einheitliche Binnenmarkt, die auf öko-nomische Effizienz basierende Leistungsgesellschaft - soll-ten, wenn es denn nicht anders zu haben war, in einem kriege-rischen Kraftakt geschaffen werden. Innerhalb von 100 Jahrengingen die Auswanderer erneut durch ein Säurebad. Das ersteMal waren sie als Siedler hineinmarschiert und als Staatsbür-ger wider Willen herausgekommen. Im zweiten Durchgangsollten sie das Flüchtige ihrer staatlichen Existenz verlieren,das Vorläufige und Unentschiedene würde sich ablösen unddas Gestrige verdunsten. Am Ende konnte ein Volk die Welt-bühne betreten, das stark genug war, um einen Platz in der vor-dersten Reihe der Nationen für sich beanspruchen zu dürfen.

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Die Sklavenhaltergeseilschaft.Amerika befreit sich selbst

Die Gewinn- und Verlustrechnung dieser fast vierjährigenAuseinandersetzung weist den Norden und damit das moderneAmerika als den eindeutigen Sieger aus: Die Sklaven warenschließlich mehr oder minder frei, sie durften in die Parla-mente einziehen, Familien gründen, eigene Firmen eröffnen.Dem bisherigen Geschäftsmodell der Südstaaten-Farmer wardamit in der offiziellen Gesetzgebung der Boden entzogen.

Die neue Zeit hatte gesiegt, sie hielt nun in Georgia, Missis-sippi, Arkansas, Virginia, Louisiana und Tennessee Einzug,auch wenn es kein Triumphzug wurde. Die von vielen ge-forderte Bodenreform, die Sklaven hätte in Staatsbürger undFarmer verwandeln können, blieb aus. Aber immerhin warihnen der Landerwerb nun nicht mehr verboten. ÖffentlicheSchulen wurden gebaut, erstmals auch für die Kinder der Far-bigen. Amerika erlebte eine Bildungsexplosion, die dem auf-strebenden Industrieland gut bekam. Besuchten 1870 lediglich52 000 Jugendliche ein College, hatte sich diese Zahl 20 Jahrespäter verdreifacht. Die Mentalität der Südstaaten blieb beste-hen, aber sie war in die Nische des Folkloristischen verwiesen.Ihr Ehrgeiz, dem ganzen Gemeinwesen den Stempel einesSklavenhalterstaats aufzudrücken, war nicht erloschen, aberer glimmte nur noch schwach. Amerika war, wenn auch unterSchmerzen, geeint.Das Leistungsprinzip hatte sich gegen den rassistischenAusbeuterstaat durchgesetzt, der moderne Industriekapitalis-mus gegen das Feudalsystem. Damit erst waren die Vorausset-zungen für das Werden und Wachsen der Weltmacht USA ge-schaffen. Seit der Landung der Mayflower war Amerika stetsein Gebilde von eher flüchtigem Aggregatzustand gewesen,halb Staat, halb Illusion. Erst jetzt verfestigten sich die Struk-

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turen, aus dem Staatsgebilde war - fast zeitgleich mit Bis-marcks Reichsgründung - eine Nation geworden.

Von Stund an glühte die Volkswirtschaft. Wie auf einerQuecksilbersäule lässt sich anhand der ökonomischen Datendie erhöhte Betriebstemperatur des Landes ablesen. Der pro-duktive Kern der Vereinigten Staaten lud sich regelrecht auf,vergrößerte sich bald schon in wilden Schüben. Im Innerstender Volkswirtschaft entstand jene Antriebsenergie, die balddarauf den politischen und militärischen Aufstieg des Landesermöglichen sollte. Es kam in den folgenden Jahrzehnten zueruptiven Wachstumsschüben, wie sie seither nur das Nach-kriegseuropa und das heutige China erlebt haben. Allein inder kurzen Spanne zwischen 1870 bis 1900 verdreifachte sichdas Bruttosozialprodukt und die Industrieproduktion legte umdas Vierfache zu. Amerika schloss sich in derart rasantemTempo an den weltweiten Handel an, dass Briten, Franzosenund Deutsche ihren Augen kaum trauten. Hatte der Wert derAusfuhren 1870 noch 500 Millionen Dollar betragen, war erbis 1900 bereits auf 1,5 Milliarden Dollar gestiegen, schaffte1910 die 2-Milliarden-Grenze und schoss nach dem Kriegsaus-bruch in Europa auf rund drei Milliarden Dollar empor.

Wohin man das Thermometer auch hält, es liefert Daten vonerhabener Größe. In den drei Jahrzehnten bis zur Jahrhundert-wende stieg die Getreideernte um etwa 260 Prozent, die Kohle-förderung um 800 Prozent und die Produktion von Stahl-schienen für den Eisenbahnbau um über 520 Prozent, was demZusammenwachsen des Landes gut bekam. Ein erster Vergleichmit dem unterentwickelten Russland, das sich später auch alsWeltmacht versuchen sollte, drängt sich auf: Den nur 70000Bahnkilometern der Russen standen am Vorabend des ErstenWeltkriegs 400 000 Bahnkilometer in den USA gegenüber.

Dieses im Säurebad gehärtete Amerika, unabhängig nachaußen und geeint im Innern, wurde nun zum Ziel aller Auf-stiegswilligen. Sie kamen, weil hier die Bedingungen für per-

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sönlichen Wohlstand günstig schienen. Sie blieben, weil es fürsie Arbeit, Land und persönliche Freiheit gab. Der produktiveKern der entstehenden Supermacht konnte sich auch deshalbso enorm vergrößern, weil immer neue Menschen mit neuenIdeen in sein Innerstes vorrückten. Ihre Leistungskraft befeu-erte ihn, ihr Wille zum Wohlstand schuf scheinbar aus demNichts die bis heute größte Volkswirtschaft der Welt. Die Wil-lenskraft, die dem Land zuwuchs, können wir nicht messen,wohl aber die Anzahl ihrer Träger, die hereinströmenden Men-schenmassen. Allein zwischen 1870 und 1890 legte die Ein-wohnerzahl der USA um 50 Prozent auf 60 Millionen Men-schen zu. Die Neuankömmlinge wanderten ohne größerenZeitverzug in die Industriezonen von Pittsburgh, Detroit undCleveland, wo sie am Hochofen und später in der Autoproduk-tion Großes leisteten. Lag der Ausländeranteil unter den In-dustriearbeitern im Jahr 1870 erst bei rund 30 Prozent, betruger zur Jahrhundertwende bereits 60 Prozent. Diese zugewan-derte Industriearbeiterschaft arbeitete und sie sparte, was fastgenauso wichtig war.

Ihr Sparkapital bildete das Investitionskapital der USA, mitdem der Aufstieg zur führenden Industrienation finanziertwurde. George Westinghouse schuf einen der bedeutendstenElektrokonzerne, John D. Rockefeiler sein Ölimperium, HenryFord ließ die größte Autofirma der Welt entstehen, die fran-zösische Einwandererfamilie Du Pont de Nemours gründeteeinen Chemiegiganten, wie ihn die Neue Welt bis dahin nochnicht gesehen hatte. In New York stieg der Bankier John Pier-pont Morgan zur Ikone der Wall Street auf. Geradezu muster-gültig war ein Wirtschaftskreislauf in Gang gekommen, indem zunächst Arbeit Kapital entstehen ließ, woraufhin dasKapital wieder Arbeit schaffte.

Das Militär jener Jahre hielt sich auffällig zurück. Die US-Armee besaß vor 100 Jahren nur sieben Prozent der personel-len Stärke von heute. Sie war nicht Weltpolizist und nicht

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Interventionsarmee, sondern Dienstleistungsfirma für dieSiedler. Ihre wichtigste Aufgabe bestand darin, den Neuameri-kanern den Weg durch die Indianergebiete freizuschießen. Biszum Beginn des Ersten Weltkriegs spielte das Militär nur eineuntergeordnete Rolle. Die russische Armee war achtmal grö-ßer, aber Amerika produzierte fast siebenmal so viel Stahl.Alle Aufmerksamkeit der amerikanischen Elite galt dem Ge-deihen im Innern. Noch 1892 schlug ein Kolumnist des NewYork Herold vor, das Außenministerium in Gänze abzuschaf-fen, da es für Amerika in Übersee keine bedeutenden Aufga-ben zu erledigen gebe.

Die Briten wollten es zunächst gar nicht wahrhaben, was dapassiert war. Die Auswanderer hatten die Daheimbleiber öko-nomisch überrundet. Die Mutter England war die Weltmachtdes ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die amerikanische Tochterübernahm nach dem Ersten Weltkrieg die Führungsrolle. Ohnedie Völkerschlacht hätten die USA die Europäer in ihrer Ge-samtheit wohl erst 1925 übertroffen und wären - unter Beibe-haltung der vor dem Krieg erzielten Wachstumsraten - spätes-tens dann zur größten Volkswirtschaft aufgestiegen. Doch dieEuropäer konnten es nicht abwarten, in die zweite Liga ab-zurutschen. So war denn schon 1919, kaum hatten sich dieDämpfe von Phosgen, Senf- und Chlorgas über den Schützen-gräben des Ersten Weltkriegs verzogen, die neue Weltsuper-machtjenseits des Atlantiks zu erkennen.

Knapp vier Jahrhunderte hatte die europäische Weltherr-schaft gehalten. Verschiedene Führungsnationen wechselteneinander ab, aber stets blieb Europa der Mittelpunkt des Ge-schehens. Die Aufstiegsgesellschaften einer ganzen Epochestammten aus Europa. Weitere hundert Jahre schienen gesi-chert; die überlegenen See- und Landstreitkräfte von Britenund Deutschen, die auch von Frankreich und Belgien erworbe-nen Unterdrückungs- und Eroberungstechniken, die frühe In-dustrialisierung, ausgelöst von einem einzigartigen Feuerwerk

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der Ideen, das war der Treibstoff, mit dem Europa seinenkometenhaften Aufstieg hätte fortsetzen können. Aber nunwar ein anderer Stern aufgestiegen, größer in seiner ökono-mischen Substanz, beeindruckend in seiner technologischenStrahlkraft und von großer politischer Geschlossenheit.

Erst der Krieg hatte den Amerikanern das große Glück ge-bracht. Vielleicht kam es auch deshalb zu ihnen, weil sie niemit Hurra in die Schlacht zogen. Sie waren brutale, rohe undstets sehr entschlossene Kämpfer, aber sie führten nicht Kriegum des Krieges willen. Sie waren von der Sehnsucht nachmehr Macht, mehr Wohlstand und weniger Bedrohung getrie-ben, aber sie lebten nicht in der Wahnvorstellung, die Weltunterjochen zu müssen. Das Töten von Menschen nahmen siein Kauf wie jede Nation, die sich zum Kriegfuhren entschließt.Aber sie metzelten nicht drauflos wie die Briten in Indien unddie Franzosen in Afrika, sie errichteten auch keine monströsenMordfabriken, wie die Deutschen unter Hitler es taten.

Wenn man genau hinschaut, sind die Amerikaner sogar eherbedächtige Kriegsbeginner. Sie warten und zaudern, bis esnicht mehr anders geht. Der Unabhängigkeitskrieg wurde vonden Engländern provoziert. In ihre zwei großen überseeischenKriege sind die USA hineingezogen, eher noch hineingestoßenworden.

Jeder dieser bewaffneten Konflikte endete für sie mit einemZugewinn an Macht, Prestige und Wohlstand. Die Kraftprobemit den Briten verhalf ihnen zu einem eigenen Staat. DerIndianerkrieg sorgte für neues Land. Selbst jene grausameSchlacht, in der Amerikaner gegen Amerikaner antraten, istdem Land gut bekommen. Sie schweißte den Staat zur Nationzusammen. Das vereinte Amerika wuchs aus sich selbst herauszur ökonomischen Weltmacht heran. Den großen politischenSchub aber brachten die nun folgenden drei Kriege, die imUnterschied zu den drei vorangegangenen auf fremdem Terri-torium geführt wurden. Was vorher galt, galt nun erst recht:

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Jeder Waffengang ein Aufstieg, die Gewinne überstiegen dieOpfer um ein Vielfaches. So ist es beileibe nicht nach allenKriegen. Insbesondere die Deutschen haben durch die beidenvon ihnen angezettelten Waffengänge nichts gewonnen, son-dern zwei Mal alles verloren. Die Kriege der Amerikaner hin-gegen zahlten sich aus: Auf der Sollseite standen unbestreitbarElend und Schmerz der betroffenen Generation, auf derHabenseite aber funkeln bis heute die enormen Zugewinne anpolitischer und ökonomischer Macht.

Der erste Auswärtskrieg tobte vor der eigenen Landes-grenze. Es war im Rückblick betrachtet nicht viel mehr alsein Testlauf. US-Außenminister John Hay sprach damals vondem »wunderbaren kleinen Krieg«. Mutwillig legte sich Ame-rika nach anfänglichem Zögern des Präsidenten mit den Spa-niern an. Ein brennendes US-Schiff im Hafen von Havanna,damals spanisch beherrscht, lieferte den Anlass. Der kaumvier Monate dauernde amerikanisch-spanische Krieg besie-gelte das Ende der spanischen Kolonialmacht. Im Friedensver-trag musste Spanien Puerto Rico, Guam und die Philippinen andie USA abtreten, derweil Kuba de facto ein US-Protektoratwurde. Bereits zu Beginn des neuen Jahrhunderts entstand deramerikanische Marinestützpunkt Guantanamo Bay.

Zwei größere Waffengänge in Übersee folgten. Nach demErsten Weltkrieg war Amerika bereits Weltmacht. Der ZweiteWeltkrieg ließ die Weltmacht zur Supermacht aufsteigen. VonKriegsbegeisterung konnte in keinem der Fälle die Rede sein.Der Unabhängigkeitskrieg war umstritten bis in die Stundendes Sieges und weit darüber hinaus. Viele wollten nicht gegenihr Mutterland antreten. Das Eingreifen in den Ersten Welt-krieg schien bis zuletzt ein Ding der Unmöglichkeit. Ausweis-lich der Meinungsumfragen, die schon damals durchgeführtwurden, waren zwei Drittel der US-Bürger dagegen. PräsidentWilson lieh dem Volkswillen seine Stimme. Das Land, sagteer, sei »zu stolz, um zu kämpfen« (»too proud to fight«), Ziel

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seiner Politik sei der Friede, »weil der Friede, nicht der Kampf,das heilende und erhebende Element der Welt ist«. Dabei wardas erhebende Element für sein Land, wie sich bald herausstel-len sollte, der siegreich absolvierte Krieg.

Der Präsident mahnte die Deutschen zur Mäßigung, er brachdie diplomatischen Beziehungen zu ihnen ab, aber er konntesich nicht zu einer regulären Kriegserklärung durchringen.Erst als deutsche U-Boote verstärkt auch amerikanische Schiffeattackierten, griff Amerika in die Völkerschlacht ein. Der Him-mel über den verschiedenen Frontabschnitten hatte sich längstverfinstert. Bewegungskrieg, Stellungskrieg, Zermürbungs-krieg, das waren die Vokabeln dieser Jahre. Europa verwan-delte sich mit jedem Kriegstag in eine Zone der Verwüstung,in der Sieger und Besiegte kaum mehr zu unterscheiden seinwürden. Die Amerikaner mit ihren unverbrauchten Divisionenbewirkten vor allem eines, sie demoralisierten die Deutschen.Der entscheidende Anschlag war der auf die Kampfmoral. DieKraftmeierei der Deutschen klang zunehmend lächerlich, dieDurchhalteparolen ihrer Militärs stießen plötzlich auf taubeOhren in der Zivilbevölkerung. Noch Anfang des Jahres 1917,drei Monate vor der Kriegserklärung der Amerikaner, hatteAdmiral Eduard von Capelle, Staatssekretär im Reichsmarine-amt, dem Parlament zugerufen: »Die Amerikaner werden nochnicht mal ankommen, weil unsere U-Boote sie versenken wer-den. Also bedeutet Amerika militärisch null und noch einmalnull und zum dritten Mal null.«

In Wahrheit lief die Ankunft der Amerikaner in Frankreichreibungslos. Die Intervention der USA bedeutete für das Landdreimal den Sieg: militärisch, politisch und ökonomisch. DieDeutschen besaßen nicht mehr die Kraft, diesen nicht kriegs-hungrigen, aber eben doch in all seinen Fasern kriegswilligenTruppenkörper zurückzuwerfen. Am Tag des amerikanischenEingreifens war das Schicksal der deutschen kaiserlichen Ar-mee besiegelt.

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Das der Amerikaner auch. Da ihr eigenes Territorium inGänze frei von Verwüstung blieb, sprang sofort nach Endeder Kampfhandlungen der Exportmotor an. Was der Friedennicht gebracht hatte, besorgte der Krieg. Dank seiner Zerstö-rungskraft schaffte er den leeren Raum, in den hinein die US-Wirtschaftsmaschine expandieren konnte. Das Land erzeugtenun weltweit knapp die Hälfte aller industriellen Güter, dasNationaleinkommen war so groß wie das der 23 wohlhabend-sten Staaten der Welt. Aus dem Schuldnerstaat USA war imLaufe der Kriegsjahre ein Gläubigerland geworden, was denunschätzbaren Vorteil hatte, dass man an den Zinszahlungenanderer Völker kräftig verdiente. Von den knapp 13 MilliardenDollar, die sich andere Staaten in Amerika geliehen hatte,stammten allein zehn Milliarden aus Kriegsanleihen. NochJahrzehnte nach Ende der Kampfhandlungen profitierten dieVereinigten Staaten von ihrem Einsatz. Der Erste Weltkriegwar der Katalysator, mit dessen Hilfe aus einer Regionalmachteine Weltmacht geworden war. »Wir sind nicht länger Be-wohner einer Provinz«, rief Präsident Wilson nun den Kon-gressabgeordneten zu. Der Krieg habe die Amerikaner »zuBürgern der Welt« gemacht, sagte er, was im Grunde eineUntertreibung war. Die USA waren nicht Bürger der Welt, siewaren ihr Bürgermeister geworden.

Die ehemaligen europäischen Supermächte hatten im Welt-machtpoker ausgespielt. Wenn man ihre stotternde und viel-fach sogar stillgelegte Wirtschaftsmaschinerie betrachtet,springt der relative Aufstieg der USA noch deutlicher insAuge. Die Errungenschaften der Industrialisierung waren vie-lerorts in Europa nahezu rückstandsfrei weggesprengt worden:Bahnstrecken, Telegrafenleitungen, Fabriken und hundert-tausende von Wohnhäusern, in denen die Arbeiterschaft ihrQuartier besaß. Der Krieg hatte einerseits den europäischenWohlstand von mehreren Jahren vernichtet und andererseitsdie Bedingungen zerstört, die für einen schnellen Wiederauf-

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stieg nötig gewesen wären. Russlands Wirtschaftskraft nachdem Krieg entsprach nur noch 13 Prozent der vor dem Kriegerzielten Leistung. Aber auch in Deutschland und Frankreichsackte der Warenausstoß auf nur noch zwei Drittel des Vor-kriegsniveaus.

Die Gewichte unter den Großmächten hatten sich auf dra-matische Weise zu Ungunsten der europäischen Industriestaa-ten verschoben. Die Globalisierung ging weiter, aber mit ande-rem Vorzeichen. Der Schlussgong des Krieges beendete daseuropäische Jahrhundert. Die Weltindustrieproduktion stiegvon 1913 bis 1925 um 22 Prozent, ohne dass die Europäer andieser Steigerung noch einen nennenswerten Anteil besaßen.Amerikas Industrieausstoß wuchs im selben Zeitraum umnahezu 50 Prozent. Alle Messinstrumente, mit denen sich derErfolg einer Gesellschaft überprüfen lässt, drehten jenseits desAtlantiks in den grünen Bereich: Die Zahl der Studenten hattesich zwischen 1900 und 1920 verdoppelt, jeder fünfte Ameri-kaner besaß 1929 bereits ein Automobil, was sich in Großbri-tannien nur jeder Zehnte leisten konnte. Die Reallöhne in denUS-Fahrzeugfabriken waren in den zehn ersten Nachkriegs-jahren um 30 Prozent gestiegen, was auch die übrigen Bran-chen mit nach oben zog.

Der viktorianische Lebensstil verblasste jenseits des Atlan-tiks schneller, als es den Briten lieb war. Trotz Prohibitionregierte in den amerikanischen Großstädten König Alkohol,die jungen Leute wippten im Takt von Swing und Jazz, Sig-mund Freud wurde populär und im Alltagsleben der Ge-schlechter hielt der Gleichheitsgedanke Einzug. Das Aben-teuer der Moderne hatte begonnen.

Allerdings konnten auch die Amerikaner die Früchte ihresSieges nicht lange genießen. Die industriellen Kapazitätenwuchsen schneller als die Nachfrage. Dem ungestümen Auf-bruch nach Kriegsende folgte bald schon eine tiefe Depressionmit allem, was dazugehört: Konkurse tausendfach, Börsenab-

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stürz und Massenarbeitslosigkeit peinigten die Gesellschaft inder Beletage und ärger noch im Kellergeschoss. Zweifel an derÜberlegenheit des kapitalistischen Systems tauchten auf. DerHimmel über Amerika verfinsterte sich, die Blitze der herauf-ziehenden Weltwirtschaftskrise erhellten den Blick auf einLand, das seiner neuen Position als Weltmacht nicht gewach-sen war.

Der Bürgermeister der Welt reagierte wie ein Provinzfürst.Die Weltwirtschaft war global, die amerikanischen Politikerwaren es nicht. Sie schauten über den Tellerrand ihres Natio-nalstaats kaum hinaus. Auf die Überkapazitäten im eigenenLand reagierten sie mit rigoroser Abschottung gegenüber deneuropäischen Importen, was der Weltwirtschaft in dieser Phaseschlecht bekam. Zumal im Inland die Kaufkraft zusammenge-sackt war wie ein erkaltetes Souffle. Die hohen Börsenverlusteverdarben die Konsumlust. Viele hatten auf Kredit spekuliertund mussten nun kräftig abzahlen. Industrie und Konsumentenwaren in Widerspruch zueinander geraten. Dort die Über-produktion der Fabriken, hier die schwindende Kaufkraft derBürger, und schon krachte es. Die Elementarkräfte, die Ame-rika in die Große Depression trieben, waren gewaltig.

Dass diese Krise jahrelang anhielt, war freilich von Men-schenhand zu verantworten. Die Regierung unter PräsidentHerbert Hoover reagierte zwar, aber sie reagierte falsch.Bisherhatte sie ihre Lieferanten in Europa, die noch vom Weltkrieggezeichnet waren, mit Krediten versorgt. Nun forderte sie dasGeld zurück. Und sie erhöhte die Einfuhrzölle, und zwar imDurchschnitt auf über 40 Prozent, was für ausländische Kauf-leute praktisch ein Zutrittsverbot zum amerikanischen Marktbedeutete. Binnen weniger Monate befand sich die Welt ineinem veritablen Weltwirtschaftskrieg mit all seinen Begleiter-scheinungen: Drohungen und Ultimaten, neuen Zöllen, Quotenund Kaufboykotten. Die Globalisierung der Volkswirtschaftenbildete sich zurück. Das Weltsozialprodukt schrumpfte. Im

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Hitlers Hilfe 75

Durchschnitt des Jahres 1933 war fast ein Viertel der erwerbs-fähigen Amerikaner arbeitslos, knapp 13 Millionen Menschenstanden auf der Straße.

Das amerikanische Bruttoinlandsprodukt fiel in der Zeitvon 1929 bis 1933 fast um die Hälfte und drückte viele Fami-lien unter das Existenzminimum. In den Wohnquartierenherrschte Hunger. In Chicago wurden Lehrer, die seit zwölfMonaten kein Gehalt mehr bekommen hatten, im Klassenzim-mer ohnmächtig. In den Städten gab es Hungertote wie imeuropäischen Mittelalter. Es kam vielerorts in den USA zurPlünderung von Lebensmitteltransporten und zu Protest-demonstrationen in Sichtweite des Weißen Hauses. Ein offen-bar gefühlsarmer US-Präsident Hoover schickte den Unzufrie-denen die Kavallerie mit gezückten Säbeln auf den Hals,unterstützt von Panzerwagen und Tränengas. Die Erfolgsge-schichte Amerikas war nicht beendet, aber sie war zumindestjäh unterbrochen.

Hitlers Hilfe. Wie die USAvom Zweiten Weltkrieg profitierten

Der Zweite Weltkrieg kam für die USA wie gerufen. Der neu-erliche Unfrieden auf dem alten Kontinent war das Beste, wasder Weltmacht im Werden passieren konnte. Der US-Präsi-dent, der nach Hoovers fulminanter Abwahl nun Franklin De-lano Roosevelt hieß, zögerte zwar, sich erneut in eine europä-ische Auseinandersetzung einzumischen. Doch am Ende tat eres. Der ökonomische und politische Nutzen dieses Krieges lagfast ausschließlich bei den Amerikanern. Sie hatten ihn nichtgewollt und nicht befördert, aber sie haben von ihm profitiertwie niemand sonst.

Der Dämmerzustand der Großen Depression wurde been-det, die Wirtschaft wuchs schon vor dem eigentlichen Waffen-

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gang wieder in atemberaubendem Tempo. Der heranwehendePulverdampf stimulierte sie. Die Selbstzweifel, die Börsen-krach und Massenarbeitslosigkeit Ende der 20er und zu Be-ginn der 30er Jahre ausgelöst hatten, waren auf einmal wieweggeblasen. Der Krieg in Europa löste eine Initialzündungaus, die schließlich zur kraftvollsten Aufwärtsbewegung inder amerikanischen Geschichte führte. Der Wechsel von derFriedens- zur Kriegswirtschaft sorgte fast über Nacht für dieAuslastung der Stahlwerke, deren Kapazitäten vorher zu zweiDritteln brachlagen. Allein der 1940 gefasste Beschluss desKongresses, die US-Flotte annähernd zu verdoppeln, wirkteauf die Fabriken der Schwerindustrie wie ein Aufputschmittel.

Der Wirtschaftskreislauf kam derart kraftvoll in Schwung,dass Arbeitskräfte bald schon knapp wurden. Immer mehrMenschen verließen ihr Zuhause, um sich in den Fabriken alsIndustriearbeiter oder bei der Armee als Soldaten zu verdin-gen. Die Arbeitslosigkeit verringerte sich nicht nur - sie ver-schwand.

18,7 Millionen Menschen, die bis dahin ein Leben außer-halb des produktiven Kerns geführt hatten, strebten ihm nunwillig zu. Mit ihrer Energie heizten sie das Wirtschaftsgesche-hen an. Zu den knapp neun Millionen Arbeitslosen, die denWeg zurück ins Erwerbsleben fanden, gesellten sich sage undschreibe zehn Millionen Menschen, die bisher nicht dem Ar-beitsmarkt zur Verfügung gestanden hatten. Hausfrauen undÄltere, aber auch Schüler und Studenten drängte es nun zurLohnarbeit. Lange vor dem Kriegseintritt der USA hatte damiteine ökonomische Mobilmachung eingesetzt.

Stahlwerke und Rüstungsschmieden ächzten unter Volllast,die Armee wurde zum größten Arbeitgeber des Landes, dermit seinem Verlangen nach neuen Panzern, Flugzeugträgernund Maschinengewehren die Wirtschaft immer weiter anregte.Die Gehälter der neuen Werktätigen und der Rekruten flössenin die Kassen des Einzelhandels, der nun mit seinen Bestellun-

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gen kaum mehr nachkam. So sprang der Funke von den Rüs-tungsbetrieben auf die Fabriken der Konsumgüterindustrieüber. Das auf dem Höhepunkt der Großen Depression halbierteSozialprodukt erreichte Ende 1940 bereits wieder den altenStand. Bis zum Kriegsende verdoppelte sich der Ausstoß anWaren und Dienstleistungen noch einmal.

Dass der Staat diesen Aufschwung zum größten Teil mitKrediten finanzierte, störte damals niemanden. Diese Formdes Zukunftsverzehrs galt auch wissenschaftlich als der letzteSchrei. Wer nicht als altmodisch gelten wollte, redete derStaatsverschuldung das Wort. Der Schuldenstand des Bundesbetrug 1933 erst 22 Milliarden Dollar. Er wuchs bis 1940 aufgut 50 Milliarden, betrug 1942 bereits 79 Milliarden, 1943schließlich 143 Milliarden, schoss 1944 auf 204 Milliardenhoch und endete im letzten Kriegsjahr bei rund 260 MilliardenDollar. Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit stürztesich die Staatsführung eines demokratischen Landes derarthemmungslos in die Verschuldung. Die Regierung Roosevelthatte in den Jahren von 1940 bis 1945 doppelt so viel Geld aus-gegeben wie ihre Vorgänger in den 150 Jahren davor.

Aber wie passt das zusammen, dort die mit großer Entschlos-senheit betriebene ökonomische Mobilmachung und auf deranderen Seite das Zögern vor dem Kriegseintritt? In seinenBriefen musste der in Bedrängnis geratene Winston Churchillden Amtskollegen im Weißen Haus mal bettelnd, mal drohendzum Mittun anhalten. »Wenn wir untergehen...«, so begannder Britenpremier des Öfteren seine Ausführungen, mit denener amerikanischen Beistand herbeizuschreiben suchte.Die Amerikaner zögerten; Monat um Monat, Jahr für Jahr,was ihrer späteren Weltmachtstellung gut bekam. Die Raffi-nesse der damaligen Politik lag in ihrer Widersprüchlichkeit.Die Regierung rüstete kraftvoll auf, aber sie schlug nichtgleich los. Die USA schliefen nicht, sie schauten auch nichtweg, sie lauerten wie eine Katze auf den richtigen Zeitpunkt

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zum Absprung. Für viele war dieses Warten unerträglich undfür Millionen Menschen in Russland und den deutschen Kon-zentrationslagern bedeutete es den sicheren Tod. Was solltedenn noch passieren, fragten sich die Zeitgenossen, um dengroßen Fackelträger der Freiheit in eine Auseinandersetzungmit den Diktatoren Hitler und Mussolini zu zwingen? Dasstolze Frankreich war überrannt; Polen, Norwegen, Griechen-land und das Baltikum in die Knechtschaft geschickt, imInnern Deutschlands klirrten die Scheiben von Synagogenund jüdischen Geschäften, in Auschwitz hatte eine präzisearbeitende Mordindustrie ihre Arbeit aufgenommen, Russlandwar ermattet und selbst in einer Koalition mit England würdees dieses enthemmte Deutschland nicht zurückwerfen können.Churchills berühmte Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede, in derer seine Landsleute einschwor auf den »Krieg gegen einemonströse Tyrannei, wie sie nie übertroffen worden ist im fins-teren Katalog der Verbrechen der Menschheit«, blieb ausge-rechnet in Amerika ohne Resonanz. »Sieg um jeden Preis«,donnerte der englische Premierminister, aber die Amerikanerschienen nicht bereit, irgendeinen Preis zahlen zu wollen.

Churchill brandmarkte den Diktator in Berlin als »Ver-körperung des Hasses«, als eine »Missgeburt aus Neid undSchande«, er sah in ihm einen »Brutherd von Seelenkrebs«.Die USA aber blieben scheinbar ungerührt auf der Zuschauer-tribüne der Weltgeschichte sitzen. Wie versteinert blickten sieauf das lichterloh brennende London und auf das Treiben derSS-Verbände, die hinter den Kampflinien an der Ausrottungder Zivilvölker arbeiteten. Ein größenwahnsinniger und wo-möglich vom Zaudern der Vereinigten Staaten ermunterter Hit-ler erklärte den USA kurz vor Weihnachten im Jahre 1941 denKrieg. Und was tat Amerika? Es blieb weiter in Lauerstellung.

Erst am 8. November des Jahres 1942 landete die Weltmachtin Afrika, um von dort nach Europa überzusetzen. Das langeWarten war moralisch unverzeihlich; es irritiert bis heute. Öko-

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nomisch und militärisch aber legte es den Grundstein für dieWeltsupermacht USA, auch wenn das der damaligen Führungdes Landes so klar womöglich nicht gewesen ist. Instinktiv ent-schieden die Verantwortlichen im Interesse ihres Landes rich-tig. Eingreifen mussten die Amerikaner, aber je später sie estaten, desto besser war es für sie. Der eigene Aufstieg würdeumso strahlender, womöglich gar irreversibel sein, wenn dieanderen bereits in Schutt und Asche lagen. Das sagte niemand,das vertraute keiner, den wir kennen, seinem Tagebuch an, aberdas war die Logik dieser lähmenden Jahre, in denen Europa insich zusammensackte. Nicht der Kriegseintritt, der späteKriegseintritt sicherte den USA die spätere Machtposition.

Ungefähr ein Viertel aller Industrieanlagen in Europa warbei Kriegsende zerstört. In Deutschland funktionierten nurnoch 20 Prozent des Schienennetzes. Amerika aber war inGänze unberührt geblieben. Als Präsident Roosevelt sichschließlich zur Invasion entschied, war Hitler-Deutschlandlängst unfähig zum transatlantischen Gegenschlag.

Amerika hatte am Ende auch bei den Kriegstoten ungleichweniger Verluste zu melden. Auf einen gefallenen US-Bürgerentfielen etwa 18 tote Deutsche und 58 getötete Russen. DieUSA hatten 400000 Opfer zu beklagen, die Sowjets 23 Millio-nen. Überhaupt trug Russland die Hauptlast des Krieges underhielt dennoch nur die ökonomisch unbedeutenderen LänderOsteuropas. Auf den Schultern von Ungarn, Rumänen, Bulga-ren, Letten, Litauern, Esten und einem knappen deutschenDrittel ließ sich keine Weltmacht von Rang begründen.Die Briten wurden später von aller Welt als Siegerstaat be-handelt. Das war sehr höflich, aber der Wahrheit entsprach esnicht. Sie hatten noch vor den Russen den Weltkrieg verloren.Mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehr-macht mussten sie und auch die Franzosen die große Bühneverlassen. Ihr Sitz im Weltsicherheitsrat ist nicht viel mehr alseine Grußadresse an die Vergangenheit. Es war Churchills

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Kampfeinsatz, diese enorme Zähigkeit der Jahre 1940 und1941, die Hitlers schnellen Durchbruch verhinderte und so dieZeit bis zum Kriegseintritt der Vereinigten Staaten überbrück-te. Der große, knorrige Staatsmann rettete seinem Land dieFreiheit, aber der Preis, den er dafür zu entrichten hatte, warhoch.

England musste als Gegenleistung für die Waffenlieferun-gen der USA seine Luft- und Flottenbasen von Neufundlandüber Jamaika bis nach British-Guayana an die Amerikanerübergeben. Wo vorher die Flagge des britischen Empires wehte,flatterte nun das amerikanische Sternenbanner. Am Ende desKrieges hatten die Briten einen Verlust zu besichtigen, derweit über die zerbombten Innenstädte hinausreichte: das Kolo-nialreich befand sich in Auflösung, die Seestreitkraft warschwer ramponiert, das Weltfinanzzentrum von London nachNew York umgezogen und der Staatshaushalt musste regelmä-ßige Überweisungen in die USA leisten. Roosevelt folgte demDrängen und Bitten Churchills, aber der Einsatz der US-Armeewar nicht kostenlos. Der Preis, den der amerikanische Präsidentdafür einstrich, war nichts Geringeres als die Vormachtstellungauf der Welt.

Totai global. Ein Land blüht auf

Der befürchtete Kriegskater blieb den Amerikanernerspart;die Umstellung von der Kriegs- auf die Friedensproduktion ge-riet der Regierung zum Meisterstück. Der produktive Kern desLandes wurde mit neuen Arbeitskräften und neuem Kapitalkräftig befeuert. Beides gab es nun reichlich. Das in denKriegsjahren aufgestaute Familieneinkommen wurde zügigan die Industrie weitergereicht. Die rund zehn Millionen Sol-daten, die meisten von ihnen hatten vorher keinen Arbeitsplatzbesessen, schickte man nicht nach Hause, obwohl das nahe lag.

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Sie wurden aber auch nicht einfach in Richtung Fabriktor ge-stoßen, was sich als Alternative anbot. Der Staat verhielt sichüber alle Maßen vorausschauend. Er bot jedem Soldaten eineAusbildung oder ein Stipendium an, sodass die zehn Millionentröpfchen- und nicht schubweise den Weg in das zivile Berufs-leben fanden. Das bedeutete einen Zeitaufschub und zugleicheine millionenfache Qualifizierung, eine Aufwertung desArbeitskräftepotentials, wie es sie mit dieser Entschiedenheitsonst nirgendwo auf der Welt gegeben hatte. Der produktiveKern Amerikas erweiterte sich um zehn Millionen Menschen,das war das eine. Wichtiger aber war: Er glühte aufgrund derhöherwertigeren Arbeitskräfte deutlich intensiver als zuvor.Die großen Produktivitätssprünge der Nachkriegszeit wärenohne diesen Bildungsschub der Beschäftigten wahrscheinlichnicht möglich gewesen.

Im Äußeren widmete sich die Supermacht nun dem Vor-marsch der amerikanischen Konzerne, denn dasSiedlerlandim Westen war verteilt und erschlossen. Nun aber konnte dieGrenze bis weit über den Atlantik verschoben werden: DieDemokratien in Frankreich, Deutschland, Italien, Österreich,Belgien, Luxemburg, der Schweiz und in Skandinavien botensich als neues Zielgebiet der US-Investoren an, die Nach-kriegsdiktaturen in Spanien und Portugal mussten dagegennoch warten. Ein weltweiter Kapitalmarkt entstand, dessenvornehmstes Ziel es war, die Staaten Westeuropas an die Wert-schöpfungskreisläufe der USA anzuschließen. ZweistelligeMilliardenbeträge flössen über den Atlantik, als Aufbauhilfeoder präziser gesagt als eine Art Anschlussgebühr. Die Russenbeschwerten sich, aber das half ihnen nicht viel. Der Westensteigerte seine Produktivität, der Osten seine Propaganda.Moskaus Außenminister Molotow nannte die Wirtschaftshilfeder USA »imperialistisch«, was sie ohne Zweifel auch war. Siesollte vor allem den Interessen der Vereinigten Staaten dienen.Bei der ökonomischen Landnahme Westeuropas galt die Devi-

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se, die US-Präsident Calvin Coolidge schon in den 20er Jahrenausgegeben hatte: »Amerikas Geschäft ist das Geschäft.«

Bis zum Kriegsende waren die USA ein großes und erfolg-reiches, aber noch kein globales Land gewesen. Über 90 Pro-zent des Nationaleinkommens wurden innerhalb der Landes-grenzen erwirtschaftet. Der Außenhandel verharrte seit derWeltwirtschaftskrise auf niedrigem Niveau und auch die In-vestitionen amerikanischer Firmen in Übersee fielen nichtweiter ins Gewicht. Im Weltkrieg gegen Hitler aber waren dieMilitärs den Konzernen vorausgeeilt. Das globale Feld war be-reitet, die Männer der Wirtschaft mussten nur noch hinterher-stürmen, was sie auch taten. Sie brachten den Ford Mustangmit und den Dollar, sie legten Rock 'n' Roll auf und hatten inden Filmfabriken Hollywoods bereits auch die Träume vorpro-duziert. Der deutsche Filmemacher Wim Wenders sprach spä-ter von der »Kolonialisierung der Phantasie«.

Die Kontinente heißen zwar weiter Amerika und Europa,aber ökonomisch, politisch und kulturell hatte mit dem Endedes Zweiten Weltkriegs erneut eine Kontinentaldrift einge-setzt. Ein Territorium bildete sich heraus, das zwar nichtAckerboden, Seelandschaft und Bergmassiv miteinander teilt,wohl aber die geistigen Landschaften und das wirtschaftlicheBetriebssystem von mehr als einer halben Milliarde Men-schen. Ein staatenloses Gebilde von außerordentlicher Anzie-hungskraft war entstanden, das wir gemeinhin »den Westen«nennen. Eine Welt wurde für alle sichtbar, in der materiellerWohlstand und individuelle Freiheit bald aufs Engste mit-einander verschmolzen.

Die Grundlage des Neuen war auch hier die Zerstörung desAlten. Der europäische Anspruch auf Weltherrschaft hatte sichnach zwei erfolglosen Anläufen erledigt. Die Amerikanerkamen als die Befreier eines Kontinents, der mit sich selbstnicht im Frieden leben konnte. Für nahezu alle Lebensbereichehatten sie den Europäern etwas zu bieten, was sich gegenüber

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dem Vorherigen als Verbesserung erwies, tragfahig auch in denJahrzehnten danach. Ihre Demokratievorstellungen waren ge-nauso willkommen wie ihre Popkultur. Sie erzogen die Euro-päer zur konsequenten Trennung der Gewalten und zur stärke-ren Achtung der Provinzen. Sie installierten die Grundregelnfür einen weltweiten Kapitalismus, der auf Leistung und Wett-bewerb beruhte und sich seine Legitimation in Europa auchdadurch erwarb, dass er die Not der frühen Jahre schnell be-seitigte.

Zu Unrecht gilt der Einmarsch der Amerikaner in Europaals Landnahme herzloser Kapitalisten. In Wahrheit fiel derzweite Anlauf zur Globalisierung deutlich moderater aus alsder erste, den die Europäer allein zu verantworten hatten. Derneue Kapitalismus nach amerikanischer Art war weniger rau-beinig als die bis dahin gültige europäische Variante. Seinepolitische Führung war weniger großmannssüchtig, erstmalsgab es auch verlässliche Checks and Balances. Das Aggressivein Wirtschaft und Staat war nicht verschwunden, aber es warweniger offensichtlich. Vor allem die Willkür verschwand, dieFabrikanten und Polizeikräfte nicht nur in Deutschland zuvoran den Tag gelegt hatten. Selbstverständlich ging es weiter da-rum, materielle Vorteile auf Kosten anderer zu erwirtschaften,aber Demütigung und Deklassierung der Verlierer solltenwenn möglich vermieden werden. Dort, wo das amerikanischeWirtschaftssystem der sozialen Korrektur bedurfte, legten dieEuropäer, vor allem Franzosen, Deutsche und Skandinavier,nochmals Hand an. Sie schufen ihre eigene Variante derMarktwirtschaft, die mit den Verlierern des Wirtschaftslebensweniger rabiat und den Gewinnern weniger großzügig ver-fahrt. Jetzt erst, im Brutkasten amerikanischer Aufbauhilfe,war Europa nach links gerückt; weiter nach links, als es dieUSA jemals waren.

Auch der amerikanischen Bevölkerung ist dieser zweite An-lauf der Globalisierung gut bekommen. Denn mit der Amerika-

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nisierung Europas ging unverkennbar auch eine Europäisie-rung Amerikas einher. Nun erst entstand ein Sozialstaat, dermehr zu bieten hatte als Suppenküche und Kleiderkammer.Die USA waren der große Nachzügler unter den westlichenWohlfahrtsstaaten gewesen, der nun allerdings hastig auf-schloss. Die 50er, 60er und 70er Jahre können aus Sicht dersozial Schwächeren als die goldenen Jahrzehnte bezeichnetwerden. Allein von 1950 bis 1960 vermehrte sich das Sozial-produkt Amerikas um real 41 Prozent. Der Wohlfahrtsstaaterlebte seine bis dahin größte Expansion. Der Anteil der Geld-leistungen, die an Hilfsbedürftige ausbezahlt wurden, betrug1960 erst sieben Prozent des Nationaleinkommens. 1975 hattesich diese Sozialleistungsquote bei nochmals erheblich gestei-gerter Wirtschaftskraft mehr als verdoppelt. Rechnet man diebetrieblichen Sozialleistungen wie Renten- und Krankenver-sicherung dazu, erreichten die USA 1975 eine Sozialleistungs-quote von stolzen 21 Prozent. Damit lag das Land gleichauf mitden meisten Europäern. Selbst der Spitzenreiter Dänemark, derdamals 24 Prozent seines Nationalprodukts für das Soziale aus-gab, war nun in Sichtweite. Noch immer hatten nicht an-nähernd alle Amerikaner eine Krankenversicherung, aberimmerhin 90 Prozent der Beschäftigten verfügten über einegesetzliche Rentenversicherung. Diese gesetzlichen Kleinst-renten wurden für knapp 40 Prozent der Beschäftigten durchPensionsfonds der Betriebe aufgebessert.

Ausgerechnet ein Mitglied der amerikanischen Oberschichtwurde zum Vorkämpfer des mitfühlenden Kapitalismus: JohnF. Kennedy. In seiner ersten Ansprache zur Lage der Nationmalte er ein düsteres Bild der wirtschaftlichen Lage (»Seitdreieinhalb Jahren ist unsere Wirtschaft schlapp, seit siebenJahren ist unser Wachstum vermindert, die landwirtschaft-lichen Einkommen fallen seit neun Jahren.«), doch das wirk-lich Auffällige war nicht der Befund, sondern seine Antwortdarauf. Die nämlich fiel deutlich anders aus als zu Zeiten der

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Weltwirtschaftskrise. Kennedy wollte nicht sparen und kürzen,er schickte auch keine Maßhalteappelle ins Land. Er wollte dievon Arbeitslosigkeit gezeichneten Regionen mit staatlicherHilfe wieder aufbauen und sie nicht dem Regulativ des Mark-tes überlassen. Er versprach, die »Kaufkraft der am schlechtes-ten bezahlten Arbeiter anzuheben«. Ihm ginge es darum, sosagte er, »mehr Essen zu den Familien der Arbeitslosen zubringen und ihren bedürftigen Kindern Hilfe anzubieten«. Esklang nach Sozialpolitik, aber es war vor allem Wirtschafts-politik, die da betrieben wurde. Kennedy versuchte dem Ab-wärtsstrudel durch eine Anhebung der Massenkaufkraft zuentkommen, was damals auch gelang.

Kennedys Worte galten über seinen Tod hinaus. Die Min-destlöhne und die Arbeitslosenunterstützung wurden erhöht,staatliche Kleinstrenten eingeführt und am Ende schmückteauch eine kostenlose Krankenhausversorgung für alle bedürf-tigen Amerikaner jene Bilanz, die nach dem Präsidentenmordvon Kennedys einstigem Vize Lyndon B. Johnson vorgelegtwurde. Sein Ziel sei die alle Schichten verbindende »GreatSociety«, also die Schaffung einer gleichermaßen großen wiegroßartigen Gesellschaft, rief Johnson seinen Anhängern zu.Die Sozialausgaben des Budgets wurden in seiner Amtszeitfast verdoppelt. Das Land, das bis zur Weltwirtschaftskrisepraktisch keinerlei soziale Absicherungen besaß, wurde nunzu einem Sozialstaat ausgebaut, der seinen Bürgern nichtAlmosen, sondern Rechtsansprüche verschaffte. Dem ameri-kanischen Kapitalismus war ein Herz eingepflanzt worden.

Die düsteren Prophezeiungen der kommunistischen Propa-ganda waren damit eindrucksvoll widerlegt. Die Verelendungder Werktätigen im Westen blieb aus, der Kapitalismus zeigtesein menschliches Antlitz. Der Profit der Unternehmer unddas Wohlergehen der Arbeitnehmer waren kein Widerspruchmehr, sondern schienen einander zu bedingen. Die Sozialpart-nerschaft hatte nicht für die Beseitigung, wohl aber für die Be-

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friedung der unterschiedlichen Interessen gesorgt. Der Nach-kriegswesten konnte den Bürgern damit erkennbar mehr bietenals der nervöse Kapitalismus der Vor- und der Zwischenkriegs-zeit. Europa und die USA waren binnen weniger Jahre in eineZone von Wohlstand und Friedfertigkeit verwandelt worden.

Kennedy und Keynes.Das Traumpaar der 60er Jahre

Kennedy und Johnson waren keine Romantiker. Sie sahen sichmit einer Situation konfrontiert, die ohnehin zu Träumereiwenig Anlass bot. Zu Beginn der 60er Jahre zog das Gespenstder Massenarbeitslosigkeit wieder mal durchs Land. Die Wirt-schaft stotterte, die Einkommen stagnierten, sieben Prozentder Beschäftigten oder rund fünf Millionen Menschen standenohne Job da. Amerika verlor Marktanteile im weltweiten Wa-renaustausch, auch deshalb, weil Europa wieder zu Kräften ge-kommen war. Die Automatisierung der Fabriken tat ein Übri-ges, die Arbeitslosigkeit zu erhöhen.

Kaum im Amt, berief Kennedy daher einen hochkarätigenWissenschaftlerstab ins Weiße Haus. Dazu gehörte auch derMIT-Professor und spätere Nobelpreisträger Paul Samuelson,der im Zweiten Weltkrieg schon der Roosevelt-Regierung ge-holfen hatte, die US-Ökonomie in eine Kriegswirtschaft zuverwandeln. Samuelson war ein Anhänger von John MaynardKeynes, jenem britischen Ökonomen, der aus den Erfahrungender Weltwirtschaftskrise den Schluss zog, dass der Staat in kri-senhaften Situationen selbst zum Akteur werden müsse. DieRegierung solle Geld lockermachen und es eigenhändig inden ökonomischen Kreislauf pumpen.

Kennedy war fasziniert von der neuen Lehre, Johnson auch.Sie gingen mit einer für heutige Verhältnisse geradezu unfass-baren Gründlichkeit daran, sie in die Tat umzusetzen. Die bis

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dahin größte Steuersenkung der westlichen Welt wurde in einerzwei Jahre dauernden Arbeit vorbereitet. Es sollte Steuernach-lässe für alle geben, auch für Spitzenverdiener und Aktienge-sellschaften. Kennedy und Johnson wollten der WirtschaftSchwung verleihen, wofür sie ausnahmslos alle Beteiligten inKaufstimmung bringen mussten. Daher galt: Keine Ausnah-men für niemanden. Die Öffentlichkeit sollte keinen Anlasshaben, nach Verlierern und Gewinnern der Reform zu fahnden.Es durfte für diese Steuerreform keine Gegenfinanzierunggeben, weil jede Einsparung an anderer Stelle den tatsäch-lichen und auch den atmosphärischen Effekt zerstört hätte.Also wurden 14 Milliarden Dollar, damals immerhin rundzwei Prozent des amerikanischen Nationaleinkommens, vomStaat an die Gesellschaft zurücküberwiesen.

Die Wirkung war, wie im Lehrbuch versprochen, beeindru-ckend. Die Stimmung im Land hellte sich auf, die Menschenkonsumierten wieder, die Industrie erhöhte die Kapazitäten,die Konjunktur gewann an Fahrt. Wie von Geisterhand ver-schwanden die Arbeitslosen von der Straße. Das wirklich Er-staunliche aber war, dass auch der Staat profitierte: Trotz derSteuersenkung stiegen nun die Staatseinnahmen. Es war, alswürden die Bürger ihrem Staat als Dank für das großzügigeSteuergeschenk ein weitaus größeres Geldgeschenk zurück-geben.

So gelang es den Demokraten, die Flaute zwischen Korea-krieg und Vietnamkrieg zu überbrücken. Die Zeitschrift Timesetzte am 31. Dezember 1965 dem Helden des Aufschwungsauf ihrem Titelbild ein Denkmal: John Maynard Keynes.»Nun sind wir alle Keynesianer geworden«, wird Milton Fried-mann darin zitiert, was allerdings eine grobe Verkürzung war:»Nun sind wir alle Keynesianer und zugleich ist es keinermehr«, hatte der Keynes-Gegenspieler ironisch angemerkt. Ermeinte damit, dass die ökonomischen Lehren des Briten - indieser Weise pragmatisch angewandt - sich von seinen eige-

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nen Überlegungen kaum mehr unterschieden. Steuerreformengehören seither zum Repertoire linker wie konservativer Poli-tiker, wenn es darum geht, die Wirtschaft auf Trab zu bringen.Nur die Theoretiker streiten weiter darüber, ob ein solcherSchritt eher die Nachfrageseite stärkt, weil er die Bürger ent-lastet, oder doch eher den Angebotskräften nutzt, weil im glei-chen Umfang die Firmen profitieren.

Noch etwas anderes war bedeutsam in dieser kurzen Kenne-dy-Ära. In der Krise zu Beginn der 60er Jahre spürte Amerikaerstmals die Schattenseiten der neuzeitlichen Globalisierung.Lederwarenhersteller, Textil- und Schuhfabrikanten gerietenunter Importdruck; die US-Farmer auch. Das Land begannunruhig zu werden. Von Lohndrückerei war im Kongress dieRede, von unfairem Handel, vor allem mit Blick auf das Trei-ben der Europäer. Kennedy sah als erster Regierungschefeinen Zusammenhang zwischen der weltweiten Liberalisie-rung des Handels und den Arbeitsplatzverlusten der US-Indus-trie. Ohne Zweifel wollte er den Freihandel, er senkte die Zölleund baute Importquoten ab wie kaum ein Präsident zuvor.Aber er wollte Freihandel nicht um jeden Preis. »So wie dieRegierung den Soldaten bei der Wiedereingliederung half, sowie sie half, die Friedensproduktion auf Kriegsproduktion um-zustellen und wieder zurück, so ist es ihre Verpflichtung, alljenen zu helfen, die unter der Handelspolitik leiden«, sagte erim Januar 1962. Es gehe ihm nicht um staatliche Bevormun-dung der Unternehmer, wohl aber darum, denen zur Seite zustehen, die der Importdruck aus dem Wirtschaftsleben katapul-tiere. So entstand ein Gesetz, das den Ausgesteuerten Wieder-eingliederungshilfe versprach. Vor allem aber entstand einefrühe Sensibilität für die andere, weniger sonnige Seite desFreihandels. Was viele im Westen heute noch gern verschwei-gen, sprach Kennedy im denkbar frühesten Stadium an: DieGlobalisierung nützt nicht allen gleichermaßen. Sie produziertauch Verlierer.

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Kennedy ging, das Thema blieb. Die Importe, die zu seinenLebzeiten erst knapp drei Prozent des Bruttosozialproduktsausmachten, verfünfzehnfachten sich bis 1980 und übertrafenseit 1976 dauerhaft die Exporte. Die Handelsbilanz war ge-kippt, mitten im Präsidentschaftswahlkampf. Beide großenParteien griffen das Thema auf. »Wenn Industrien und ihreArbeitsplätze von auswärtiger Konkurrenz nachteilig betroffensind, sind Anpassungshilfen anzubieten«, hieß es nun auch imWahlprogramm der Republikaner. Die Demokraten forderten»fairen Handel« und versprachen ihren Wählern, sich für dieAnhebung von Arbeitsstandards in jenen Ländern einzusetzen,die »durch niedrige Löhne amerikanisches Kapital anziehenund so unsere Ökonomie schädigen«. Beide gemeinsam schös-sen sich auf Japaner und Westeuropäer ein, die ihre Märkteabschotten und ihre eigenen Industrien mit Exportsubven-tionen päppeln würden. Der Handel war zum Politikum ge-worden.

Unter dem Druck einer sich verschlechternden Handels-bilanz sah sich die Regierung zur politischen Aktion gezwun-gen. Schon Nixon begann mit der japanischen Regierung einejahrelang andauernde Verhandlungsrunde über die Handels-praktiken und das Zollregime. Und er setzte im August 1971kurzerhand das bis dahin geltende Weltwährungssystem außerKraft, das an den Dollar gekoppelt war. Es sollte in der nochunruhigen Nachkriegswelt Schwankungen vermeiden helfenund der Spekulation den Boden entziehen, was bis dahin auchgut funktioniert hatte. Nixon aber wollte nun etwas anderes; erwollte Freiheit für den Dollar, um ihn bei Bedarf im Allein-gang abwerten zu können. Die Exporte aus den USA solltendadurch erstens verbilligt und zweitens gesteigert werden.

Nixon hatte sich verkalkuliert. Die Verbilligung trat ein,ohne dass es zu einer Steigerung der Exporte kam. Die Kauf-leute aller Länder ließen sich von Nixons risikoreichem Manö-ver nicht beeindrucken.Der Importsog verstärkte sich sogar.

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Die Regierung begann nun, die Japaner und ihre rigiden Ein-fuhrgesetze auch öffentlich zu attackieren. Die CIA warntevor einer Abhängigkeit der amerikanischen Rüstungsindustrievon japanischen Speicherchips. Doch die Japaner waren zäh.Sie hörten zu, sie nickten, sie versprachen Linderung und tatennichts, sie zu erreichen. Stur hielten sie an ihren Einfuhrzöllenfest, die wie eine unsichtbare Mauer die noch junge Computer-und Elektronikindustrie umgaben. IBM und Texas Instru-ments, die Ikonen der US-Industrie, sollten attackiert werden,so hatte es das Ministerium für Handel und Industrie in Tokiobeschlossen. Mitsubishi Electric, Fujitsu, Hitachi und Toshibawaren auserwählt, zur Weltspitze vorzudringen; im Heimat-markt hielt man ihnen dafür die ausländische Konkurrenzvom Leibe. Die japanischen Bürger zahlten, das war der Sinnder Politik, für zunächst schlechte Elektronik einen hohenPreis, was nichts anderes bedeutete als eine Sondersteuer zumAufbau nationaler Industrieimperien. Die Amerikaner reagier-ten ungehalten. »Ohne Änderungen im Außenhandel«, so derdamalige US-Finanzminister George Shultz, »können wir dieWechselkurse verändern, bis die Hölle gefriert, und wir wer-den nichts dafür bekommen.«

Washington fand sich nur schwer zurecht in einer Welt derverschärften Konkurrenz. Europa war erstarkt, Teile Asienserwacht, das nur kurze Zeitalter amerikanischer Dominanzauf den Weltmärkten neigte sich früh schon dem Ende zu. Eswar die amerikanische Industrie, die als Erste auf die Verände-rungen reagierte. Sie zog sich aus etlichen Landstrichen Ame-rikas zurück, ihre Investitionen in fernen Ländern hingegenschwollen an. Das Kapital wanderte aus, nach Asien und nachEuropa, wo sich ein großer Binnenmarkt bildete. Samuelsonsah Amerika auf dem Weg zu einer industriefreien »Bürowirt-schaft«, in der es jene schwer haben würden, die nicht von derRendite ihrer Auslandsinvestitionen leben könnten. Die Na-tion habe aufgehört, der für alle verbindliche Bezugsrahmen

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zu sein, schrieb zu Beginn der 90er Jahre der Harvard-Ökonomund spätere Arbeitsminister der Clinton-Regierung RobertReich: »Regierung, Unternehmen und Bürger sitzen nicht län-ger in einem Boot.«

Aber noch reichten die Gewinne der Gewinner, die Verlusteder Verlierer auszugleichen. Dafür war der Sozialstaat unent-behrlich geworden. Viele Konservative hatten zunächst ge-glaubt, er sei eine Erfindung der Demokraten und lasse sichim nächsten Aufschwung wieder stutzen oder womöglichsogar liquidieren. Doch der Tod des Sozialen trat nicht ein.Richard Nixon, den seine Freunde »Tricky Dick« nannten,überlebte in unserer Erinnerung als erzkonservativer Finster-ling. Aber diese Rolle verdankt er vor allem den illegalenAbhöraktionen im Washingtoner Watergatekomplex, dem da-maligen Wahlkampfquartier der Demokraten. Im Regierungs-alltag aber war er ein Sozialdemokrat geworden. Als eine Sta-gnation 1967 die Staatseinnahmen verringerte, wollte er vonstaatlicher Sparsamkeit nichts wissen. Er steuerte gegen, genauwie Keynes es gelehrt hatte. Er ließ den Haushalt planvoll insDefizit schießen, um so die erschlafften Kräfte der Privatwirt-schaft zu beleben und die Kaufkraft zu kräftigen. In seinerAmtszeit kam es zum massiven Ausbau des Sozialstaats. Einebundeseinheitliche Sozialhilfe für Alte und Behinderte wurdeeingeführt, die staatlichen Rentenleistungen erhöhte keiner sokraftvoll wie er. Sie stiegen fortan automatisch mit der Infla-tion. Den konservativen Haudegen seiner Partei verweigerte»Tricky Dick« sogar das schlechte Gewissen, was das Estab-lishment mächtig in Rage brachte. Selbstbewusst stellte sichNixon im Januar 1971 vor den Kongress und bekannte: »Nunbin auch ich Keynesianer geworden.«

Sein Wirtschaftsberater Herbert Stein, ein Gelehrter ausChicago und bekennender Keynes-Gegner, konnte es zunächstgar nicht fassen. Tagelang, so berichtete er später, habe er diean den Präsidenten gerichteten Briefe erboster Parteifreunde

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beantworten müssen. Pflichtgemäß habe er ihn verteidigt, ob-wohl er selbst sehr empört gewesen sei. Das Bekenntnis seinesChefs empfand er als einen obszön zur Schau gestellten Op-portunismus: »Nixon wollte als modern gelten, er wollte denIntellektuellen und Liberalen gefallen.«

Ronald Reagan wollte das Gegenteil, er liebte die Provoka-tion und setzte den Kontrapunkt, wo er nur konnte. Im kollek-tiven Gedächtnis überlebte er als der Mann, der den Sozialstaatzurückdrängte. »Der Staat ist nicht die Lösung des Problems,er ist unser Problem«, sagte er zum Amtsantritt Anfang 1981.Er versprach seinen Wählern, die vor allem der weißen Ober-und Mittelklasse entstammten, die Sozialleistungen zu be-schneiden, die Steuersätze zu senken, die Rüstungsausgabenzu steigern und den Staatshaushalt aus der Schuldenfalle zubefreien. Kaum im Weißen Haus angekommen, eröffnete derPräsident das Feuer auf die Gewerkschaften. 11000 streikendeFluglotsen wurden entlassen. Reagan machte sie zum Symbolseiner Entschlossenheit. Es galt schließlich, eine »konserva-tive Revolution« zu vollstrecken, in der Außen- wie in derWirtschaftspolitik; seine Anhänger sprachen wichtigtuerischvon den »Reagonomics«.

Darin lag wahrscheinlich Reagans eigentliche Fähigkeit,mit der er alle Zeitgenossen überragte: Er konnte theatralischsein, er verstand es, Symbole zu setzen und setzen zu lassen, erwar kantig und klar, zumindest in seinen Worten. In Wahrheithat kein anderer Präsident die eigenen Ideale so kaltschnäuzigignoriert und zuweilen sogar in ihr Gegenteil verkehrt wieRonald Reagan. Das Geschichtsbild, das er hinterließ, kontras-tiert in zuweilen aberwitziger Weise mit den tatsächlichenBegebenheiten. Seine Bilanz weist ihn als größten Schulden-macher aller Zeiten auf, das Budgetdefizit stieg von 74 Milli-arden Dollar vor Reagans Amtszeit auf 221 Milliarden Dollar1986. Es gab Kürzungen im Sozialetat hier und dort, woruntervor allem die Ärmsten der Armen zu leiden hatten. Doch ein

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Kennedy und Keynes. Das Traumpaar der 60er Jahre 93

Rückbau des amerikanischen Sozialstaats blieb aus; die Sozi-alleistungsquote, also der Anteil des Nationaleinkommens,den Finnen und Staat für das Soziale verwenden, stieg in sei-ner Amtszeit kontinuierlich an. Selbst der staatliche Anteilallein weist keine Schrumpfung auf. Unter seiner Führunghaben sich die jährlichen Subventionen für notleidende Farmerauf rund 30 Milliarden Dollar verachtfacht.

Insgesamt hinterließ Reagan seinen Landsleuten mehr undnicht weniger Staat: Die Zahl der Bundesbediensteten stiegum über vier Prozent, obwohl er immer mit Personalabbau fürsich geworben hatte. Die Zahl der Ministerien weitete er aus,von elf auf 14, während er im Wahlkampf ihre Reduzierungversprochen hatte. Er führte die Staatsausgaben nicht wieangekündigt zurück, sondern erhöhte sie, selbst wenn man dieenorm gestiegenen Rüstungsausgaben abzieht, steht ein Plusunter der Bilanz. Die im Wahlkampf annoncierte Steuerreformkam, aber es folgten ihr 13 Steuererhöhungen und diverse Bei-tragsanhebungen bei den Sozialversicherungen, die er alle-samt nicht angekündigt hatte. Der Präsident brauchte dasGeld schließlich, um es in die Rüstungsindustrie zu stecken.Die Experten sprechen vom »Militärkeynesianismus«.

Der Sozialstaat überlebte also auch Reagan - vor allem des-halb, weil er gebraucht wurde. Die Wirtschaftsmaschine derVereinigten Staaten führte ihm in immer kürzeren Abständendie Bedürftigen zu. Er musste sie auffangen, alimentieren, aus-bilden, pflegen, denn der Reichtum des Landes vermehrtesich, aber nicht für alle. Die Arbeitslosigkeit lag Mitte der70er Jahre bei bis zu neun Prozent und übertraf in den 80erJahren erstmals auch die Zehn-Prozent-Marke. Vor allem fürviele einfache Arbeiter und die Vielzahl der Ungebildetensind die USA ein Land der begrenzten Möglichkeiten geblie-ben. Die Industriebeschäftigung hatte bereits im Jahr 1979 ihregrößte Ausdehnung erreicht und schrumpfte von nun an inatemberaubendem Tempo. Alle Präsidenten spürten, dass die

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Volkswirtschaft im Außenhandel unter Druck geraten war. AlsPräsident Johnson sein Amt antrat, hatte der Anteil am Welt-güterexport noch 15 Prozent betragen, am Ende der ÄraRonald Reagan waren es nur noch neun Prozent.

Bei den Einfuhren bietet sich das spiegelverkehrte Bild. SeitBeginn der 60er Jahre stiegen die Importe steil an, hatten sichbis 1972 mehr als verdreifacht. Zu Beginn der 80er Jahrestürzte die Handelsbilanz dann fast senkrecht ins Minus, vonwo aus sie sich schubweise weiter nach unten bohrte. DieHerkunft der Importe ließ sich schnell identifizieren: Es warAsien, zunächst nur Japan und die Tigerstaaten, das den Ame-rikanern so arg zusetzte. China kam schließlich hinzu. 1995stammten allein 42 Prozent der US-Importe aus dem Handelmit den asiatischen Staaten. Der Anteil Europas an den ameri-kanischen Importen dagegen stagnierte seit Jahrzehnten beiknapp 20 Prozent.

Viele hielten das langsame Wachstum der Exporte und diedramatische Zunahme der Importe zunächst für eine Launeder Geschichte. Heute wissen wir, dass damit eine Verände-rung in den weltweiten Wirtschaftsbeziehungen begann, derenEnde wir noch nicht kennen. Die USA waren noch immer diegrößte Volkswirtschaft der Welt, aber ihre Dominanz war ge-brochen.

Das Optimismus-Gen.Wenn Stärken zu Schwächen werden

Die Stärken der USA sind heute auch ihre Schwächen, wes-halb es lohnt, sie genauer zu betrachten. Im Wesentlichensind es drei Erfolgsfaktoren, die man in dieser Mischung nurzwischen Boston und Los Angeles vorfindet. Es handelt sichum drei Exklusivitäten, deren gleichzeitiges Auftreten den bis-herigen Weltruhm der Vereinigten Staaten begründete.

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Das Optimismus-Gen 95

Erstens: Optimismus und Wagemut in dieser hohen Konzen-tration gibt es nirgendwo sonst. Amerika ist das Land, das amstärksten dem Neuen zustrebt, nicht erst seit gestern (wie dieOsteuropäer) und nicht erst seit drei Jahrzehnten (wie die Chi-nesen), sondern vom ersten Tag der Besiedlung an. Neugierohne Beklommenheit ist offenbar im Gencode dieser Nationabgespeichert.

Der bis heute anhaltende Zustrom von Leistungswilligen undAbenteuerlustigen, der mithalf, allein seit 1980 das Heer derBeschäftigten um 44 Millionen Menschen aufzustocken, sorgtfür eine ständige Auffrischung der Ressource Wagemut. Es isteben nicht der Zuwachs an Menschen allein. Der Zuwachs von17 Millionen verunsicherten Menschen, die sich auf die Wah-rung ihrer verbrieften Rechte konzentrieren und nicht auf eineaußerordentliche Kraftanstrengung, bewirkt das Gegenteil, wiedas wiedervereinte Deutschland erfahren musste.

Zweitens: Die USA sind radikal global. Schon ihre Entste-hungsgeschichte, als sich die Aufmüpfigen aller Länder aufdem Boden der heutigen Vereinigten Staaten vereinigten, weistsie als Weltenkinder aus. Helmut Schmidt nennt die GründerAmerikas eine »Elite der Vitalität«, die bis heute ihre Geneweitervererbt habe. Ihre Sprache dominiert, hat das Spanischeund das Französische bereits in der zweiten Hälfte des ab-gelaufenen Jahrhunderts verdrängt. Ihre Alltagskultur, vomT-Shirt über den Rock'n'Roll bis zur E-Mail, hat die halbeWelt auf friedliche Weise kolonialisiert. Von Beginn an dräng-ten auch die Konzerne in andere Länder, um Handel zu treibenund Produktionsstätten zu errichten. Die multinationalen Kon-zerne waren keine amerikanische Erfindung, aber sie wurdenihre Spezialität.

Drittens: Die USA sind die einzige Nation der Erde, die welt-weit Geschäfte in eigener Währung abwickeln kann. Der Dollarwurde das Zahlungsmittel der Welt. Wer ihn besitzen will, mussihn in den Vereinigten Staaten einkaufen. Alle wichtigen Ent-

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Scheidungen über die Menge des umlaufenden Bargelds oderdie Höhe der Leitzinsen werden innerhalb der Landesgrenzengetroffen, was ein Höchstmaß an nationaler Selbständigkeitgarantiert. In den Adern der Weltwirtschaft pulsiert amerika-nisches Blut. Nahezu jedes zweite Geschäft wird in Dollar ab-gewickelt, zwei Drittel aller Währungsreserven halten die Staa-ten in Dollar. Schon der französische Nachkriegspräsident deGaulle bewunderte dieses »exorbitante Privileg«.

Nun zur Kehrseite der Medaille. Erstens: Die Bürger derUSA sind derart optimistisch, dass die Grenze zur Naivitätfließend verläuft. Die addierte Verschuldung von Staat, Firmenund Privathaushalten übersteigt alle bisherigen Dimensionen.Im Gottvertrauen auf eine Zukunft, die rosiger aussieht als dieGegenwart, genehmigen sich Millionen von Haushalten einenVorschuss, der so hoch ausfällt, dass er das Erreichen eben die-ser Zukunft gefährdet. Die Unter- und die Mittelschicht habendas Sparen praktisch eingestellt. Sie leben zu Beginn des21. Jahrhunderts wie eine afrikanische Großfamilie von derHand in den Mund, ohne jede finanzielle Vorratshaltung.

Zweitens: Die Globalisierung schlägt zurück. Die USAhaben den weltweiten Warenaustausch wie keine andere Nationvorangetrieben, mit dem Ergebnis, dass eine Erosion ihrerangestammten Industrie eingesetzt hat. Einige Produktions-zweige, vorneweg die Möbelindustrie, die Unterhaltungselek-tronik, viele Autozulieferer und neuerdings auch die Computer-fertigung, haben das Land verlassen. Der Freihandel nützte injüngster Zeit vor allem den Angreiferstaaten, die sich von denWeltmarktanteilen der Vereinigten Staaten eine dicke Scheibeabschnitten.

Drittens: Der Dollar macht die USA nicht nur stark, ermacht sie auch verwundbar. Die Regierung pumpte ihn derartgeschäftstüchtig in alle Welt, dass der amerikanische Geld-kreislauf heute von außen zum Kollabieren gebracht werdenkann - zum Beispiel aus Peking. Bill Clinton sprach von »stra-

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Mittelschicht in Auflösung. Die neue Ungleichheit 97

tegischer Partnerschaft«, George Bush bereits von »strategi-scher Rivalität« gegenüber China. Beide meinten das Gleiche.Es gibt eine Abhängigkeit, die in normalen Zeiten zur Zusam-menarbeit verpflichtet. Wenn die Zeiten andere sind, lädt sieauch zur Kraftprobe ein.

Wer die Vereinigten Staaten zu Beginn des 21. Jahrhundertsbetrachtet, sieht noch immer eine Weltmacht. Aber es ist eineWeltmacht, die von außen Konkurrenz und im Innern Schwie-rigkeiten bekommen hat. Die Rückkoppelungen der Globali-sierung sind gerade für die weltoffene US-Wirtschaft derartheftig, dass weite Teile der amerikanischen Arbeiterschaftmittlerweile mit dem Rücken zur Wand stehen. Der Aufstiegder Asiaten führte bisher nur zum relativen Abstieg der ameri-kanischen Volkswirtschaft. Aber für viele Arbeiter der Unter-und Mittelschicht ist dieser Abstieg bereits ein absoluter, dennsie besitzen von allem weniger als zuvor; weniger Geld, weni-ger Ansehen und auch die Chancen auf einen gesellschaftli-chen Wiederaufstieg haben sich für sie enorm verschlechtert.Im Weltkrieg um Wohlstand sind sie die Verlierer. Das ist ihrSchicksal, aber nicht ihre Schuld. Und mitnichten ist es ihrePrivatangelegenheit. Jede Nation, erst recht aber eine Gesell-schaft, die das Streben nach Glück in den Rang eines Grund-rechts erhoben hat, muss sich unbequeme Fragen stellen las-sen, wenn ein immer größer werdender Teil ihrer Einwohnervom allgemeinen Wohlstand entkoppelt wird.

Mittelschicht in Auflösung.Die neue Ungleichheit

Der US-Kongress berief am 28. Oktober 1998 eine hochkarätigbesetzte Kommission, um die Auswirkungen des Handels-bilanzdefizits und das Sterben der Industriearbeit zu unter-suchen. Donald Rumsfeld, der heutige Verteidigungsminister,

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Robert Zoellick, der damalige Handelsbeauftragte, AnneKrueger, die heutige Nummer zwei des Weltwährungsfonds,und MIT-Professor Lester Thurow verschafften sich im Präsi-dentenauftrag ein Bild der Lage. Bis zum Ende der 70er Jahre,so das Ergebnis des Kommissionsberichts, war die Welt derAmerikaner in Ordnung. In den ersten drei Jahrzehnten nachKriegsende wuchsen die Familieneinkommen in allen Bevöl-kerungsschichten nahezu gleich schnell, mit leichtem Vorteilfür die Einkommen der Armen. Das unterste Fünftel der US-Gesellschaft legte um 120 Prozent zu, das zweite Fünftel um101 Prozent, das dritte Fünftel um 107 Prozent, das vierteFünftel um 114 Prozent und das letzte Fünftel wuchs nur um94 Prozent. Das war der in Zahlen gegossene amerikanischeTraum.

Dann aber drehte sich der Trend. Japan war erwacht, dieweltweiten Handelsströme änderten ihre Laufrichtung. DieKapitalisten lösten sich von der heimatlichen Scholle undsuchten nun auf eigene Faust nach geeigneten Anlageorten.Die ausländischen Direktinvestitionen, die bis dahin mehroder minder im Gleichklang mit den Exporten gewachsenwaren, schössen nach oben. Bis dahin dienten die Investitionenim Ausland fast ausschließlich der Exportförderung deutscher,amerikanischer oder französischer Waren, nun aber begann dieVerlagerung der Fabriken. Für den Weltmarkt wurde zuneh-mend weltweit produziert, was zu einer Neuverteilung vonKapital und Arbeit führte. Die globale Produktion wuchs zwi-schen 1985 und 1995 um gut 100 Prozent. Die im Auslandgetätigten Direktinvestitionen aber legten im gleichen Zeit-raum um fast 500 Prozent zu. Mit dieser Wanderung des Pro-duktionsfaktors Kapital begann auch der ProduktionsfaktorArbeit unruhig zu werden.

Die neuen Jobs entstanden anderswo, was nicht ohneRückwirkungen auf die Familieneinkommen in den Vereinig-ten Staaten blieb. Innerhalb der nächsten zwei Jahrzehnte

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schrumpfte das Einkommen im untersten Fünftel um 1,4 Pro-zent, das zweite Fünftel legte immerhin noch um 6,2 Prozentzu, das dritte Fünftel wuchs um 11,1 Prozent, das vierte Fünftelum 19 Prozent, die Spitze der Pyramide, wo die Antreiber, dieVordenker und Profiteure der Globalisierung zu Hause sind,erzielte Einkommenszuwächse von 42 Prozent.

Die Kommission misstraute ihren Zahlen. Denn Familien-einkommen setzen sich aus Löhnen, Aktien, Mieteinnahmenund Hausverkäufen zusammen. Wer nichts besitzt, kann auchkeine noch so kleine Rendite erzielen. Selbst bei unveränder-ten Löhnen entwickeln sich Arm und Reich also automatischauseinander, wenn der eine Wertpapiere hält und der anderenicht. Jeder Zins ist schließlich besser als gar keiner. Also gin-gen die Experten daran, sich nur die Löhne anzuschauen. Werverdient was? Wie verhalten sich die Einkommen der Unter-schicht zu denen von Mittelschicht und Oberklasse? Wie hatsich die Bezahlung mit den Jahren verändert?

Nun wurde deutlich, was sich in Amerika wirklich abge-spielt hatte. Eine Lohndrift war in Gang gekommen, die imunteren Drittel der Einkommenspyramide zur Teilentwertungder menschlichen Arbeitskraft geführt hatte. Bis in die 70erJahre hinein wuchsen die Einkommen aller Gruppen gleicher-maßen, bis dann von Beginn bis zur Mitte der 80er Jahre zuerstdie Unterschicht spürbar absackte - minus 15 Prozent bei denMännern. Die Oberklasse stieg im gleichen Zeitraum um zehnProzent. Dann verlor auch die Mittelschicht den Halt. Ab 1985rutschte ihr Lohnniveau ab, derweil die oberen Einkommen abMitte der 90er Jahre nochmals deutlich zulegen konnten. Seit-her tat sich nicht mehr viel. Arbeit und Armut bildeten nichtmehr länger ein Gegensatzpaar: Unten blieb unten, oben istseither ganz oben. Die ehemalige Mitte der Gesellschaft nähertsich allmählich der Unterschicht. Ihr in den Wohnzimmernausgestellter Wohlstand ist vielerorts nur eine moderne Formder Hochstapelei. Auch vom Augenschein properer Vorstädte

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sollte sich niemand blenden lassen. Der unter dem Carport ver-sammelte Wagenpark gehört in aller Regel der Bank.

Der Unterschied zur Glanzzeit der amerikanischen Volks-wirtschaft, als das Land Wohlstand für fast alle produzierte,ist auf den Armaturen der Volkswirtschaft präzise ablesbar:Bis in die 70er Jahre hinein glühte der produktive Kern desLandes derart intensiv, dass er in alle Welt ausstrahlte. DieUSA lieferten Dollar und Waren überallhin. Die Kernenergiedes amerikanischen Imperiums half beim Wiederaufbau deskriegszerstörten Europa und in Japan. Die Vereinigten Staatenwaren für vier Jahrzehnte der größte Netto-Exporteur und dergrößte Kreditverleiher der Welt. Alles lief so, wie es in denLehrbüchern geschrieben steht: Die reichste Nation der Weltpumpte Geld und Waren in die ärmeren Staaten. Die USA ent-nahmen aus ihrem eigenen produktiven Kern jene Energie, mitder sie andere Länder zum Glühen oder doch wenigstens zumGlimmen brachten. Sie waren das unumstrittene Kraftzentrumder Welt, von dem aus die Energieströme sich in alle Richtun-gen verteilten.

Auch ohne Militäreinsatz war das US-Kapital überall behei-matet. Viele haben es als Segen und manche als Fluch empfun-den, in jedem Fall war es für Amerika ein einträgliches Ge-schäft: Auf dem Höhepunkt ihrer ökonomischen Macht hieltdie westliche Führungsnation im Ausland eine Nettovermö-gensposition in Höhe von 13 Prozent ihres Sozialprodukts.Oder anders ausgedrückt: Der produktive Kern des Landeshatte sich so enorm vergrößert, das er nun Filialen in aller Her-ren Länder besaß.

Diese über jeden Zweifel erhabenen USA gibt es nichtmehr. Das Kraftzentrum ist noch immer kräftiger als andere,aber die Energie fließt seit einigen Jahren in dieumgekehrteRichtung. Heute wird der produktive Kern Nordamerikas vonAsiaten, Lateinamerikanern und Europäern mitversorgt. Dergrößte Exporteur wurde zum größten Importeur der Welt. Der

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wichtigste Kreditgeber verwandelte sich in den bedeutendstenKreditnehmer. Heute sind es die Ausländer, die in den Ver-einigten Staaten eine Nettovermögensposition in Höhe von2,5 Billionen Dollar oder 21 Prozent des amerikanischen In-landsprodukts halten. Neun Prozent aller Aktien, 17 Prozentder Industrieschuldverschreibungen und 24 Prozent der Staats-anleihen werden von Ausländern gehalten.

Die Ursache dieser neuen Wirklichkeit ist weder die Faul-heit der Amerikaner noch ihre unbestrittene Konsumlust. Ver-antwortlich ist die US-Industrie, beziehungsweise das wenige,was davon übrig blieb: Sie hat sich innerhalb nur weniger Jahr-zehnte halbiert. Zum Inlandsprodukt trägt sie nur noch 17 Pro-zent bei, alle relevanten Volkswirtschaften der Welt liefernheute Waren in die USA, ohne in gleichem Umfang dort ein-zukaufen. Im Handel mit China betrug das Defizit 2005 rund200 Milliarden Dollar, im Handel mit Japan waren es gut 80Milliarden Dollar, mit Europa über 120 Milliarden Dollar.Selbst in den Handelsbeziehungen mit weniger entwickeltenVolkswirtschaften wie der Ukraine und Russland kann Ame-rika keine Handelsüberschüsse mehr erzielen. Jeden Tagwerden in den Vereinigten Staaten Schiffsladungen gelöscht,denen keine Handelsware aus US-Produktion mehr gegen-übersteht. Viele Containerschiffe fahren leer zurück.

Wer nach Entlastungsmaterial zugunsten der Supermachtsucht, wird zumindest in der Handelsbilanz nicht fündig. Essind eben nicht Rohstoffe und irgendwelche importiertenZulieferteile, die für das vergrößerte Ungleichgewicht sorgen.Die Position für die Ölimporte beispielsweise fällt mit rund160 Milliarden Dollar nicht so stark ins Gewicht, wie vieleglauben. Es sind die Spitzenprodukte einer entwickeltenVolkswirtschaft - Autos, Computer, Fernseher, Spielekon-solen-, die von überall her bezogen werden, ohne dass dieeigene Herstellung in gleichem Umfang auf dem Weltmarktloszuschlagen ist.

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Selbst mit ausgewiesenen Spitzenprodukten machen dieAmerikaner kein Geschäft mehr. 1989 erwirtschafteten siemit Gütern der Hochtechnologie ein Plus von 35 MilliardenDollar. 2002 rutschte auch diese Teilbilanz ins Minus, von wosie sich weiter nach unten entwickelte. Seither wird mehrHightech ein- als ausgeführt. Selbst wenn man die unsichtba-ren Produkte der Dienstleistungsgesellschaft, das Beraten undProjektieren, das Installieren und Reparieren, hinzuzählt, trittkeine Trendumkehr ein.

Nun geht es in der Weltwirtschaft nicht viel anders zu als imKaufmannsladen, wo die Stammkundschaft ein Recht daraufhat, dass »angeschrieben« wird, bevor man ihr die Tür zeigt.Doch irgendwann reißt der Geduldsfaden, im Kaufmannsladenund auch in der Weltökonomie. Normalerweise lassen danndie Importe nach, was dazu führt, dass die Konsumenten aufdem Trockenen sitzen. Oder ihre Währung verfällt, was den-selben Effekt hätte. Der einzige Ausweg besteht darin, dassder Kunde mit den großen Dauerfehlbeträgen eine für allesichtbare Kraftanstrengung unternimmt, mit dem ehrgeizigenZiel, seine Lieferfähigkeit zu erhöhen. Schon des Öfterensind Nettoimporteure zu Nettoexporteuren aufgestiegen. DasNachkriegsdeutschland hat es geschafft, Japaner und Chinesenauch.

In den USA ist bisher nichts von alldem zu beobachten:keine Inflation, keine Drosselung der Importe, keine Kraftan-strengung. Die Amerikaner konsumieren heute fast doppelt soviel wie die Europäer, hemmungslos kauft das Land Warenvon überall ein, ohne selbst in gleichem Umfang zu liefern.Eine raffinierte Variante der Wirklichkeit ist zu besichtigen,bei der Schein und Sein eine Art Partnerschaft eingegangensind. Das amerikanische Volk, so versuchen Politiker und Öko-nomen ihm einzureden, habe die Gesetze der ökonomischenSchwerkraft außer Kraft gesetzt. Die Kaufleute anderer Län-der hätten keine andere Wahl. Sie müssten die Weltkonsum-

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macht USA beliefern, allein schon, um ihre Produktionsstättenweiterhin auszulasten. Konsum ohne Leistung sei ein Zeichenimperialer Stärke, behaupten sie in ihrem Übermut.

Die Dollarillusion

Betrachten wir also den Dollar nicht mehr als Zahlungsmittel,sondern als eine ganz und gar eigenständige Warengruppe.Setzen wir den Verkauf von Staatsanleihen, Schuldverschrei-bungen und Aktien gedanklich gleich mit dem Verkauf vonComputern, Hollywoodfilmen und Stahlrohren, und schonsieht die Welt deutlich freundlicher aus. Die Gesamtbilanzvon Waren, Dienstleistungen und Geld ist ausgeglichen. DieAmerikaner sind keine großen Verkäufer von Industrieproduk-ten mehr. Aber sie sind unschlagbar im Verkaufen des Dollars.

Um diesen Verkaufserfolg zu verstehen, muss man die Psy-che der Dollaraufkäufer kennen. Zwei Dinge sind es vor allem,die sich jeder Geldanleger wünscht: hohe Rendite und hoheSicherheit. Weil beides zusammen niemals zu haben ist, sinddie Investoren von Haus aus Zeitgenossen mit schwankendemGemütszustand. Angst und Gier wechseln einander ab, wobeidie großen Geldanleger, zum Beispiel Konzerne und Staaten,die Sicherheit eindeutig bevorzugen. Ihre Angst ist größer alsihre Gier. Sie verzichten freiwillig auf den ganz großen Profit,wenn nur die Haltbarkeit ihrer Milliarden gesichert ist. Siefürchten politische Unruhen, sie hassen allzu heftige Wäh-rungsschwankungen und schon der Gedanke an eine schlei-chende Geldentwertung kann sie in Panikstimmung versetzen.Es gibt nur wenige Länder, die angesichts dieser Gefahreneine größtmögliche relative Sicherheit bieten: allen voran dieUSA. Deshalb ist der Dollar nicht nur Handels- und Anlage-währung, er ist vor allem auch die Reservewährung der Welt.Fast alle Staaten misstrauen ihrer eigenen Währung und legen

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das Geld aus dem Tresorraum ihrer nationalen Notenbank lie-ber in den Vereinigten Staaten an, bevorzugt in Staatsanleihen.Politische Unruhen sind dort so gut wie ausgeschlossen. DieInflation wird von der Notenbank bekämpft. Die Spekulantenkönnen angesichts der Größe des Währungsgebiets und derMenge an weltweit zirkulierenden Dollars keine Purzelbäumeschlagen. Also kaufen die weltweiten Geldbesitzer die US-Währung in rauen Mengen.

Die USA besitzen nahezu ein Monopol auf die Ware Sicher-heit. Der Erwerb einer US-Staatsanleihe ist für viele Investo-ren nichts anderes als der Kauf eines Konservierungsmittels.Weltweit wurden 2005 nur rund 20 Prozent aller Devisen-reserven in Euro, aber über 60 Prozent in Dollar gehalten. DieEuro-Einführung war ein beachtlicher Erfolg, der hier nichtgeschmälert werden soll. Aber der Dollar ist die Anker-währung der Welt geblieben. Liegt dieser Anker auf Grund,bedeutet das große Stabilität für die angeschlossenen Volks-wirtschaften. Reißt er sich los und beginnt im Meer der Welt-finanzen zu treiben, gerät mehr in Unordnung als nur das Aus-tauschverhältnis von Währungen.

Aber warum sind dieselben Kaufleute, die früher Warengekauft haben, nun derart närrisch auf Dollarscheine? Wiesovertrauen sie auf die Ware Sicherheit, die nicht beliebig ver-mehrbar ist? Jeder Student der Volkswirtschaft lernt doch,dass die Währung eines Landes nur so stabil und damit so wert-voll ist wie das, was die Volkswirtschaft dieses Landes zu bie-ten hat. Sieht und fühlt denn keiner, dass sich da eine Spannungaufbaut zwischen dem Traum und der Realität, die sich einesTages zum Schaden von Millionen Menschen entladen kann?Und ob das gesehen wird! Die Investoren sehen es, sie stau-nen, sie schütteln den Kopf, es fröstelt sie sogar, aber: Sie kau-fen weiter Dollar. Wie die Besessenen tun sie es. Je größer derZweifel, desto gieriger ordern sie nach. Denn das Verrückte andiesen Investoren und ihrem Geschäftsgebaren ist eben das:

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Der Käufer ist nicht nur Käufer. Indem er das Produkt Sicher-heit kauft, erzeugt er es. Hört er morgen mit dem Kaufen auf,schmilzt das Vertrauen und die Unsicherheit wächst. DerTraum wäre ausgeträumt, der Dollar geriete ins Trudeln undalle bisherigen Dollarreichtümer würden an Wert verlieren,was der Investor natürlich nicht will. Das einzige Mittel gegeneine Dollarschwäche ist daher seine Stärkung. Es spielt fürviele bereits keine Rolle mehr, ob die amerikanische Währungdas Vertrauen noch rechtfertigt oder nicht. Das neue, für allebrandgefährliche Spiel funktioniert genau andersherum: DerDollar verdient das Vertrauen, weil er es sonst verliert. Mankauft ihn, um ihn nicht verkaufen zu müssen. Der Dollar iststark, weil nur das gegen seine Schwäche hilft. Es wird mitgroßer Beharrlichkeit gegen die Realität angeträumt und ange-kauft, weil das tatsächlich den Traum für einige Zeit zur Rea-lität werden lässt.

Natürlich wissen die Teilnehmer des Spiels, dass Währun-gen auf Dauer nicht stärker sein können als die ihnen zugrundeliegenden Volkswirtschaften. Konsum ohne Produktion, Im-port ohne Export, Wachstum auf Kredit, das alles kann esdauerhaft nur im Jenseits geben, im hiesigen Leben wird eskeinen Bestand haben. Es war der ehemalige IMF-Cheföko-nom Kenneth Rogoff, ein Mann mit klarem Kopf und losemMundwerk, der die US-Politik kürzlich lobte, um sie in Wahr-heit zu kritisieren: Der Aufschwung in den USA sei »der besteAufschwung, den man für Geld kaufen kann«.

Aber wenn die Dinge derart offensichtlich sind, warumzucken die Investoren dann nicht zurück? Warum lassen sichAusländer und US-Präsidenten verschiedenster Couleur, jaselbst die für ihre Seriosität bekannten Notenbankgouverneureauf ein so riskantes Spiel ein, das am Ende alles verbrennenkann? Wieso greifen nicht jene Mechanismen der Marktkon-trolle, die doch gerade die kapitalistischen Systeme gegenüberden Plansystemen auszeichnen sollten?

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Die Antwort ist erschreckend einfach: Alle wissen um dieGefährlichkeit des Spiels, aber es scheint ihnen weniger ge-fährlich als auszusteigen. Denn was haben sie von einer allzuhektischen Reaktion zu erwarten? Beginnen die Investorenselbst damit, ihre Banknoten und Staatsanleihen auf den Marktzu werfen, verlieren sie ihr Geld, päckchenweise oder in einemRutsch. Beides würden sie gern vermeiden und sei es nur füreine Weile. Der Präsident, der die Situation auch nur alsThema anerkennt, verliert womöglich sein Amt, weil der Un-mut der Regierten sich ein Ventil suchen wird. Die Notenbank-gouverneure, obwohl noch am ehesten der Wahrheit verpflich-tet, haben den Zeitpunkt zur Intervention längst verpasst.

Der legendäre Notenbankpräsident Alan Greenspan tatvieles, die Dollarillusion sogar zu nähren. Wann immer dieZweifel sich verstärkten, erhöhte er den Zins, der immer aucheine Risikoprämie für die Anleger ist. Wurden Zweifel an derNachhaltigkeit des Wirtschaftswachstums laut, steuerte dergroße Nuschler, der die Finanzwelt sonst so gern im Unklarenhält, mit erstaunlicher Präzision dagegen. »Unterm Strichscheint der Sektor der Privathaushalte in guter Verfassung«,sagte er im Oktober 2004. Die Manager der Weltfinanzmärkteverehren ihn vor allem deshalb, weil er ihren Traum um Jahreverlängert hat.

Sein Nachfolger hat keine andere Chance, als diesen Kursfortzusetzen. Er weiß, dass es in seiner Position keine folgen-freien Ratschläge gibt. Wenn er vor einer Schieflage warnt, istsie mit hoher Wahrscheinlichkeit im selben Moment schoneingetreten. Selbst wenn er leise Worte findet, den Umstandzu umschreiben, wird der Finanzmarkt ihn sehr genau verste-hen. Alle warten ja nur auf ein Signal zur Trendumkehr, das sienicht erhoffen, aber vor allem nicht verpassen dürfen.

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Panikblüte. Die Scheinerfolge der USA

Nun ließe sich mit Fug und Recht einwenden, dass die Finanz-märkte normalerweise nicht dem Willen der Politik gehorchen.Warum also erfolgt nicht mit Hilfe der Selbstregulierung eineKorrektur dieses teuflischen Treibens? Wer oder was hindertdie Finanzinvestoren, mit dem Dollar ähnlich zu verfahrenwie mit den Aktien der New Economy?

Sie werden es tun. Die Frage ist nur wann. Die Finanzinves-toren sind keine Finanzbeamten. Sie lieben den Exzess, inimmer wiederkehrenden Abständen bringen sie die Märktezum Überschießen. Sie sind nun mal von Berufs wegen Speku-lanten, die mit dem Risiko der Übertreibung leben. Ihre Be-rufseinstellung ähnelt der von Formel-1-Piloten, deren Zielder Sieg und nicht das unfallfreie Fahren ist.

Unklar ist nur noch, mit welcher Wucht das Großereigniseintritt. Oft schon haben Experten die Folgen einer Dollar-schmelze durchgespielt. Setzte der Abwärtstrend ein, würdenin Stufen steigende Kreditzinsen folgen, um den Wertverlustzu stoppen. Die Dollarkrise würde dadurch binnen wenigerTage aus der Welt der Währungen in die reale Welt der Fabri-ken, Geschäfte und Haushaltskassen überspringen. Private In-vestitionen von Groß und Klein sind bei steigenden Zinsenweniger rentierlich, die Menschen würden sparen, die Wirt-schaft stottern, bevor sie schließlich zu schrumpfen begänne.Die ersten Massenentlassungen wären zu beklagen. Der Kon-sum der Amerikaner müsste erneut drastisch zurückgefahrenwerden, weil nun Arbeitslosigkeit und Pleitewellen das Landerschütterten. Millionen Haushalte könnten ihre Bankkreditenicht mehr bedienen. Parallel würden auch die Immobilien-preise und die Aktiennotierungen sinken, die jahrelang über-höht waren und als Beleihungsgrundlage für Konsumkreditegenutzt wurden. Platzt die Immobilienblase, sackt unweiger-

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lieh auch der Konsum weiter in sich zusammen, der Importsogwürde zum Rinnsal, womit nun auch die Lieferländer inSchwierigkeiten gerieten. Es wäre nur noch eine Frage vonTagen, bis in den Zeitungen ein vor Jahrzehnten untergegange-nes Wort wieder auftauchte: Weltwirtschaftskrise.

Schon einmal rutschte erst Amerika und dann die übrigeWelt in eine tiefe Krise. Sie wurde »Die Große Depression«genannt, weil sie zehn Jahre dauerte und den USA Massen-arbeitslosigkeit und Hungertote brachte. Die Wirtschaftskraftdes Landes sank um rund ein Drittel. Der Krisenvirus wüteteschließlich überall im Westen. In Deutschland waren auf demHöhepunkt der Fieberkurve sechs Millionen Menschenarbeitslos.

Die heutigen Investoren leben in einem Zwiespalt, um densie nicht zu beneiden sind. Sie sehen die relative Schwächeder US-Ökonomie und registrieren die tektonische Verschie-bung in der Weltwirtschaft. Sie wissen, dass mit großem sta-tistischem Aufwand versucht wird, den amerikanischen Traumin die Zukunft zu verlängern. So melden die Regierungs-statistiker seit längerem sensationelle Produktivitätserfolgeder US-Ökonomie, die seltsamerweise seit Jahren zu keinerdem entsprechenden Lohnerhöhung führen. Das allerdings istmehr als merkwürdig: Entweder kassiert die Kapitalseite dieFrüchte der gestiegenen Produktivität ganz alleine, was selbstim Kernland des Kapitalismus ein Politikum wäre. Oder esgibt diese Produktivitätsfortschritte vor allem in der Statistik,wofür vieles spricht.

Die halbe Welt staunt über die niedrige Arbeitslosigkeit inden USA. Die andere Hälfte der Welt weiß, dass diese Statistikdas Ergebnis einer freiwilligen Telefonumfrage ist. Vielederer, die sich als Beschäftigte ausgeben, sind Handlangerund Tagelöhner. Wer auch nur eine Stunde pro Woche arbeitet,wird als »Beschäftigter« geführt. Da es als unsozial gilt, sicharbeitslos zu bekennen, sagt die amerikanische Statistik wo-

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möglich mehr über die geltenden Normen der amerikanischenGesellschaft als über ihre tatsächliche Verfassung. Auch denhohen Wachstumsraten der Vereinigten Staaten ist nicht soohne Weiteres zu trauen. Sie sind auch eine Folge der hohenprivaten und staatlichen Schuldenaufhahme. Sie zeigen kei-neswegs einen aus eigener Kraft gesteigerten Ausstoß an hei-mischen Waren und Dienstleistungen. Allein das Defizit derRegierung war 2002 für fast die Hälfte des Wirtschaftswachs-tums verantwortlich, 2005 sogar für über 60 Prozent. Der Wirt-schaftsriese USA wird gedopt, damit sein Leistungsabfallnicht so auffällt.

Für die Investoren auf den Kapitalmärkten ist eine Wirklich-keit erst dann eine Wirklichkeit, wenn die Mehrzahl der Anle-ger davon überzeugt ist - und sich entsprechend verhält. Der-zeit belauert jeder den anderen. Alle wissen: Der Traum vonder stabilen Wirtschaftssupermacht ist eigentlich ausgeträumt,aber alle halten die Augen noch eine Weile geschlossen.

Staatsanleihen und Aktien besitzen nun einmal keinenobjektiven Wert, nichts was man sehen, wiegen, schmeckenoder verspeisen könnte. Ihr Wert bemisst sich an dem Gottver-trauen der Investoren, dass die Kaufkraft von einer MillionDollar auch in zehn Jahren noch eine Million Dollar beträgtund sich nicht in der Zwischenzeit halbiert hat. Dieses Gott-vertrauen wird nahezu im Sekundentakt an den Märktengemessen und die Maßeinheit ist nichts anderes als das Ver-trauen anderer Investoren. Solange es mehr Vertrauensseligeals Misstrauische gibt, ist die Welt des Dollars (und der Welt-wirtschaft) in Ordnung. Die Probleme beginnen an dem Tag,an dem das Verhältnis kippt.

Kompliziert wird der Vorgang dadurch, dass es keineswegsblindes Vertrauen ist, das die Anleger treibt. Es sind scheinbarharte Fakten, die sie darin bestärken, ihren Vertrauensbonusweiterhin zu gewähren. Das Wirtschaftswachstum der USA,auf dem Papier robust und imponierend Jahr um Jahr, ist für

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sie eine wichtige Kennziffer. Fällt es hoch aus, fühlen sie sichin ihrem Vertrauen in die Leistungskraft der amerikanischenVolkswirtschaft bestärkt. Zwar ist das Handelsbilanzdefizitseit seinem Auftauchen Mitte der 70er Jahre explodiert. Aberdie Wirtschaft, sagen die Träumer mit wachsendem Selbstbe-wusstsein, wächst trotzdem sehr ordentlich; nicht so steil wiein China, aber immerhin doppelt so schnell wie in Europa.

Dabei ist gerade diese Kennziffer nicht so verlässlich wiesie aussieht. Das Vertrauen der Investoren hat diese Zahl mithervorgebracht. Denn der Kaufpreis der Anleihe fließt aufnahezu direktem Weg in den Konsum des Staats, der Kaufpreisder Aktie stimuliert die Konsumlust der Firmen und erweitertdie Kreditbasis von Millionen von Privathaushalten, was wie-derum dem Konsum zugute kommt. So verwandeln sich dieErwartungen der Investoren, auch die, dass die USA weiterwachsen, in Gewissheiten. Das Vertrauenskapital bringt alsoselbst jene Wachstumsraten hervor, die es für seine Legitima-tion braucht. Denn die treibende Kraft hinter dem Wachstumder amerikanischen Volkswirtschaft ist eine Ausweitung desKonsums; was angesichts schrumpfender Lieferfähigkeit derIndustrie und kaum mehr steigender Löhne der Beschäftigteneigentlich jeden verwundern muss. Aber alle kennen ja desRätsels Lösung. Der wachsende Konsum basiert nicht auf einerAusweitung der Produktion, einem steilen Anstieg der Löhneoder gar der Zunahme der Exporte, sondern zu seinem größtenTeil auf steigenden Schulden. Aber warum gewähren die Ban-ken immer neue Kredite? Sie tun es, weil sie als Beleihungs-grundlage die gestiegenen Preise für Aktien und Wohnimmo-bilien akzeptieren. So ist ein in sich geschlossener Kreislaufder wundersamen Geldvermehrung entstanden.

In den Bankbilanzen ist das ganze Ausmaß der Selbsttäu-schung zu besichtigen: Die Spartätigkeit in Amerika ist zumErliegen gekommen. Die Auslandsverschuldung der USAwächst an jedem Wochentag um die wahnwitzige Summe von

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rund 660 Millionen Dollar und liegt bei insgesamt 2,5 Billio-nen Dollar. Die Privathaushalte sind im In- und Ausland mitt-lerweile mit elf Billionen Dollar verschuldet, wobei 30 Prozentdieser Schulden allein seit 2003 entstanden sind. Die Amerika-ner genießen eine Gegenwart, für die sie immer größere Stückeder Zukunft verkaufen. Mit Fug und Recht kann man heutesagen: Die Wirtschaftskrise, die der Welt ins Haus steht, istdie bestprognostizierbare der neueren Geschichte. Der ameri-kanische Boom der letzten Jahre ist nicht die Widerlegung derKrise, sondern ihr Vorbote.

Die Biologen haben ähnliche Symptome bei Pflanzen beob-achtet, die unter dem Eintrag von Schadstoffen leiden. Bevorsie vergehen, bringen sie ein letztes Mal derart kräftige Triebehervor, dass sie von ihren gesunden Artgenossen kaum zuunterscheiden sind. Der Volksmund spricht von Panikblüte.

Aber wer wird der Erste sein, der die Dollarillusion zerstört?Sind nicht alle Investoren durch ein unsichtbares Band mit-einander verbunden, weil jede Attacke gegen die Leitwährungihre eigenen Wertbestände schmälern und womöglich großeTeile davon vernichten würde? Warum sollten die Notenban-ken von Japan oder Peking ihre Dollars auf den Markt werfen?Welches Interesse hätten die US-Pensionsfonds, ihren Dollar-reichtum mutwillig zu zerstören? Welchen Sinn ergibt es, dieUSA in eine schwere Krise zu schicken, die womöglich alleStaaten mitreißen wird?

Es ist dasselbe Motiv, das die Investoren einst zu Dollarkäu-fern machte: Angst. Diesmal ist es die Angst, dass andereschneller sind; die Angst, dass die Dollarstärke ohnehin nichthält; die Angst, dass jeder Tag des Zuwartens ein Tag zu vielist. Die Angst schließlich, dass der Herdentrieb der Welt-finanzmärkte einsetzt und man selbst hinterhertrottet.

Vielen ist der Dollar unheimlich geworden. Eines Morgenswerden viele seiner Besitzer aufwachen, um mit neuem, glas-klarem Blick auf die Daten der US-Wirtschaft zu schauen. So

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wie die Privatanleger eines Morgens mit ungetrübtem Blick aufdie Aktien der New Economy blickten und Firmen sahen,deren Wert sich durch keinen noch so großen Gewinnsprungrechtfertigen ließ. Umsatzprognosen waren aufgestellt worden,die den Gesamtmarkt um ein Vielfaches übertrafen. An derTechnologiebörse Nasdaq war ein Aktienmarkt zu bestaunen,dessen addierter Wert innerhalb weniger Jahre um 1000 Pro-zent zugelegt hatte, derweil die US-Wirtschaft im selben Zeit-raum nominal nur um 25 Prozent gewachsen war. Die Gierhatte für einige Jahre die Angst überwunden, dann aber kehrtediese zurück. Die Kurse der Technologieaktien verloren binnenweniger Monate über 70 Prozent ihres Werts und liegen heutenoch immer bei weniger als der Hälfte ihrer damaligen Notie-rungen. Selbst der Dow Jones, ein Börsenindex, in dem diewichtigsten und größten Firmen der Vereinigten Staaten zu-sammengefasst sind, büßte knapp 40 Prozent seines Werts ein.

Dem Dollar und den Dollaranleihen steht Ähnliches bevor.Die USA haben mehr Sicherheit verkauft, als sie zu bietenhaben. Es wurden Erwartungen gehandelt, die sich deshalbals wertlos erweisen werden, weil sie nicht erfüllbar sind. Sowie die New Economy weder das Wachstum noch die Gewinneliefern konnte, die sie den Anlegern prophezeit hatte, werdendie Währungsverkäufer eines Tages einräumen müssen, dassdie Wirtschaft hinter der Währung schwächer ist als behauptet.

Die Abhängigkeit ausländischer Notenbanken vom Dollarwird dessen Sturz verzögern, aber nicht verhindern. EineSchneewehe hat sich gebildet, die zur Lawine heranwächst.Sie kann sich morgen lösen, in ein paar Monaten oder aucherst in Jahren. Vieles, von dem die Zeitgenossen glauben, essei unsterblich, wird eine globale Währungskrise unter sichbegraben; womöglich auch die Führungsrolle der USA.

Die von Clinton eingesetzte Kommission zur Untersuchungder negativen Handelsbilanz kam übrigens zu dem klarenSchluss, dass die Regierung alles tun müsse, um das weitere

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Anwachsen der Ungleichgewichte bei Aus- und Einfuhren zustoppen. Die Öffentlichkeit solle endlich vom Optimismuszum Realismus zurückkehren; die Bürger müssten zum Sparenangehalten werden, der Staat solle die Importe sanft drosselnhelfen, um der Wucht einer harten Landung zu entgehen.

Nichts davon ist seither geschehen. In Wahrheit passiert vonallem, was die Experten empfohlen hatten, sogar das Gegen-teil. Die Verschuldung wächst, der Importsog verstärkt sich,ein durch die Wirklichkeit nicht mehr gedeckter Optimismuswurde zur Staatsräson. Kommissionsmitglied Lester Thurowzieht eine ernüchternde Bilanz: »Niemand wird eine amerika-nische Zahlungsbilanzkrise für möglich halten«, sagt er. »Bissie eintritt.«

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KAPITEL 3

Neue Rivalen.Die asiatische Herausforderung

Monster Mao

Der große Nationalheilige der Chinesen Mao Zedong hateigentlich nur ein Verdienst erworben, das die Jahrhunderteüberdauern wird. Von dieser Tat ist unklar, ob er sie aus Ver-sehen oder mit Bedacht begangen hat. Er ließ dem späterenReformer Deng Xiaoping alle nur mögliche Schmach antun.Aber er ließ ihn am Leben.

Zweimal enthob er ihn seiner Parteiämter; auf öffentlichenVersammlungen musste sich Deng wüst beschimpfen lassen.»Siedet den Hundekopf in heißem Öl«, riefen Maos Rote Gar-den ihm hinterher. Wer anderer Meinung war als der GroßeVorsitzende, wie Mao sich selber nannte, hatte mit allem Mög-lichen zu rechnen, nur nicht mit Gnade. Dengs engste Mitstrei-ter wurden zu Tode gefoltert, sein Bruder erschlagen. Dengsältesten Sohn trieben Maos Gefolgsleute im vierten Stock derPekinger Universität derart in die Enge, dass er in seiner Ver-zweiflung aus dem Fenster sprang. Als Krüppel blieb er zeitle-bens an den Rollstuhl gefesselt.

Nur den 1,53 Meter kleinen Deng, einen Mann von außerge-wöhnlicher Klugheit, ließ Mao körperlich unversehrt. Er de-gradierte ihn, er demütigte ihn, aber er tötete ihn nicht. Erging ihm mehrfach an die Gurgel, aber er drückte nicht zu.

Für einen Mann seines Rufes ist das bemerkenswert. DerHistoriker Hans-Peter Schwarz nennt Mao ein »Monster«,weil ihm Menschenleben nichts bedeuteten. Mit Hitler dürfen

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wir Mao nur deshalb nicht gleichsetzen, weil der NaziftihrerMillionen von Menschen planmäßig hat vergasen lassen, der-weil die Mehrzahl von Maos Toten eher eine Begleiterschei-nung seiner Politik war, wenn auch eine, die er billigend inKauf nahm. Dessen Brutalität im Umgang mit seinen direktenGegnern allerdings stand der Hitlerschen wenig nach. Umsoerstaunlicher ist der Unterschied: Hitler hatte »das andereDeutschland« weitgehend ausgerottet oder ins Exil getrieben.Mao aber hinterließ dem Land aus seinem engsten Umfeldeinen Nachfolger von historischer Statur. Die Wirtschaftswelt-macht China, auf die wir heute blicken, hat Deng Xiaoping er-schaffen. Ohne ihn wäre das Riesenreich womöglich zumgrößten Armutsstaat der Erde herabgesunken, in Konkurrenzmit den zerfallenden afrikanischen Gemeinwesen. Er aber or-ganisierte eine politische Wende, die beides war: radikal underfolgreich.

Nach dem Tod des Großen Vorsitzenden im September 1976besaß China mit Deng Xiaoping einen Führer, wie er einemVolk selbst über die Jahrhunderte nur selten geschenkt wird.Der zierliche Deng kann es aufnehmen mit den Großen derWeltgeschichte. Der Mann mit dem maskenhaften Lächelnund dem ungebrochenen Willen hat wie kein anderer Chinesedie Laufrichtung der Geschichte verändert, was viele Europäerin den kommenden Jahrzehnten erst noch spüren werden. Rie-sig war das Reich der Mitte schon vor ihm, von fremden Ein-flüssen befreit und wieder geeint hat es Mao, auf den Weg zurWeltmacht aber hat es sich erst unter seiner Führung begeben.Mit Deng Xiaoping kehrte die Privatinitiative zurück, hielt derWohlstand seinen Einzug im Leben von Millionen. Zu Beginndes 21. Jahrhunderts hat in China die Zahl der Aktionäre (66,5Millionen) mit der Zahl der Parteimitglieder (69,6 Millionen)annähernd gleichgezogen.

Von Mao Zedong, Dengs Wegbegleiter, Peiniger undLebensretter, wird vor allem die Erinnerung an eines der dun-

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kelsten Kapitel der chinesischen Geschichte bleiben. Der ehe-malige Volksschullehrer wurde durch den Bürgerkrieg, den ermit großer Zähigkeit führte, nach oben gespült. Am 1. Oktoberdes Jahres 1949 trat der 55-Jährige vor die Menschenmasse,die in Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens war-tete, um die »Volksrepublik China« auszurufen. Der südchi-nesische Akzent wies ihn als Mann der Provinz aus. »Die Chi-nesen, die ein Viertel der Menschheit bilden, sind nunmehraufgestanden«, rief er den Menschen zu.

Sie wären gern aufgestanden, aber mit Mao war an ein wirt-schaftliches Wohlergehen nicht zu denken. Seine mit kurzenUnterbrechungen ein Viertel] ahrhundert währende Regie-rungszeit bedeutete für das ohnehin bettelarme China einenweiteren Abstieg, den Millionen Menschen mit ihrem Lebenbezahlten. Denn das war die Konstante der Mao-Zeit, wasauch immer er ausprobierte, anordnete, durchsetzte: Der Blut-zoll war hoch.

Der große Sprung zurück

Sein erster Fünfjahresplan, der im Januar 1953 in Kraft trat,offenbarte einen Abgrund an Naivität, wie er in der Führungeines so großen Landes nicht alle Tage vorkommt. Nach so-wjetischem Vorbild sollten alle Mittel des Landes in den Auf-bau der Schwerindustrie gesteckt werden. China brauche Stahl-öfen, Kraftwerke, Lastwagenfabriken, das Land solle eineChemieindustrie aufbauen und ein nationales Netz der Ener-gieversorgung, hieß es darin. Das Investitionsgeld für diesenKraftakt sollte - auch das war der Sowjetunion abgeschaut -aus der Landwirtschaft abgezogen werden. Der Denkfehlerlag darin, dass die chinesische Landwirtschaft anders als diesowjetische keinerlei Überschüsse erwirtschaftete. Ihre Er-träge reichten im allerbesten Fall, um die Bevölkerung zu

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ernähren, und selbst dafür langte es oft nicht. Das Produktivi-tätsniveau betrug nur ein Fünftel des sowjetischen; und nunsollte aus dieser Armutslandwirtschaft das Geld für den Auf-bau der Schwerindustrie abgepresst werden. Das bedeutetenichts anderes, als Millionen von Bauern planmäßig so weitunter ihr Existenzminimum zu drücken, dass der Preis fürihre Planerfüllung letztlich ihr Leben sein würde. Später ge-stand Mao das Fehlurteil ein. Man habe versucht, sprach derscheinbar Geläuterte, den »Teich trockenzulegen, um dieFische zu fangen«.

Der wirkliche Wahnsinn aber folgte erst noch. Wenn schondie Industrialisierung auf Kosten der Landwirtschaft nichtfunktionierte, wollte Mao nun eben die Landwirtschaft zwin-gen, sich selbst zu industrialisieren. Das stellte sich der Partei-,Staats- und Militärführer so vor: Die Bauern sollten die Win-terzeit nutzen, um kleine Fabriken und befestigte Landstraßenzu bauen. Mao hoffte, die noch ungenutzte Arbeitskraft derLandbevölkerung, auch die der Frauen, in Kapital verwandelnzu können. Er glaubte einmal mehr an die wundersame Fisch-vermehrung. Die wesentlich schlichtere Idee, die Produktivitätvon Ackerbau und Viehzucht derart zu steigern, um aus denÜberschusserträgen und den dann frei werdenden Arbeitskräf-ten einen industriellen Aufbau finanzieren zu können, kamihm nicht. So hatten es die Industriestaaten Europas vorge-macht. Mao aber wollte nichts lernen, vom Westen schon garnicht.

Dass seine Kritiker im Politbüro von »linkem Abenteurer-tum« sprachen, bestärkte ihn nur in der Absicht, alles auf eineKarte zu setzen. Die Bauern sollten zum »Großen Sprung nachvorn« ansetzen. Die Parteikader teilten schließlich die rund500 Millionen Menschen der ländlichen Regionen in 24000Volkskommunen ein. Das waren die neuen Grundeinheiten,die mit Hilfe eigener Kraftwerke und kleiner Stahlkochereiennun selbständig Straßen und Brücken bauen sollten. Im Mai

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1958 segnete ein Parteikongress die Strategie des großenSprungs ab. Der Generalsekretär des Zentralkomitees hießDeng Xiaoping. An der Seite Maos absolvierte er seine Lehr-zeit. So lernte er vor allem, was alles nicht funktionierte.

Begleitet von Marschmusik bauten die Bauern überall imLand Straßen und Staudämme, sie ließen sich in Abendkursenzu Stahlkochern umschulen und feuerten auf Dorfversamm-lungen mit hitzigen Parolen einander an. Derweil die Frauendie Felder beackerten, beschickten die Männer eine Millionkleiner Hochöfen. In einer »Schlacht für Stahl«, wie die Partei-fuhrung es nannte, wollte man zu den Kernländern der Indus-trialisierung aufschließen. »Es ist möglich, Großbritannien in15 Jahren zu überholen«, war eine der gängigen Losungenjener Tage. In Wahrheit fiel China hinter sich selbst zurück.

Der große Sprung war auch deshalb ein großer Sprung nachhinten, weil jeder Chinese auf dem falschen Posten zum Ein-satz kam. Die Bauern produzierten einen Stahl, der nahezu un-brauchbar war. Zugleich schrumpften die Ernteerträge, weildie Frauen beim Ackerbau nicht die Erfahrung und vor allemnicht die Kraft der Männer besaßen.

Für 1958 hatte die Pekinger Planzentrale mit 375 MillionenTonnen Getreide gerechnet, aus denen schließlich 200 Millio-nen Tonnen wurden. 1959 sank der Ernteertrag weiter auf 170Millionen Tonnen, 1960 auf 143 Millionen Tonnen, wo er auchim Folgejahr verharrte. Da die Parteikader stur auf den im Planfestgelegten Abgabemengen beharrten, gerieten die Menschennun in eine tödliche Zangenbewegung: Der Staat verlangtehöhere Getreideabgaben, streng nach Plan. Weil aber die Er-tragskraft der Ackerböden sank, blieb nach Abzug der Abliefe-rungen nicht genügend, um das Landvolk zu ernähren. DerHunger kehrte in die Dörfer zurück. Rinder, Kühe undSchweine verendeten oder wurden notgeschlachtet, was dieNahrungssituation weiter verschärfte. Unnachgiebig forderteder chinesische Staat, der den Sowjets leichtfertigerweise Zu-

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sagen über Getreidelieferungen gemacht hatte, seine Plan-zahlen ein. Mao wollte sich vor dem sowjetischen Staats- undParteichef Nikita Chruschtschow keine Blöße geben.

Die Menschen in den Dörfern lieferten, was sie eigentlichzum Leben brauchten. Sie hungerten, sie magerten ab undschließlich starben sie. Wo immer sie gerade standen, brachendie ausgemergelten Gestalten zusammen, auf dem Weg zumWochenmarkt, des Nachts am Hochofen, auf den Feldern. EinMassensterben setzte ein, das in den Zeitungen Chinas keiner-lei Erwähnung fand und auch dem Westen zunächst verborgenblieb. Bis zu 40 Millionen Chinesen, so die aktuelle westlicheSchätzung, bezahlten den großen Sprung des Großen Vorsit-zenden mit ihrem Leben. Es war die größte von Menschenhandverursachte Hungersnot in der Geschichte. Fotografien vontoten Bauern, die am Straßenrand oder auf ihren Feldern lagen,erreichten erst mit Jahren Verspätung die westliche Öffentlich-keit.

»Im Moment gibt es noch viele Probleme, aber eine strah-lende Zukunft liegt vor uns«, versuchte Mao auf einer Tagungdes Politbüros die Lage zu beschönigen. Doch die Partei wolltekeine Durchhalteparolen mehr hören. Mao musste sich alsGescheiterter aus der Politik zurückziehen, der Wirtschaftsex-perte Deng Xiaoping übernahm die Staatsgeschäfte.

Die Erfolge des Deng Xiaoping verschafften dem von Maoheruntergewirtschafteten Land die dringend benötigte Atem-pause. Der kleine Mann, der in den 20er Jahren als Werkstu-dent in Paris bei Renault gearbeitet hatte, führte Pragmatismusals neue, lebensbejahende Tugend in das bis dahin ideologischverhärtete Parteileben ein. Sein erklärtes Ziel war schondamals das Wiedererstarken der Nation. Er redete über Wirt-schaftswachstum und Stabilität, nicht über Gleichheit undpropagandistische Kampagnen. Er machte deutlich, dass Pri-vatinitiative nicht eine beliebige Zutat, sondern unerlässlicheGrundvoraussetzung für das Gelingen des nationalen Auf-

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stiegs sei. »Es kommt nicht darauf an, ob eine Katze schwarzoder weiß ist; solange sie Mäuse fängt, ist sie eine gute Katze«,rief er den Delegierten einer Parteiversammlung bereits imJahr 1962 zu. Später war er so stolz auf das gefundene Sprach-bild, dass er ein Gemälde zweier Katzen anfertigen ließ. Dieeine war schwarz, die andere weiß, das Bild hängte er in sei-nem Privathaus auf.

Mao aber grollte. Die neue Offenheit erschien ihm als Belie-bigkeit; die modernen Methoden, den Einzelnen durch Leis-tungsanreize zu höherer Produktivität zu verführen, betrach-tete er als Verrat an seinen Lehren. So saß er in seinem selbstgewählten Exil in Shanghai und beobachte das Pekinger Trei-ben mit wachsendem Missvergnügen. Die Zurückhaltung hieltnicht lange. So überraschend sich der Revolutionsheld zurück-gezogen hatte, so unvermittelt tauchte er wieder in der Öffent-lichkeit auf. Als sei nichts gewesen, besuchte er die nächst-beste Parteitagung im Januar des Jahres 1962 und sagte derParteiführung um Deng den Kampf an. Dem Land stand eineerneute Prüfung seiner Leidensfähigkeit bevor.

Maos Triumph endete für seine Gegner erneut im gesell-schaftlichen und politischen Exil. Der spätere Ministerpräsi-dent Zhu Rongji wurde als Schweinehirt aufs Land geschickt,Deng Xiaoping überlebte als Arbeiter einer Traktorenfabrik.Aus dem Einparteienstaat war Ende der 60er Jahre ein Militär-staat geworden.

Das rote China. Eine Schadensbiianz

Mao war ein begnadeter Kriegsherr und Propagandist, aber einmiserabler Wirtschaftsführer. Von Ökonomie verstand er nichtviel, weshalb er es auch in den nun folgenden Jahren nichtschaffte, den Wohlstand in China heimisch werden zu lassen.Von allen sozialistischen Staaten war seiner der lausigste.

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Die Sowjetunion erlebte immerhin in den 50er und 60er Jah-ren einen Aufstieg, der selbst den Westen beeindruckte. StalinsIndustrialisierungsprogramm, das seine Nachfolger fortsetz-ten, katapultierte den Agrarstaat innerhalb weniger Jahre indas Industriezeitalter. Die Wachstumsraten lagen über denendes Westens, die Schwerindustrie machte enorme Fortschritteund auch auf dem Land konnte die Produktivität spürbar ge-steigert werden. »Überholen ohne einzuholen«, lautete dasselbstbewusste Walter-Ulbricht-Motto aus den 60er Jahren,das erst im Rückblick nach Größenwahn klingt. Damals schiensich das Glück mit den Sowjets und ihren deutschen Wasser-trägern verbündet zu haben, weshalb auch in Westeuropa zuBeginn der 70er Jahre die Kommunisten respektable Wahler-gebnisse erzielten.

Selbst diese ökonomische Scheinblüte ging an den Chinesenvorbei. Staatsgott Mao blieb wider alle Vernunft und entgegenden bisher gemachten Erfahrungen dabei, die Gleichheit zumZentrum seiner Ideologie zu erheben. Er kollektivierte erst dieLandwirtschaft und dann das Denken seiner Mitbürger. SeinZiel war es allen Ernstes, die Persönlichkeit des Einzelnen aus-zulöschen, um ihn als williges Werkzeug in die Hände derPartei zu übergeben. Der Chinese sollte ein »namenloserHeld« sein, eine »nie rostende Schraube in der revolutionärenMaschine der Partei«, wie es der legendäre Vorzeigesoldat LeiFeng einst formulierte.

Den Menschen ist das nicht gut bekommen. Knapp ein Drit-tel der Chinesen vegetierte am Ende der Mao-Ära deutlichunterhalb des Existenzminimums. Sie erkrankten oft, starbenfrüh und der Hunger war ihr ständiger Begleiter. Auf demLand war es besonders arg, aber auch den Städtern brachteMao keinen Fortschritt. Der Wohnraum in den Zentrenschrumpfte für eine vierköpfige Familie von 17,2 Quadratme-tern Anfang der 50er Jahre auf 14,4 Quadratmeter Mitte der70er Jahre. Hinter den offiziellen Wachsrumszahlen der Mao-

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Zeit verbarg sich in Wahrheit eine äußerst dürftige Wirt-schaftsentwicklung. Die vermeintlichen Zuwächse beruhtenausschließlich auf einem verstärkten Einsatz von Mensch undMaterial. Der Ertrag pro Arbeitsstunde und Kapitaleinheitsank kontinuierlich. Der Industrieausstoß basierte im Wesent-lichen auf der Ausbeutung von Menschen und Rohstoffen,weshalb Mao beides zu befördern suchte. Er erklärte eine wei-ter steigende Geburtenrate zur Staatsräson und forderte ineiner »Krieg gegen die Natur«-Kampagne seine Landsleuteauf, die natürlichen Rohstoffe möglichst schonungslos auszu-beuten.

Das Ergebnis war bedrückend: Die Bevölkerungszahl stiegin den Jahren Maos um 70 Prozent und die Umweltzerstörungschritt voran, sie fraß sich durch Böden, Grundwasser undWälder und hinterließ überall ihre hässlichen Narben. Nur derWohlstand konnte so nicht wachsen. Selbst die Qualifikationder Industriearbeiter sank spürbar, weil die Ideologie derGleichheit sich gegen das Spezialistentum richtete. Als Maoabtrat, waren nur 2,6 Prozent der Industriearbeiter als Inge-nieure und Techniker ausgebildet, zehn Jahre zuvor waren esnoch doppelt so viele gewesen. Nicht einmal Chinas Landwirt-schaft, von der Mao noch am meisten verstand, konnte Erfolgevorweisen. Es gelang ihr nicht, in jenen 25 Jahren den Pro-Kopf-Ausstoß an Getreide zu erhöhen. Selten hat ein so mäch-tiger Mann die Gesetze der Ökonomie derart hartnäckig miss-achtet.

Deng Xiaoping, Kleiner Mann ganz groß

Mit Deng stand ab 1978 ein außergewöhnlicher Politiker an derSpitze des Landes, und zwar schon aufgrund seiner Herkunft.Der ehemalige Jesuitenschüler war der Sohn eines Großgrund-besitzers und hatte als 16-Jähriger China für sechseinhalb

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Jahre in Richtung Europa verlassen. Als Student in Frankreichlernte er den westlichen Lebensstil und seine Ideenwelt ken-nen, woraus er damals seine eigenen Schlussfolgerungen zog:Er wurde Kommunist. Nach weiterer Lehrzeit in Moskau, woer sich dem Studium des Marxismus-Leninismus verschrieb,kehrte er mit 22 Jahren als Untergrundkämpfer nach China zu-rück. Er stieß zu den Rebellen in den Bergen, diente der RotenArmee als politischer Kommissar und Kommandeur diverserSchlachten.

1945 zog er ins Zentralkomitee der chinesischen KP ein,gehörte ab 1955 auch dem Politbüro und damit dem engstenFührungszirkel der Partei an. Ende der 60er Jahre, als Maoseine Kulturrevolution gegen die Pekinger Führung anführte,wurde Deng aller Ämter enthoben. Doch sechs Jahre spätertauchte der Verfemte wieder auf, zunächst als stellvertretenderMinisterpräsident, wenig später wurde er erneut ins Politbüroberufen. 1975 stand er ein weiteres Mal dem Großen Vorsit-zenden als Stellvertreter zur Seite.

Nur ein Jahr währte diesmal die friedliche Zusammenarbeitder ehemaligen Kampfgefährten. Dann ließ der bereits vomTod gezeichnete Mao seinen Vize erneut fallen. Deng mussteeinmal mehr aus Peking fliehen und es war sein großes Glück,dass Mao kurz darauf, am 9. September 1976, endlich verstarbund auch die von seiner Witwe angeführte Viererbande sichnicht lange halten konnte. Die Parteiführung trug nur kurzeZeit Trauer, in Wahrheit aber atmete sie durch. Vor allem holtesie Deng zurück ins Zentrum der Macht. Der mittlerweile74-Jährige wurde Staats- und Parteichef, später gelang esihm, auch noch die Führung der chinesischen Streitkräfte zuübernehmen. Er selbst bezeichnete sich als »Stehaufmänn-chen«.

In einem Alter, in dem viele Menschen kaum mehr den ein-fachsten Erfordernissen des Lebens gewachsen sind, leisteteDeng einen beispiellosen Kraftakt. Er öffnete China, das so

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Deng Xiaoping. Kleiner Mann ganz groß 125

lange von der Welt abgeschlossen gelebt hatte. »Völker derWelt, vereinigt euch, besiegt die USA-Aggressoren und alleihre Lakaien«, stand jahrzehntelang auf dem Spruchband, dasausländische Gäste am Pekinger Flughafen empfing. Einen»Volkskrieg der Weltdörfer gegen die Weltstädte« hatte nochkurz vor Dengs Machtantritt der chinesische Verteidigungsmi-nister den Amerikanern angedroht. Nun wurden die Aggresso-ren hereingewunken und die Flughafen-Transparente einge-rollt. Nicht als Freunde, wohl aber als Geschäftspartner warendie Westler fortan herzlich willkommen. Die halbwegs norma-len Beziehungen zu den USA bildeten die Grundlage für denAufbau einer chinesischen Exportindustrie. China kehrte inden Kreis der Weltgemeinschaft zurück, stieg bis in den Welt-sicherheitsrat auf. Zu Zeiten von Maos Kulturrevolution hattedas Land 44 von 45 Botschaftern im Ausland abberufen.

Im Inland setzte Deng wieder auf den Einzelnen und seinenEhrgeiz. Er überzeugte erst die Führungsschicht und danachdas Volk von der Richtigkeit dieser Strategie, die natürlicheine Abkehr von Mao bedeutete. Deng stoppte den Abstiegdes Landes und begann, zunächst unbemerkt von der Weltöf-fentlichkeit, eine Aufholjagd, die China Jahrzehnte später indie Spitzengruppe der mächtigsten Nationen führen sollte.Aus einem Agrarstaat mit angeschlossener Schwerindustriewurde binnen kürzester Frist eine Exportmaschine, die Texti-lien, Computer und Autos für den Weltmarkt produziert. DenGreis Deng Xiaoping dürfen wir ohne Übertreibung als denGründer der Weltmacht China bezeichnen. Fast 20 Jahre hieltsich der Winzling, dessen Vorname Xiaoping, ein Tarnnameaus Revolutionstagen, übersetzt »kleine Flasche« bedeutet, ander Spitze des Riesenreichs. Der Tod beendete seine Amtszeitam Abend des 19. Februar 1997.

Kaum ein Zeitgenosse hat den Reformer Deng, der in Wahr-heit ein Revolutionär war, bei Amtsantritt als solchen erkannt.Die Welt konzentrierte sich damals ein letztes Mal auf die

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Konfrontation des Westens mit dem Osten. Die Sowjetunionmarschierte Ende des Jahres in Afghanistan ein und gab alsSupermacht ihre Schlussvorstellung, als eine neue Weltmachtsich auf den Weg machte. Es ging dem Reformer Deng nichtanders als später dem sowjetischen Regierungschef MichailGorbatschow. Dessen Glasnost-Reden wurden vom Westenzunächst als üble Propaganda abgetan. Deutschlands KanzlerHelmut Kohl verglich den späteren Befreier Osteuropas undWegbereiter der Deutschen Einheit mit Nazi-Propaganda-minister Joseph Goebbels. Auch US-Präsident Ronald Reaganempfand tiefes Misstrauen.

Deng Xiaoping wurde nicht ganz so derb, dafür eher mit-leidig von der Weltöffentlichkeit empfangen. Niemand ahnte,wie viel aufgestaute politische Kraft in diesem schon leichtgebeugten Mann steckte. Er sei »ein Übergangskandidat«,schrieben die Zeitungen in Deutschland, ein »Mann ohne jedeVision«, urteilte das Wall Street Journal und selbst der ehe-malige US-Außenminister Henry Kissinger, dessen Urteilsver-mögen für gewöhnlich gute Dienste leistet, sah in ihm »einefragische Figur, die sich nicht aus dem Schatten Maos wirdlösen können«.

China, Der Neustart

Der neue Führer Chinas ging zügig zur Sache. Senior Denghatte keine Zeit zu verlieren. Schon auf der ersten Versamm-lung des Zentralkomitees seiner Kommunistischen Partei imDezember 1978 erklärte er die umfassende Modernisierungdes Landes zum alles überragenden Ziel. Die Neuausrichtungsollte die Landwirtschaft genauso betreffen wie die Industrie,die Armee ebenso wie die Bereiche Wissenschaft und Techno-logie. Wobei Deng die Bevölkerung und den Machtapparat derPartei nicht im Unklaren darüber ließ, was er unter »Moderni-

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sierung« verstand. Er hielt nichts von den Idealen der Maozeit,der Gleichmacherei, der Askese, dem permanenten Klassen-kampf; er setzte auf die Triebkräfte des Egoismus, auf dieSehnsucht nach Unterscheidbarkeit, die mindestens so starkim Menschen angelegt ist wie der Wunsch nach Gleichheit.

»Der Zweck des Sozialismus ist es, das Land reich und starkzu machen«, sagte Deng. Wobei der Reichtum des Landes fürihn nur denkbar war, wenn auch der Einzelne reich werdendürfe. Eine Nation der Habenichtse war es nicht, die ihm vor-schwebte. »Reich werden ist glorreich«, sagte er mit jenerKlarheit und Deutlichkeit, die notwendig ist, um in einem Mil-liardenvolk Resonanz zu erreichen. Deng wollte das Denkenverändern, die von Mao eingeschläferten Egoismen zu neuemLeben erwecken, sich die Sehnsucht der Menschen nach Wohl-stand und Reichtum zunutze machen.

Dass Reichtum auch Ungleichheit bedeuten würde, hat ernie verschwiegen. Maos Ideal, eine Nation der Gleichen, wasimmer bedeutet hatte der gleich Armen, war damit Geschichte.Auch der Ausgleich zwischen Küstenregion und Inland, denMao mit aberwitzigen Subventionen zugunsten der inlän-dischen Regionen betrieben hatte, genoss nun keinerlei Priori-tät mehr. »Lasst einige schneller reich werden«, so Deng, »da-mit sie dann den anderen helfen.«

Auch gegenüber den Militärs fand er klare Worte. Ihre Be-dürfnisse könnten unmöglich am Anfang der Umgestaltungstehen, sagte er ihnen. Das Geld für eine Modernisierung derStreitkräfte oder gar ihre Aufrüstung müsste erst verdient wer-den, weshalb eine schlagkräftige Rote Armee ein wichtiges,aber derzeit nicht das wichtigste Ziel seiner Politik sei.

Deng scheute sich nicht, auch seine Unerfahrenheit mit der-artigen Umbauprozessen zu thematisieren. Er wusste, dass ernichts wusste. Neu war, dass ein politischer Führer das auchöffentlich zugab. Nach den Jahrzehnten, in denen an der Spitzeein angeblich Unfehlbarer gestanden hatte, war schon das eine

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Sensation. Deng besaß keine Theorie des Umbaus und setztean ihre Stelle auch keine neue Utopie; nicht einmal auf derenkleine Schwester, die Vision, griff er zurück. Er war ein Tas-tender, der sich in kleinen, aber kraftvollen Schritten seinenWeg bahnte. Ausgerechnet einem Volk, das mit der Mutter-milch der Ideologie gesäugt worden war, predigte er nun dieVorzüge des Pragmatismus. »Niemand ist diese Straße gegan-gen. Deshalb müssen wir vorsichtig gehen«, mahnte er. SeineGrundsätze hat er nirgends niedergelegt, weil ihm schon das zudogmatisch schien. Er lehnte den Personenkult seines Vorgän-gers ebenso ab wie die Neigung aller bisherigen KP-Führer,sich als große Theoretiker feiern zu lassen. Die Idee einigerParteifreunde, ihn nach dem Tode in einem Mausoleum öffent-lich aufzubahren, lehnte er ab. Er wies sie an, seine Asche mitdem Flugzeug über dem Meer zu verstreuen.

Persönliche Unterlagen, die nach seinem Tod gefunden wur-de, belegen die ihm eigene Mischung aus Schlichtheit undSchlitzohrigkeit. Als er 1979 einen führenden Parteikader erst-mals mit der Gründung einer Investmentfirma beauftragte, diewestliches Kapital ins Land locken sollte, schrieb er ihm dieGrundsätze seiner Umgestaltungspolitik in einfachen Sätzenauf: »Du wirst einem Unternehmen vorstehen, das ein offenesFenster zur Außenwelt sein wird. Baue kein bürokratischesirrational ist. Du wirst nicht bestraft, wenn du Fehler machst.Unternehmen auf. Akzeptiere, was rational ist, lehne ab, wasDu sollst das Geschäft mit den Methoden der Wirtschaft mana-gen und Verträge unter kommerziellen Gesichtspunkten ab-schließen. Unterschreibe nur, wenn es Profite und Devisenbringt. Sonst unterschreibe nicht.«Deng orientierte sich einseitig an den Ergebnissen. Fielendie unbefriedigend aus, steuerte er nach. So wurde seine Poli-tik, die er zunächst noch als »Kombination von Planwirtschaftund Marktwirtschaft« bezeichnete, über die Jahre immer radi-kaler. Er war ein Patriot, der sein Land wieder an die Welt-

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spitze bringen wollte. Und er war ein Menschenkenner. Wahr-scheinlich ohne den britischen Nationalökonomen AdamSmith je gelesen zu haben, setzte er auf die Entfesselung desmenschlichen Egoismus. Der Einzelne würde mit seiner ange-borenen Sehnsucht nach Wohlstand, der ihm eigenen Giernach Profit und Anerkennung, ohne es zu wollen sehr plan-mäßig den Aufstieg der ganzen Nation befördern. Das glaubteSmith und genau das glaubte auch Deng. Nach und nach ver-zichtete er auf das Instrument der staatlichen Planung, überließdie Regionen, die Firmen, die Menschen immer mehr sichselbst. »Verantwortlichkeit« war eines seiner Schlüsselworte.Er wollte, dass jeder an seiner Stelle Verantwortung übernahm,der Bauer für sein Land, der Manager für seine Fabrik, derBürgermeister für seine Stadt, der einfache Mensch für sichselbst.

Wie klug seine Politik der kleinen Schritte war, fällt demauf, der auf die Reformer andernorts blickt. Die Schockthera-peuten in Moskau, die unter Anleitung von Harvard-Professo-ren wie Jeffrey Sachs die Planwirtschaft auf einen Schlag inden Kapitalismus entließen, haben die Reste der WeltmachtRussland auf dem Gewissen. Dabei war die Ausgangslage derRussen nicht schlechter als die der Chinesen. Genau besehenwar sie sogar besser: China ist im Vergleich ein rohstoffarmesLand, besitzt nur Bauxit, Eisen- und Kupfererz in größererMenge. Russland dagegen sitzt auf einem Fass mit unermess-lichen Rohölreserven und verfügt über bedeutende Erdgasvor-kommen. Die Industrie der Sowjetunion hatte ihre besten Tagezwar hinter sich, aber ihr Wert übertraf den der chinesischenallemal. Uneffektiv waren beide Länder, aber die Sowjetunionwar ein kränkelnder Industriestaat, China ein unfähiges Agrar-land. Der abrupte Systemwechsel der Moskauer Führung hatdie zweifellos vorhandenen Reichtümer des Landes in dieHände von wenigen gegeben. Ein Raubtierkapitalismus ent-stand, wie ihn selbst die USA nur aus der Zeit des Goldrau-

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sches kannten. Die russische Führung hatte ohne größeresNachdenken den Glauben gewechselt, war von kommunistischzu kapitalistisch konvertiert. Zehn Jahre nach der Implosiondes Sowjetreichs lag der Lebensstandard in Russland nochimmer unter dem der Gorbatschow-Ära.

Deutschland hat sich ähnlich blamiert. Die Regierung imBonn des Jahres 1990 zeigte aller Welt, wie man es nichtmachen darf. Die deutsche Einheit war geglückt, als das Kabi-nett mit Verve daranging, den Staatsbesitz der DDR zu priva-tisieren. Die Regierung hatte keine Vorbilder, aber warumhatte sie dann nicht wenigstens Zweifel? Kanzler und Finanz-minister waren überzeugt, dass die schnelle Zerschlagung derStaatsfirmen sich segensreich auswirken würde. Also ließ derStaat los - aber es war niemand da, der die Firmen auffing. DieUnternehmen strauchelten, gingen in die Knie, in ihrer über-wältigenden Mehrheit waren sie bald darauf verschwunden.Dem schnellen Privatisieren folgte das große Liquidieren.Nur ein Viertel aller Industriearbeitsplätze in der DDR über-lebte. Es kam zur Deindustrialisierung ganzer Regionen, einExitus von Arbeitsplätzen setzte ein, wie er in dieser Ge-schwindigkeit nirgendwo sonst in der Wirtschaftsgeschichtezu besichtigen war.

Übrig blieb eine verlorene Generation, die nun weite TeileOstdeutschlands bevölkert. Viele der Betroffenen werdenunter den gegebenen Rahmenbedingungen nie wieder arbeitenkönnen. Sie leben von den Hilfszahlungen des Westens, wasihnen und dem Staatshaushalt schwer zu schaffen macht. Derehemalige Hamburger Bürgermeister und spätere Treuhand-Manager Klaus von Dohnanyi spricht vom »ständigen Blutver-lust unserer Volkswirtschaft«. Ausgerechnet jenes Land, dasnach verlorenem Weltkrieg das Wirtschaftswunder schaffteund damit Freund wie Feind beeindruckte, hatte sich verhoben.»Lasst uns das tun, von dem wir überzeugt sind, dass es nichtgeht«, rief der damalige sächsische Kulturstaatssekretär Wolf-

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gang Nowak den Deutschen noch zu. Doch die erschöpfte Re-publik wollte nichts mehr ausprobieren und das Unmöglicheschon gar nicht. Ihr Glaubensbekenntnis hieß »weiter so«.

Umso heller strahlt die ökonomische Aufbauleistung einesDeng Xiaoping. Er fand das richtige Maß für Tiefe und Tempoder Reform, wie sich bald 30 Jahre nach ihrem Beginn unzwei-felhaft sagen lässt. Er hat die Chinesen gefordert, aber nichtüberfordert. Er hat die Parteikader heruntergestuft, aber nichtdavongejagt. Er hat die Militärs vertröstet, aber nicht verges-sen. Er hat das Land geöffnet, aber nicht für alle. Die Warensind frei, die Währung nicht. Die Schattenseiten dürfen frei-lich nicht übersehen werden: Die Privatwirtschaft erhielt freiesGeleit, die Demokratie aber blieb ausgesperrt. Deng drangsa-lierte sein Volk nicht, aber er ließ gnadenlos zuschlagen, wenndie Rolle der Partei in Frage gestellt schien. Das Massaker aufdem Platz des Himmlischen Friedens, als 1989 Panzer auf pro-testierende Studenten losrollten, hat er zu verantworten. Dasist der Blutspritzer auf seinem Anzug. Er wird mit den Jahrenverblassen, aber verschwinden wird er nicht.

Der Westen traute dem Mao-Nachfolger auch deshalb nichtszu, weil man es für undenkbar hielt, dass eine Marktwirtschaftohne Demokratie funktionieren könne. Demokratie undMarktwirtschaft seien wie siamesische Zwillinge, untrennbarmiteinander verbunden, glaubte man hierzulande. Womöglichaber passen der Kapitalismus und ein autoritärer Staat sogarbesser zusammen, als dem Westen lieb sein kann. Auch in derWelt der Wirtschaft gibt es schließlich keine Mehrheitsent-scheidung; geführt wird von oben nach unten. Nicht von denAngestellten und Arbeitern, sondern vom Vorstand geht alleMacht aus. Eine innerbetriebliche Opposition gibt es nur solange, bis sie offen in Erscheinung tritt. Danach wird sie unterZuhilfenahme des Arbeitsrechts in die Schranken verwiesen.Auch der Nachfolger an der Spitze eines Unternehmens wirdzuweilen eher nach den Regeln der feudalen Erbfolge be-

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stimmt. Die Bezahlsysteme innerhalb der Unternehmen stre-ben sogar das Gegenteil dessen an, was der moderne Sozial-staat will. Der Wohlfahrtsstaat versucht Ausgleich zu organi-sieren, der Konzern dagegen fuhrt bewusst die Ungleichheitseiner Beschäftigten herbei. Mit Bonussystemen, Umsatzbe-teiligungen, Gewinnprämien und Handelsprovisionen sucht erLeistung zu stimulieren, nicht Ungleichheit abzubauen.

Deng machte sich die Regeln der modernen Unternehmens-führung zunutze und ging daran, die Mao-Vergangenheit abzu-wickeln. Er entließ nach und nach die kollektivierten Bauernin die Freiheit. Erst durften sie nur kleine Teile ihrer Ernte auffreien Märkten verkaufen, schließlich die gesamten Jahreser-träge ihrer Felder und Viehbestände. Zum Schluss gab derStaat ihnen sogar das Land zurück. 1983, also fünf Jahre nachdem Beginn der Reformpolitik, waren bereits 98 Prozent desAgrarlands wieder in der Hand der Bauern. Ab 1988 durftensie über ihre Scholle frei verfügen. Das Land konnte verpach-tet, verkauft oder vererbt werden.

Die Eigenverantwortlichkeit wirkte Wunder. Die Landwirt-schaft wuchs zu Beginn der 80er Jahre mit über neun Prozentim Jahr, die ländlichen Einkommen entwickelten sich erstmalsim Leben der Volksrepublik rascher als die der Städter. Auchdie kommunalen Unternehmen erlebten einen Aufschwung,mit dem so niemand gerechnet hatte. Die Klugheit und dieKorrumpierbarkeit der lokalen Parteikader machten es mög-lich. Schon Mao hatte ihnen die Leitung von rund 700 000 klei-neren Industrie- und Dienstleistungsunternehmen übertragen.Sie sollten die Landwirtschaft mit dem Nötigsten versorgen,mit Düngemitteln, Traktoren, Landmaschinen aller Art, Bau-stoffen und Strom. Doch erst die Reformpolitik machte dieseFirmen zu einer profitablen Industrie. Deng strich die Subven-tionen der Zentrale, verzichtete aber im Gegenzug darauf, dieEinnahmen der Kommunalfirmen zu konfiszieren. Die Kaderwirtschafteten nun für ihre Kommune - und für sich selbst.

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Denn unter dem Dach der Kommunalunternehmen entstandendie ersten echten privaten Unternehmen, die nur noch nachaußen staatlich aussahen. Die Eigentümer zahlten eine Schutz-gebühr an die Kader, die dafür alles taten, um den neuen Fir-men Zugang zu den Märkten zu verschaffen. Unter ihremSchutz regte sich der Eigennutz. Ein Kapitalismus mit roterTarnkappe war entstanden.

Es bildeten sich kommunale Konzerne heraus, die nun auchin den Kernbereich der riesigen Staatskombinate vordrangen,die Konsumgüterproduktion. Die Zahl der Beschäftigten inder ländlichen Kleinindustrie stieg von knapp 30 Millionen zuBeginn der Reformen auf fast 170 Millionen bis zum Jahr2000. Aus dem Stand hatte sich in China ein Mittelstand ent-wickelt, in dem Private und Parteikader nebeneinander exis-tierten. Alle Beteiligten waren in erster Linie am Profit inte-ressiert. Die Privaten nutzten den Schutz der Staatlichkeit,den die Parteikader garantierten. Die ersetzen bis heute dasfehlende Regelwerk, das eine funktionierende Marktwirtschafteigentlich braucht. Wer sich empören möchte, kann mit allemRecht sagen: Die Kader sind korrupt. Man kann aber auchsagen: Diese Kader sind Kartellbehörde, Wirtschaftsförderamtund Gerichtsstand in einem. Sie hauchten den Privaten dasLeben ein, setzten so schließlich auch die Staatskolosse unterDruck, bis die Pekinger Plankommissare sich nach und nachzurückzogen. Ohne ihr Mittun hätte der chinesische Kapitalis-mus nicht entstehen können.

Die ländlichen Parteikader waren einst Maos Bannerträger,nun wurden sie zum Wegbereiter der Reformpolitik. Die Parteifeuerte sie auf unzähligen Kongressen und Vollversammlun-gen an, nur ja alles zu tun, um das Wirtschaftswachstum zuentfachen: »Die Produktivkräfte zu entwickeln ist zu unsererzentralen Aufgabe geworden«, sagte der von Deng eingesetzteGeneralsekretär Zhao Ziyang auf dem XIII. Parteikongress1987. Er ermunterte sie, dabei auch unkonventionelle Wege

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zu gehen. »Was immer ihrem Wachstum förderlich ist, stimmtüberein mit den fundamentalen Interessen der Menschen undist daher für den Sozialismus notwendig und darf sein.«

Gut ein Drittel des heutigen Sozialprodukts in China wirdvon diesen ländlichen Unternehmen erwirtschaftet. Seit sichdie Tarnkappenfirmen für westliches Kapital öffneten, laufenauch die Exportgeschäfte wie geschmiert. Hier werden Elek-tronikspielzeug, Handyzubehör und Teile für den Maschinen-bau produziert. Ungefähr 30 Prozent der chinesischen Exportestammt aus diesen Firmen.

Die Entscheidung mit der größten Durchschlagskraft aberwar das Ende der von Mao gewollten Isolation des Landes.Erst der Eintritt in die Weltwirtschaft ermöglichte das chine-sische Wirtschaftswunder. Denn nur auf den Weltmärkten zir-kulierte jene gewaltige Energie, die bisher an dem Riesenlandvorbeiströmte. Das Finanzkapital der Börsen und das Investi-tionskapital der Unternehmen machten bisher einen Bogenum China. Mao mochte die Kapitalisten nicht. Er hatte seinLand vor ihnen verbarrikadiert. Die Kapitalisten mochtenChina nicht, weil ihre Absicht, aus Kapital mehr Kapital zumachen, hier streng verboten war.

Deng suchte nach Anschlussstellen, die sein Land mit demwestlichen Kapital verbinden könnten. Die Exportindustrie,die von Grund auf neu entstand, wurde das Kraftzentrum derneuen Volkswirtschaft, die mit der alten zuweilen nur noch denNamen auf der Landkarte gemein hat. Das wohl erfolgreichsteGemeinschaftsunternehmen der Weltgeschichte nahm seineArbeit auf. Jeder lieferte das, was er im Überfluss bereithielt:die Chinesen ihre Arbeitskraft, der Westen sein Kapital undseine Kaufkraft. Es begann mit weniger als 7 Millionen Dollar,die 1980 von ausländischen Investoren nach China transferiertwurden. 1990 waren daraus bereits 21 Milliarden Dollar gewor-den, heute beträgt die Summe aller in China von Ausländerngetätigten Investitionen ungefähr 250 Milliarden Dollar, was in

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etwa dem Staatshaushalt der Bundesrepublik Deutschland ent-spricht. Aus der Verbindung von chinesischer Arbeitskraft mitwestlichem Kapital entstand jene Exportmaschine, die im Welt-krieg um Wohlstand heute für Aufsehen sorgt.

Indien. Die Last der Wergangenheit

Was in China die späten Kaiser und dann die Kommunistenbesorgten, erledigten in Indien die Briten mit der gleichenGründlichkeit. Sie hielten das Land fast 200 Jahre in einemkünstlichen Koma, politisch, militärisch und wirtschaftlich.Die Männer des britischen Empire taten vieles, um eine In-dustrialisierung zu verhindern. Der britische Staat ließ derHabgier seiner Geschäftsleute freien Lauf, und die hattenkein Interesse an einem starken Indien. So fusionierten impe-rialer Ehrgeiz und die Interessen der Kaufleute zu einem Be-satzungsregime, das die Inder immer weiter von der Welt ent-fremdete. Der Hunger war schon vorher auf dem Subkontinentzu Hause, nun aber tobte er sich so richtig aus. Eine von denBesatzern zu verantwortende Hungerkatastrophe kostete nochkurz vor der Unabhängigkeit fast drei Millionen Indern dasLeben.

Ökonomisch hatten die Inder keine Chance, auf eigenenBeinen zu stehen. Wann immer sie es versuchten, zog manihnen den Boden unter den Füßen weg. Der Übergang von derAgrar- zur Industriegesellschaft wurde von den Besatzern der-art planvoll vereitelt, dass schon das im Rückblick als einegleichermaßen heimtückische wie beachtliche Leistung er-scheint. Die Briten pressten den indischen Bauern eine hoheGrundsteuer ab, sodass es im Agrarstaat damaliger Prägungzu keiner nennenswerten Kapitalbildung kommen konnte.Zum Geldverdienen braucht man Geld. Die VolkswirtschaftIndiens aber blieb damit chronisch unterversorgt. 50 bis 60

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Prozent eines Ernteertrags mussten bei der Obrigkeit abgelie-fert werden. Rund die Hälfte aller indischen Steuereinnahmenwurde nach England überwiesen.

Die Bauern kämpften also gegen zwei übermächtige Geg-ner: den Monsun, der in unregelmäßigen Abständen ihre Ernteniederdrückte, um sie dann in seinen Wassermassen zu er-tränken. Und gegen die Briten, die unerbittlich auf ihrer häufignach Durchschnittswerten errechneten Grundsteuer bestanden,auch in Jahren, in denen es keinerlei Ernteertrag gab. Die Bau-ern rutschten so in eine tiefe und durch Fleiß nicht zu mil-dernde Abhängigkeit von ihren Gläubigern. Freie Bauernwaren zu Agrarsklaven geworden; ein feudales Zwangssystementstand, das die Grundvoraussetzung für das Entstehen einesIndustriekapitalismus, die Kapitalbildung, unmöglich machte.

In Europa galten die Engländer als die Erfinder der Mo-derne, in Indien traten sie als deren großer Blockierer auf. Diegut 30 Millionen Briten der damaligen Zeit verhinderten, dassdie 250 Millionen Inder von der Welle der Industrialisierungauch nur benetzt wurden. Großbritannien schoss nicht zuletztdank der neuen Produktionstechniken zum politischen, wirt-schaftlichen und militärischen Riesen empor, Indien aber bliebein Zwerg, angewiesen auf dürre Böden und jahrhundertealteHandwerkstraditionen. Zwischen 1600 und 1870 ging die Wirt-schaftsleistung je Einwohner sogar zurück. Zwischen 1870 undder am 15. August 1947 erfolgten Entlassung in die Unabhän-gigkeit lässt sich nur ein Miniwachstum von 0,2 Prozent proJahr und Kopf feststellen. Damit war der Subkontinent vomwirtschaftlichen Aufschwung der Europäer entkoppelt. In Eng-land, Deutschland, Frankreich und Italien explodierte in Zeitender Industrialisierung beides, die Bevölkerung und die Wirt-schaftsleistung pro Kopf. In Indien ging mit jedem Jahr der bri-tischen Besatzung die Schere zwischen Mutterland und Kolo-nie weiter auseinander, bis man wie selbstverständlich dazuüberging, von der Ersten und der Dritten Welt zu sprechen.

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Die Armut in Indien, so viel lässt sich heute mit Gewissheitsagen, war nicht Gottes Werk und auch nicht das Produkt vonZufälligkeiten. Sie war von den Briten gewollt und wurde vonMenschenhand mit großer Beharrlichkeit in die Neuzeit ver-längert. Überall, wo sich die neuere Forschung mit dem Trei-ben der Kolonialisten befasst hat, kommt sie zu dramatischenErgebnissen. So waren die Ernteerträge je Hektar im südlichenDekhan am Ende der britischen Herrschaft auf nur zwei Dritteldes Durchschnitts von 1870 geschrumpft. Die Lebenserwar-tung der einfachen Bevölkerung fiel zwischen 1871 und 1921um 20 Prozent. Das dieser Niedergang nicht dem natürlichenLauf der Geschichte entspricht, lässt sich am Beispiel Japansbelegen. Der asiatische Inselstaat, dessen Territorium von denKolonialmächten unberührt blieb, begann zur selben Zeit be-reits seinen Aufstieg. Das Land industrialisierte sich, dieLebenserwartung stieg, der Wohlstand erreichte früh schon be-achtliche Ausmaße.

Das wichtigste Unterdrückungsinstrument der Briten warnicht das Militär, sondern die Finanzverwaltung. Ein perfektorganisiertes System, das mit zehntausenden einheimischerEintreiber arbeitete, sorgte für eine hohe Zahlungsmoral. Wernicht mit Geldscheinen die gegen ihn bestehenden Forderun-gen begleichen konnte, musste Teile seiner Ernte abliefern.Wer auch dazu nicht fähig war, verlor sein Land. So wurdenEigentümer zu Pächtern und Pächter zu Kreditnehmern, dieoftmals ihre eigene Ernte nur gegen Zahlung eines fast 40-pro-zentigen Zinses zurückbekamen. Was den Indern noch blieb,war zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel.

Nur zwei Prozent des Kolonialhaushalts waren für die För-derung von Landwirtschaft und Bildung reserviert; vier Pro-zent für öffentliche Bauprojekte. Die Besatzer dachten nichtMi Traum daran, die indischen Textilmanufakturen mit neuenMaschinen zu bestücken. Die im Heimatland entwickelteTechnik fand in Indien praktisch keinen Einsatz. Die Einfuhr

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der ersten Dampfmaschinen verzögerte sich um mehrere Jahr-zehnte.

Die britische Regierung wollte erkennbar keinen Mitspie-ler oder gar Rivalen heranzüchten, sondern auf der anderenErdhälfte ein Rohstoff- und Arbeitslager unterhalten, dessenLebensstandard sich deutlich unterhalb der Zivilisationsgrenzebewegen sollte. Es galt die Baumwoll- und Indigoproduktionzu erhöhen, die Diamantminen auszubeuten und die Arbeits-kraft lautlos abzuschöpfen, möglichst ohne den Widerstandder Einheimischen hervorzukitzeln. Die Briten wollten, daswar der tiefere Sinn des kolonialen Abenteuers, mehr kassie-ren als investieren, die Latifundien im fernen Asien sollteneinen saftigen Gewinn abwerfen und nicht den heimischenSteuerzahlern auf der Tasche liegen. Und tatsächlich ging imFalle Indiens die Rechnung zunächst auf: London finanzierteaus den Überweisungen der Bauern und Händler nicht nur dieauf dem Subkontinent stationierten Beamten und Soldaten, esblieb auch ein ansehnlicher Batzen für den britischen Staats-haushalt übrig. Zu Recht betrachtete die Königin ihre indi-schen Ländereien als »Kronjuwel« des Imperiums.

Die indischen Tuchmanufakturen, die den Briten zu Beginndes 19. Jahrhunderts überlegen waren, konnten ihre Stellungim Weltmarkt so nicht halten. Die Besatzer übernahmen viel-fach das Geschäft, derweil die Inder wieder auf das Niveau vonLieferanten und Zuarbeitern sanken. Der englischen Textil-produktion rund um Lancashire ist das gut bekommen. DieRohstoffe waren nun günstiger denn je, ein Absatzmarkt vonbeeindruckender Größe war entstanden, der neue Industrie-kapitalismus überschwemmte die Kolonien ab den 20er Jahrendes 19. Jahrhunderts mit seiner billigen Massenware. In Indienbrach vielerorts das eben noch florierende Handwerk zusam-men. Auch Brokatstickerei, Lederverarbeitung und Teppich-knüpferei hatten plötzlich arg zu kämpfen. Die Bevölkerung erkannte nach und nach, welches Spiel da

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gespielt wurde. Die indische Duldsamkeit war groß, aber nichtgroß genug, um das Treiben der Briten widerstandslos ertragenzu können. »Swadeshi« stand auf den Spruchbändern, dieSchüler und Studenten im Frühjahr des Jahres 1905 durch dieStraßen der großen Städte trugen: »Kauft die aus dem eigenenLand stammenden Waren«, bedeutete das. Boykottpostenzogen vor den Geschäften der britischen Importeure auf, eng-lische Bildungseinrichtungen wurden bestreikt, es kam landes-weit zu Tumulten. Die Briten horchten auf und gingen daran,das Instrumentarium ihrer Herrschaft zu perfektionieren. Sieräumten den Indern politische Mitspracherechte ein, ließenspäter sogar ein Parlament zu, freilich ohne jede Machtbefug-nis. Die wirtschaftliche Unterdrückung zu lockern oder auchnur zu lindern kam ihnen noch immer nicht in den Sinn.

Des Öfteren drängten die indischen Politiker darauf, sichmit Schutzzöllen gegen die englische Industrieware zur Wehrsetzen zu dürfen. Hinter der Schutzmauer des Zolls wollten sieeine eigene Fabrikation heranwachsen lassen. Die Briten aberlehnten ab. Eine industrielle Fertigung gestatteten sie nur injenen Wirtschaftssektoren, die nicht mit England konkurrier-ten, beispielsweise in der Jute- und der Teeproduktion. An-sonsten wurde nur das Nötigste investiert, da eine künstlicheBewässerungsanlage, dort ein Staudamm, am Ende der Besat-zungszeit sogar ein Stahlwerk. Der produktive Kern Indienskonnte sich in den knapp 200 Jahren britischer Besatzungszeitnicht nennenswert vergrößern. Das Land blieb, was es vorherschon war, ein ökonomischer Winzling, reich nur an Kulturund Tradition. Der Anteil der Industrie an der gesamten Wirt-schaftsleistung des Landes lag im Jahr des britischen Abzugsbei drei Prozent. Nicht einmal zwei Prozent der indischen Be-schäftigten arbeiteten in einer Fabrik. Das Land war ein Agrar-staat geblieben.

Die Besatzer wirkten segensreich, wird heute von einigenHistorikern behauptet. Viele Einzelposten werden den Briten

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auf der Habenseite ihrer Kolonialzeit in Rechnung gestellt, dasmeiste davon zu Unrecht. Auch die größte wirtschaftliche Leis-tung der Briten, der Eisenbahnbau, diente vor allem demAbtransport der Rohstoffe und nicht der Industrialisierung. InAmerika und Europa war das anders: Im Gefolge der Eisen-bahngesellschaften verzeichneten die Hersteller von Schienen,Weichen, Signalanlagen und Lokomotiven ein stetes Wachs-tum, was wiederum der Stahl- und Kohleproduktion mächtigAuftrieb gab. So zog im Westen mit den Dampflokomotivenauch der Wohlstand übers Land. In Indien dagegen wurdennahezu alle Zulieferteile für das neue Transportmittel ausÜbersee herangeschafft, es gab keine nennenswerten indus-triellen Impulse aus dem Eisenbahnbau. Indien importierte biszur Unabhängigkeit 14420 Lokomotiven aus Großbritannien,fast 3 000 wurden aus anderen Industrienationen und nur 707aus indischer Produktion bezogen. Die Einheimischen durftendie Bahnschwellen verlegen. Als Lokführer aber kamen sienicht zum Zuge, erst 1942 wurde der erste Inder in den Führer-stand einer Lokomotive berufen.

Eine indische Elite bildeten die Briten nur in dem Umfangaus, wie es für die Verwaltung des Riesenreichs nützlich schien.Das einheitliche englische Rechtssystem, das vielfach als stol-zes Erbe der Kolonialzeit gepriesen wird, gab es zu keiner Zeit.Das Londoner Recht galt nur für das von den Briten dominierteGeschäftsleben, derweil im Privatrecht das muslimische unddas Hindu-Recht wirksam blieben. Heute noch macht dieserjuristische Flickenteppich dem Land schwer zu schaffen.

Selbst die Sprache der Besatzer, Englisch, lernte keineswegsdie Mehrzahl der Inder, wie heute gern behauptet wird. InWahrheit wurden nur die wenigsten in die Herrschaftsspracheder Kolonialzeit eingewiesen. Es waren keine zwei Prozent derdamaligen Bevölkerung. Die Briten hatten eben nichts zu ver-schenken, nicht mal ihre Sprache. Als sie im August 1947 die Kronkolonie in die Freiheit ent-

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Der Kolonialkomplex 141

ließen, übergaben sie ein Land, das dem Mittelalter näher warals dem Industriezeitalter. Ein Millionenvolk war unter bri-tischer Aufsicht hungrig, krank und ungebildet geblieben. Diewestliche Welt hatte sich aus dem Würgegriff von Seuchenund himmelschreiender Armut mittlerweile befreit, Indiennicht. Die Lebenserwartung betrug 32 Jahre, rund 90 Prozentder Bevölkerung konnten nicht schreiben und lesen. Hungers-nöte plagten weiterhin in unregelmäßigen Abständen das Landund rissen Millionen in den Tod. Die britische Krone hinterließeine Gesellschaft, die überall Narben trug, auch an ihrer Seele.

Der Kolonialkomplex,Indiens Angst vor dem Ausverkauf

Kaum in die Freiheit entlassen, wandten sich die Inder vomWesten ab. Nie wieder sollte das Land abhängig sein von die-sen Peinigern. Nie wieder wollte man es dem Westen gestatten,sich auf dem Subkontinent auszubreiten. Das westliche Kapi-tal galt als Bedrohung, die auf der Freiheit der Unternehmerberuhende Ordnung der Marktwirtschaft als Unterdrückungs-system und selbst die Handelsbeziehungen mit Europäernund Amerikanern standen unter keinem guten Stern. Die west-lichen Werte rochen für die Inder nach Blut.

Dass die bürgerlichen Gesellschaften sich auf Freiheit,Gleichheit und Brüderlichkeit beriefen, klang in ihren Ohrenwie ein Spottgesang. Meinungsfreiheit und die Unverletzbar-keit des Menschen, seiner Wohnung, seiner Gesundheit, seinerWürde, all das schien kaum mehr als ein neuerlicher Propa-gandatrick zu sein. Noch dazu einer, der sich leicht als solcherdurchschauen ließ. Sie hatten doch am eigenen Leib das ge-naue Gegenteil erfahren: Der Westen stand für Unfreiheit undUngleichheit und es konnte einem passieren, dass schon einfa-che Widerworte mit dem Tod bezahlt werden mussten.

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Unzählige Aufstände hatten die Menschenfreunde, als sienoch Kolonialisierer waren, niedergeschlagen, nicht nur inihrer Frühzeit. Kaum war das Flugzeug erfunden, wurde inder Provinz Panjab aus tief fliegenden Propellermaschinen aufdie Einheimischen geschossen.

Ein indischer Rechtsanwalt von schmächtiger Gestalt, Ma-hatma Gandhi sein Name, machte früh von sich reden. Ernannte die Londoner Gesellschaft »satanisch« und rief seineLandsleute zum friedlichen Widerstand auf. Die Idee der Frei-heit durchströmte das Land. Gandhi eilte von Provinz zu Pro-vinz, um die Widerstandsgeister zu wecken und sie politisch inseine Richtung, die einer gewaltfreien Erhebung, zu drängen.So kam er zu den Indigobauern der Provinz Bihar, denen vonden britischen Pflanzern übel mitgespielt wurde. Er half denBauern des Distrikts Kheda, sich gegen die zu hohe Veranla-gung bei der Grundsteuer zu wehren. Er stand den streikendenTextilarbeitern in Ahmadabad bei, die höhere Löhne und bes-sere Arbeitsbedingungen für sich verlangten. »Quit India«,gebt Indien auf, rief Gandhi den Briten zu, was sie schließlichauch taten. Vorher allerdings teilten sie das Riesenreich inzwei Hälften. Im Süden von British India entstand das heutigeIndien, welches die Verfassung als einen demokratischen undreligionsfreien Rechtsstaat konstituierte, in dem eine Diskri-minierung nach Religion, Rasse, Geschlecht und aufgrundder Kaste verboten ist. Im Norden bildete sich der islamischeReligionsstaat Pakistan, in dem die Verfassung vorschreibt,dass »kein Gesetz im Gegensatz zu den Forderungen und Leh-ren des Islam stehen darf«.

Pakistan hat den Weg zum Wohlstand bis heute nicht be-schritten. Aber auch Indien ging einen Jahrzehnte dauernden,kräftezehrenden Umweg. Das Land warf sich ausgerechnet inder Stunde der Freiheit der Sowjetunion Stalins in den Arm.Den verlorenen Jahren der britischen Besatzung sollten wei-tere Jahrzehnte des Niedergangs folgen. Indien war zwar unab-

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Der Kolonialkomplex 143

hängig, aber es wusste mit seiner Unabhängigkeit nicht vielanzufangen. Seine Führer standen am Tag nach der Unabhän-gigkeitsfeier wie eine Gruppe entlassener Sträflinge vorm gro-ßen Gefängnistor. Man war frei, aber innerlich leer. Man liebtedie Freiheit, aber es war nicht sicher, ob sie diese Liebe aucherwidern würde. Man wollte den Fortscliritt, aber wusste nichtso recht, wo er zu finden sein würde.

Da diente die Sowjetunion sich als der große Beschützer undLehrer an. Kriegsgewinner Josef Stalin wurde auch im Indiendieser Tage kumpelhaft »Onkel Joe« gerufen. Seit an Seit mitseiner Roten Armee hatten die britisch-indischen Verbändegegen Hitlers Wehrmacht gekämpft. Nun stießen die Kommu-nisten in Delhi zu ihrer großen Freude auf einen Mann wieJawaharlal Nehru. Der neue Premier hatte in England studiert,er liebte das Aristokratische ebenso wie die Demokratie. Aberseit Jugendtagen war er auf schwärmerische Weise dem Sozia-lismus zugetan. Zwar lehnte er Stalins Terror ab, aber die Me-thoden wirtschaftlicher Planung gefielen ihm sehr. Der Sprosseiner vornehmen, aus Kaschmir stammenden Familie glaubte,die Kommandowirtschaft sei der Marktwirtschaft haushochüberlegen. Die amerikanische Reporterlegende Cyrus L. Sulz-berger, der Nehru 1952 zu einem anderthalbstündigen Ge-spräch traf, beschrieb den ersten Mann des freien Indien späterso: »Er ist ein Wirrkopf, der zweifellos in eine Wolke des Idea-lismus gehüllt ist. Dass er ehrlich, intelligent und möglicher-weise dynamisch ist, steht außer Frage. Trotzdem habe ich dasGefühl, dass er sich durch viele schwierige Probleme tastet,ohne recht zu wissen, wohin er geht, und ohne vorgefasstenmoralischen, politischen oder wirtschaftlichen Plan.«

Die Männer im Kreml waren für Nehru in vielerlei Hinsichtdas Diapositiv zum Negativbild der Briten: Sie waren links,dem Worte nach antiimperialistisch und antikapitalistisch;ihnen, so glaubten mit Nehru viele Inder, könne man sichguten Gewissens anvertrauen.

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Der erste Fünfjahresplan trat 1951 in Kraft, graue Wohnsilosin sowjetischer Plattenbauweise entstanden, die natürlicheUmwelt diente im nun heraufziehenden indischen Industrie-zeitalter nicht mehr nur als Rohstofflager, sondern zusätzlichauch als kostenlose Müllkippe. Eine labyrinthähnliche Büro-kratie entstand; ihre apathische Haltung gegenüber den Proble-men des Landes ist die vielleicht schwerste Hypothek jenerZeit. Vor den höheren Gerichten Indiens waren im Jahr 2002rund 50 000 Fälle länger als zehn Jahre anhängig, bei den unte-ren Ebenen der Gerichtsbarkeit rund eine Million. 1990 gingein Prozess zu Ende, der 33 Jahre gedauert hatte und auch da-durch immer komplizierter wurde, dass 16 Zeugen zwischen-zeitlich verstorben waren.

Es kam im realsozialistischen Indien zwar nicht zumÄußersten; die Zwangskollektivierung der Bauern und dieVerstaatlichung des gesamten Wirtschaftslebens blieben demLand erspart. Aber das war eher den wehrhaften Bauern undNehrus Gegenspielern in der Kongresspartei zu verdanken. Erselbst flirtete mit der Idee einer Kommandowirtschaft nachsowjetischem Vorbild, die in ihrer ursprünglichen Form vomBauern bis zur Bank alles verstaatlicht hätte. Der historischeKompromiss in Indien sah dann wie folgt aus: Der Staat über-nahm die Regie bei allem, was neu hinzukam. Die Agrarwirt-schaft, die Textilfabriken und das kleine Handwerk blieben inprivater Regie. Die Schwerindustrie, die Energiewirtschaft unddas Transportwesen entstanden unter staatlicher Führung.Ende der 60er Jahre, mittlerweile war bereits Nehrus TochterIndira Gandhi zur Regierungschefin aufgestiegen, gerietenauch die Banken in staatliche Obhut, weil die herrische Landes-chefin glaubte, die Geldversorgung so besser steuern zu kön-nen. Ein dritter Weg zwischen Kapitalismus und Kommunis-mus war beschritten, der sich bald schon als Sackgasseherausstellen sollte. Der Subkontinent war den falschen Lehr-meistern gefolgt.

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Der Weckruf 145

Nur die Sowjets waren zufrieden. Sie wichen den Indernnicht mehr von der Seite. Das Land wurde zum wichtigenAdressaten der Moskauer Wirtschafts- und Militärhilfe. Manwar Handelspartner und Waffenbruder geworden. NachdemChina zu Beginn der 60er Jahre nichts mehr von der MoskauerFührung wissen wollte, schmiegte sich Indien umso fester andie Kremlherrscher. Auf die Männer in Moskau war wenigs-tens Verlass: Ohne sowjetische Hilfe wäre der Bau einer eige-nen Atombombe nicht so schnell gelungen. Die Freunde ausdem Kreml halfen auch, die indischen Erdölquellen zu er-schließen.

Die Inder ließen ihrerseits auf ihre neuen Partner nichtskommen. Selbst der Einmarsch der Roten Armee in Afghanis-tan konnte die Führung in Delhi nicht aus dem Schatten derSowjets lösen, was Richard Nixon schon wieder imponierte.Indira Gandhi, sagte er gegenüber Vertrauten, sei offenbarskrupelloser als er selbst.

Der Weckruf. Wie Gorbatschow die Inderzu Reformern machte

Die zweite Befreiung verdankt Indien niemand Geringerem alsMichail Gorbatschow. Mit Glasnost und Perestroika versetzteer der siechen Sowjetunion den Todesstoß und erweckte Indiendamit zu neuem Leben. Erst der Ausfall des Verbündeten undLehrers schaffte den nötigen Freiraum im Handeln und - wich-tiger noch - im Denken. Jetzt erst rafften sich die indischen Eli-ten auf, eine ehrliche Bilanz zu ziehen. Plötzlich fiel auf, wasvorher keiner wahrhaben wollte: Die technische Basis der eige-nen Volkswirtschaft war maroder als die der Sowjets. Für Inves-titionen fehlte der nahezu luftdicht vom Weltmarkt abgeschlos-senen indischen Wirtschaft das nötige Kapital. Der Staatssektorhatte sich von 1960 bis 1990 verdreifacht und mit seiner Größe

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war vor allem seine Ineffizienz gewachsen. Viele der 240 vonder Zentralregierung dirigierten Konzerne waren Beschäfti-gungsgesellschaften, die im internationalen Wettbewerb aufewig bedeutungslos bleiben würden. Aber selbst das war bisdahin nicht aufgefallen, weil die indische Führung jahrzehnte-lang ihren Kolonialkomplex pflegte und an der globalenArbeitsteilung gar kein Interesse besaß. Das Geschäft mit Im-und Exporten war noch aus Besatzertagen verpönt. Der Außen-handel wurde als ein besonders perfides Herrschaftsinstrumentangesehen, von dem möglichst kein Gebrauch zu machen war.

Folgerichtig hielt man sich das internationale Kapital vomLeib, so gut es nur ging. Die Importzölle lagen in der Spitzebei über 300 Prozent des ursprünglichen Warenpreises. Dasbenachbarte China buhlte bereits um Investoren, da schreckteIndien sie weiter ab. Die Sehnsüchte in Delhi waren andersbeschaffen als im Reich nebenan. Die Chinesen träumten inDollar, in Indien hießen die Zauberworte noch immer: Pla-nung, Kontrolle, Autarkie.

Nicht, dass man die Nachteile der Eigenbrötelei nicht gese-hen hätte. Sie lagen ja auf der Hand, aber man nahm sie in Kauf.Viele Inder der Führungsschicht hatten es sich in den beengtenökonomischen Verhältnissen bequem gemacht, die scheinbarein behagliches, weil überraschungsfreies und kräfteschonen-des Leben garantierten. Alles lief nach Plan, vor allem ihreKarrieren; allerdings auch die weitere Verarmung der Massen.1974 führte das indische Parlament eine Debatte über den Hun-ger, die das Elend im Lande hell ausleuchtete. Verhungertewürden verscharrt, ihre Knochen später ausgegraben, umdaraus eine Suppe zu kochen, berichtete ein Abgeordneter.Wirtschaftsprofessor Shenoy, einst Mitglied im Planungsstabder Regierung und indischer Delegierter bei Währungsfondsund Weltbank, trat als Kronzeuge gegen die eigene Regierungauf: »Wir sind nicht einmal ein Entwicklungsland. Wir sindeine Gesellschaft, eine Wirtschaft im Verfall.«

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Der Weckruf 147

Der Aufstieg zur Wirtschaftsmacht, das konnte nach vierJahrzehnten Experimentierdauer als gesicherte Erkenntnis gel-ten, war mit den Instrumenten der Planbürokratie nicht zuschaffen. Selbst das Erreichte schien keineswegs gesichert.Die Inder spürten, dass eine Ära zu Ende ging. Ihr Blick rich-tete sich nun nach China, das man sich angewöhnt hatte alsFeind, nicht als Vorbild zu betrachten. Lange vernachlässigteFragen wurden nun gestellt: Was konnte China, was Indiennicht konnte? Wieso ließ das Zentralkomitee der chinesischenKP eine Siegesfanfare nach der anderen erklingen, wo manselbst am Rande der Zahlungsunfähigkeit entlangschrammte?Was wollten die ganzen Westler eigentlich dort? Wieso war deramerikanische Präsident Nixon schon so früh nach Peking ge-reist und nicht nach Delhi? Woher kam der ganze Reichtum inden Küstenstädten und warum fuhr nicht nur das Establish-ment plötzlich westliche Autos, während man selbst im hoff-nungslos veralteten Hindustan Ambassador oder gar mit Och-senkarren und Fahrrad über die löchrigen Straßen rumpelte?

Auch die anderen Staaten Südostasiens waren davongeeilt.In Singapur und Taiwan standen Wolkenkratzer und mo-dernste Industriekomplexe. Südkoreas Wirtschaftskraft lag zuBeginn der 50er Jahre nur weniger als ein Viertel über derIndiens. Nun war dessen Pro-Kopf-Einkommen sechsmalhöher. Mehr als vier Jahrzehnte nach den Unabhängigkeitsfei-ern und fast 15 Jahre nach den ersten marktwirtschaftlichenReformen unter Deng Xiaoping gab sich nun auch Indieneinen Ruck. Vollstrecker des gewandelten Zeitgeistes wurdeauch hier ein Mann, der seine Laufbahn eigentlich hinter sichhatte.

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Reformer Rao. Ein Rentner dreht auf

Mit 70 Jahren blickte Narasimha Rao auf ein erfülltes Berufs-leben in der zweiten Reihe der indischen Politik zurück. Ersprach ein Dutzend Sprachen, hatte im Alter von 24 Jahrenzunächst als Übersetzer gearbeitet und sich auch als Dichterversucht. Indira Gandhi verpflichtete den 53-Jährigen alsGeneralsekretär der Kongresspartei, bevor sie ihn später zumAußen- und danach zum Innenminister berief. Das Auffäl-ligste an ihm war seine Unauffalligkeit. Viele Charakterisie-rungen lieferten Weggefährten über ihn ab, aber niemand hatje behauptet, er sei kühn, wagemutig oder willensstark gewe-sen. Als loyaler Diener seiner Herrin blieb er im Schatten dergroßen Indira Gandhi, die ihn dafür schlecht, zuweilen auchgrob behandelte. Aber Rao war auch das: ein großer Erdulder,kein Mann des Aufbegehrens. Er war im indischen Kasten-wesen erzogen, das jedem seine Rolle in der Gesellschaft zu-wies. Schon als Zehnjährigen hatten ihn seine Eltern verhei-ratet.

Nach dem Attentat auf Indira Gandhi und der Wahlnieder-lage ihres Sohnes Rajiv Gandhi schied Rao 1989 aus der Re-gierung aus, er war alt und krank und man trat ihm wohl nichtzu nahe, wenn man ihn einen abgehalfterten Politiker nannte.Er war Antialkoholiker und Vegetarier, doch das Herz ließ sichdavon nicht beeindrucken. In Houston, Texas, musste er sicheiner Operation am offenen Herzen unterziehen. Im Ruhestandwollte er noch ein literarisches Werk vollenden, das er in wei-ten Teilen bereits im Amt verfasst hatte. Er plante, die Regie-rungskapitale Neu-Delhi in Richtung seiner südindischen Hei-mat zu verlassen. Die Umzugskisten waren gepackt.

Ein erneuter Mord kam dazwischen. Rajiv Gandhi, der dieFührung der Kongresspartei in der Opposition fortsetzte, fielnun selbst einem Anschlag zum Opfer. Sie war in ihrem Garten

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von den eigenen Leibwächtern erschossen worden. Er wurdeauf einer Wahlversammlung von einer Bombe zerfetzt. Nacheiner Schockminute nominierte die Kongresspartei den Ruhe-ständler Rao für das Amt des Regierungschefs, für das derwortkarge Senior drei unbestreitbare Vorteile besaß: Er waralt, er war vorzeigbar und er galt als wenig durchsetzungsstark.Er sollte ja nichts weiter als ein Übergangskandidat sein, der inden Augen der Jüngeren die eigentlich wichtigste aller Voraus-setzungen erfüllte, nämlich die, dass er ihren Ambitionen nichtim Weg stand.

Aber das Schicksal hatte für Rao eine andere und weit wich-tigere Rolle vorgesehen als die einer formalen Nummer eins.Er musste sich als Reformer versuchen. Was Michail Gorbat-schow in Moskau und Deng Xiaoping in Peking begonnen hat-ten, wenn auch beide mit unterschiedlichem Erfolg, musste ernach siegreich bestandener Wahl nun in Indien probieren. DieVerhältnisse ließen ihm keine andere Wahl, als die schon langeüberfällige und immer wieder vertagte Reform des Wirt-schaftssystems voranzutreiben. Die Realität drängte in dieseRichtung. Er musste sich nur noch von ihr treiben lassen.

Von der Sowjetunion hatte er nichts mehr zu erwarten,weder Hilfe noch Widerstand. Das Riesenreich, eben nochGegenspieler der USA, ging vor den Augen der Weltöffent-lichkeit in die Knie. Ihr letzter Regierungschef sagte zumAbschluss noch schöne Sätze über die Demokratie, die Trans-parenz einer Gesellschaft, den wirtschaftlichen Umbau. »Dasneue Denken, wie es die Sowjetunion versteht, beruht auf denRealitäten dieses Jahrhunderts«, war so ein Satz von ihm.Doch die Realitäten waren schneller als Gorbatschow. Sie hol-ten ihn ein und warfen ihn nieder. Gorbatschow musste mit an-sehen, wie die Sowjetunion, die er doch hinüberretten wollte indie neue Zeit, seinen Händen entglitt. Er hatte alles auf einmalgewollt, die Demokratie und die Marktwirtschaft, und nichtsdavon bekommen. Während der traditionellen Maiparade des

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Jahres 1990 wurde erstmals eine Sowjetftihrung von den Mas-sen ausgepfiffen.

Indien stand wirtschaftlich schlechter da als der große Bru-der. Mit 70 Milliarden Dollar Auslandsschulden war das Landnach Mexiko und Brasilien der drittgrößte Schuldner der Drit-ten Welt. Die Devisen reichten gerade noch, um die Import-waren der kommenden zwei Wochen zu bezahlen. Die Füh-rung wandte sich Hilfe suchend in Richtung Westen. Dochdie Bankiers schüttelten den Kopf. Denn längst war den Indernauch das Wichtigste, was ein Schuldenstaat zum Überlebenbraucht, verloren gegangen: die Kreditfähigkeit. Das Landhatte sich in all den Jahrzehnten der Planwirtschaft vom Welt-markt abgemeldet; von internationaler Wettbewerbsfähigkeitkonnte eigentlich nicht mehr gesprochen werden. Der Anteilindischer Produkte an den Weltausfuhren aller Staaten lag zuBeginn der 50er Jahre bei rund zwei Prozent, Anfang der 80erJahre war er auf 0,4 Prozent gesunken. Die Vergangenheithatte gezeigt, dass in Indien Werte vernichtet und nicht ge-schaffen wurden. Der produktive Kern des Landes, von dessenEnergielieferung auch die Zinszahlungen an die internationa-len Banken abhingen, zog sich seit längerem schon zusammen.Im Sommer 1991 zeichnete sich die internationale Zahlungs-unfähigkeit ab.

Auch der Internationale Weltwährungsfonds war nur nochunter strengsten Auflagen bereit, eine Überweisung zu tätigen.Es gibt viele Möglichkeiten, seine Souveränität zu verlieren,eine leistungsschwache Volkswirtschaft ist eine davon. ImJuni 1991 mussten rund 20 Tonnen Gold aus den Tresoren derindischen Zentralbank in die Schweiz geflogen werden, weilder Währungsfonds in Washington nur unter dieser Bedingungzur finanziellen Soforthilfe bereit war. Die stolze indische Na-tion musste wie im Pfandleihhaus ihre Schätze auf den Tresenlegen. Die Zukunft des Landes allein war keine Beleihungs-grundlage mehr. Eine wirklich komplizierte Lage war entstan-

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den: Im Norden fehlte der Ansprechpartner, im Westen dasWohlwollen. Es war, als wären Minus- und Pluspol zweierStromkabel für mehrere Sekunden miteinander in Berührunggeraten: Die Initialzündung für eine indische Reformpolitikwar erfolgt, ohne dass sich ihr jemand hätte entziehen können.Das Land sah sich zu einer Kraftanstrengung genötigt, wie siein dieser Intensität einem Volk nicht alle Tage abverlangt wird.

Wahrscheinlich wäre ein Weiter-so sogar anstrengender ge-wesen als die Umkehr. Als Politiker der alten Ordnung warRao in all seiner Behäbigkeit im Grunde der falsche Mann fürdas groß angelegte Reformwerk. Aber er war der falsche Mannzur richtigen Zeit am richtigen Ort. Am Ende ging er mit sei-ner Reformpolitik sogar deutlich über die Auflagen des Welt-währungsfonds hinaus.

Vielfach musste er nur die Bremsen der Bürokratie lösen,mit denen seine Vorgänger die Volkswirtschaft entschleunigthatten. Er reduzierte die Import- und Exportzölle, sodass derWarenaustausch mit dem Ausland wieder wachsen konnte. Erbaute das für nahezu jede Warengruppe geltende Lizenz-system ab, wodurch auch im Inland erstmals ein Konkurrenz-kampf um Preis und Qualität in Gang kam. Er lockte das Aus-landskapital mit Steuerrabatten, anstatt es wie bisher mitSteueraufschlägen zu verschrecken. Die ersten Staatskonzernewurden zur Privatisierung ausgeschrieben. Seit 1993 ist auchder Kurs der indischen Rupie im Außenhandel mehr oder min-der frei handelbar, sodass die Geschäftsleute ihre in Indien ver-dienten Gelder mit nach Hause nehmen dürfen.

Dem Regierungschef standen zwei Männer von internatio-nalem Format zur Seite. Finanzminister Manmohan Singhwar in Oxford und Cambridge als Ökonom ausgebildet wor-den. Handelsminister Palaniappan Chidambaram stammte auseiner führenden Industriellenfamilie, die ihn nach Harvardgeschickt hatte. Beide brannten darauf, ihr Land zu erneuern.Indien sollte politisch an den Westen herangeführt und ökono-

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misch in die Weltwirtschaft integriert werden, Schritt fürSchritt, wenn möglich ohne die heimischen Unternehmen zuüberfordern. »Wandel ohne Trauma«, versprach Rao. Es werdekeine indische Schocktherapie geben, ergänzte sein Finanzmi-nister. Aber, beschwor der Industriesprössling Chidambaramseine Landsleute, es müsse sich gleichwohl vieles ändern:»Ich sah, wie zudringlich, erdrückend und ineffizient der Staatgeworden war, wie er den Unternehmergeist erstickte, jedeIdee abtötete und dafür nichts zurückgab.«

Gemeinsam begegnete das Trio all jenen, die nun den »Aus-verkauf Indiens« fürchteten, mit einer Politik der vielen Win-kelzüge. Ihre größte Leistung lag in der Beharrlichkeit, mit dersie das Reformziel verfolgten. Denn ein Selbstgänger warendie Veränderungen, die tief ins Leben der Bevölkerung ein-schnitten, auch hier nicht. Die Mehrzahl der Inder sind zwargläubige Hindus und daher eher duldsam als aufbrausend; sieglauben an das Schicksal, viele ergeben sich ihm sogar. Abernun grummelte es im Volk. Eisenbahnzüge wurden mit Steinenbeworfen, kaum dass Fahrpreiserhöhungen angekündigt wa-ren. Die rund 200 000 Beschäftigten der Zollämter wurden un-ruhig angesichts ihres Bedeutungsverlustes. Im Juni 1992 kames zum Generalstreik gegen die Reformpolitik.

Rao aber tat das, was er die meiste Zeit in seinem Lebengetan hatte, er blieb standhaft. Er argumentierte gradlinig undschlicht, er zeigte sich nur mittelmäßig beeindruckt vom Ge-töse der Kritiker, auch wenn sie weit in seine Kongressparteivorgedrungen waren und ihm nach dem politischen Lebentrachteten: »Die Reformen sind nicht zurückzudrehen«, sagteer immer wieder. In einer landesweit ausgestrahlten Rundfunk-ansprache kündigte er an, »die Spinnweben zu zerreißen, dieder schnellen Industrialisierung ins Gehege kommen«. SeinFinanzminister zitierte den großen französischen SchriftstellerVictor Hugo mit dem erhabenen Satz: »Keine Macht der Weltkann eine Idee aufhalten, deren Zeit gekommen ist.«

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In mehrfacher Hinsicht stellten die indischen Reformer sichklüger an als die Männer im Kreml. Vor allem unterließen siees, mit den Verantwortlichen der Vergangenheit heißen Her-zens abzurechnen. Gandhi und Nehru durften ähnlich wieMao als politische Museumsstücke in den Geschichtsbüchernüberleben, die Säuberung fand nur gedanklich statt. GandhisSymbole - das weiße Lendentuch und ein Spinnrad - wurdengeräuschlos ausgemustert.

Rao und Singh vergaßen nie zu erwähnen, was alles bleibenwürde. Sie berücksichtigten die Sehnsucht der Menschen nachdem Althergebrachten, auch wenn das wenig glanzvoll klangund international kaum beachtet wurde. Während Gorbat-schow seine Landsleute unter dem Beifall des Westens auf-peitschte, beschwichtigten und beruhigten sie.

Das Glück war mit den Sanftmütigen. Anders als derKremlmann konnte Raos Regierung schnelle wirtschaftlicheErfolge vorweisen. Die ausländischen Investoren klopften an,sie waren neugierig geworden. Auch viele Einheimische pack-ten beherzt zu, kaum dass die Genehmigungsbürokratie ihnenmehr Luft zum Atmen ließ. In der fünfjährigen Schaffenszeitder Regierung Rao stieg das Industriewachstum in der Spitzeauf zwölf Prozent. Erstmals gelang es, eine größere wirtschaft-liche Dynamik als in den Tigerstaaten zu entfachen. Nach derPrognose der Investmentbanker von Goldman Sachs liegtIndien im Jahr 2050 hinter China und vor den USA auf Platzzwei der größten Wohlstandsproduzenten.

Wichtig für das Gelingen der Reformen war ein klares Be-kenntnis zur Ungleichheit - und zur Ungleichzeitigkeit. Nachden Vorbildern aus Singapur, Taiwan und China entstandenSonderwirtschaftszonen, also produktive Kleinstkerne, dievom Staat liebevoll bebrütet werden. Die Slums blieben beste-hen, im Sommer sorgen Schwelbrände vielerorts für dicke Luftund im Winter versinken die Elendsquartiere im Schlamm,doch in den Sonderwirtschaftszonen werden die Kapitalisten

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aller Herren Länder auf das Schönste verwöhnt. Wovon inAmerika und Europa nur geträumt wird, ist hier Wirklichkeitgeworden: Ein Mikrokosmos entstand, der den Investoren zu-mindest am Arbeitsplatz westlichen Lebensstandard garantiert.Mit Hilfe großer Aggregate werden die in Indien üblichenStromausfälle überbrückt, geschlossene Wassersysteme sorgenfür eine zuverlässige Trinkqualität.

Technisch gut ausgebildete Angestellte stehen in Indien ingroßer Zahl zur Verfügung. Der Staat tut viel dafür, dass derNachschub nicht versiegt. Allein in der Region Bangalore gibtes drei Universitäten, 14 Ingenieurschulen und 47 Fachschulenund Forschungsinstitute. Jedes Jahr betreten über 400000 neueIngenieure den Arbeitsmarkt, von denen die Hälfte in die Com-puterindustrie strebt. Wenn sie unter sich sind, sprechen diewestlichen Firmenchefs respektlos vom »brain Shopping«, dassie hierher gelockt habe. Denn kaum irgendwo ist ein frischausgebildetes Technikerhirn so günstig zu haben wie in Indien.Der Umrechnungskurs ist denkbar einfach: Zehn Softwareent-wickler kosten so viel wie in München einer.

Der mit Abstand wichtigste Rohstoff des Landes findet sichheute in den Köpfen seiner noch jungen Bevölkerung. DieInder sind Experten im Erfinden und Benutzen von Software.Sie helfen den amerikanischen Steuerberatern, betreiben CallCenter für die halbe Welt, entwickeln Software für Weltkon-zerne wie Siemens, General Electric, Samsung und Nokia.Allein die Exporte von Software und IT-Dienstleistungenhaben sich von 2000 bis 2005 auf 12 Milliarden Dollar mehrals verdreifacht. Das heutige China ist die Fabrik der Welt,Indien errichtete nebenan ein globales Dienstleistungszen-trum. Die Regierungschefs beider Länder haben sich erst kürz-lich besucht und eine engere Zusammenarbeit verabredet, wasvor allem eines zeigt: Der eine nimmt den anderen ernst.

Noch fällt der Leistungsvergleich zwischen den beiden Rie-senreichen eindeutig zu Gunsten der Chinesen aus. Die bereits

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Ende der 70er Jahre gestartete Reformpolitik Dengs hat demLand einen deutlichen Vorsprung verscharrt. Das chinesischeAutobahnnetz ist 60-mal größer, es existieren sechs Mal mehrInternetanschlüsse und 2005 traf in China das zehnfache anausländischen Direktinvestitionen ein. Beide haben ihre Ex-portquoten im Verhältnis zum Sozialprodukt seit 1990 verdop-pelt, aber die chinesischen Waren bestreiten mittlerweile 6,5Prozent des Welthandels, die indischen erst 0,8 Prozent.

Indien schaut mit Neid und Anerkennung auf den fleißigenNachbarn im Osten, der sich so zielstrebig aus dem Elend derMao-Jahre herausgearbeitet hat. China blickt verwundert underschrocken auf Indien, wo die Elite in einem einzigen kühnenSprung versucht, vom Agrarstaat direkt in der Welt modernerDienstleistungen zu landen. Gegenüber dem Westen fallen diebeiden asiatischen Großreiche durch ihre übergroße Wachs-tumsfreude auf. Die von Kommunisten gelenkte WirtschaftChinas wuchs seit 1990 um 300 Prozent, die indische Volks-wirtschaft um 130 Prozent. Zum Vergleich: Die VereinigtenStaaten schafften im selben Zeitraum knapp 60 Prozent,Deutschland nur 27 Prozent.

Mit der Wirtschaft wächst auch das Selbstbewusstsein.Schriftlich bat die indische Regierung im Juni 2003 alle west-lichen Regierungen, die bilaterale Entwicklungshilfe nach Be-endigung der laufenden Projekte einzustellen. Beim Welt-wirtschaftsforum in Davos, dem jährlichen Treffpunkt derpolitischen und wirtschaftlichen Eliten, war es die indischeRegierung, die nun ihrerseits Geschenke an die Reichen ver-teilte. Alle Teilnehmer des Forums fanden auf ihren Hotelzim-mern einen Kaschmirschal und einen MP3-Player von Apple.Die Regierung will dem Westen damit vor allem eine Bot-schaft übermitteln: Völker der Welt, schaut auf dieses Land.Die Zeit der Hilfsbedürftigkeit ist vorbei, Indien schmeißt dieKrücken weg und läuft von alleine.

Nur für Reformer Rao ging die Geschichte wenig erfreulich

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aus. Seine Kongresspartei verlor nach fünf Jahren die Wahlenund er wenig später seine Ehre. Die indische Justiz stellte ihmin einem jahrelangen Korruptionsprozess nach. Am 12. Okto-ber 2000 wurde er aufgrund dürftiger Beweise rechtskräftig zudrei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Er soll zum Zweckdes Machterhalts Gelder an Parlamentarier und Regierungs-mitglieder verteilt haben, in erster Linie, um sich und seineReformpolitik abzusichern. Vier Jahre nach der Verurteilungstarb der 83-Jährige in einem Krankenhaus von Neu-Delhi.

Die Angreiferstaaten. Asien vibriert

Die aufstrebenden Weltmächte sind schon heute deutlich im-posanter, als es die Sowjetunion jemals war. Ihr Fundament be-ruht auf der Produktivität von Menschen und nicht auf der Pro-paganda von Funktionären. Millionen Menschen arbeiten undsparen, sie bilden Kapital, um mit diesem Treibstoff aufzustei-gen zu den Mächtigen der Erde. Die wichtigste Produktivkraftdieser Völker ist nichts Größeres und nicht Geringeres als ihreEntschlossenheit, der bisherigen Geschichte ein neues, strah-lenderes Kapitel hinzuzufügen.

Ihre Politiker unterstützen sie nicht nur, sie feuern sie an. Sieringen nicht mit der gleichen Hingabe wie die Sowjetführer umSymbole und Abschlusskommuniques, dafür kümmern sie sichdeutlich energischer um die Wohlstandsanteile der ihnen an-vertrauten Völker. Das Ergebnis der kollektiven Anstrengungist unübersehbar: Die einst Unterentwickelten richten sich vorunser aller Augen auf. Millionen von gestern noch Bedürftigenstrecken die Muskeln durch. Wir blicken in die Augen einesGegenübers, das den ehrgeizigen und über jeden Zweifel erha-benen Beschluss gefasst hat, sein Dasein nicht länger am unte-ren Ende der Wohlstandsskala zu verbringen. Ein ganzer Kon-tinent, den viele irrtümlich für weniger leistungsstark hielten,

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tritt mit dem Anspruch an, es dem Westen gleichzutun. Diegesamte Wirtschaftskraft der Region ohne Japan hat sich seit1970 mehr als versechsfacht. Die Wachstumsraten sind seitJahrzehnten steil und alle Befürchtungen der westlichen Indus-triestaaten, die in Wahrheit Hoffnungen waren, soziale Unruheoder ökologischer Kollaps werde das Superwachstum abbrem-sen, sind bisher nicht in Erfüllung gegangen.

Der Westen kann die Asiaten als Wettbewerber bezeichnenoder sie weiterhin Entwicklungsländer nennen. Ehrlicher wärees, er würde diese Länder als das sehen, was sie auch sind:Angreiferstaaten. Im Weltkrieg um Wohlstand haben Chine-sen, Inder und die meisten anderen Asiaten deutliche Gelände-gewinne vorzuweisen. Was in Japan begann, von dort auf dieStadtstaaten Singapur und Hongkong übersprang und schließ-lich die Tigerstaaten Südkorea und Taiwan erreichte, hat denKontinent in eine ökonomische Zone höchster Energiekon-zentration verwandelt. Sie alle haben den Weg zum Wohlstandbeschriften, der die politische, ökonomische und später auchmilitärische Architektur der Welt verändern wird.

Es sind vor allem außergewöhnlich große Völker, die danach den Sternen greifen. Wenn ihre Aufbauarbeit auch nurhalbwegs ungestört weitergeht, wird China die USA innerhalbder nächsten 35 Jahre als Wirtschaftssupermacht ablösen.Indien folgt auf dem Fuß. Nahezu zweieinhalb MilliardenMenschen, mehr als das fünffache der Bevölkerung Europas,versuchen damit, ihrer Geschichte eine glückliche Wendungzu geben. Schon die Erfolge der letzten Jahre sind das Beein-druckendste, was die Wirtschaftsgeschichte je gesehen hat:Die Engländer brauchten knapp 60 Jahre, um ihr Brutto-sozialprodukt pro Kopf zu verdoppeln, die USA rund 40 Jahre,Japan schaffte es in etwa der gleichen Zeit, Indonesien in 17und China in nur zwölf Jahren.

Diesmal wird der Westen auf dem Feld der Ökonomieherausgefordert, aus deren Funktionieren er bisher seine Legi-

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timation bezog. Der Clou besteht darin, dass die Asiaten imUnterschied zur Sowjetunion ihre Attacke aus der entgegen-gesetzten Ecke reiten. Die Sowjets versuchten den Westen ineinen ideologischen Konflikt zu verwickeln, was zunächstauch gelang. Wären die sozialistischen Ideale nicht durchArbeitslager, politische Morde und die bald schon zu Tage tre-tende Unfähigkeit, den Wohlstand der Menschen zu mehren,diskreditiert worden, hätte die Sowjetunion noch manchenSturm überlebt.

Die asiatischen Angreiferstaaten dagegen meiden das Feldder ideologischen Auseinandersetzung. Sie führen mit demWesten keine Debatten über Gleichheit und Gerechtigkeit, sieerheben keine Vorwürfe und stoßen auch keine Drohungenaus. Das Religiöse bleibt ebenso außen vor wie die weltan-schauliche Theologie; die angehenden Weltmächte zetteln kei-nen Kampf der Kulturen an. Sie sind lautlose Gegner, die aufökonomische Effizienz setzen. Der Westen wird mit seineneigenen Waffen geschlagen.

War die Sowjetunion das Großmaul unter den Staaten, wir-ken die Repräsentanten der heute aufstrebenden Großmächteim Auftritt bescheiden. Die ökonomischen Zwischenerfolgeder Moskauer Kommunisten wurden zu Endsiegen überzeich-net; Chinesen und Inder dagegen versuchen die Welt eher imUnklaren über ihre tatsächliche Stärke zu lassen. Folgt manden chinesischen Statistiken, war ihre Volkswirtschaft 2004die siebtgrößte der Welt. Addiert man die frei verfügbarenZahlen der 31 Provinzen, stellt man fest, dass die tatsächlicheWirtschaftskraft deutlich höher war. Kurz vor Jahresbeginn2006 entschloss sich das Nationale Statistikamt in Peking,seine Zahlen nach oben zu korrigieren; die bisherigen Anga-ben seien zu niedrig gewesen, teilte der Direktor der Behördemit. Nun sieht China sich selbst auf Platz sechs, vor Italien undhinter den USA, Japan, Frankreich, England und Deutschland.

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Die Abschiedsgesellschaften 159

Die Abschiedsgesellschaften.Requiem auf die Sowjetunion

Die Aufstiege Indiens und Chinas sind begleitet vom relativenAbstieg des Westens. Noch sind Amerikaner und Westeuro-päer reicher und mächtiger als jeder ihrer Nebenbuhler. DieUnterscheidung in Angreiferstaat und Abschiedsgesellschaftbeschreibt daher nicht den Status quo, sondern Geschwindig-keit und Richtung seiner Überwindung.

Die aufstrebenden Staaten sind einer düsteren Vergangen-heit entkommen, sie stürmen nach vorn und legen im Tempobeeindruckende Werte vor. Sie sind vielfach bereit, mit denreligiösen, ideologischen und kulturellen Traditionen ihrerElterngeneration zu brechen. Nach einfachen Kosten-Nutzen-Bilanzen entrümpelten Südkoreaner, Chinesen, Inder und zu-vor schon die Japaner ihre bisherige Lebenswirklichkeit. Wassich auf dem Weg zum Wohlstand als störend erwies, wurdeentsorgt - die mittelalterlich anmutenden Agrargesellschaften,die Planwirtschaft, die Ideologie der Gleichheit, die Herrschaftder Partei über die Fabriken und vielerorts auch die gewachse-nen Familienstrukturen und ihre tradierten Lebensstile. Diereligiösen Gefühle wirken weiter, aber in gedämpfter Form.Dort, wo fernöstliche Spiritualität vorher den Alltag prägte,wurde sie privatisiert. Das alles überragende Ziel der Elitenist es, den Status quo zu ihren Gunsten zu verändern. DasEnergiezentrum bildet dabei der Staat, nicht die Gesellschaftin Gänze. Deshalb ist hier von Angreiferstaaten die Rede,denn Regierungen und Parteien sind die Bannerträger dieserökonomischen Umwälzung, die ihre jeweiligen Gesellschaftennur zum Teil erfasst hat.

Die Abschiedsgesellschaften hingegen haben den vorläufi-gen Zenit ihrer Wohlstandsgeschichte offenbar hinter sich, siewären schon froh, wenn es ihnen gelänge, die jetzige Wirklich-

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keit noch ein wenig zu verlängern. Sie kämpfen, aber siekämpfen für den Erhalt der Errungenschaften von gestern; umihren Arbeitsplatz, ihre Firma, den arbeitsfreien Samstag, dasungekürzte Arbeitslosengeld, den Sozialstaat. Letztlich bittensie um nichts anderes als um Zeitaufschub. Das Selbstbewusst-sein vor allem der kleinen Leute hat im Angesicht der Ver-folger spürbar gelitten, sie suchen Trost im Blick zurück. Ge-sellschaften des fortwährenden Gedenkens und Erinnernsentstanden, die Züge der Erstarrung sind unübersehbar. Wobeies nicht, wie die Linke behauptet, die totale Ökonomisierungdes Lebens ist, die den Menschen zu schaffen macht. Es ist -umgekehrt - das Ende dieser Ökonomisierung, der Beginn derMarginalisierung, das Ausgesteuertwerden aus allen Wert-schöpfungskreisläufen, das die Menschen bekümmert. DennMillionen hören auf, ökonomisch wertvoll und dem Staatfinanziell nützlich zu sein.

Beide - Angreiferstaat und Abschiedsgesellschaft - spie-geln sich ineinander. Der Traum der einen ist der Albtraumder anderen. Das Selbstbewusstsein der neuen empfinden diealteingesessenen Wirtschaftmächte als Kränkung, den Auf-stieg der anderen als Bedrohung. Wenn die einen über dasSchöne und Gute reden, nutzen sie in aller Regel die Vergan-genheitsform. Die anderen das Futur. Den großen Hoffnungender einen stehen die mindestens gleich großen Ängste deranderen gegenüber. Denn beide wissen sehr genau, dass sie ineiner Relativwelt leben. Die Menschen im Westen spüren denheißen Atem der anderen, was ihnen schon deshalb zusetzt,weil ihnen das Zutrauen fehlt, selbst noch einmal das hoheWachstumstempo der frühen Jahre gehen zu können. Die Ab-schiedsgesellschaften sind in der Regel alt und verhältnis-mäßig reich. Ihre Statussymbole sind Eigenheim und Zweit-wagen. Ihre Sorge gilt der Rente, an deren Auszahlung sienicht mehr glauben. Ihre vorherrschende Gemütsstimmung istdas Selbstmitleid. Für durchgreifende Wirtschaftsreformen,

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die den Traditionsbestand der goldenen Aufbaujahre in Fragestellen, fehlen derzeit in Deutschland, Frankreich und Italiendie mentalen Kräfte.

Über die amtierende Politikergeneration herzufallen läge andieser Stelle nahe, sie als kraftlos, visionsfrei und erfolglos zubeschimpfen ist in Mode gekommen. Diese Kritik ist wohl-feil - und falsch ist sie auch. In der Demokratie gibt es keinePolitik gegen das Volk und es gibt auf der anderen Seite auchkeine Politik, die weit über das Volk hinausragen würde. Der-zeit ist es so, dass ein allzu kraftvolles Umsteuern als Ruhe-störung verstanden wird. Nirgendwo in Europa besitzt eineRegierung die Legitimation für einen grundlegenden Umbauvon Staat und Wirtschaft. Die deutsche KanzlerkandidatinAngela Merkel hat es im Wahlkampf mit radikalen Rezepturenversucht und erlitt eine Wahlniederlage, die sie in die politischeTodeszone führte. Nur weil die andere große Volkspartei, eben-falls im Gefolge einer Politik der Reformen, sich noch schlech-ter schlug, konnte sie überhaupt Regierungschefin werden.Zwei Modernisierungsopfer fanden so zueinander, bilden eineKoalition der Verzagten, die sich zu Unrecht die große nennt.

Die Erwartungen vieler Wähler nach der Rückkehr der Ver-gangenheit sind nicht erfüllbar, auch dann nicht, wenn sie somassenhaft im Europa unserer Tage vorgebracht werden. Vie-lerorts erwächst aus enttäuschten Hoffnungen weitere Unzu-friedenheit, aus der Unzufriedenheit zuweilen Hass, der aufdas Fremde und der auf sich selbst. Erst brannten in Frankreichdie Vorstädte und danach traten die Studenten der Sorbonne inden Ausstand. Und immer ging es auch um ein Nichtfügen-Wollen und ein Nichtverstehen-Können dessen, was in unsererGegenwart geschieht, die als ein dauerndes Abschied nehmenempfunden wird. Der Aufstieg war das Merkmal der vergange-nen Jahrzehnte, bevor die Aufstiegsgewissheit sich allmählichin eine vage Aufstiegshoffnung verwandelte, die mittlerweilein Abstiegsängste umgeschlagen ist.

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Die Angreiferstaaten sind nicht mehr bettelarm, aber auchnoch nicht richtig reich. Ihre Populationen sind jung und ehr-geizig, zumindest die Eliten und die Mittelschicht haben sichmit großer Entschlossenheit der Zukunft zugewandt. Laptopund Mobiltelefon sind die Sehnsuchtsaccessoires ihrer Zeit.Sie sind fest entschlossen, sich vom Wohlstand der Welt eingrößeres Stück als bisher abzuschneiden. Dafür sind sie zuraußerordentlichen Kraftanstrengung bereit; vor der nötigenSkrupellosigkeit, die noch zu allen Zeiten das Merkmal derAufsteiger war, schrecken sie nicht zurück.

Die westlichen Industriestaaten verschwinden nicht in derBedeutungslosigkeit, aber sie werden weniger wichtig. Vielekleinere und größere Abschiede sind seit Jahren schon zu ver-melden: Die USA und Europa verlieren Industriearbeitsplätze,die von den Arbeitsplätzen der Dienstleistungsbranche nicht(Europa) oder nicht gleichwertig (USA) ersetzt werden. Diepolitische und kulturelle Dominanz des Westens wird zuneh-mend in Frage gestellt und auch das militärische Hoheitsgebietist geschrumpft. In Europa sind die Amerikaner nicht mehrBesatzer, nur noch Partner; in Asien vor allem Geduldete. Inder arabischen Welt stehen die westlichen Staaten nahezuüberall auf verlorenem Posten.

Ökonomische Stärke ist nicht die Garantie, aber die Voraus-setzung dafür, Weltmacht sein zu können. Aus ihr leiten sichalle anderen Formen von Überlegenheit ab, die militärischeund die politische. Selbst die Geste der moralischen Über-legenheit bezieht erst aus einer florierenden Volkswirtschaftihre Strahlkraft. An die Sowjetunion werden sich viele imWesten bald schon mit Wehmut erinnern. Das kommunistischeWeltreich, das sich Anfang der 90er Jahre nahezu lautlos ausder Weltgeschichte verabschiedete, war zeitlebens ein dank-bares Gegenüber. Die Herrscher im Kreml zeigten sich ge-legentlich launisch und laut, aber Hasardeure waren sie nicht.Mehr als ein paar regionale Militäreinsätze in Ungarn, der

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Tschechoslowakei und Afghanistan haben sie nicht befehligt.Lenin war der hartherzige Erbauer des Imperiums, Stalin seineinzig wahrer Despot. Schon die ihm folgenden Männer such-ten den Ausgleich mit dem Westen. Sie liebten den Wodkamehr als den Konflikt.

Ökonomisch kränkelte das System von Kindesbeinen an.Die Planwirtschaft, deren größte Verlässlichkeit in der Fehl-planung bestand, konnte der Marktwirtschaft nicht das Wasserreichen. Auch der sozialistische Sozialstaat erwies sich als derarme Verwandte des westlichen Wohlfahrtsstaats; er fiel vorallem durch seine großsprecherische Art auf. Die so genannteVolksdemokratie entpuppte sich als eine Diktatur der Bürokra-ten, die ihre größte Vitalität immer dann entfaltete, wenn esum das Bespitzeln und Wegsperren von Andersdenkendenging. Die Führung der KP alterte in einem Tempo, das frühschon die Sterblichkeit der ganzen Unternehmung erahnenließ. War beim 18. Parteitag im März 1939 noch jeder zweiteDelegierte jünger als 35 Jahre, gehörten bereits beim 19. Par-teikonvent 1952 nur noch sechs Prozent der Delegierten dieserAltersgruppe an.

Der Westen fing an, diesen greisen Gegner zu mögen. Lust-voll wurden in Hochschulen und Parlamenten Systemverglei-che angestellt mit dem Ziel, sich an der eigenen Überlegenheitzu berauschen. Die Länder östlich des Eisernen Vorhangswaren zwar bis zuletzt eine Bedrohung, aber keine Herausfor-derung mehr. Der Wettbewerb der Systeme war entschieden,bevor er gewonnen war. Der Kalte Krieg lebte auf beiden Sei-ten der Demarkationslinie nur noch als Ritual weiter, bisMichail Gorbatschow auch dieses Spiel auf dankenswertschnörkellose Weise beendete.

Die Sowjetunion verstarb lautlos, Russland blieb als verwun-deter Staat zurück. Wir werden noch hören von diesem großenVerlierer des vergangenen Jahrhunderts, der seine Ruhe so nichtfinden kann. Im Land rumort es und mit keinem Frühwarn-

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System der Erde lässt sich messen, ob und wann dieses Rumorenzu Verwerfungen an der Oberfläche fuhren wird. Der Unruhe-herd bleibt, aber als Weltmacht wird sich Russland zu unserenLebzeiten wohl nicht wieder erheben. Allenfalls als Energie-großmacht hat das Land eine Chance, vorne mitzuspielen.

Der Abstieg des Sowjetreichs und der zeitgleiche AufstiegAsiens wurden erst bemerkt, als die Ereignisse sich schonüberschlugen. Die Sowjets sah zunächst keiner gehen. DieAsiaten hörte keiner kommen. Und selbst als beides sich voraller Augen abspielte, sahen die wenigsten den Zusammen-hang. Der Westen träumte von der nun falligen Friedensdivi-dende. Gönnerhaft sprach man den USA die Rolle als einzigverbliebene Supermacht zu. Männer wie Francis Fukuyama,damals stellvertretender Chef des Planungsstabs im StateDepartment, erklärten ihre politischen Träume sogar zur Rea-lität: »Was wir erleben, ist vielleicht nicht nur das Ende desKalten Kriegs oder einer bestimmten Periode der Nachkriegs-zeit, sondern das Ende der Geschichte überhaupt; also derEndpunkt ideologischer Evolution der Menschheit und derBeginn der westlichen liberalen Demokratie als gültige Formmenschlicher Regierung.«

Dabei ereignete sich zur gleichen Zeit das genaue Gegen-teil: Die Geschichte hatte ein neues Kapitel aufgeschlagen.Ein schlafender Riese war aufgewacht. Fernab der westlichenliberalen Demokratie schickt sich Asien seither an, Weltge-schichte zu schreiben. Niemand weiß, ob der Vorstoß in dieSpitzengruppe der Nationen gelingen wird und welchen Preisdann die anderen zu entrichten haben. Aber wer sehen und füh-len kann, sieht und fühlt es: Asien vibriert. Die Geschichtegeht weiter. Das Ausscheiden der einen Supermacht wirdvom Aufstieg einer anderen begleitet. Asien ist dabei, seinenüber 500 Jahre langen Zyklus von Rückständigkeit und Armutzu beenden. Das asiatische Jahrhundert steht nicht bevor, eshat begonnen.

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Die Aufrüstung der asiatischen Fabriken und Universitätenveränderte Europa und die USA womöglich stärker, als es derKalte Krieg jemals getan hat. Der Kalte Krieg einte den Wes-ten. Länder verschiedenster Herkunft wurden zusammenge-schweißt, erst im Geiste und dann in der Nato; zuletzt in derEuropäischen Gemeinschaft, die korrekterweise Westeuropä-ische Gemeinschaft hätte heißen müssen. Selbst die großenGegenspieler einer jeden westlichen Volkswirtschaft fandenzueinander: Kapitalist und Arbeitnehmer rückten im Ange-sicht der kommunistischen Gefahr dichter zusammen, als esKarl Marx in seinen Schriften für sie vorgesehen hatte.

Die Konzerne auf beiden Seiten des Atlantiks befanden sichzwar im Wettbewerb, aber es war ein Wettbewerb unter Glei-chen. Man war immer Partner und Konkurrent zugleich: Fordund General Motors wurden groß, Volkwagen und Fiat auch.Goldman Sachs und Citigroup zogen in die Welt hinaus, dieDeutsche Bank und Credit Lyonnaise hinterher. Im Windschat-ten des Dollars wuchs die Deutsche Mark heran.

Der Westen durfte stolz auf sich sein. Er besaß die besserfunktionierende Wirtschaft, ein angesehenes Gesellschaftsmo-dell und Politiker, die wie John F. Kennedy, Konrad Adenauer,Willy Brandt und Charles de Gaulle weit über ihren Tod hinausvorzeigbar blieben.

Nach dem Krieg waren alle Länder diesseits des EisernenVorhangs wie Phönixe aus der Asche aufgestiegen, der neueFreund jenseits des Atlantiks blies mächtig Luft unter die Flü-gel. Man war Franzose, Italiener, Brite, Deutscher, Österrei-cher, aber vor allem fühlte man sich als Sieger der Geschichte,mehrere Jahrzehnte lang. Ein Mitleidsblick fiel auf alle Völkerder südlichen Hemisphäre, die sich mühten, den Slums, demHochwasser, den korrupten Diktatoren zu entkommen, umwenigstens ihr nacktes Dasein zu retten. Es schien ein Natur-gesetz zu sein, dass außerhalb der etablierten Industriestaatenkeine weitere Zone der Prosperität existieren konnte. Milliar-

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den von Menschen, im Grunde die gesamte arbeitsfähige Be-völkerung aus China, der Sowjetunion, Bulgarien, Rumänien,Ungarn, der DDR, Jugoslawien und Indien, waren als Wettbe-werber auf den Gütermärkten und Teilnehmer auf den Arbeits-märkten weitestgehend nicht existent. Sie lebten und arbeite-ten, aber auf einer anderen, uns fremden Galaxie. Ging es umdiese Völker, senkten sich die Augenlider und oft verbarg sichhinter der Anteilnahme nur das Unverständnis für das fremde,das raue, das entbehrungsreiche und politisch zumeist unfreieLeben auf der anderen Seite der Erde. Die Welt des Westenswar auch deshalb in Ordnung, weil sie anderswo in Unordnungwar. Das Leben schien heil, weil das der anderen so offensicht-lich kaputt war. Diese Welt des Westens ist zerbrochen.

Die asiatische Herausforderung spaltet die westlichen In-dustriestaaten. Die Unternehmer kollaborieren mit den Staatenund Konzernen in Fernost, weil es ihren Geschäften gut tut.Die Arbeitnehmer im Westen aber hören millionenfach auf,Arbeitnehmer zu sein. Die Sowjets hatten in DeutschlandIndustrieanlagen demontiert, weil sie Kriegsgewinner waren.Die Chinesen demontieren in den USA und Europa Kokereienund Stahlwerke, weil sie nur noch bei ihnen rentierlich zu be-treiben sind. Das eine war die Folge des Zweiten Weltkriegs,das andere ist Teil eines lautlos geführten Weltwirtschafts-kriegs. Der tötet nicht und entfesselt fürs Erste auch keineFeuerbrunst. Aber es scheint, als wolle er die wirtschaftlicheExistenz von Millionen ruinieren, was auch viele Nicht-Be-troffene frösteln lässt. Der Glaube an die westliche Überlegen-heit ging vielen in den vergangenen Jahren verloren und selbstdie größere Effektivität seines politischen und ökonomischenSystems ist eine Behauptung, die erst noch zu beweisen wäre.Demokratien bevorzugen offene Märkte, heißt es seit jeher.Doch diese Zuneigung beruht offenbar nicht auf Gegenseitig-keit: Offene Märkte bevorzugen nicht unbedingt Demokratien.

Ängste ziehen auf, düstere Vorahnungen machen die Runde,

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die sich nicht mehr so einfach vertreiben lassen. Im April 2004fand in einem grauen Gemäuer am Berliner Tiergarten, das derDeutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik als Sitz dient,unter Ausschluss der Öffentlichkeit ein denkwürdiges Treffenvon Investmentbankern, Staatssekretären, ehemaligen Minis-tern und Wirtschaftsführern statt. »China als neue Wirtschafts-macht« war das Thema, die Diskussion wurde mit großerOffenheit geführt. Sie hatte einen warnenden Unterton.

Die deutsche China-Euphorie werde so bedingungslos nir-gendwo auf der Welt geteilt, berichtete der Vizepräsident derAsienabteilung von Siemens. Die deutsche Debatte sage mehrüber die deutschen Wirtschaftsinteressen aus als über China,meinte auch Eberhard Sandschneider, der Direktor des Insti-tuts. In den USA gebe es »Warnungen, die den Konkurrenzge-sichtspunkt bis hin zu machtpolitischen Fragen in den Vorder-grund stellten«, in Japan werde die Entwicklung in China »mitgroßer Unruhe« gesehen, das Reich der Mitte stelle dort in»erster Linie eine Bedrohung dar«. Er selbst, fasste Sand-schneider seine Beobachtungen zusammen, sehe ein Chinavor sich, das »im Moment die Regeln des Westens akzeptierenmuss«. In einigen Jahren werde es dies wahrscheinlich nichtmehr tun: »Dann fangen die Lektionen für den Westen an.«

Das von dem Treffen gefertigte Protokoll wurde später als»Vertraulich - nur zur eigenen Information« deklariert.

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KAPITEL 4

Weltkrieg um Wohlstand. Wie Machtund Reichtum neu verteilt werden

Gleicher Lohn für gleiche Arbeit.Ein Weltarbeitsmarkt entsteht

Der Kapitalist geht dahin, wo die Verzinsung seines Kapitalsam höchsten ausfällt. Er baut eine Fabrik unter Palmen odertreibt einen Stollen ins ewige Eis; Hauptsache am Ende desJahres ist mehr Geld in der Kasse als zu seinem Beginn. Daswichtigste Ziel des Kapitals ist es nun mal, sich zu vermehren.Wenn es das Gegenteil täte, wäre niemandem geholfen, auchnicht den Arbeitnehmern. Meist schmelzen dann die Arbeits-plätze zügig hinterher. In der Zeitung taucht erst das WortMissmanagement auf, dazu gesellen sich in dichter Abfolgedie Vokabeln Krise, Sanierungsplan, Arbeitsplatzabbau.

Am Ende entscheidet sich die Überlebensfähigkeit derArbeitsplätze ohnehin an einer Frage, die in ihrer Schlichtheitschwer zu überbieten ist: Gelingt es, aus Kapital mehr Kapitalzu machen? Kein Kapitalist wird zusehen wollen, wie seinEinsatz von Tag zu Tag schwindet. Tut er es wider Erwartendoch, hört er bald schon auf, Kapitalist zu sein.

Die Arbeiter sind besser beleumundet, obwohl sie genausoherumvagabundieren. Lässt man sie ungestört ziehen, gehensie dahin, wo hohe Bezahlung und gesicherter Lebensstandardlocken. Die Süditaliener wandern in den Norden ihres Landes,die Ostdeutschen nach Westdeutschland, die Südamerikanernach Nordamerika und Millionen von Menschen überquerenOzeane und Kontinente, nur um dem gelobten Land oder wassie dafür halten, näher zu kommen.

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Die große Ungerechtigkeit besteht darin, dass das Kapitalnahezu überall willkommen ist, die Arbeiter sind es nicht.Das Geld wird weltweit angelockt mit allen Tricks und Knif-fen; vor den herumziehenden Arbeitern aber schließen dieStaaten ihre Tore. Wenn es sein muss, übernimmt sogar dasMilitär die Abwehr der Störenfriede. Die weltweite Wande-rung der Arbeitskräfte will man unterbinden oder doch zumin-dest einschränken. Auch den Türken wurde in dieser Hinsichtreiner Wein eingeschenkt: Noch vor Beginn der Verhandlun-gen über ihren Beitritt zur Europäischen Union teilte manihnen mit, dass sie im besten Fall eine Eintrittskarte zweiterKlasse bekommen würden. Die Freizügigkeit der Arbeit-nehmer, also das Recht, den Wohn- und Arbeitsort frei zuwählen, will den heute 70 Millionen und im Jahr 2015 über80 Millionen Türken selbst der glühendste Befürworter ihresEU-Beitritts nicht gewähren. Ein ganzes Volk darf erst dannMitglied der Europäischen Union werden, wenn es hoch undheilig verspricht, deren Boden nur als Tourist zu betreten.Das ist politisch und ökonomisch geboten, aber merkwürdigist es schon: Als würde man eine Einladung zum Sommerfestmit der ausdrücklichen Bitte verknüpfen, nur ja nicht zu er-scheinen.

Die Angst vor einer unkontrollierten Bewegung der Arbeits-kräfte existiert in jedem System. Die DDR fürchtete sich vorder Abwanderung von Arbeitern und baute eine Mauer, diesie mit Tretminen umgab. Europa ängstigt sich vor der Zuwan-derung von Arbeitern und hält seine Grenzen fest geschlossen.Europa und die DDR waren -jeder auf seine Art - mit der Ab-schottung erfolgreich. Die Zu- und Abwanderung von Men-schen lässt sich also durchaus kontrollieren. Wer bereit ist,auf seine Landsleute schießen zu lassen, kann sein Volk füreinige Zeit zusammenhalten. Wem es gelingt, ungebeteneGäste gewaltsam abzuschieben, hält sein Territorium weitge-hend frei von Fremden.

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Es gibt noch ein weiteres wichtiges Merkmal, in dem sichArbeit und Kapital voneinander unterscheiden. Das Kapitalund der Kapitalist sind eine Einheit, das eine kann ohne denanderen nicht leben. Sie sind verschweißt und verlötet. Staatenwie die DDR, die durch Verstaatlichung versuchten, das Kapi-tal von seinen privaten Eigentümern zu trennen, haben es bitterbereut. Auch die experimentierfreudigen Franzosen lernten diewichtigste ökonomische Lektion am eigenen Leib: Trennt mandas Kapital vom Kapitalisten, beginnt es bald schon, sich auf-zulösen.

Francois Mitterrand war kaum zum sozialistischen Prä-sidenten gewählt, da ging er an die Umsetzung seines tollküh-nen Wahlversprechens. Er werde »den Bruch mit dem Kapita-lismus« vollziehen, hatte er vor den Wählern getönt, und sogeschah es nun auch: Die Regierung verstaatlichte Anfangder 80er Jahre die großen Banken und ein Dutzend der be-deutendsten Industriekonzerne. Den Unternehmen ist dieserBruch nicht gut bekommen. Die Gewinne schrumpften, ersteVerluste schreckten bald schon die Öffentlichkeit auf, imKabinett richtete Finanzminister Jacques Delors eindringlicheWorte an Mitterrand: »Alles, worüber du sprichst, ist dasBorgen von Geld. Wenn wir unter die Konkursverwaltung desInternationalen Währungsfonds geraten, wirst du mich ver-antwortlich machen«, sagte er. Premierminister Pierre Mau-roy sprang ihm bei, was Mitterrand nur noch mehr erboste:»Ich habe euch nicht ernannt, damit ihr die Politik von FrauThatcher betreibt«, wütete er.

Die neuen Staatskonzerne trudelten indes weiter in die Ver-lustzone; die internationalen Investoren fingen an, ihr Geld ausFrankreich abzuziehen. Auf den Finanzmärkten kam es zu spe-kulativen Angriffen auf den Franc. Die Regierung, deren Zah-lungsfähigkeit bereits arg gelitten hatte, organisierte einenNotkredit aus Saudi-Arabien, um die Spekulanten abzuweh-ren. Was für eine Demütigung für die Grande Nation! Der Zau-

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ber des sozialistischen Experiments war schnell verflogen.Mitterrand selbst verordnete dem Land die Kehrtwende: DasKapital und die Kapitalisten sollten wieder zueinander finden.Die Re-Privatisierung der Staatskonzerne begann. »Der Staatmuss fähig sein, sich zurückzuhalten«, so der geläuterte Präsi-dent.

Die DDR, die diesen Rückwärtsschritt nicht zu gehen bereitwar, hauchte ihr Leben aus. Die Unternehmen blieben staat-lich, bis deren Substanz sich nahezu aufgelöst hatte. ErichHonecker und sein Politbüro hatten erkennbar die falschenBücher gelesen; bei Karl Marx und Friedrich Engels ist diewichtigste Erkenntnis über das Wesen des Kapitals nicht zufinden, die da lautet: Das Kapital und der Kapitalist gehörenzusammen wie Baum und Borke.

Die Arbeit und der Arbeiter leben nicht in der gleichenSymbiose, das ist ihr Nachteil von Anfang an. Ihr Kommenund Gehen über Landesgrenzen hinweg kann gestoppt werden.Ihr Arbeitsplatz aber lässt sich durch den Einsatz von Grenz-soldaten nicht halten. Dass es den Staaten des Westens den-noch jahrzehntelang gelungen ist, auf den Arbeitsmärktenweitgehend unter sich zu bleiben, wirkt in der Rückschau wiedas eigentliche Wunder der Nachkriegsjahre. Die Nationentauschten alles Mögliche miteinander, führten ein und führtenaus, Bananen und Fernsehgeräte, Benzin und Stahlplatten, dasGeld wurde hin und her überwiesen, aber der Ex- und Importvon Arbeitern unterblieb. Westdeutschland holte eine Zeit langzwar türkische Gastarbeiter ins Land, aber für sie galten schonnach kurzer Zeit die gleichen Regeln wie für die Einheimi-schen.

Auch zwischen Europa und Amerika wiesen die Arbeits-märkte keine allzu großen Unterschiede auf. Die Unternehmerdiesseits und jenseits des Atlantiks waren Konkurrenten, nichtRivalen. Sie zahlten Löhne und keine Almosen. Kinder warenKinder und keine Knechte. Die bürgerliche Gesellschaft sorgte

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schon per Gesetz für einen zivilisierten Umgang zwischenArbeitnehmer und Fabrikant, sodass beide nach all den wüstenJahrzehnten von Ausbeutung und Klassenkampf deutlich näherzueinander rückten.

Die kommunistischen Führer in Osteuropa beobachteten daswestliche Tete-a-Tete der Sozialpartner mit Argwohn, aber sienahmen an ihm nicht teil. Sie tauschten mit dem Westen Roh-stoffe und Waren, aber seinen Arbeits- und Kapitalmärktenblieben sie fern. Auch die Dritte Welt lebte auf einem anderenStern, westliches Desinteresse und das eigene Unvermögensorgten für den Ausschluss von jenem Prozess, den wir heuteGlobalisierung nennen. Das westliche Kapital hielt sich in gro-ßer Entfernung zu den Armutsgalaxien auf, man kaufte dortein, aber man ließ sich dort nicht nieder, weshalb auch dieArbeitsplätze nur eine geringe Neigung verspürten, den Wes-ten zu verlassen.

Das alles hat sich gründlich verändert. Der Graben zwi-schen dem Westen und dem Rest der Welt wurde zugeschüttetund stellt nun eher eine Brücke dar. Die Kapitalisten stürmenabenteuerlustig hinüber, sie machen von der neu gewonnenenReisefreiheit reichlich Gebrauch. Sie besichtigen die ent-legendsten Orte der Erde in der erklärten Absicht, sich dorthäuslich niederzulassen. Ihre Fabriken entstehen allerortenund die Arbeitsplätze ziehen ohne zu zögern hinterher.

Die Summe aller Direktinvestitionen, also jener Gelder, dievon einer Nation außerhalb der eigenen Landesgrenze inves-tiert werden, betrug 1980 erst 500 Milliarden Dollar. Der Kapi-talist alter Schule war ein eher häuslicher Typ.

Sein Nachfolger ist von anderem Kaliber. Mittlerweile sinddie Direktinvestitionen auf zehn Billionen Dollar gestiegen,ein plus von fast 2000 Prozent in nur 25 Jahren. Der Kapitalistist vielerorts unruhig geworden und verlangt dieselbe Reise-lust nun auch von den Arbeitsplätzen. Der Unternehmer altenTyps war ein Patriarch und oft war er sogar nationaler gesinnt

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als seine Mitbürger. Der moderne Kapitalist ist ein Vielfliegermit Bonuskarte, er ist überall zu Hause und überall fremd. Werihn als Nationalisten bezeichnet, wird zu Recht aufsein Unver-ständnis treffen.

Mit ihm ziehen nun auch die Arbeitsplätze durch die Welt.Sie verlassen den Westen und kommen in einem anderen Landwieder zum Vorschein. Sie tauchen in einem indischen Soft-wareunternehmen auf, begegnen uns in einer ungarischenSpielwarenfabrik oder einer chinesischen Werkshalle für Fahr-zeugmotoren. Auch wenn oft das Gegenteil behauptet wird:Arbeitsplätze verschwinden nicht im Nichts. Sie werden durchTechnik ersetzt oder durch einen Arbeiter, der andernorts zuHause ist.

Eine Unerhörtheit geschah, mit der so keiner gerechnet hatte:Ein Weltarbeitsmarkt ist entstanden, der sich täglich ausweitetund das Leben und Arbeiten von Milliarden Menschen spürbarverändert. Über ein unsichtbares Leitungssystem sind Men-schen, die sich nicht kennen und zum Teil nicht einmal von derExistenz des jeweils anderen Landes wissen, miteinander ver-bunden. Asien, Amerika und die beiden Hälften Europas rück-ten zusammen, bilden nun einen Weltmarkt für alles, was han-delbar ist: Die Finanzexperten pumpen das Kapital durch denWirtschaftskreislauf, die Kaufleute schicken ihre Waren umherund auf dem Weltarbeitsmarkt stehen sich erstmals Milliardeneinfacher Menschen gegenüber. Das eben unterscheidet dieheutige Globalisierung von den frühen Handelsnationen, denKolonialimperien und dem Industriekapitalismus in der Mittedes 19. Jahrhunderts: Zum ersten Mal in der Geschichte hatsich ein weitgehend einheitliches Wirtschaftssystem herausge-bildet, das ausnahmslos alle Produktionsfaktoren umfasst:Kapital, Rohstoffe und die menschliche Arbeitskraft werdenheute gehandelt wie früher Silber und Seide.

Vieles ist ins Rutschen geraten, von dem wir dachten, dasses zementiert sei. Macht und Reichtum werden neu verteilt,

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die Lebenschancen auch. Wir alle schauen auf die eine Welt -aber mit höchst unterschiedlichem Blick.

Die Neuankömmlinge im Weltarbeitsmarkt blicken optimis-tisch nach vorn, sie erwarten Großes von der Zukunft. Erst-mals können etliche von ihnen einen Lohn nach Hause tragen,der mehr ist als ein Trinkgeld. Der weltweite Arbeitsmarkt istfür sie eine unerhörte Verheißung. Das Ende der Armut ist fürsie kein Traum mehr, sondern erstmals eine Perspektive, dieden Zusatz realistisch verdient. Die vorherrschende Grund-stimmung der Neuankömmlinge ist geprägt von Neugier, Ent-schlossenheit und Tatkraft. Armut ist nicht mehr eine Fragedes Schicksals, sagt der peruanische Schriftsteller und früherePräsidentschaftskandidat Mario Vargas Llosa, sondern eineFrage des Wollens. Jede Nation könne sich entscheiden, reichzu werden oder arm zu bleiben. Die neue Welt ist, so gesehen,eine einzige große Chance.

Für Millionen von Arbeitnehmern des Westens hält die neueZeit eine andere Lektion bereit, weshalb der Optimismus derfrühen Jahre bei ihnen verflogen ist. Viele werden in den kom-menden Jahren aufhören, Arbeitnehmer zu sein. Selbst dort,wo die westlichen Beschäftigten sich mutmaßlich halten kön-nen, reißt es ihre Löhne in die Tiefe, nicht in einem Rutsch,aber mit jedem Jahr ein bisschen. Soziale Verabredungen, diegestern Teil einer großen Gewissheit waren, verlieren ihre Gül-tigkeit. In ihrem Leben macht sich etwas breit, das sie bisher indiesem Ausmaß nicht kannten: Unsicherheit.

Ihre vorherrschende Grundstimmung ist eine Verzagtheit,die leicht auch in Wut umschlagen kann. Die neuen Kundenaus Übersee, von denen die Unternehmer schwärmen, sindfür sie auch Konkurrenten. Die neue Welt erscheint ihnen alsein einziges Risiko.

Für Angreifer wie Verteidiger ist das Entstehen eines Welt-arbeitsmarkts ein Vorgang von historischer Dimension, wieschon der Blick auf die ungewöhnlich großen Menschenmas-

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sen belegt, die nun in seine Richtung drängen. 90 MillionenArbeiter aus Hongkong, Malaysia, Singapur, Japan und Tai-wan schlössen sich in den 70er Jahren dem Wirtschaftssysteman, das bis dahin Westeuropäer, Kanadier und Amerikanernahezu allein beschickt hatten. Die Tigerstaaten wurden mitgroßem Staunen, die Japaner mit der ihnen gebührenden Ehr-furcht begrüßt. Doch diese Neuankömmlinge im Weltarbeits-markt waren nur die Vorhut der Moderne.

Wenig später schon baten die Chinesen um Einlass; nachdem Ableben der Sowjetunion folgten Osteuropäer und Inder,womit nun innerhalb einer Zeit, die historisch kaum mehr istals ein Augenaufschlag, rund 1,5 Milliarden zusätzliche Men-schen im erwerbsfähigen Alter ihre Arbeitskraft anbieten. Wasfür eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse: Die 350 Millio-nen gut ausgebildeten, aber teuren Arbeitskräfte des Westens,die eben noch große Teile der Weltproduktion unter sich aus-machten, sind fast über Nacht in die Minderheit geraten.

Schon diese Angebotserweiterung wäre mehr als beachtlich,aber dabei bleibt es nicht. Innerhalb der Angreiferstaatenwachsen aufgrund der meist hohen Geburtenraten immerneue Menschen nach, die nur darauf brennen, sich dem Welt-arbeitsmarkt anzudienen. Sie wollen einen Job, koste es, wases wolle. Die Wirtschaftsmaschinerie muss immer neue Ar-beitsplätze hervorbringen, nur um die nachdrängenden Massenhalbwegs versorgen zu können. In den vergangenen zehn Jah-ren stieg die Belegschaft im Weltarbeitsmarkt, obwohl keinneuer Staat mehr hinzukam, nochmals um 400 Millionen Men-schen. Weitere 200 Millionen Menschen, sagt die dafür zustän-dige Internationale Arbeitsorganisation der UN in Genf, wür-den gern arbeiten, können derzeit aber keinen noch so schlechtbezahlten Job ergattern. Sie sind arbeitslos und das heißt: Siesind Arbeiter im Wartestand.

Viele von ihnen haben noch nie einen regulären Arbeitsplatzbesessen. Sie leben als Lumpenproletarier, Handlanger, Tage-

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löhner oder Slumbewohner, was sie aber aus gutem Grundnicht länger sein wollen. Sie wollen Arbeiter im Weltarbeits-markt werden. Also drängen sie in die Fabriken, die Lagerhal-len und auf die Großbaustellen; das weltweite Arbeitskräftepo-tential verzeichnet seit Beginn der 90er Jahre einen Zuwachsvon 200 000 Arbeitskräften pro Tag. Sie alle strömen dorthin,wo sie Wohlstand und Wachstum vermuten, wo sich mutmaß-lich von der Zukunft ein Stück abschneiden lässt, das saftigerist als die magere Gegenwart.

Nie zuvor in der Geschichte hat es eine derartige Aus-weitung des Arbeitskräfteangebots gegeben. Eine regelrechteArbeiterinflation ist in Gang gekommen, denn dieser Ange-botserweiterung steht keine auch nur annähernd vergleichbareNachfrage gegenüber.

Die westlichen Unternehmer können ihr Glück kaum fassen.Die Regierungen rollen ihnen die roten Teppiche aus und auchihr alter Gegenspieler, die Arbeiterklasse, macht höflich denDiener. Eine derart üppige Auswahl an willigen und billigenArbeitern besaßen die Unternehmen noch nie. An jeder Eckepfeift man ihnen hinterher. Die Arbeiter aber sehen sichumringt und umzingelt von anderen Arbeitern, die ihnen nachdem wirtschaftlichen Überleben trachten. In der Hitze desGefechts beginnen die Erfolge früherer Arbeitskräfte und poli-tischer Einflussnahmen zu verdunsten.

Die eiserne Faust des Markts

In den Banken flimmern die Börsenkurse aus aller Welt überdie Bildschirme. Innerhalb weniger Minuten, manchmal auchSekunden, kommt es zur Angleichung von amerikanischenNotierungen und europäischen Kursen. Würde im Arbeitsamtein Bildschirm mit den Löhnen der verschiedenen Länderinstalliert, wären viele überrascht, was sie da zu sehen bekä-

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men. Im Weltarbeitsmarkt ist dieselbe Annäherung der Kursezu beobachten, nur in Zeitlupe. Durch das zusätzliche Milliar-denangebot an Arbeitswilligen ist etwas in Gang gekommen,das bald schon mit großer Wucht auch den Mittelbau der west-lichen Gesellschaften verändern wird: Die Löhne und damitauch die Lebensstandards der einfachen Arbeiter bewegensich aufeinander zu. Ausgerechnet das Kapital sorgt dafür,dass die alte linke Forderung nach gleichem Lohn für gleicheArbeit nun weltweit durchgesetzt wird.

Das Wort Tarifautonomie erfährt einen neuen Sinn. Bisherverhandelten Arbeitgeber und Arbeitnehmer des Westens ihreLöhne autonom vom Staat. In Zeiten der Arbeiterinflation abersetzen die Arbeitgeber die Löhne autonom von den Gewerk-schaften fest, denn sie finden nun überall Millionen von Be-schäftigten, die bereit sind, den Nachbarn zu unterbieten. DieLöhne Osteuropas und Südostasiens steigen, die des Westensverlieren an Höhe, die in China und Indien bewegen sich fürdie Masse der Beschäftigten auf niedrigstem Niveau. Von denknapp drei Milliarden Menschen, die derzeit auf dem Welt-arbeitsmarkt aktiv sind, verdient ungefähr die Hälfte wenigerals drei Dollar pro Tag, was zweierlei bedeutet: Diese Men-schen sind bettelarm, erstens, und sie drücken, zweitens, mitihren Armutslöhnen auch die Löhne der anderen nach unten.Denn die Menschen am untersten Ende der Lohnpyramidesind mit denen in der Mitte auf schicksalhafte Weise verbun-den.

Einer der großen Irrtümer unserer Tage liegt darin zu glau-ben, dass die Millionen von Wanderarbeitern in China und dieTarifangestellten in Wolfsburg und Detroit nichts miteinanderzu schaffen hätten. Das scheint so, aber so ist es nicht. Der einekennt die Autostadt Wolfsburg nicht und der andere hat nureine vage Vorstellung davon, was es heißt, ein Wanderarbeiterzu sein. Dennoch sind ihre Biografien auf das Engste mitei-nander verbunden.

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Der Wanderarbeiter, der oft in käfigähnlichen Verschlagenwohnt und ohne rechtliche Absicherung in der Zulieferfirmaeiner chinesischen Autofabrik seiner Arbeit nachgeht, konkur-riert mit dem festangestellten, aber ungelernten Arbeiter ebendieser chinesischen Fabrik. Die Löhne von beiden sind inSichtkontakt zueinander, weil der Wanderarbeiter sich nichtsdringender wünscht, als den Job des chinesischen Festange-stellten zu übernehmen. Die örtlichen Unternehmer sind inder dauernden Versuchung, den einen gegen den anderen aus-zuspielen. Beide sind, ob sie es wollen oder nicht, erbitterteLohnkonkurrenten.

Natürlich bemüht sich der Hilfsarbeiter, dieser Lohnkonkur-renz zu entkommen. Er will zum Facharbeiter der chinesischenPKW-Fabrik aufsteigen, mindestens das. Überstunden, Fort-bildungskurse, Lohndisziplin: Er ist bereit, dafür vieles zutun. Hauptsache, er kann künftig der privilegierten Kaste jun-ger und gut ausgebildeter Chinesen angehören. Was der Wan-derarbeiter für ihn ist, ist er für den angestammten Facharbei-ter, ein beinharter Rivale nämlich. Er wird jeden noch soniedrigen Einstiegslohn akzeptieren, zumal keine Interessen-vertretung bereitsteht, ihn davon abzuhalten.

Wenn er den Aufstieg geschafft und ein paar Jahre Berufs-erfahrung gesammelt hat, wird er zum Gegenspieler der Auto-bauer im Westen. Persönlich ist man einander weiterhin fremd,ökonomisch hängt der eine mit dem anderen nun unwiderruf-lich zusammen. In den Computern der Vorstände sind Lohnund Leistung der beiden Kontrahenten gespeichert. Als Zah-lenkolonnen begegnen sie sich. Bei jeder Investitionsentschei-dung laufen sie gegeneinander.

Der Wissenschaftler Franz Oppenheimer hat bereits vorknapp 100 Jahren eine »Theorie des Arbeitslohnes« veröffent-licht, die nun weltweit ihre Bestätigung findet. Er wusste, dassdie Unterschiede in den Lohnniveaus nicht durch die Lebens-umstände bestimmt sind, auch wenn die Wohnung in Pader-

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born deutlich teurer ist als die in Kalkutta. Das interessiert beider Lohnfindung aber nur am Rande. Entscheidend ist »dierelative Seltenheit« dessen, was der Arbeiter der Welt zu bie-ten hat. Ist er ein Solitär wie Bill Gates, darf er zu den Sternenaufsteigen. Ist er einer von wenigen, wird es ihm wohl ergehen.Ist er einer von vielen, bekommt er nur ein Handgeld ausge-zahlt. Wenn immer mehr Menschen dasselbe bieten, kommtes zu einer Entwertung ihrer Arbeitskraft. Oppenheimerspricht von einer »Gleichgewichtsstörung«, bevor sich der Ar-beitsmarkt auf niedrigerem Niveau wieder einpendelt. Alles,was der Arbeiter von nun an tut, ist zwar genauso anstrengendwie zuvor, es treibt ihm den Schweiß, es kostet ihn Kraft undNerven, er ist abends ausgepumpt wie ehedem - aber sein Tunist weniger wert, weil er nun weniger selten ist.

Die Lohnanpassung im Westen kennt zwei Erscheinungsfor-men, und nur eine davon ist für alle sichtbar. Es handelt sichdabei um die reguläre Lohnsenkung, wie sie heute für Arbeiterund kleine Angestellte im Westen gang und gäbe ist: mehrarbeiten für weniger Geld, reduzierte Zulagen, dafür höherestaatliche Abgaben. In allen Ländern des Westens fand in denvergangenen zehn Jahren ein Abschmelzen der einfachenLöhne statt. Seit Mitte der 90er Jahre gab es in Deutschland,dem größten Land der Europäischen Union, für die Mehrzahlder Beschäftigten keine realen Lohnsteigerungen mehr. Imunteren Drittel des Arbeitsmarkts sind sogar deutliche Rück-gänge zu verzeichnen.

Die zweite Form der Lohnanpassung ist gefährlicher, weilman sie in keiner Einkommensstatistik findet. Man neigt dazu,sie zu unterschätzen, oder schlimmer noch, sie zu ignorieren.Die Lohnhöhe sinkt in diesem Fall in einem Rutsch auf nullEuro, der Arbeiter taucht in keiner Einkommensstatistik mehrauf und fortan schauen alle nur noch auf die Zahl der Übrigge-bliebenen. Das beruhigt ungemein: Die Arbeiter sind zwarweniger geworden, aber ihre Produktivität steigt nun, die

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Höhe der Stundenlöhne für die Restbelegschaft womöglichauch. Seit mehreren Jahren gehen in Deutschland bis zu 2 000reguläre Jobs pro Werktag verloren. Erst in jüngster Zeit hatsich dieser Exitus verlangsamt. Dennoch: Arbeitslosigkeit istin Wahrheit die brutalste und dennoch in Europa die gebräuch-lichste Form der Lohnangleichung nach unten.

Es werden vor allem Menschen auf den unteren Lohnstufenaus dem Markt gedrängt. Die meisten davon dürften Zeit ihresLebens kein Büro und keine Werkhalle mehr von innen sehen.Das Gespenst der Nutzlosigkeit, von dem Richard Sennettspricht, begleitet sie auf ihrem weiteren Lebensweg, der inaller Regel ein Weg nach unten ist. Anfang der 70er Jahre, derWeltarbeitsmarkt war ein nahezu hermetisch geschlossenerWestarbeitsmarkt, herrschte fast überall Vollbeschäftigung.Arbeiter mussten aus Anatolien angeheuert werden, weil es inDeutschland mehr Arbeit als Arbeitskräfte gab.

Auf dem neuen Weltarbeitsmarkt herrscht Arbeiterüber-schuss. Mittlerweile sind 18 Millionen Europäer von Arbeits-losigkeit betroffen. Rechnet man die ins Privatleben abge-drängten Frauen und die Älteren dazu, die man gegen ihrenWillen in den Ruhestand schickte, sind mehr als 30 MillionenMenschen arbeitslos. Dieses europäische Heer der Stillgeleg-ten entspricht der Einwohnerschaft von Berlin, Paris, London,Madrid, Brüssel, Rom, Lissabon und Athen. Ulrich Beck nenntdiese Menschen die »strukturell Überflüssigen«.

Erst wenn man die Menschen mit den Nulllöhnen und dieverbliebenen Arbeiter und Angestellten zusammen betrachtet,sieht man die tatsächlichen Schrumpflöhne in Europa. Wer nurdie Noch-Beschäftigten betrachtet, bleibt blind. Die Lohn-summe aber fällt in Wahrheit deutlich schneller, als es uns dieEinkommensstatistik weismachen will. Auf dem Weltarbeits-markt findet ein Lohnverfall statt, mit dem im Westen keinergerechnet hatte. Steigender Wohlstand dank steigender Löhne,das war das Versprechen der Nachkriegsjahre. Es wurde über

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Nacht wieder einkassiert. Die Lohnkurven auf den Monitorenim Weltarbeitsamt zeigen für den Westen nach unten. Die rea-len Stundenlöhne in den USA liegen heute unter denen amEnde der 70er Jahre. In Europa sind nahezu überall Reallohn-verluste zu verzeichnen, die vor allem das untere Drittel derBeschäftigten betreffen.

Die früh industrialisierten Staaten stehen am Beginn, nichtam Ende dieser Entwicklung. Vor allem die Ungelernten desWestens, die sich nun an den Billiglöhnen der Ungelerntenandernorts messen lassen müssen, sind in einer wahrhaft un-komfortablen Lage. Ihre Jobs werden aus den Hochlohnlän-dern kühlen Herzens abgezogen, weshalb hierzulande jederVierte ohne Ausbildung zugleich auch ohne Arbeit dasteht.Noch zu Beginn der 70er Jahre hatten fast alle Ungelernteneinen Arbeitsplatz. Das Neue ist nicht, dass die einen qualifi-ziert und die anderen ungelernt sind. Das war schon immer so.Das Verhältnis von Talentierten und Minderbemittelten hatsich nicht verändert. Neu ist, dass die Ungelernten austausch-bar geworden sind. In ihrem Marktsegment herrscht weltweitein Gedränge und Geschubse wie nie zuvor in der Mensch-heitsgeschichte.

Auf eine schnelle Anhebung der Einkommen in Fernostoder Osteuropa sollte niemand setzen. Die Löhne dort sind an-gesichts von Millionen Bauern und Slumbewohnern, die erstnoch auf ihre industrielle Beschäftigung warten, selbst unterDruck. Das Lohnniveau in Fernost steigt deutlich langsamer,als es dem Westen recht sein kann. Selbst ein sofortiges Ein-frieren der Löhne in Westeuropa bringt nicht viel, hat dasMünchner Ifo-Institut errechnet. Bei gleich bleibendem Lohn-anstieg in den Angreiferstaaten wären die Einkommen dieserLänder in 30 Jahren noch immer erst halb so hoch wie im Wes-ten. Es ist derzeit so und nicht anders: Wer in Europa undAmerika seine Lohnhöhe mit nicht mehr begründen kann alsdem Tarifvertrag, den teuren Lebensumständen und der west-

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liehen Tradition des Ausgleichs zwischen Kapital und Arbeit,hat künftig keine Chancen, sich durchzusetzen.

Die bisherigen Erfahrungen mit gewerkschaftlicher Gegen-wehr fielen für die Beschäftigten ernüchternd aus: Wer denProzess aufzuhalten versuchte, beschleunigte ihn. Die Alterna-tive für Deutsche, Franzosen und Amerikaner lautet heutenicht Hochlohn oder Billiglohn. Die Alternative für MillionenMenschen in einfachen industriellen Berufen lautet Billiglohnoder gar kein Lohn.

Dabei geht der Welt keineswegs die Arbeit aus, wie gelegent-lich zu hören ist. Solange nicht weniger, sondern mehr Warenerzeugt, verkauft und konsumiert werden, gibt es auch keineArbeitsplatzverluste. Die Weltwirtschaft erlebt zu Beginn des21. Jahrhunderts einen der größten Wachstumsschübe der ver-gangenen Jahrzehnte. Die Zahl der Beschäftigungsverhältnissesteigt weiter an, trotz Internet und Robotereinsatz. Nur die Ver-teilung der Arbeit hat sich im Zuge des Weltarbeitsmarkts ent-scheidend verändert. Der Ort ihres Wirkens interessiert nurnoch den, der vergeblich seine Arbeitskraft anbietet und nunden Kürzeren zieht. Der Arbeitsmarkt wurde entgrenzt, derweilder westliche Arbeiter auf seiner Scholle kleben blieb.

Ein Schiff wird kommen.Die Arbeitskraft geht auf Reisen

Wer genau hinschaut, kann den Abschied der westlichenArbeitsplätze ziemlich exakt messen. Denn die Arbeitskraft,die im Westen verloren ging, kehrt oftmals in Gestalt einesimportierten Produkts wieder zurück. Dieses Produkt ist nichtsanderes als die geronnene Arbeitskraft, die an einem anderenOrt erbracht wurde. Wir können den Arbeitern in Asien oderOsteuropa von hier aus nicht über die Schultern sehen, aberwir sehen das Ergebnis ihrer Schaffenskraft.

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Sie schicken es uns per Lastwagen, Luftfracht oder Contai-nerschiff und die Zollbehörden führen sehr genau Buch überArt und Umfang dieser Lieferungen. Allein in den Jahren von1997 bis 2003 haben sich die deutschen Importe aus den ver-schiedenen Niedriglohnländern verdoppelt. In diesen sechsJahren wuchsen die Einfuhren aus Ungarn jährlich um durch-schnittlich 17 Prozent und die aus China um 14 Prozent. DieÖkonomen sprechen von »import penetration«, also von derDurchdringung einer Volkswirtschaft mit den Erzeugnissenanderer Länder. Diese Durchdringung hat sich im Westenbeschleunigt, derweil die Eigenproduktion sich nahezu spie-gelbildlich zurückbildete. Einige Sektoren melden bereits eineImportdurchdringung von über 80 Prozent, was nichts anderesbedeutet als den Abschied dieser Industrien aus Europa zuGunsten ihres Neuaufbaus am anderen Ende der Welt.

Die weltweite Wanderung der Arbeitsplätze findet ohneSymbole statt. Es werden keine Grabreden gehalten und keineTränen vergossen. Firmen wie Grundig, Saba und Nordmendesterben, und die Nachfolger heißen Mitsubishi, Sony undSamsung. Wir beobachten das Ableben der britischen Auto-industrie, die einst mit Jaguar, Rover und British LeylandAutogeschichte schrieb, und wenig später wird die Geburt derkoreanischen, malaysischen und chinesischen Automarken ge-meldet. Nur an den kleinen Produktschildern können wir er-kennen, dass sich außerhalb unseres Sichtkreises Großes getanhat. Die Steiff-Tiere sehen plüschig aus wie immer, aber dieeingenähten Personalausweise lassen erkennen, dass viele derBären und Affen eine weite Reise hinter sich haben: »Produ-ziert in China, kontrolliert durch Steiff«, heißt es nun.

Auch komplizierte Produkte sind für die Verlagerung gutgeeignet. Der neueste Apple-Computer sagt auf seiner Rück-seite, woher er stammt: »Designed von Apple in Kalifornien.Zusammengebaut in Taiwan.« Viele Firmen, die wir fürdeutsch, britisch oder französisch halten, sind in Wahrheit be-

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reits Firmen, die in ihren Geburtsländern nur noch Rumpfbe-legschaften unterhalten. Die dürfen kontrollieren, entwickeln,testen, bilanzieren, verpacken und verschicken, was anderen-orts erstellt wurde. Das mag beruhigend sein für alle Kon-trolleure, Entwickler, Tester, Bilanzbuchhalter, Verpacker undVersender, aber eben nicht für die Menschen, die gestern nochproduziert haben. Zumal aus einem Fabrikarbeiter nicht aufdie Schnelle ein Designer oder Finanzbuchhalter wird, waswir ihm nicht vorwerfen dürfen. Designer und Finanzbuchhal-ter wären als Fabrikarbeiter wahrscheinlich eine ähnliche Fehl-besetzung.

Die Fertigungstiefe sinkt, beschreiben die Experten dasPhänomen, und es klingt nach einem Naturgesetz. Aber inWahrheit sinkt nichts, dieselbe Fertigung wird in derselbenTiefe erbracht - nur von anderen Menschen mit anderen Löh-nen in anderen Ländern. Es sind dieselben Experten, die seitlängerem schon das Ende der Industriegesellschaft voraussa-gen. Aber da endet nachweislich nichts. Die Industriebeschäf-tigung steigt im Gegenteil steil an. Weltweit hat sie in den ver-gangenen zehn Jahren um 16 Prozent zugelegt, sodass heuterund 600 Millionen Menschen in den Fabriken dieser Erdebeschäftigt sind. Das Gegenteil ist also richtig: Die Industrie-gesellschaft erlebt weltweit ihre Blütezeit.

Wie unterm Brennglas lässt sich der Trend bei den 30 größ-ten deutschen Aktiengesellschaften beobachten: Die Inlands-beschäftigung schrumpft, im Ausland dagegen schießen dieJobs wie die Keimlinge aus dem Boden. Anfang des 21. Jahr-hunderts war der Wendepunkt erreicht, seither beschäftigendie meisten der Dax-30-Konzerne mehr Menschen im Auslandals im Heimatmarkt, womit das Firmeninteresse und das Wohl-ergehen des Landes sich voneinander zu lösen beginnen.

In den USA das gleiche Bild. »Vaterlandslose Gesellen«,rief US-Präsidentschaftskandidat John Kerry den Firmen hin-terher. Was wie ein Vorwurf klingen sollte, war in Wahrheit

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nichts anderes als eine Beschreibung der Wirklichkeit. DasKapital ist vaterlandslos, die Arbeiter sind es nicht.

Wer geglaubt hatte, die großen Produktionsapparate inFernost und Osteuropa würden auf die Schnelle zusätzlich andie Weltwirtschaft angeschlossen, sieht seine Hoffnung ent-täuscht. Die Integration von Millionen Menschen in Asiengeht einher mit der Desintegration von Millionen in Europaund den USA. Die Aufstiege der einen sind die Abstiege deranderen. Die Arbeitnehmer der Abschiedsgesellschaften unddie Beschäftigten der Angreiferstaaten ergänzen sich nicht,sie ersetzen einander. Es mag so sein, dass der Weltarbeits-markt nach Jahrzehnten der Anpassung für alle Arbeitnehmerausreichend Platz bietet. Das ist ein Traum, den zu träumensich lohnt. Aber es wäre töricht, ihn für die heutige Realitätzu halten. Die einfachen Arbeitnehmer sind in ihrer Mehrzahlheute erbitterte Lohnkonkurrenten; der eine ist nicht selten dasSubstitut des anderen. Die Globalisierung wird seit zehn Jah-ren in Europa von Job- und in Amerika von Einkommensver-lusten begleitet. Das Entstehen neuer produktiver Kerne inOsteuropa und Asien ist derzeit mit einer Kernschmelze inEuropa verbunden, von der vor allem die klassischen Indus-trien betroffen sind.

Die Arbeitsplatzverluste in den alten konnten nicht durchden Aufbau von Arbeitsplätzen in den neuen Wirtschaftszwei-gen ausgeglichen werden, auch wenn Politiker und ihre Wirt-schaftsberater genau das versprochen hatten. Sie wären gutberaten, sich von den selbst erzeugten Illusionen zu trennenund auf die Welt zu schauen, wie sie ist: Die Möbelindustrie,die Bekleidungsfabriken, die Stahlunternehmen, die Herstellervon Halbleitern, Fernsehern und Computern und neuerdingsauch Pharmaindustrie und Gentechniker sind aus dem Westenin großer Zahl abgewandert. Schuhe werden nach Deutschlandheute zu 98 Prozent eingeführt, Fernseher zu 77 Prozent, nahe-zu jeder zweite Kühlschrank stammt von anderswo. Die für das

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ratern und Rechtsanwaltskanzleien an. In ihrer Studie »DerTiger auf dem Sprung« rechnet die volkswirtschaftliche Ab-teilung der Deutschen Bank den Kunden vor, dass die Verlage-rung nach Indien sich für nahezu alle Branchen lohnt, trotzhoher Anfangsinvestitionen und zusätzlicher Telekommunika-tionskosten: »Es können über Lohnarbitrage Einsparungenvon 20 bis 40 Prozent realisiert werden.«

Die Fabriken verlassen ihre Belegschaften

Das Gegenstück zum Erstarken der asiatischen und osteuro-päischen Unternehmen ist das Erschlaffen der Industrie inunseren Breiten. Was mit dem Verschwinden von Abteilungenbegann, schließlich einzelne Werke erreichte, erfasst nunganze Industriezweige. Der produktive Kern des Westens ver-kleinert sich, was die von ihm ausgehenden Energieflüsse indie ökonomischen Randbezirke der Gesellschaft, wo Rentner,Kinder, Kranke und Arbeitslose auf die Unterstützung derWohlstandsproduzenten angewiesen sind, ebenfalls reduziert.

Zahlreiche Landstriche haben sich unter dem Druck derEreignisse spürbar verändert. In Liverpool und Manchester,im Nordwesten Englands und in den West Midlands bietetsich das Bild einer Industrieflotte, die ausgemustert wurde. Inden erkalteten Zonen der ehemaligen Industriereviere vonRhein und Ruhr werden heute Arbeitslosenquoten von über25 Prozent gemessen. In Ostdeutschland ist ohnehin eineZone reduzierter Wertschöpfung entstanden. Bundesweit er-halten sieben Millionen Menschen, also fast zehn Prozent derBevölkerung, die staatlichen Hilfszahlungen des Hartz-IV-Programms.

In der alten Industriemetropole Berlin, die einst Weltfirmenwie Borsig, Siemens und AEG beherbergte, leben heute ge-nauso viele Menschen von staatlichen Zahlungen wie vom

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eigenen Lohn. Nur noch 30 Prozent aller Berliner gehen einerregulären Vollzeitbeschäftigung nach, mit den entsprechendenFolgen für den Stadthaushalt. Acht Milliarden Euro an Steuer-einnahmen stehen einem Ausgabenblock von 21 MilliardenEuro gegenüber. Die Bewohner der deutschen Hauptstadt ver-danken es dem süßen Stoff der Banken, den wir gemeinhinKredit nennen, dass sie nicht sehen und nicht spüren, wie esum sie bestellt ist.

In Italien kämpft derzeit die Textilindustrie, die noch im-mer 17 Prozent aller Industriebeschäftigten beherbergt, ihrenTodeskampf. Wenn die EU-Handelspolitik nicht weiterhinEinfuhrquoten mit den Chinesen aushandelt, wird von dennoch gut 500000 Arbeitsplätzen nicht mehr viel bleiben. Seit1999 sind bereits 13000 Unternehmen verschwunden, in denvergangenen drei Jahren gingen 66 000 Jobs verloren. ModezarErmenegildo Zegna und linksgerichtete Textilarbeitergewerk-schaften standen monatelang gemeinsam auf den Barrikaden.In den USA ist die Deindustrialisierung weiter fortgeschrittenals in Europa. Der Anstieg der Importe führte zu einem histo-risch einmaligen Schrumpfungsprozess in der Industrie, derviele der in Europa zu beobachtenden Phänomene noch anHärte übertrifft. Die Fabriken wanderten zunächst vom teure-ren Norden in den billigeren Süden, bevor sie sich außer Lan-des begaben. In der Textil-, Eisen-, Stahl-, Möbel-, Elektronik-und Computerindustrie wurde vielerorts die inländische durchdie ausländische Wertschöpfung ersetzt. Den ehemals stolz»Industriegürtel« genannten Nordosten der USA haben dieBewohner in »Rostgürtel« umbenannt.In den 50er Jahren arbeiteten noch 35 Prozent der amerika-nischen Arbeitnehmer in der Industrie, in den 60er Jahren lagdie Quote bei 32 Prozent, in den 80er Jahren rutschte sie unter20 Prozent. Heute sind weniger als 15 Prozent der amerikani-schen Beschäftigten in der Industrie zu Hause - eine Halbie-rung innerhalb nur einer Generation. Derzeit kämpft auch die

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amerikanische Automobilindustrie ums Überleben, einst warsie der Herzmuskel des Landes. Der kranke Autogigant Gene-ral Motors meldete für 2005 einen Verlust von zehn MilliardenDollar.

In Europa sind praktisch alle Industriebranchen, vomMaschinenbau bis zur Chemieindustrie, von diesem Prozessder Miniaturisierung betroffen, wenn auch nicht alle gleicher-maßen. In immer neuen, zunächst kleinen, mittlerweile aberdeutlich beschleunigten Schüben sinkt der Anteil der Indus-triearbeiter. Die moderne Rationalisierungstechnik wird gernals Grund für den Arbeitsplatzschwund genannt, aber siekann das Phänomen nur zum Teil erklären. Denn weltweitsind in denselben, angeblich alten Industriebranchen neueArbeitsplätze entstanden, nur eben nicht auf der hochpreisigenWestseite der Erdkugel.

Verlagerung bedeutet nicht Demontage. Wäre es so, könn-ten die Betroffenen die Verlagerung sehen und hören. Eswürde überall geschraubt und gefräst, Kisten müssten gepacktund Container verladen werden. Aber der normale Arbeits-platzschwund findet unsichtbar und weitgehend lautlos statt.Es reicht ein grauer, grüner oder rosa gefärbter Bestellzettel,wie ihn viele Firmen als Formular besitzen. Neue Lieferadres-sen ersetzen die alten, die Firmen lenken nur ihren Material-fluss um.

Sie bestellen Lenkräder, Rückleuchten und Kabelbaumnicht mehr wie früher im eigenen Konzern oder beim heimi-schen Mittelständler, sondern in Fernost und Osteuropa. EinJahr später kommen noch die Bremsen, das Getriebe und dieStoßstange mit auf den Bestellzettel, bis ein Großteil desAutos auf dem Frachtweg in Stuttgart, Wolfsburg oder Mün-chen eintrifft. Vereinfacht kann man sagen: Die Verlagerungder Arbeitsplätze sieht man nicht an dem, was weggeht, son-dern an dem, was im Containerhafen anlandet. Unsere Unternehmer verschränken die Arme und pressen

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Be- und Entladung der neuen Großfrachter hat die Überque- rung der Ozeane enorm verbilligt. Im Jahr 2004 lagen die Kos-ten für den Seetransport bei weniger als einem Prozent desWertes von 1830. Schiffsbauer und Reeder arbeiten daran,den Faktor Zeit weiter zu schrumpfen.

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Ihre größten Erfolge erzielen die Volkswirtschaften Asiensund Osteuropas derzeit bei den einfachen industriellen Tätig-keiten des Westens. In dieser äußersten Schicht des produk-tiven Kerns, wo die Arbeiter nur wenig Gewinn und zuweilenbereits Verluste produzieren, haben sie es am leichtesten. DieArbeitsgänge erfordern in diesem Teil der Volkwirtschaftkeine übergroße Bildung und nicht einmal auf Fingerfertigkeitkommt es an. In dieser Sphäre der Wertschöpfung werden diemonotonen Tätigkeiten verrichtet, das Einspannen von Tuch indie Textilmaschine gehört dazu, das Zusammenstecken vonPlastikteilen zu Kinderspielzeug, das Betätigen halbautomati-scher Druckmaschinen.

Die westlichen Arbeiter, die hier beschäftigt waren, standen bei ihren Unternehmern auch deswegen in keinem guten Ruf,weil sie kaum noch Gewinn erwirtschafteten. Man nannte siedie Grenzanbieter. Sie waren billig, aber nicht billig genug.Sie verdienten nur sechs bis acht Euro in der Stunde, aber werdieselbe Arbeitsleistung für deutlich weniger als einen Euroerstehen kann, greift erfreut zu. Die Unternehmer interessiertweder Glaube noch Geschlecht noch Hautfarbe. Zuweilennicht mal das Alter der Beschäftigten, auch wenn sie erkenn-bar noch Kinder sind. Wer ihnen Kostenvorteile verspricht, istin ihren Fabrikhallen herzlich willkommen.

»Arbeitsintensive Tätigkeiten haben in Hochlohnländern aufDauer keine Zukunft«, sagt die Deutsche Bank in einer Studie.

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Sozialsystem ist für den Unternehmer dabei eine große Er-leichterung, weil er ihm all die ausgemusterten Beschäftigtenüberstellen kann. Der Staat überweist nun an Stelle der Fir-menlöhne die Rente oder das Arbeitslosengeld.

Das wirkliche Problem bereiten dem Unternehmer die vor-handenen Fabriken, denn niemand will den Maschinenparkschneller als nötig entwerten. Die Montagebänder werdenselbst dann noch ausgelastet, wenn ihre Wettbewerbsfähigkeitschon gelitten hat. Die Konzerne verschrotten nicht gern, dasruft nur Aufsichtsräte und Börsenanalysten auf den Plan. Alsolasten sie die Investitionsgelder von gestern, die in den Fabri-ken zu Lackierstraßen und Schweißrobotern geronnen sind,nach Kräften aus. Das Stammwerk und die Stammbelegschaftwerden geschont, solange es geht. Alles dient dem einen Ziel,eine Totalentwertung des inländischen Kapitalstocks zu ver-hindern.

Noch wird die Verlagerung auch durch die neuen Heimat-länder des Kapitals gebremst. Viele ehemalige Entwicklungs-länder sind derzeit noch nicht in der Lage, eine kompletteAutoproduktion zu betreiben. Wer in China ein modernesAuto baut, importiert rund die Hälfte der Teile aus dem Aus-land. Durch den Aufbau eigener Produktionsstätten und dieVerlagerung westlicher Zulieferfirmen schließt sich erst all-mählich die Wertschöpfungskette. Mit jedem weiteren Gliedist China dem Ziel, selbst Autoland zu werden, näher gerückt.Werden erst Autositze, Lenkräder und Getriebe in Asien pro-duziert, folgen bald schon Karosseriebau, Elektronikzuliefererund Motorenhersteller, bis auch das Design- und Testzentrumvor Ort sein Quartier aufschlägt. Experten sprechen vom»Netzwerkeffekt«, der in Gang gekommen ist und sich mittler-weile von selbst beschleunigt hat.

Noch drosselt auch der Warentransport über zehntausendevon Kilometern die Lust auf Produktionsverlagerungen. Con-tainerschiffe und Flugzeuge stehen zwar in großer Zahl be-

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Be- und Entladung der neuen Großfrachter hat die Überque-rung der Ozeane enorm verbilligt. Im Jahr 2004 lagen die Kos-ten für den Seetransport bei weniger als einem Prozent desWertes von 1830. Schiffsbauer und Reeder arbeiten daran,den Faktor Zeit weiter zu schrumpfen.

Industriearbeiter a. D.

Ihre größten Erfolge erzielen die Volkswirtschaften Asiensund Osteuropas derzeit bei den einfachen industriellen Tätig-keiten des Westens. In dieser äußersten Schicht des produk-tiven Kerns, wo die Arbeiter nur wenig Gewinn und zuweilenbereits Verluste produzieren, haben sie es am leichtesten. DieArbeitsgänge erfordern in diesem Teil der Volkwirtschaftkeine übergroße Bildung und nicht einmal auf Fingerfertigkeitkommt es an. In dieser Sphäre der Wertschöpfung werden diemonotonen Tätigkeiten verrichtet, das Einspannen von Tuch indie Textilmaschine gehört dazu, das Zusammenstecken vonPlastikteilen zu Kinderspielzeug, das Betätigen halbautomati-scher Druckmaschinen.

Die westlichen Arbeiter, die hier beschäftigt waren, standen bei ihren Unternehmern auch deswegen in keinem guten Ruf,weil sie kaum noch Gewinn erwirtschafteten. Man nannte siedie Grenzanbieter. Sie waren billig, aber nicht billig genug.Sie verdienten nur sechs bis acht Euro in der Stunde, aber werdieselbe Arbeitsleistung für deutlich weniger als einen Euroerstehen kann, greift erfreut zu. Die Unternehmer interessiertweder Glaube noch Geschlecht noch Hautfarbe. Zuweilennicht mal das Alter der Beschäftigten, auch wenn sie erkenn-bar noch Kinder sind. Wer ihnen Kostenvorteile verspricht, istin ihren Fabrikhallen herzlich willkommen.»Arbeitsintensive Tätigkeiten haben in Hochlohnländern aufDauer keine Zukunft«, sagt die Deutsche Bank in ein Studie.

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Das deutsche Wirtschaftsministerium spricht in seiner Unter-suchung »Globalisierte Arbeitswelt« vom »Verlust der interna-tionalen Wettbewerbsfähigkeit im Niedrigpreisbereich«.

Selbst der erhöhte Maschineneinsatz zum Ausgleich derLohnunterschiede nützte den einfachen Arbeitern zuletzt nichtviel. Denn die meisten Billiglohnländer haben nachgezogenund den Kapitaleinsatz ebenfalls erhöht. Ihre Industrieanlagensehen vielerorts aus wie unsere. Es blitzt und funkelt an jederEcke. Am Ende bleibt wieder der Lohn die alles entscheidendeGröße, obwohl sein Anteil an den Produktionskosten ständigsinkt. Bei einem in Deutschland produzierten Fernsehgerätbeträgt der Lohnanteil nur noch neun Prozent, auch wenndurch die asiatischen Einzelteile schon vieles getan wurde,um den Anteil der deutschen Arbeitskraft zu senken. Kommtder Fernseher aus China, entfallen nur zwei Prozent des Prei-ses auf den Lohn eines Arbeiters. Doch genau dieser Lohn-unterschied — der sich in den teureren Einzelteilen, so sie ausEuropa stammen, fortsetzt — wirkt früher oder später wie einBerufsverbot für den westlichen Arbeiter. Das sei der »Wett-bewerb der Standorte«, wird der Höflichkeit halber gesagt. InWahrheit ist es aber ein Wettbewerb der Arbeiter, die auf demWeltarbeitsmarkt Mann gegen Mann antreten. In einer Lohn-konkurrenz, wie es sie zwischen den Völkern nie zuvor gab,versucht der eine den anderen auszustechen.

Dem Unternehmer aber geht es gut, er macht glänzende Ge-schäfte, gezwungenermaßen, könnte man noch hinzufügen.Denn der Kapitalist hat keine andere Wahl, als bei diesem Groß-aufgebot der Billiglöhner beidhändig zuzugreifen, bevor es seinRivale tut. Wer die Lohnkonkurrenz nicht für sich zu nutzenweiß, wer die Standorte jenseits der Sozialstaatslinie ignoriert,wer die preisgünstigen Importe verschmäht, ist drauf und dran,sein Unternehmerdasein zu verwirken. Er nutzt niemandem,am wenigsten sich selbst. Der schlaue Unternehmer profitiertvon der Globalisierung, bevor sie ihm zu schaden beginnt.

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chend dafür qualifiziert, leisten die ausländischen Arbeiterdasselbe wie die Stammbelegschaften in Detroit oder Rüssels-heim, manchmal sogar mehr. Der Hunger nach Wohlstandtreibt sie an.

Setzt sich der Preisverfall auf den internationalen Arbeits-märkten fort, sind die westeuropäischen Produktionsstandortein der heutigen Vielzahl nicht zu halten. Europa steht bevor,was Amerika schon hinter sich hat: die Halbierung der heimi-schen Industrie. »Deutschlands industrielle Basis wird sichweiter verringern«, lautet das Ergebnis einer Studie der Unter-nehmensberatung Boston Consulting. Seit 1991 gingen inDeutschland 28 Prozent oder knapp drei Millionen Arbeits-plätze im Verarbeitenden Gewerbe verloren. Die gesamtdeut-sche Zahl der Industriebeschäftigten liegt heute unter dem,was Westdeutschland vor dem Mauerfall allein zu bieten hatte.

Die industriellen Verluste werden durch neue Dienstleis-tungsjobs in ihrer Wirkung gemildert, aber nicht aufgehoben.Der Arbeitsplatzsaldo bleibt negativ, auch in den kommendenJahren: Von den noch knapp acht Millionen Beschäftigten imdeutschen produzierenden Gewerbe werden 2015 nur nochsechs Millionen übrig sein. Boston Consulting rechnet miteiner nochmaligen Verdoppelung der Importe aus Niedrig-lohnländern bis zum Jahr 2015, wobei Osteuropa dann knappvor Asien liegt.

Mit Sozialstaat oder ohne?König Kunde im Giobaiisieryngsfieber

Der Sozialstaat ist im Grunde nichts anderes als ein Kartell.Der Unterschied zwischen dieser Schutzvereinigung und denüblichen Kartellbrüdern in den Konzernspitzen besteht darin,dass der Sozialstaat nicht nur wenigen, sondern vielen nützt.Eigentlich fast allen Bürgern, die in seinen Grenzen leben.

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König Kunde im Globalisierungsfieber 205

Der moderne Sozialstaat hat uns im Prinzip alle zu Kartellbrü-dern gemacht. Wir profitieren von seinen Schutzrechten wievon seinen finanziellen Zuteilungen. Wir nehmen gern diegetrennten Betriebstoiletten in Anspruch, die unsere Arbeits-stättenverordnung für Mann und Frau vorsieht, akzeptierendie gesetzlich festgeschriebenen Urlaubstage, den Kündi-gungs- wie den Krankheitsschutz, und wenn alles schief läuftim Leben, greifen wir auf die Sozialhilfe zurück, die sich samtWohnungs- und Kindergeld bis auf die Höhe eines Verkäufer-gehalts summieren kann.

Wenn dieses Schutzkartell, das den Preis der Arbeitskraftum einen Sozialaufschlag verteuert, mit einem Wirtschafts-raum konkurriert, der eine solche Schutzvorrichtung unddamit auch einen derartigen Sozialaufschlag nicht kennt, wirktdas Kartell nicht mehr beschützend, sondern bedrohlich. Denneiner der Gründe für die Preisdifferenz zwischen den neuenund den alten Mitgliedern des Weltarbeitsmarkts ist der Sozi-alstaat, dessen Früchte die einen genießen, derweil die anderenihn nur vom Hörensagen kennen. Die Mitglieder der Sozial-bruderschaft sind von Stund an in Gefahr, ihrer beruflichenExistenz beraubt zu werden. Was gestern noch eine Errungen-schaft westlicher Zivilisation war, wirkt nun wie ein Klotz anihrem Bein.

Es sind die Gegner des Sozialstaats, die daher die weltweiteArbeiterinflation freudig begrüßen. Sie ist erwiesenermaßendie wirkungsvollste Methode, den Sozialstaat zu schleifen.Man muss seinen Abbau nicht mehr fordern und braucht ihnauch nicht zu betreiben, seine Zersetzung passiert scheinbarvon allein. Man kann den Sozialstaat einfach ignorieren, zumBeispiel dadurch, dass man beim Sozialstaatsfreien Anbieter inAsien bestellt. Das ist fast automatisch ein Votum gegen ge-trennte Toiletten und ein Plädoyer für niedrigere Löhne.

Es sind andererseits die Freunde des Sozialstaats, die bisheute nicht wahrhaben wollen, dass es diese Nebenwirkung

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der Globalisierung ist, an der sie leiden. In der Absicht, dieNation gegen die Zumutungen der neuen Zeit zu verteidigen,hat selbst ein so kluger Mann wie Lord Dahrendorf die Augenvor der Wirklichkeit verschlossen. Es gebe eine legitimeöffentliche Sphäre, die nicht direkt mit der anderer Länderund Regionen konkurriere, schreibt er. Zu dieser Sphäre ge-hörten die Bildung, die Steuern und die Sozialleistungen.Man dürfe den Weltmarkt nicht gegen alles ins Feld fuhren.

Welch ein Irrtum. Niemand führt den Sozialstaat ins Feld.Er steht längst da, umtost von den Winden der neuen Zeit.Der Irrtum ist nur dadurch erklärbar, dass die Angreiferstaatensich ja nicht mit Gebrüll auf den westlichen Sozialstaat stür-zen. Der Angriff findet leise und zumeist sogar in freund-schaftlicher Atmosphäre statt, was vielen das Verstehen derHintergründe erschwert. Dabei sind es keine Unbekannten,die ihn attackieren: In freien Märkten mit freien Konsumentenwird dem Sozialstaat der entscheidende Dolchstoß von seinenFreunden versetzt. Wo auch immer ihr politisches Herzschlägt, links oder rechts, kaum dass die Kunden den Super-markt oder das Kaufhaus betreten, sind sie nicht bereit, einenSozialaufschlag zu zahlen. Der normale Käufer bei Karstadt,Metro und Lidl ist ein regelrechter Globalisierungsfanatiker,der Preis und Leistung vergleicht, aber nicht Nationalitätenund ihre sozialen Sicherungssysteme. Er will Rabatte bekom-men und nicht Aufschläge zahlen. Der gute Deal interessiertihn, nicht das schmutzige Geschäft, das ihm irgendwo auf derWelt vorausgegangen ist. Er ist ein Materialist, wie er imBuche steht, auch wenn er sich selbst für einen Romantikerhält. Nur außerhalb der Geschäftszeiten befallen ihn zuweilenidealistische Zweifel. Dann wundern sich viele, wie es dennsein kann, dass so große Teppiche für so kleines Geld zu habensind und dass auch die Preise von Computern und Mobiltelefo-nen zuweilen nur noch einer Art Schutzgebühr gleichen.

Mit jedem Kauf eines fernöstlichen Produkts erteilen die

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len hoch und die Löhne niedrig sind. Ein Sozialstaat unsererPrägung existiert dort nicht.

Noch immer besitzen 75 Prozent der Weltbevölkerung keineArbeitslosenversicherung, was ihnen zum Nachteil, ihren Pro-dukten aber zum Vorteil gereicht. Das Risiko von Krankheit,Armut und Alter tragen sie selbst und eben nicht die Produkte,die sie herstellen. Im Westen ist es umgekehrt.

An der Stelle des Betriebsrats steht in Fernost ein gestrengerVorarbeiter, der im besten Fall Gnade vor Recht ergehen lässt.Denn das Recht ist in den Produktionshallen der Billigkonkur-renz nicht der Freund der Beschäftigten. Sie dürfen arbeiten,aber nicht protestieren. Ihr Lohn wird festgesetzt, nicht ver-handelt. Soziale Absicherung bietet die Familie, nicht aberdie Firma. Den Verkaufschancen der von ihnen hergestelltenWare hat dieser Umstand sehr genutzt.

Rund 60 Prozent aller in Deutschland verkauften Haushalts-geräte werden heute außer Landes hergestellt. Die restlichen40 Prozent dürften in absehbarer Zeit folgen. Der Weltmarkt-führer Electrolux plant von den westlichen Werken, die derzeitnoch in Europa, Amerika und Australien betrieben werden, dieHälfte zu schließen. Eine Fabrik von der Größe der NürnbergerAEG spart 48 Millionen Euro jährlich - wenn sie denn inPolen steht. Monatelang zögerte der Vorstand, die deutscheTraditionsfabrik zu schließen und die Herstellung zu verla-gern. Es ginge ihm um die Menschen, aber nicht nur, wie Fir-menchef Hans Sträberg freimütig zugibt: »Eine Schließungwürde auch viel Kapital zerstören«, sagt er.

Bei Continental in Hannover, einem der größten Reifenher-steller der Welt, läuft das gleiche Spiel. Die Löhne machen 30Prozent der Herstellungskosten aus, aber in Osteuropa lässtsich dieser Anteil deutlich nach unten drücken. Die PKW-Reifenproduktion sollte daher am Stammsitz in Hannover ge-schlossen werden, was die Beschäftigten mit einer kostenlosenVerlängerung ihrer Wochenarbeitszeit zu verhindern suchten.

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Der Verzicht nutzte nichts. »Die Mitarbeiter haben ihren Bei-trag geleistet, aber es hat trotzdem nicht gereicht«, meint Fir-menchef Manfred Wennemer. Betroffen sind vor allem ein-fache Produktionsarbeiter, denen in Kürze die Akademikerfolgen dürften, sagt er: »Wir beschäftigen heute bei Continen-tal rund 5 000 Ingenieure, die meisten davon in Hochlohnlän-dern. Das wird sicher einer der nächsten Schauplätze, wo wirauf die Kosten sehen müssen.«

Bevor wir Firmenmanager und Schnäppchenjäger be-schimpfen, sollten wir innehalten. Es wäre töricht, ihnen denEigennutz vorzuhalten. Es war ein doppelter politischer Wille,der die Staaten Asiens und Osteuropas an die internationaleArbeitsteilung anschloss - ihrer und unserer. Sie wollten Teildes westlichen Produktionsnetzwerks werden und ihr eigenesknüpfen. Wir haben sie ermuntert, unterstützt und oft genugauch angefeuert. Es geht hier nicht um falsch oder richtig.Wichtig ist an dieser Stelle nur die Erkenntnis, dass der welt-weite Arbeitsmarkt, so wie wir ihn bisher konzipiert haben, eineinheitliches Hoheitsgebiet für die Ware Arbeitskraft geschaf-fen hat. Die Arbeitsnachfrage wechselt nun von einem Staatzum anderen und natürlich bevorzugt sie solche Staaten, dieihr möglichst geringe soziale Zusatzkosten zumuten.

Viele hielten die soziale Marktwirtschaft für das Endsta-dium der Geschichte und müssen sich nun einen kolossalenIrrtum eingestehen. Der Kapitalismus hat mit Hilfe eines glo-balen Arbeits- und Finanzmarkts seine Reichweite gesteigert,derweil das Soziale an Reichweite verlor. Der Markt hat anKraft, Geschwindigkeit und scheinbar auch an Unvermeidbar-keit gewonnen. Der soziale Triumph von gestern aber ist ver-blasst. Der Kapitalismus, der unzweifelhaft am Ende diesesProzesses weltweit mehr Wohlstand erzeugt haben wird, erhältzunächst seine Ursprünglichkeit zurück.

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Wer ist der Nächste?

Wer entscheidet eigentlich darüber, welche Arbeitsplätze ver-schwinden und welche nicht? Warum erwischt es den einensofort und den anderen nie? Oder konkreter gefragt: Warumdarf so mancher Friseur in Berlin oder Paris 90 Euro für seinWerk verlangen, wieso kann ein Tischler vielerorts in Europaauf sein volles Auftragsbuch verweisen, der Techniker von derheimischen Telefongesellschaft gönnerhaft seine Termine ge-währen, derweil in der Industrie ein Schrumpfungsprozessohne Beispiel in Gang gekommen ist?

Der Friseur ist gut dran, weil sein Arbeitsplatz nicht an dieWeltwirtschaft angeschlossen ist. Sein Kollege in Bombayverlangt zwar für dieselbe Frisur nur einen Bruchteil dessen,was Udo Walz den Berliner Damen abknöpft. Aber der Wegnach Bombay ist zu weit, weshalb die Damen lieber in derBerliner Uhlandstraße vorbeischauen. Es ist ein großes Glückfür Herrn Walz, dass die Globalisierung um sein Handwerkherumweht. Er sitzt im Windschatten der großen Ereignisse,er hört, wie die anderen darüber schnattern, ohne selbst betrof-fen zu sein.

Vielen Berufen geht es ähnlich, weshalb sie weder ausster-ben noch verlagert werden. Der Elektriker kommt aus derNähe oder er kommt gar nicht. Der Apotheker und der Kinder-arzt nutzen wenig, wenn erst eine Tagesreise unternommenwerden muss, um sie zu besuchen. Man kann im Internet vielestun, Software bearbeiten, Kunden umwerben, Bestellungenaufgeben, Konferenzen abhalten und Nachrichten verbreiten.Aber man kann in dieser virtuellen Welt bis heute keine Hei-zungsrohre verlegen, kein Make-up auftragen lassen, wederBlumen gießen noch Häuser bauen, und auch die Mülltonnemuss vor Ort und per Hand geleert werden. Für viele Berufesieht die Zukunft daher nicht viel anders aus als die Vergan-

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Wer ist der Nächste? 211

genheit. Sie leben in Sichtweite der globalen Welt, aber siesind kein Teil von ihr.

Sprechen wir also von den anderen, die wir in zwei Klasseneinteilen sollten: Da sind zum einen die Glückspilze der Glo-balisierung. Sie sind von Berufs wegen Finanzexperte, Flug-zeugbauer oder Romanautor. Die Ergebnisse ihrer Arbeit sindeinzigartig, weil sie Experten in einer Welt voller Laien sind.Sie bauen Flugzeuge, was sonst nicht viele Menschen können.Sie haben eine Nase für das richtige Investment zur richtigenZeit im richtigen Land. Sie schreiben Romane, so einfühlsam,so wild, so komisch, dass die Leserschaft nach mehr verlangt.Für die Glückspilze ist durch die Globalisierung ein zusätzli-cher Markt entstanden. Diese neue, vergrößerte Welt verlangtnach mehr Flugzeugen; der Finanzexperte erlebt die Blütezeitseines Berufsstands; der Romancier darf hoffen, dass unter denzusätzlichen Menschen, die nun freien Zugang zu seinen Wer-ken haben, sich auch zusätzliche Leser befinden. Für alle dreibedeutet der erweiterte Weltmarkt zwar keine Gewinngarantie,aber doch eine deutlich erhöhte Gewinnchance. Sie besitzenzwei Lose, wo andere nur eines in der Tasche haben.

Kommen wir zu jenen Unglücksraben, von denen unklar ist,ob sie künftig an der Verlosung überhaupt noch teilnehmenwerden. Ihr Arbeitsplatz befindet sich unversehens in einemweltweiten Wettbewerb, weshalb wir sie Weltarbeiter nennensollten. Spielzeug kann man überall herstellen, Kleider undSchuhe sowieso, Fernseher und Waschmaschine auch, selbstComputer, Autos und Arzneimittel sind in ihrem Innerstenhäufig so arm an Überraschungen, dass, wer den Bauplan be-sitzt, sich unverzüglich ans Werk machen kann.

Nahezu für die gesamte Konsumgüterproduktion ist esgleichgültig, ob sie in Paderborn, New York, im Flussdeltades Yangtse-Flusses oder im schönen ungarischen Donaustädt-chen Györ stattfindet. Es müssen von den Regierungen nurhalbwegs verlässliche Gesetze gezimmert werden, die es dem

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Kapitalisten erlauben, seinen Gewinn nach Hause zu tragen. Essollten Straßen, See- oder Flughäfen zur Verfügung stehen, umdie Waren von dort in aller Herren Länder zu schaffen. Und esmüssen Menschen da sein, die bei ihrer Einstellung dreiKriterien erfüllen: Sie müssen arbeiten wollen, je erpichter siedaraufsind, umso besser. Sie müssen diese Arbeit auch verrichten können, was ein Mindestmaß an Qualifikation voraussetzt. Und: Sie müssen dies zum denkbar günstigsten Preis tun.Wenn ihr Wollen und Können nicht größer ist als andernorts,haben sie das Recht auf einen höheren Lohn verwirkt.

Denn sobald eine Produktidee alt ist, die normale Wasch-maschine, das herkömmliche Fernsehgerät, die traditionelleChristbaumbeleuchtung, springt der Preis zuerst ins Auge.Auch der Preis der Arbeit. So wie die Unternehmer ihrenStahl, ihr Öl, ihre Schrauben, ihre Steckverschlüsse zum weltweit günstigsten Preis einkaufen und nicht bereit sind, auch nureinen Cent mehr zu zahlen, so wollen sie auch die Ware Arbeitzum weltweit günstigsten Preis erstehen. Für die Arbeiter, die an diese Weltwirtschaft angeschlossen sind, geltenandere Geschäftsbedingungen als für Elektriker, Friseure undFlugzeugbauer. Ihre Tarife hat kein Gewerkschaftsvertreterausgehandelt oder auch nur gegengezeichnet. Der Preis derWeltarbeiter bildet sich global und er tut es nach den archaischen Regeln von Angebot und Nachfrage, was in Zeiten einerderart großen Angebotserweiterung nichts Gutes verheißt.Kaum einer verfolgt die Entwicklung auf dem Weltarbeitsmarkt so aufmerksam wie McKinsey-Chef Jürgen Kluge. Er ließzusammen mit der Technischen Universität Darmstadt einComputerprogramm entwickeln, das seinen Kunden in Se-kundenschnelle auf dem Bildschirm zeigt, wo sich eine beliebige Produktion am kostengünstigsten aufbauen lässt. DieSoftware wird ständig gefüttert mit den für Investoren wichti gen Informationen: Wie hoch sind die Löhne anderswo? Wiesieht es mit der Qualifikation der Beschäftigten aus? Gibt es

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in der Nähe Zulieferbetriebe? Wie groß ist der Markt rund umdie mögliche neue Fabrik? Was wird in zehn Jahren sein,schrumpft oder steigt die Erwerbsbevölkerung in der geplan-ten Zielregion?

In Simulationsspielen lässt der Rechner die geplante Ferti-gungshalle rund um die Welt wandern. Für die Herstellungvon Autoteilen aus Kunststoff ist es wahrscheinlich in Mexikoam günstigsten. Für Metallverstrebungen aller Art bietet sichwomöglich Indien an. Der Computer ist ein Radarschirm derGlobalisierung, der ausweist, wo Kapital und Arbeit derzeitam günstigsten zueinander kommen. Haben die Faktoren inder richtigen Mischung zueinander gefunden, beginnt es aufdem Computerbildschirm heftig zu blinken. »In Deutschland«,sagt Kluge, »blinkt es nur noch selten.« Auf eine Veränderungder Lage durch Tarifparteien und Regierung zu warten könnefür die Firmen tödlich sein, sagt er. Sein Computerprogrammerfreut sich daher in Kreisen deutscher Industrieller großerBeliebtheit. Ein an dem Projekt beteiligter McKinsey-Mann:»Wir helfen den Firmen, ihre Probleme zu emigrieren.«

Der große Wissenstransfer

Nur die einfache Arbeit würde uns verlassen, hieß es zunächst.Nur Routinetätigkeiten würden gehen und um die sei es nichtschade. Die seien stupide und nervtötend, und noch dazuwenig profitabel. Die Zukunft gehöre der qualifizierten Arbeitin den modernen Dienstleistungsberufen, weshalb es nicht loh-ne, für die alten Arbeitsplätze auch nur das Taschentuch zuziehen.

Jeder Teilnehmer am Wirtschaftsleben besitze schließlichVorteile, die er zum Vorteil aller nur nutzen müsse. Der eineist ein großer Fischer, weil er am Meer wohnt. Der andere be-herrscht die Textilverarbeitung, weil bei ihm die Baumwolle

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im Garten wächst. Und ein Dritter versteht sich auf den Handelmit Gewürzen und Teppichen, weil sich in seinem Land vonalters her die Verkehrswege kreuzen. Es sei gut für die Welt-wirtschaft, wenn jeder seine Vorteile nutze; so ergebe sichwie von selbst eine Arbeitsteilung, bei der jeder das tut, waser am besten kann. Der Fischer fischt, der Baumwollspinnerspinnt, der Händler handelt.

Die Angreiferstaaten könnten am besten billig produzieren,also sollten sie ruhig die primitiven Industriejobs des Westenserledigen. Als Handlanger der Konzerne könnten sie sichnützlich machen. Auf der von Westen her verlängerten Werk-bank gebe es für sie die dringend benötigte Arbeit und derWesten erhalte so die gute Gelegenheit, sich endlich um daswirklich Wichtige zu kümmern: Forschung, Marketing, Ver-trieb. Also sollten die Chinesen ruhig weiter Kinderspielzeugproduzieren, die Menschen in Bangladesch Baumwollkleidernähen, die Inder Schmuck fertigen, derweil Europa und dieUSA sich nun ganz auf die höheren Fertigungsstufen konzen-trieren könnten, die Pharmaindustrie, das Investmentbanking,den Bau von Flugzeugen und Mondraketen. Die Agrarstaatendes Südens würden dank der neuen Fabrikanlagen zu Indus-triestaaten und damit zu Abnehmern der höherwertigen Pro-dukte aus Amerika und Europa. Befreit vom Ballast des In-dustriezeitalters könnten die westlichen Staaten endlich inRichtung Hightech-Gesellschaft aufbrechen. Beide - der Wes-ten und die aufstrebenden Staaten - würden so in geordnetemHintereinander die Leiter der Menschheitsgeschichte hinauf-steigen.

Nur denken die aufstrebenden Staaten nicht im Traum da-ran, sich an diese Arbeitsteilung zu halten. Es herrscht Ge-dränge auf der Leiter. Chinesen, Inder, Malaysier, Taiwanesen,Südkoreaner und zahlreiche Osteuropäer legen ihr ganz eige-nes Tempo vor. Die eine Stufe vom Agrar- zum Industriestaatist ihnen zu klein, sie streben zügiger voran. »Die Realität

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folgt nicht länger der Theorie«, hat die Internationale Arbeits-organisation in ihrem Jahresbericht voller Enttäuschung fest-gestellt. Den Mitarbeitern der UN-Behörde war beim Durch-sehen der asiatischen Statistiken vor allem eines aufgefallen:»Viele Arbeiter wechseln direkt von der Landwirtschaft in dieDienstleistungsgesellschaft.«

Denn die neuen Marktwirtschaften wollen keineswegs inder Zone geringer Produktivität verharren. Sie begannen inder Billigproduktion, aber das war nur ihr Einstiegsangebot.Sie greifen nun auch in der Mitte der westlichen Arbeitsgesell-schaft an, bilden große Mengen von Akademikern aus, um daszu tun, was bisher in New York, London, Paris und Berlin alsmoderne und das sollte heißen dem Westen reservierte Dienst-leistung galt. Sie entwickeln Software, konstruieren Autos,verwalten das Rechnungswesen großer Firmen, und natürlichentwickeln und vertreiben sie alles, was Zukunft verspricht:Telefone, Computer, Heilmittel aller Art.

Bis zum Jahr 2003 war Amerika der größte Exporteur vonProdukten der Informationstechnologie. Dieser Ehrentitel ge-bührt seit neuestem den Chinesen. Sie führen Hightech-Pro-dukte im Wert von 180 Milliarden US-Dollar aus, derweil dieAmerikaner in der Königsklasse der Globalwirtschaft nur Pro-dukte für 150 Milliarden Dollar absetzen konnten. Die Auto-produktion folgt dem gleichen Trend. Das Autoland Deutsch-land wird voraussichtlich in diesem Jahr von China überholt,in spätestens 15 Jahren hat der fernöstliche Produktionsstand-ort auch die PKW-Herstellung der USA an der Weltspitze ab-gelöst.

Der Siegeszug auf den Produktmärkten wird auch auf denArbeitsmärkten für Akademiker Spuren hinterlassen. Nichtalle Arbeitsplätze von Managern, Designern, Werbestrategen,Finanzexperten und Konstrukteuren werden verlagert, aberdoch mehr, als viele heute glauben. Vor allem die Zuwächsean Beschäftigung finden andernorts statt. Der Angriff auf die

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Kernkompetenzen des Westens hat damit begonnen: »Diezweite Welle betrifft Hochqualifizierte«, stellt das deutscheWirtschaftsministerium in der Studie »Globalisierte Arbeits-welt« fest.

Die indischen und chinesischen Führer wissen so gut wieandere auch, dass der Status als Fabrikhalle der Welt auf Dauerwenig Komfort bietet. Weltklasse hat erreicht, wer sein Geldmit technischen Wunderdingen verdient, die wir ehrfürchtigHightech nennen. Wer nach den Schnittbögen des WestensSportschuhe näht, wird für immer Knecht bleiben. Wer nur zu-sammenschraubt, was andere ersonnen haben, kann sich nie-mals als Weltmacht bezeichnen. Kein Land der Welt möchteals Kolonie des anderen enden, auch wenn der Kolonialherrsich so spendierfreudig zeigt wie Bill Gates und so einfühlsamauftritt wie Siemens-Mann Heinrich von Pierer.

Inder und Chinesen wissen aus ihrer eigenen leidvollen Ge-schichte, was es bedeutet, abhängig zu sein. Sie wollen dies-mal auf eigene Rechnung arbeiten und leben. Die große Kraft-anstrengung, die wir in Fernost beobachten können, dient ihrerErtüchtigung, nicht unserer.

Es war der frühere chinesische Premierminister Zhu Rongji,der schon 1998 seinem Land das ehrgeizige Ziel vorgab, Europabis zum Jahr 2020 technologisch zu überholen. Der ZuliefererChina solle zum Konkurrenten der Westkonzerne aufsteigen.Wichtig ist an dieser Stelle nicht, ob China dieses Ziel jemalserreichen wird. Wichtig ist, dass China es versucht. Das Landhat seinen politischen Willen ausgedrückt und lässt diesemWillen eine für alle sichtbare Kraftanstrengung folgen. Schondiese Kraftanstrengung bringt die Verhältnisse zum Tanzen.China ist mit seinem brennenden Ehrgeiz nicht allein. VieleLänder, die wir eben noch als Teil der Dritten Welt ansahen,stoßen mittlerweile in die Welt der Hochfinanz und der Spit-zenforschung vor. Innerhalb Asiens ist ein Wettlauf um dieklügsten Köpfe in Gang gekommen, auch um die des Westens.

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Art, die mittlerweile zwei Drittel ihrer Ausfuhrbilanz be-stimmen.

Mit Zeitverzögerung haben auch China und Indien mit demAufbau dieser innersten Zone des produktiven Kerns begon-nen, wo es hellrot leuchtet, weil hier die Energiekonzentrationnaturgemäß am höchsten ist. Hier befinden sich die strategi-schen Arbeitsplätze, die für die Fortentwicklung der Volks-wirtschaft von zentraler Bedeutung sind. Grundlagenforscherund Produktentwickler sind hier zu Hause. Jene Männer undFrauen, die mit ihren Verbesserungen, Neuerungen und, woimmer möglich, bahnbrechenden Erfindungen für ihre Mit-menschen die Welt von morgen aufsperren. Hier wurde dasErbgut entschlüsselt und das Klonen ausprobiert, die Stamm-zellentherapie verfeinert und die Solartechnik erfunden. Die-ses Innerste des produktiven Kerns ist jene Sphäre, in der sichdie Zukunft einer jeden Gesellschaft entscheidet. Führungoder Gefolgschaft, Original oder Kopie, hier zeigt sich, ob einNationalstaat seine Position im Wettlauf um Reichtum undMacht halten oder ausbauen kann.

Eine fernöstliche Wissensökonomie entsteht und schon dieInvestitionsgelder verraten einen gehörigen Ehrgeiz. Chinahat bereits heute knapp ein Drittel der amerikanischen For-schungsausgaben und annähernd die Hälfte des europäischenNiveaus erreicht. Die staatlichen und privaten Forschungsaus-gaben wachsen seit Jahren um bis zu 20 Prozent und damitteils doppelt so schnell wie die Wirtschaftsleistung insgesamt.Ein Aufholprozess ist in Gang gekommen, für den es in dieserGeschwindigkeit kein Vorbild gibt.

Die Chinesen gehen mit großer Entschlossenheit und be-achtlicher Gerissenheit zu Werke. Zusätzlich zu den finanziel-len Aufwendungen haben sie eine neue Tauschwährung in dieinternationalen Wirtschaftsbeziehungen eingeführt, um ihrenAufstieg zu beschleunigen: das Wissen, genauer gesagt, dasWissen des Westens. Die Chinesen sind interessiert an Blau-

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pausen aller Art. Den Aufbau von Fabriken und damit denMarktzugang genehmigen sie den Westfirmen nur noch dann,wenn die ihre kleinen und großen Geheimnisse preisgeben:Wie baut man Mikrochips mit Extremspeicher? Wie lassensich Flugzeugmotoren konstruieren und pflanzliche Gene ver-ändern? Was sind die Geheimnisse der Edelstahlproduktion?Wie schwebt die Magnetschwebebahn? Wichtiger als derschnelle Dollar ist den chinesischen und indischen Politikerndie gründliche Ausbildung ihrer Landsleute.

Sie haben verstanden, dass erst dieser Substanzaufbau imInnersten der Volkswirtschaft die Energie liefert, die dasLand für eine Weiterreise in Richtung Moderne benötigt. Nurwenn im Zentrum ein feuerroter Kern glüht, in dem Tüftlerund Erfinder zu Hause sind, in dem die Pioniere einer neuenZeit Bahnbrechendes denken und erproben, kann die Nationin die Spitzengruppe der Weltmächte vorstoßen.

Früher ging das Wissen von einer Generation auf die nächsteüber. Heute geht das Wissen von einem Erdteil auf den anderenüber. Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit hat esohne Krieg und Eroberung einen solchen Wissenstransfer voneiner Gesellschaftsformation zur anderen gegeben.

Die westlichen Firmen helfen den Asiaten nach Kräften beiihrer Aufbauarbeit, wenn auch keineswegs freiwillig. DieUnternehmer reden nicht gern darüber, unter welch demütigen-den Bedingungen sie auf dem fremden Kontinent zum Zugkommen. Als Vorleistung für den Markteinstieg müssen siezuweilen das Wissen der vergangenen Jahrzehnte offenbaren.Oft verlieren sie innerhalb weniger Wochen das in ihrer For-schungsarbeit erworbene Know-how, um moderne Stahlwerke,Magnetschwebebahnen oder Automotoren konstruieren undbauen zu können. Dieser Preis für ihren Eintritt in die fernöst-lichen Gemeinschaftsunternehmen wird in keiner Bilanz aufge-führt. Viele Unternehmer überblicken nicht das ganze Stück, in

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dem sie ihren Auftritt haben. Sie suchen nach Gelegenheiten,ihr Kapital zu vermehren. In Fernost, glaubten sie, liege dasGeld auf der Straße oder zumindest in der Fabrikhalle dahin-ter. Dafür sind sie bereit, das verlangte Eintrittsgeld zu zah-len, auch wenn die Auszahlung in der Währung Wissen er-folgt.

Inder und Chinesen waren schlau genug, mit der Verlage-rung von Fertigung auch den Ausbau von Forschungsabtei-lungen zu erzwingen. General Electric betreibt im indischenBangalore heute das größte Forschungsinstitut außerhalb derUSA. Nach nur drei Jahren kamen immerhin 95 Patentanmel-dungen aus diesen Labors. Die Großen der westlichen Kon-zernwelt sind in Indien versammelt; Intel, Siemens, Boeing,ExxonMobil, Unilever und all die anderen auch. Sie gebenWissen weiter, um neues Wissen zu gewinnen. Allein aus denindischen Forschungseinrichrungen der US-Konzerne werdenpro Jahr mehr als 1000 neue Patente gemeldet, was vor allemeines beweist: Im Innersten Indiens wächst ein produktiverKern heran, der, wenn er kräftig genug ist, sich auch gegenseine Förderer richten kann.Eine illegale Form des Wissenstransfers kommt noch hinzu,gegen die sich der Westen nur sehr zögerlich zur Wehr setzt.Unter den jungen chinesischen Ingenieuren gilt das Motto:Better try man buy, was sinngemäß übersetzt bedeutet: lieberkopieren als kaufen. China ist heute das Stammland der Pro-duktpiraten. In Shenzhen flog eine Firma auf, die original-getreu die Netzwerktechnologie von Cisco fertigte. In derInneren Mongolei werden Imitate des Procter &Gamble-Shampoos »Head&Shoulders« produziert. Die Geschichtendes Harry Potter wandern nicht nur als Raubkopien des briti-schen Originals von Hand zu Hand, die Figur selbst wurdeder Autorin entwendet. In chinesischen Büchern lebt ein zwei-ter Harry Potter, der mit dem ersten nur den Namen und wich-tige Persönlichkeitsmerkmale gemein hat.

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noch Strafgelder in nennenswerter Höhe. So konnte sich einegewisse Schamlosigkeit ausbreiten, die anzuprangern in Chinaals unhöflich gilt.

Noch immer werden ganze Stahlwerke oder einzelne Ferti-gungsstraßen nachgebaut, zuweilen sogar in Sichtweite derGemeinschaftsunternehmen, aus denen das Wissen ursprüng-lich stammt. Selbst beim Bau der Magnetschwebebahn inShanghai ging es nicht mit rechten Dingen zu. Die deutschenKonzerne Siemens und ThyssenKrupp, Erfinder und Lizenzin-haber der Schwebetechnologie, wurden von ihrem chinesi-schen Partner seit längerem schon bedrängt, das Innenlebender Führ- und Antriebstechnik zu offenbaren. Die Deutschenweigerten sich, da kam es Ende November 2004 zu einer ille-galen Ausspähaktion.

Chinesische Ingenieure drangen in einer Nacht von Freitagauf Samstag in die Wartungsstation des Transrapid ein, umTeile der Antriebstechnologie zu vermessen. Sie wurden dabeiheimlich gefilmt, weshalb es in diesem Fall immerhin zur Aus-sprache mit dem chinesischen Transrapid-Beauftragten WuXiangming kam. Der reagierte kühl. Einen Fehler mochte ernicht eingestehen. Die nächtliche Aktion, teilte er den deut-schen Konsortialpartnern mit, habe der Forschung und Ent-wicklung gedient.So versorgen die Chinesen den innersten Kern ihrer Volks-wirtschaft auch mit einer Energie, die andernorts erzeugt wur-de. Sie kaufen Zeit durch den Erwerb westlicher Firmen.Bedeutender aber ist: Sie stehlen Zeit durch die kostenfreieÜbernahme dessen, was andere ausgetüftelt haben. »Ein Pro-blem dieser Größe und dieses Ausmaßes kann nur existierendurch die direkte oder indirekte Mitwirkung des Staats«, sagtDaniel Chow, Professor an der Universität von Ohio und einerder führenden amerikanischen Rechtsexperten auf dem Gebietdes geistigen Eigentums. Der Beitritt Chinas zur Welthandels-organisation und die damit einhergehende Verpflichtung, die

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Regeln des freien Handels einzuhalten, haben daran nicht vielgeändert.

Aufgrund der legal und illegal gewonnenen Erkenntnissekönne die Technologieführerschaft der Westfirmen nun »er-folgreich angegriffen« werden, heißt es in einer Studie der Be-ratungsgesellschaft Booz Allen Hamilton. Philipp Vorndran,Chefstratege der Credit Suisse, meint: »Die westlichen Indus-trienationen haben ihr Know-how zum großen Teil an Chinaweitergegeben und damit ihre Aufgabe erfüllt. Sie werdenbald nicht mehr gebraucht. Ein Angriff aus China ist nur eineFrage der Zeit.«

Der nächste Einstein wird Inder sein

Das westliche Wissen trifft in Fernost bereits heute auf diegrößte Akademikergeneration, die es je auf Erden gab. In die-sem Jahr verlassen in Indien drei Millionen Menschen dieHochschulen, in China kommen weitere vier Millionen hinzu.Die asiatischen Staaten haben den Ausstoß an Studierten seitAnfang der 90er Jahre spürbar erhöht. Selbst wenn man dieangestammte Wissensgesellschaft der Japaner nicht dazurech-net, verließen im Jahr 2005 in Fernost viermal so viele Men-schen die Universitäten wie in Europa. Allein China produziertIngenieure wie am Fließband. Der jährliche Ausstoß übertrifftden der deutschen Universitäten um das Zehnfache. Der Res-sourceneinsatz ist enorm und für ein Eben-Noch-Dritte-Welt-Land mehr als beeindruckend. Das nationale chinesische Bud-get für Forschung und Entwicklung liegt weltweit auf Rangdrei, hinter den USA und Japan.

Die politische Anstrengung der Chinesen, auch die USA zuüberholen, ist unverkennbar. Das Motto der derzeitigen Staats-und Parteiführung lautet: Das Volk zuerst. In Wahrheit abersparen die kommunistischen Nationalisten lieber beim Sozia-

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224 Weltkrieg um Wohlstand

len als bei den Forschungsausgaben. Die Chinesen wollen dieBesten und nicht die Billigsten sein. Sie wollen fuhren undnicht folgen. Sie denken bei alldem in historischen Dimensio-nen. Eine der bedeutendsten Universitäten des Landes, derTsinghua-Campus in Peking, liegt in direkter Nachbarschaftzu dem einst von Engländern und Franzosen zerstörten kaiser-lichen Sommerpalast. Hier begann die Erniedrigung des Lan-des durch die Kolonialherren. Von hier wird nun die ökonomi-sche Erhebung gestartet.

Auch viele Universitäten der USA sind längst zu einer ArtZweigstelle der chinesischen und indischen Wissensindustriegeworden. Ein Viertel aller dortigen Promotionsabschlüssebei den Natur- und Ingenieurswissenschaften wird an Chine-sen ausgereicht. Annähernd die Hälfte von ihnen kehrt in ihrHeimatland zurück, um sich dort dem Aufbau neuer Wissen-schaftszentren für Bio-, Gen- oder Nanotechnologie zu wid-men. Der ehemalige Leiter der Yale School of Managementin Connecticut, Jeffrey Garten, ist beeindruckt von einem Wis-sensaufbau, den er in dieser Geschwindigkeit noch nirgendwoauf der Welt erlebt hat. Er prophezeit den »Aufstieg Chinaszum technologischen Superstaat«.Dabei werden die Chinesen noch übertroffen von den eineMillion Indern, die in den USA leben. Sie sind hungrig nachAusbildungen aller Art, weil sie verstanden haben, dass Wis-sen Wohlstand bedeutet. Der Weg zu Macht und Reichtumführt heutzutage durch den Hörsaal einer Universität. DreiViertel der US-Inder im erwerbsfähigen Alter besitzen einenBachelor oder einen höherwertigeren Abschluss; 38 Prozentdieser Altersgruppe können einen Master-Abschluss vorwei-sen oder haben promoviert. Durch die enge Vernetzung derUS-Inder mit Familien und Firmen im Heimatland findetauch auf diesem Weg ein ständiger Wissenstransfer statt. 95Prozent der internationalen Unternehmen in Bangalore werdenvon Indern geleitet, die zuvor im Ausland gelebt und gearbei-

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Der nächste Einstein wird Inder sein 225

tet haben. Indien verfügt mittlerweile über 700000 IT-Fach-kräfte und damit über doppelt so viele wie Deutschland. Siesind genauso gut ausgebildet, aber sie verlangen nur einenBruchteil der hiesigen Löhne.

Es ist kein Wunder, dass die Manager der westlichen Unter-nehmen mit wohlgefälligem Blick über die Landkarte wan-dern. Immer häufiger treffen sie Entscheidungen, die zu un-gunsten der alten Heimat ausfallen. Ein hoch qualifizierterMitarbeiter, dekoriert mit den heute üblichen Hochschul-abschlüssen, kostet in Asien weniger als eine Putzfrau inDeutschland.

Bosch unterhält im indischen Bangalore das größte Ent-wicklungszentrum außerhalb Deutschlands. Für ein Vierteldes Gehalts arbeiten die dortigen Mitarbeiter an Navigations-systemen und Motorsteuerungen. Rund 25 Prozent der welt-weiten SAP-Softwareentwickler sitzen mittlerweile in Indien;Siemens beschäftigt 4 000 Ingenieure in Neu-Delhi, Bombayund Bangalore, die im Bereich der Medizintechnik und derKraftwerkstechnologie neue Produkte entwickeln. Es gibtkeine Firma von Weltrang, deren Manager nicht schon anAsiens Universitäten auf Einkaufstour unterwegs waren.

Die hiesigen Politiker versuchen, die enorme Zahl der asia-tischen Akademiker mit dem Hinweis auf die große Bevölke-rung dieser Länder zu relativieren. Sie wollen so den europäi-schen Zahlen mehr Strahlkraft verleihen. Doch ökonomischsind solche Verweise ohne Belang. Die Asiaten besitzen nuneinmal die Kraft der großen Zahl, die sich durch statistischeRelativierungen nicht verringern lässt. Sie bauen darauf, dassder mit den meisten Versuchen auch die größere Chance hat,den Hauptpreis zu ziehen. Der nächste Einstein wird allerVoraussicht nach aus China und Indien kommen.

Wir können die Macht der Masse ihr großes Glück nennen,die große Menschenzahl für unfair oder auch für unvergleich-bar mit dem Westen halten, wo noch dazu die meisten dieser

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226 Weltkrieg um Wohlstand

Millionen Menschen deutlich jünger sind als die Bewohner inunseren Breiten. Nur eines sollten wir nicht tun: Die Wucht dergroßen Zahl unterschätzen. Sie ist keine Garantie auf denHauptpreis, aber sie garantiert eine deutlich höhere Chance.

Die westlichen Regierungen nehmen die enorme Kraftan-strengung zur Kenntnis, sie wundern oder fürchten sich, aberes wird nicht angemessen darauf reagiert. Seit dem Auftauchenvon Chinesen und Indern auf den internationalen Wissens-märkten wurden die Forschungs- und Bildungsetats nirgendwoim Westen signifikant erhöht. Viele tun im Zeichen von Mas-senarbeitslosigkeit und Budgetdefiziten eher das Gegenteil. Eswird fleißig gespart, auch auf Kosten der Zukunft.

Microsoft-Gründer Bill Gates spricht von der »Krise desamerikanischen Erziehungssystems« und versucht mit privatenMillionenspenden für Schulen und Ausbildungsseminare, ge-genzusteuern. Er spürt, vielleicht unmittelbarer als andere,dass der Westen dabei ist, technologisch ins Hintertreffen zugeraten. »Die Kräfte, die in China freigesetzt werden, über-raschen mich«, erzählte Gates beim Weltwirtschaftsforum inDavos. Die Technologieführerschaft der USA sei keineswegsfür ewig gesichert. Erst jüngst seien ihm die zehn größten Ta-lente seiner Softwarefirma vorgestellt worden: »Nur einer be-saß einen amerikanischen Namen, die Übrigen waren Asiaten.«

Stille Abschiede. Kapitalismus ohne Kapital

Das Kapital ist unruhig und seit jeher auf Wanderschaft. DasBeständige an ihm sind seine wechselnden Leidenschaften;erst interessierte es sich für Stahl und Kohle, Hochöfen undZechen entstanden, so weit das Auge reichte. Bald schon ludendie Elektro- und die Textilindustrie das Kapital zum Verweilenein, bevor es in Richtung Unterhaltungselektronik und Compu-ter weiterzog. Von dort ergoss es sich in die Firmen der Dienst-

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leistungsbranche, fand Gefallen an der Werbeindustrie, derJuristerei, dem Fremdenverkehr. Eine eigenständige Finanz-industrie entstand, die bald schon mächtiger war als die Kon-glomerate des frühen Industriezeitalters.

Eine starke, mit großer Energie voranstürmende Kapital-wanderung von einem Wirtschaftssektor zum nächsten wirdStrukturwandel genannt. Die alten Arbeitsplätze sterben, da-mit die neuen entstehen können. Die Geschichte des Kapitalis-mus ist von Anfang an eine große Erzählung vom Werden undVergehen der Wirtschaftszweige und immer handelt es sich umeine Kapitalwanderung vom einen zum anderen Wirtschafts-zweig. Wäre es anders, würden noch heute die Dampfmaschi-nen stampfen und die Beschäftigten kämen in großer Zahl mitKohlestaub dekoriert nach Hause.

Das Neue ist also nicht dieser unbändige Wanderwille, dieständig wechselnde Leidenschaft, sondern der Aktionsradiusdes Kapitals, der sich enorm erweitert hat. Der moderne Kapi-talist hält die Weltkarte in der Hand. Milliarden von Menschenin unzähligen Ländern aller Kontinente gilt sein Interesse. DasWerden und Vergehen geht weiter, aber eben nicht mehr auto-matisch innerhalb der westlichen Hemisphäre. Wieder findetein Strukturwandel statt, dieser allerdings ist größer als alles,was in der Menschheitsgeschichte bisher geschah.

Die Wanderschaft des Kapitals dürfen wir uns nicht als einabruptes Kommen und Gehen vorstellen. Das bereits inves-tierte Kapital ist nicht mehr so beweglich, wie seine Repräsen-tanten der Öffentlichkeit weismachen wollen. Sie poltern unddrohen gern mit Verlagerung, aber oft ist diese Drohung nichtviel mehr als Kraftmeierei. Das Kapital hat seinen Aggregat-zustand vor längerer Zeit schon von flüssig (Geld) auf fest (Fa-brik) verändert und kann den umgekehrten Weg nur noch untergroßen Mühen gehen. Selten werden daher Maschinen abge-schraubt und in Kisten verpackt. Das investierte Kapital hatWurzeln geschlagen, die zu kappen nicht leicht fällt.

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Stille Abschiede. Kapitalismus ohne Kapital 229

sich fusionieren und abspecken lässt. Der Neuaufbau einerUnternehmung aber ist selten geworden und nur noch imAusnahmefall erreicht eine neu gegründete Firma die Größeder alten Konzerne. Die bedeutendsten 100 Unternehmen inFrankreich, England und Deutschland sind fast ausschließlichalte Bekannte. Nach geglückter Fusion werden zuweilen dasTürschild und der Vorstand ausgewechselt, weshalb immerhinder Eindruck von Wandel und Wechsel entsteht.

Ein Blick auf das Armaturenbrett der europäischen Volks-wirtschaften bestätigt den ersten, noch flüchtigen Eindruck.Es kam in den vergangenen Jahren zu einem spürbaren Druck-abfall im Innersten der westeuropäischen Volkswirtschaften.Es wurde kaum neue Energie eingespeist. Im Durchschnittaller westlichen Industriestaaten hat sich die Netto-Investi-tionsquote, also das Verhältnis der Neuanschaffungen zur ge-samten Wirtschaftskraft, gegenüber 1970 halbiert. Wohl nochnie seit dem Zweiten Weltkrieg wurde in unseren Breiten sowenig Neues angepackt. Es wird nicht gewagt und nichtgewonnen. Die einst beeindruckende europäische Wachstums-geschichte, so scheint es, ist in ihrem letzten Kapitel ange-langt. In Deutschland sank die Investitionsquote seit 1970sogar von 18 Prozent auf drei Prozent des Nettoinlandspro-dukts, wobei mehr als ein Viertel dieses Investitionsverfallssich in den vergangenen fünf Jahren ereignete.

Eine derart deutliche und über längere Zeiträume nachlas-sende Investitionsbereitschaft lässt den Politikern keine Chan-ce, das Jobwunder der Nachkriegszeit zu wiederholen. Aufeinem Kapitalstock, der das Wachsen praktisch eingestellthat, ist kein Wiederaufstieg zu begründen.

Die anderen Nationen und Kontinente, deren Kapitalstocksich relativ vergrößert, holen dagegen rasch auf. Der für denökonomischen Wiederaufstieg nötige Treibsatz sind nun ein-mal gut ausgebildete Menschen und das für ihren Arbeits-einsatz notwendige Investitionskapital. Der Straßenkehrer be-

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230 Weltkrieg um Wohlstand

nötigt einen Besen, der Fischer eine Angel, der BarkeeperZapfhahn und Tresen, aber Autokonstrukteure, Flugzeugbauerund Biomediziner sind von anderem Kaliber. Sie braucheneine aufwendige Kapitalausstattung, damit sie überhaupt pro-duktiv sein können. Fehlt diese Kapitalausstattung, verküm-mert das in ihren Köpfen gespeicherte Wissen. Ohne Laborund Computernetz ist der Biomediziner auf dem Arbeitsmarktsogar weniger wertvoll als der Barkeeper, weil ihm für dasZapfen von Bier die Erfahrung fehlt.

In den USA sieht die Investitionsbilanz deutlich anders ausals im alten Europa. Die Industrieproduktion verlässt zwar ziel-strebig das Land, aber das Kapital hat sich nicht gleich in Gänzeverabschiedet. Die Sektorenwanderung ist noch immer intakt,nur dass das Investorengeld zu den amerikanischen Software-schmieden, den Giganten der Finanz- und Pharmaindustrieweitergezogen ist. Allein in den letzten zwei Jahrzehnten reif-ten mit eBay, Lucent Technologies, Biogen, Google, Yahoo undApple neue Firmen zu stattlicher Größe heran. Ihnen gelingt es,die Märkte ähnlich zu dominieren, wie es einst John DavisonRockefeller und Henry Ford taten. Die amerikanische Investiti-onsquote ist gestiegen, nicht gesunken. Die Investoren liebenAmerika, trotz all seiner Probleme. Die Investoren misstrauenEuropa, trotz all seiner Anstrengungen. Die Netto-Investitions-quote ist gegenwärtig in Amerika fast dreimal so hoch wie inDeutschland, was ja eine tröstliche Botschaft enthält: Die Glo-balisierung ist keine von Gottes Hand aufgestellte Falle, son-dern eine Herausforderung, auf die zu reagieren sich lohnt. Esgibt keinen Automatismus nach unten.

Die Erfolgsgeschichte des Kapitalismus aber wird derzeitandernorts geschrieben. Ein wahrer Dollarregen geht überFernost nieder. Die wichtigsten Ankunftsorte für das globalwandernde Kapital sind in dieser Region China und Singapur.Der Kapitaltransfer ist der Vorbote des Arbeitsplatztransfers,denn die Jobs wandern dem Kapital in blinder Gefolgschaft

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»Schwärmt aus.« Die Asiaten kaufen Zeit 231

hinterher. Das galt für die frühindustrielle Sektorenwanderungvon der Kohle zur Elektronikindustrie und das ist bei der heu-tigen Länderwanderung nicht anders. Die Arbeitsplätze folgender Spur des Geldes.

Um die westlichen Unternehmer brauchen wir uns in diesemZusammenhang nicht zu sorgen, auch nicht um die deutschen.Der Boom in Fernost ist der ihre, wie ein Blick in die Kapital-bilanz beweist. Bei der Kapitalausfuhr gehört Deutschland zurWeltspitze: Seit 1995 hat sich der Kapitalbestand deutscherFirmen im Ausland nahezu verdreifacht - von elf Prozent auf31 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Auch bei der Schaffungvon Arbeitsplätzen im Ausland leisteten deutsche Unterneh-mer Beachtliches, wie die Bundesbank in einer Untersuchungdarlegt. Mittlerweile beschäftigen sie rund 4,6 Millionen Men-schen in Kalkutta, Shanghai, Bratislava und anderswo.

»Schwärmt aus.« Die Asiaten kaufen Zeit

Chinesen, Inder, Koreaner und Malaysier dringen zur Be-schleunigung ihres Aufstiegs auch in das Innerste der west-lichen Volkswirtschaften ein. Sie tun das, indem sie dort Firmenkaufen oder sich an ihnen beteiligen. Sie injizieren so dem Wes-ten jenes Kapital, das sie im Exportgeschäft mit Europa undden USA verdient haben. Sie schicken eigene Manager los,um die Wirkungen ihrer Kapitalspritze zu kontrollieren. »Zouchuqu«, lautet der Auftrag der Pekinger Zentrale an die chine-sischen Finnenlenker: »Schwärmt aus.« Allein im Jahr 2004haben chinesische Firmen fast 1000 Unternehmen im Auslandgegründet. Die Investitionszuflüsse aus allen asiatischen Staa-ten in den Westen haben sich in den vergangenen 15 Jahren fastverzehnfacht. Die Kapitalflüsse aus Asien in Richtung Westenbetragen mittlerweile 70 Milliarden Dollar pro Jahr.

Die Asiaten interessieren sich dabei vor allem für drei

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Dinge: das Wissen westlicher Forscher, die gut eingeführtenglobalen Markennamen der westlichen Firmen und das in Jahr-zehnten gewachsene Händlernetz, das sie für ihre Produktenutzen wollen. Die Reise zum Mittelpunkt der westlichenVolkswirtschaften ist für sie teuer und riskant, wie eine Viel-zahl von Fehlschlägen belegt. Aber sie lohnt dennoch. Nur solassen sich Jahrzehnte der mühsamen Aufbauarbeit sparen.Die Asiaten kaufen Zeit.

Die Idee, sich in den Kernen der anderen festzusetzen, istkeineswegs neu. Die Asiaten haben sie dem Westen abge-schaut. Die großen Konzerne der USA verfahren so seit Jahr-zehnten. Sie verflechten ihre Heimatstandorte mit den Fabri-ken anderer Staaten, sie gründen Tochterunternehmen undForschungseinrichtungen in aller Herren Länder und werdenso zum festen Bestandteil der verschiedenen Volkswirtschaf-ten. Das sichert Vertriebsmacht und politischen Einfluss, dasschafft Zuwachs bei den Marktanteilen und sorgt für Gewinne,die sich schnell zurück in die Zentrale pumpen lassen. DerVormarsch der multinationalen Konzerne genießt seit jeherpolitische Priorität auch im Weißen Haus.

Der Aufmarsch ausländischer Unternehmer sorgte zu allenZeiten für Wirbel, zumindest im Land ihrer Ankunft. Als Ame-rika anfing, die Welt mit seinen Großkonzernen zu besiedeln,war vom Coca-Cola-Kolonialismus die Rede. Schockiert rea-gierten aber die US-Bürger erst, als ihr eigenes Land zum Zielausländischer Großinvestoren wurde. In den 80er und 90er Jah-ren gingen Fernsehstudios und Immobilien an die Japaner, derErwerb des New Yorker Rockefeller Center durch japanischeInvestoren wurde als Entweihung amerikanischen Bodensempfunden. Erst kürzlich wurde der Verkauf amerikanischerHafenanlagen an eine arabische Betreiberfirma untersagt.

Doch wer an die Spitze der Weltwirtschaft aufsteigen will,hat keine andere Chance. Er muss das eigene Territorium ver-lassen, um beherzt bis ins Zentrum des Herausforderers vorzu-

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dringen. Nur wem es gelingt, sich mit seinem Kapital im pro-duktiven Kern anderer Nationen festzusetzen, kann zu denbedeutenden Mächten der Welt aufsteigen. 50 der 500 größtenFinnen der Welt sollen sich in zehn Jahren in chinesischerHand befinden, hat der Staatsrat beschlossen. In der Mikro-elektronik will man bereits 2015 an die Weltspitze vorgedrun-gen sein. »Leitkatalog von Ländern und Industrien für Über-see-Investitionen« lautet die Überschrift eines Papiers, dasvon Strategen des chinesischen Außen- und des Handelsminis-teriums erstellt wurde. Es listet Staaten und Branchen auf, indenen der Staat ein Investment für lohnend hält. In Großbritan-nien interessieren sich die Strategen für die Biomedizinfirmen,in Frankreich hat man es auf die Hersteller von Klimaanlagen,Staubsaugern und Mikrowellenherden abgesehen. Weltweithält das Riesenreich Ausschau nach jenen Flecken, an welchensich unter der Erdkrume große Mengen an Öl, Gas, Eisenerzoder Kupfer versteckt halten. Die staatlichen Versorger inves-tieren Milliardenbeträge, um den Energiehunger der heimi-schen Industrie stillen zu können.

Die industriellen Firmenübernahmen der Chinesen im Wes-ten lassen ein Muster erkennen, das der näheren Betrachtunglohnt. Die Chinesen wollen ihre heimische Billigproduktionmit den Vertriebsnetzen des Westens verknüpfen, um so nebendem Produktionsgewinn auch die lukrative Handelsspanne zukassieren. Sie streben auch hier nach westlichem Wissen, dasihnen schnelle Durchbrüche ermöglichen soll. Der Kauf derPersonalcomputer-Sparte von IBM durch den chinesischenComputer- und Notebookhersteller Lenovo war aus Sicht derPekinger Führung eine gelungene Premiere. Wie eine Sicht-blende steht auf den Geräten weiterhin IBM, deren Innersteszu großen Teilen aus chinesischer Produktion bestückt wird.Man kann das, je nach Temperament, einen klugen Schachzugoder grobe Täuschung nennen.

In der Unterhaltungselektronik findet das gleiche Spiel statt.

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Die chinesische TCL hat sich in Europa und den USA einenhübschen Strauß an Markenrechten und Firmenbeteiligungenzusammengekauft, sodass die Chinesen ihr fernöstliches An-gebot seither unter wohlklingenden westlichen Namen wieAlcatel, Schneider und Thomson der verwöhnten Kundschaftandienen. Die Verbindung von billiger Produktion mit etab-lierten Markennamen ließ den größten Hersteller von Fernseh-geräten entstehen. Weltweit hören 65 000 Beschäftigte auf dasKommando des TCL-Chefs Li Dongsheng. Zwei Drittel derGeschäfte werden außerhalb Chinas abgewickelt.

Das Entstehen des neuen chinesischen TV-Giganten ist aufdas Engste mit dem Untergang französischer, deutscher undamerikanischer Unternehmen verbunden. RCA war die ameri-kanische Fernsehfirma, ein Name so klangvoll wie in Deutsch-land die Traditionsbauer Nordmende und Saba. Früh schonspürte RCA die immer wiederkehrenden Preisoffensiven ausFernost, die wie die Druckwellen eines Erdbebens sich denUSA näherten, kurzzeitig verschwanden, um mit neuer Wuchtzurückzukehren. Um nicht in den Trümmern der eigenenHochlohnproduktion begraben zu werden, verlagerte RCAschon bald seine Herstellung nach Taiwan und Mexiko. Dochmit dem Eintritt immer neuer asiatischer Wettbewerber - nachJapan hatten sich auch die Tigerstaaten auf den Weg gemacht -folgten weitere Druckwellen. Das Management von RCA botsich schließlich den Japanern, die noch über keine Reputationin den USA verfügten, als williger Helfer an. Die Videorecor-der des Herstellers Hitachi wurden in Amerika unter demNamen RCA vertrieben. Firmenchef Thornton Bradshawrühmte sich 1983 auf einem Symposium der Harvard-Univer-sität seiner starken Marke, die »so kraftvoll ist, dass sich Hita-chi-Produkte teurer verkaufen lassen, wenn sie RCA heißen«.

Drei Jahre später hörte RCA auf, eine selbstständige Firmazu sein. Nur der Markenname lebt noch, wenn auch nur alsMarketing-Dekor der chinesisch dominierten TCL. Der laut-

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lose Riese aus China beherrscht nun das weltweite Geschäft.Sein Imperium steht auf den Ruinen der westlichen Fernseh-produktion.

Der chinesische Markt ist heute schon für über 100 Pro-dukte, darunter Mobiltelefone und Werkzeugmaschinen, dergrößte der Welt. Wer diesen Inlandsmarkt dominiert, darf sichzum Ausflug in Richtung Westen ermuntert fühlen. Die poli-tische Führung hat daher auch jene Konzerne identifiziert, diesich im Westen bewähren sollen. China Mobile, heute mit über230 Millionen Kunden der größte Mobilfunkbetreiber Chinas,will Vodafone und Co. in den USA und Europa auf die Plätzeverweisen. Ningbo Bird, der Handyhersteller Nummer eins inChina, hat es auf Motorola, Nokia und Samsung abgesehen.Das Internet-Auktionshaus Alibaba.com plant den weltweitenMarktantritt gegen eBay. Baosteel wird von der Regierungermuntert, die Stahlgiganten der Welt herauszufordern. DerChef von China State Construction Engineering, dem größtenBaukoloss des Landes, erklärte trotz weltweiter Überkapazitä-ten: »Wir wollen eine der zehn größten Baufirmen der Weltwerden.« Insgesamt 118 asiatische Firmen haben es bereitsauf die Fortune-Liste der größten 500 Unternehmen der Weltgeschafft.

Weit gebracht hat es auch die chinesische Firma Haier, diemit insgesamt 50000 Mitarbeitern in 13 Ländern Kühlschränkeund Waschmaschinen herstellt, um sie in 165 Staaten zu ver-kaufen. Mit nur sehr wenigen Waren des heute 90 Produkt-linien umfassenden Sortiments wurde der erste Vorstoß in denWesten gewagt. In den USA hatte Haier die Minikühlschränkein den Hotelzimmern als lohnende, weil von der Konkurrenzvernachlässigte Nische ausgemacht. In Europa schien das Ge-schäft mit den Klimaanlagen Erfolg zu versprechen.

Heute ist Haier der viertgrößte Anbieter von Haushaltsgerä-ten aller Art. Das Unternehmen kontrolliert in den USA 30Prozent des Markts für Minikühlschränke, die Hälfte des

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Markts für Weinkühlschränke und hat in Europa einen Markt-anteil von zehn Prozent bei Klimaanlagen. Die Finnenzentralefür die USA befindet sich in Manhattan, in Los Angelesbetreibt die Firma ein Designcenter. Das Unternehmen hatsich im produktiven Kern der amerikanischen Volkswirtschaftmustergültig festgesetzt, von wo aus es nun die letzten nochvor ihm platzierten Giganten der HaushaltswarenindustrieWhirlpool, General Electric und Electrolux attackiert. Das er-klärte Ziel von Haier-Chef Zhang Ruimin, nebenbei auch Mit-glied im Zentralkomitee der chinesischen KP, ist die Markt-führerschaft. Der Mann redet erstaunlich offen auch über diepolitischen Hintergründe der Expansion. China könne sichnicht damit zufrieden geben, Land der Fertigungsindustrie zusein, sagt er. Es gehe immer auch darum, »nationale Stärkeaufzubauen«.

Schytzmacht Staat.Chinas gelenkte Marktwirtschaft

Der Staat spielt bei der Neuverteilung von Reichtum undMacht eine wichtige, vielleicht sogar die entscheidende Rolle.Im Westen sorgt er dafür, dass der produktive Kern der Volks-wirtschaft Teile seiner Energie für die gesamte Gesellschaftbereitstellt. Der Gewinn verbleibt in den Firmen, aber nichtzu 100 Prozent. Auch die Menschen, die außerhalb der Sphärereiner Wertschöpfung leben, profitieren. Der Sozialstaat ist dieRelaisstation für das Umleiten von Geldern aus der Sphäre derProduktion in jene Zonen des Landes, in denen ausschließlichkonsumiert wird. Der Wohlstand, der im produktiven Kern er-wirtschaftet wird, gelangt so auch zu den Menschen, die an derWertschöpfung nicht beteiligt sind. Die Rentner waren einstTeil des Kerns und sind es heute nicht mehr. Sie sind vomKern zur Kruste gewandert. Ihr Lebensunterhalt wird von

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Schutzmacht Staat 237

jenen bestritten, die heute arbeiten. Generationenvertrag heißtdiese Koppelung von Arbeitswelt und Ruhestand, die für diemeisten westlichen Staaten heute charakteristisch ist.

Die Kinder zählen ebenfalls zu den Bewohnern der Kruste,auch wenn sie in entgegengesetzter Richtung unterwegs sind.Sie ziehen mit den Jahren zum Kern der Volkswirtschaft, wosie später dann ihren Teil zur Wohlstandsmehrung beitragenwerden. Wichtig ist an dieser Stelle, die Rolle des westlichenStaats zu verstehen: Er sorgt dafür, dass die Sphäre der Produk-tion mit der Sphäre des Unproduktiven verbunden ist, der Ka-pitalismus und der Wohlfahrtsstaat bedingen einander. DieseVerbindung beruht auf stabilen, zum Teil über 100 Jahre altenVerabredungen, die wir Sozialversicherungen nennen. Sie sindnicht aufkündbar und gehören zu den unveräußerlichen Erken-nungszeichen westlicher Wirtschaftssysteme. Rund ein Dritteldes in Europa erwirtschafteten Wohlstands wird über die ver-schiedenen Leitungssysteme vom Kern zur Kruste umgeleitet.Rechnerisch erhielt im Jahr 2003 in Deutschland jeder der 82Millionen Einwohner - vom Kleinkind bis zum Greis - aufdiese Weise rund 8600 Euro. Das Sozialbudget, so wird deraus dem Innersten der Volkswirtschaft entnommene Gesamt-betrag genannt, beträgt in Deutschland rund 700 MilliardenEuro und europaweit liegt es bei fast drei Billionen Euro. InDeutschland verpflichtet sogar die Verfassung den Staat zurUmverteilung. Von der »Sozialpflichtigkeit des Eigentums«ist die Rede, was nichts anderes bedeutet als die Verpflichtungder Gesellschaft, mit der im Innern des Produktionsprozes-ses erzeugten Energie auch die Menschen weiter draußen zuwärmen.Der Staat in China hat eine andere Funktion. Er schiebt sichwie eine feuerfeste Schicht zwischen Kern und Kruste undsorgt dafür, dass nichts aus dem glühenden Innern in die Rand-zonen entweicht. Mit dem Rückzug der Staatsindustrie gingein Abschied aus der sozialen Sicherung einher, für den Karl

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Marx nichts als Verachtung übrig gehabt hätte. Deng Xiaopingließ China, das sich laut Eigendarstellung bereits im »fort-schrittlichen Stadium des Sozialismus« befand, wieder zurück-stufen. Das Land lebe im ersten Stadium des Sozialismus, hießes von nun an. Das bedeutete die Aufkündigung nahezu allerSozialverabredungen. Die lebenslangen Arbeitsverträge wur-den durch Zeitverträge ersetzt. Kündigungen waren nun mög-lich. Die Werkswohnungen musste man kaufen oder verlassen.In der Privatwirtschaft blieben die sozialen Sicherungen vonAnfang an rausgeschraubt. Die sozialen Verpflichtungen über-nahm die Familie - oder niemand. Der Staat steht seither be-reit, die Trennung von Kern und Kruste mit Waffengewalt zuverteidigen. China ist heute das Land mit den rauesten Gepflo-genheiten auf dem Arbeitsmarkt.

Selbst in Indien, der größten Demokratie der Welt, hat bis-her nur ein Bruchteil der Bevölkerung von den Erträgen derWirtschaftsmaschinerie profitiert. Ein Viertel der ärmstenMenschen der Erde wohnt in Indien, der Wirtschaftsauf-schwung schwingt an ihnen vorbei. Vielleicht auch deshalb be-teiligt sich traditionell nur rund die Hälfte der Erwachsenen anden Wahlen.

Das hinduistische Kastenwesen, das den Gläubigen mit derGeburt ihren Platz in der Gesellschaft zuweist, funktioniertseit jeher als Unterdrückungsinstrument, das auch in kapitalis-tischen Zeiten weiterlebt. Noch immer müssen »die Unberühr-baren« von Hand und gegen ein Minimalentgelt die Toilettenanderer Menschen reinigen. Auf dem Land hat die Modernekeinen Einzug gehalten. Das Trinkwasser kommt aus demnahe gelegenen Fluss oder es kommt gar nicht. Ihre Notdurftverrichten nach UNICEF-Angaben noch immer 700 MillionenInder im Freien, weil es für sie keinerlei Sanitäranlagen gibt.Auf dem Land herrschen die hygienischen Bedingungen desMittelalters, ohne dass der Staat bisher eine ernsthafte An-strengung zur Beseitigung dieser Missstände unternommen

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Schutzmacht Staat 239

hätte. Das moderne Indien findet auf Wohlstandsinseln statt,die zum Festland der Armut keinen Sichtkontakt besitzen.

Bei den letzten Wahlen, von der damaligen Regierungspar-tei unter dem Slogan »Strahlendes Indien« geführt, war diesestaatlich gewollte Hartherzigkeit das wichtigste Thema derpolitischen Auseinandersetzung. An den Aufbau eines landes-weiten Sozialstaats wird dennoch nicht gedacht, weil Haupt-konkurrent China ebenfalls keine ernsthaften Anstrengungenin diese Richtung unternimmt. »Wir werden keinen Schrittmachen, der die Wachstumsgeschwindigkeit in irgendeinerForm bremst«, versichert der Finanzminister den westlichenInvestoren.

Auch die KP Chinas kennt die Sehnsüchte der Bevölkerungund versucht sie zu bedienen, zumindest mit Worten. Mit dem11. Fünfjahresplan wurde das Ziel beschlossen, bis 2010 eine»harmonische Gesellschaft« zu schaffen. In Wahrheit brachtedie KP erst kürzlich das größte Förderprogramm für Kapitalis-ten auf den Weg: Die Privatunternehmer werden nicht mehrnur auf verschämte Art gefordert. Die chinesischen Kommu-nisten manifestieren ihren Sinneswandel laut und deutlich,sogar die Verfassung wurde geändert, damit jeder sehen kann,dass es ihnen nicht um irgendeine Reform, sondern um eineRevolution geht. Der Staat war bis zum März 2004 für »Anlei-tung, Aufsicht und Regulierung« des Privatsektors zuständig.Er war der große Bruder, der disziplinierte und drangsalierte,er konnte Zuneigung gewähren oder entziehen. Mit der neuenVerfassung wird das Privateigentum erstmals auch zur Privat-sache erklärt.

Es gilt nun als »unverletzlich«. Selbst Erbschaften sindkünftig in China geschützt. Der Staat wird in Artikel 11 dernun gültigen Verfassung sogar aufgefordert, sich im Interesseder Privaten nützlich zu machen. Er soll den Kapitalisten »Er-munterung und Unterstützung« zuteil werden lassen. Die Sozi-alpflichtigkeit des privaten Eigentums, wie sie die deutsche

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Verfassung kennt, hat sich damit in eine Privatpflichtigkeit desStaats verwandelt. Die Kapitalisten sind die neue Herrenklas-se. So sind Unternehmer noch in keinem Staat der Welt hofiertworden. Das Eigentum besitzt in China mehr Rechte als dasVolk.

Auch Tote werden im chinesischen Wirtschaftsleben billi-gend in Kauf genommen. Im Jahr 2005 gab es nach westlichenSchätzungen in China rund 100000 tödliche Arbeitsunfälle,davon etwa 10000 im Bergbau. Das sind die größten Opferzah-len, die je ein Land gemeldet hat. Auch bei den Selbstmordenbringt es eine vom Tempo des Umbruchs offenbar überforderteGesellschaft mittlerweile auf Rekordmarken: Fast jeder dritteSelbstmord weltweit wird in China begangen. Der Suizid istbei Menschen zwischen 15 und 34 Jahren die häufigste Todes-ursache. Zur Exportförderung, auch das ist Teil des asiatischenWirtschaftswunders, werden in China etwa sieben Millionen,in Asien insgesamt 120 Millionen Kinder zur Arbeit geschickt.Sie knüpfen Teppiche, schleppen Lasten, stecken Plastikteilezu Plastikspielzeug zusammen. Vor allem aber senken sie diePreise.

Seit den wilden Zeiten der industriellen Revolution hat eseinen derart urwüchsigen Kapitalismus nicht mehr gegeben,der alles andere zur Seite schiebt, zur Not eben auch das Rechtder Kinder auf Kindheit und der Gesunden auf Unversehrtheit.Es ist, als habe Karl Marx seine Erkenntnisse über die Skrupel-losigkeit des Kapitals in chinesischen Bergwerken und indi-schen Textilfabriken gewonnen: »Das Kapital hat einen Horrorvor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie dieNatur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapitalkühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden;20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinenFuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nichtriskiert, selbst auf Gefahr des Galgens.«

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Auch die 70 Millionen Mitglieder der KP stehen mittlerweileSpalier, wenn Großunternehmen ihre Forderungen anmelden.Was einst im Untergrund des Kaiserreichs als Partei der Intel-lektuellen begann, fühlt sich nun einer »Dreifachen Repräsen-tation« verpflichtet, wie sich der frühere Staatspräsident undParteiführer Jiang Zemin Anfang des neuen Jahrhunderts aus-drückte. Die KP will demnach den Arbeitern und Bauern, denKulturschaffenden und »den Entwicklungsbedürfhissen derfortschrittlichen Produktivkräfte« gleichzeitig dienen.

Die Kommunisten in China sind keine Kommunisten mehr,wie wir sie noch aus Moskau in Erinnerung haben. Sie sindNationalisten, die ihr Land nach jahrzehntelanger Irrfahrt indie Spitzengruppe der wohlhabenden Staaten steuern wollen.Das private Kapital des Landes, das der autoritäre Staat be-schützt wie einen Schatz, spielt dabei die entscheidende Rolle.Die Privatwirtschaft gedeiht angesichts der liebevollen Pflegeim Eiltempo, allein im Jahr 2000 um sagenhafte 40 Prozent,danach mit jährlichen Steigerungsraten von 20 Prozent. Sieerwirtschaftet zwei Jahrzehnte nach Beginn der Reformpolitikbereits mehr als ein Drittel der gesamten WirtschaftsleistungChinas. Rechnet man alle halbprivaten Firmen hinzu, sind esüber 60 Prozent. Der Staatssektor verliert im Gegenzug anBedeutung, auch auf dem Arbeitsmarkt.

Große Teile des Landes sind heute eine Sonderwirtschafts-zone, die dem einzigen Zweck dient, Profit in seiner reinsten,nahezu kristallinen Form entstehen zu lassen. Darin genauliegt der Unterschied zur Staatlichkeit der Sowjetunion: Derkommunistische Staat dort war ein großer Absauger vonWohlstand, den er dem Innersten seiner ohnehin schwächeln-den Volkswirtschaft entnahm. Das nationalistische China istein Beschützer des produktiven Kerns. Die Partei hat sich umihn geschmiegt, versucht jeden Energieabfluss zu verhindern.In der Sowjetunion kam es hingegen über die Jahrzehnte zurpolitisch bedingten Entladung des Kerns, die ihn schließlich

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Indiens mit immer neuer Energie, die aus der Kruste derVolkswirtschaft gewonnen wird. Denn es ist der Staat, der da-für sorgt, dass Arbeitslose und mittellose Landarbeiter nachund nach in den Prozess der Produktion eingegliedert werden.Was wie ein Widerspruch klingt, ist keiner: Der Staat sorgt da-für, indem er sich um niemanden kümmert. Seine Vermitt-lungsleistung ist der Zwang der Verhältnisse.

Der Kontrast zum Westen könnte augenfälliger nicht sein.Derweil vor allem in Europa Arbeitskräfte ausgesteuert wer-den, in Richtung Vorruhestand, Arbeitsbeschaffung, Sozial-hilfe oder Arbeitslosigkeit, geht Asien den umgekehrten Weg.Immer neue Arbeitskräfte werden dem Produktionsprozesszugeführt, allerdings zu den brutalen Bedingungen, die derProzess selbst diktiert. Der nicht existierende Sozialstaat er-füllt also eine weitere Funktion. Er bewahrt nicht nur dasInnerste der Volkswirtschaft vor Energieverlusten. Er führtdem Kern durch seine Nichtexistenz zusätzliche Produktiv-kräfte zu, die keine Alternative haben, als ihre Ware Arbeits-kraft zu jedem beliebigen Preis anzubieten.

Die Differenz zwischen dem Hungerlohn der Arbeiter unddem Verkaufserlös der Firmen ist der Profit der Unternehmen.Er ist der Treibstoff, der die Temperatur im Innersten der chine-sischen, der indischen und vieler anderer asiatischer Volkswirt-schaften ständig erhöht. Das enorme Angebot an menschlicherArbeit wird auch auf absehbare Zeit dafür sorgen, dass die WareArbeitskraft so billig bleibt, wie sie ist. Jedes Jahr verlassenallein in China Millionen Menschen die Landwirtschaft, umsich der Industrie des Landes anzudienen. Sie hausen beengt,teilen sich ihr Bett mit ein oder zwei anderen, begnügen sichmit Löhnen von zum Teil nur wenigen Cent pro Stunde. Ihnenim Nacken sitzen schätzungsweise 175 Millionen Arbeitslosein China und 100 Millionen Arbeitslose in Indien, nicht zu ver-gessen jene 450 Millionen Menschen im Agrarsektor beiderLänder, die noch auf ihre Chance in den Städten warten. Allein

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diese Arbeitskraftreserve ist größer als das aktive Arbeitskräf-tereservoir der USA und Europas zusammen.

Für weiteren Nachschub ist gesorgt, denn die beiden asia-tischen Riesenreiche haben den Zenit ihres Bevölkerungs-wachstums keineswegs erreicht. Solange es gelingt, dieseMenschen praktisch zum Nulltarif vorrätig zu halten, sind siedie industrielle Reservearmee und damit ein großer Vorteilvon Indern und Chinesen im Weltwirtschaftskrieg. Die Men-schen leiden, aber die Volkswirtschaft gewinnt an Stärke.

Wichtig ist, die Unterschiede zwischen Angreiferstaat undAbschiedsgesellschaft zu verstehen: Selbst Arbeitslose sindnicht gleich Arbeitslose. Die westlichen Arbeitslosen sind dieKernenergie von gestern, die chinesischen Arbeitslosen sinddie Energiereserve für morgen. Die einen belasten die Volks-wirtschaft, weil sie Geld kosten. Die anderen nützen der Volks-wirtschaft, weil mit Hilfe ihrer Anwesenheit die Löhne deranderen gedrückt werden. Sie sorgen dafür, dass die bereitsaktiven chinesischen Arbeiter billig und willig bleiben.

Das Vorgehen der asiatischen Führer ist brutal und schlauzugleich. Brutal, weil es heute Millionen ihrer eigenen Lands-leute vom Wohlstandsverzehr ausschließt. Viele Menschen aufdem Land und insbesondere im Norden des Reichs sehen imFernsehen ein China, das mit ihrem Alltag nichts gemein hat.Schlau ist es, weil der Staat seine Wachstumskerne auf dieseWeise schützt wie der Adler seine Brut. Eine Exportindustriekonnte entschlüpfen, welche die Welt das Fürchten lehrt. An-gesichts der begrenzten Kapitalressourcen würde eine Um-verteilungspolitik, die sich am Westen orientiert, den Aufbau-prozess verlangsamen oder ihn vielleicht sogar unmöglichmachen. Nur der geballte Ressourceneinsatz in den Küsten-regionen, wo die gewinnträchtigen neuen Fabrikanlagen ent-stehen, verspricht schnelle Durchbrüche.

Beim chinesischen und indischen Aufstieg handelt es sichalso genau genommen nicht um den Aufstieg ganzer Länder,

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sondern um den Aufstieg von Bevölkerungsteilen in Teil-regionen. Beiden steht der relative Abstieg von MillionenMenschen gegenüber. Unweit von Klinikkomplexen, Pharma-fabriken und Computerschmieden liegen in Indien die Slum-gebiete, in denen Tier und Mensch ein kümmerliches Daseinfristen. Auch 60 Jahre nach dem Abzug der Briten kann weitüber ein Drittel der Menschen nicht lesen und schreiben. Nurjedes vierte Kind schließt die Grundschule ab, trotz der staat-lich verordneten Schulpflicht.

Auch die Regierung in Peking betreibt eine Zwei-China-Po-litik, die es an Härte mit der in Indien jederzeit aufnehmenkann. Die 18-Millionen-Metropole Shanghai ist ein neuesNew York, das Lebensniveau entspricht dem von Portugal.Das karge Westchina aber, das immerhin zwei Drittel der Lan-desfläche umfasst, blieb vom Boom nahezu unberührt. Dieethnischen Minderheiten im Grenzgebiet kennen den Auf-schwung nur vom Hörensagen. Ihr Lebensniveau entsprichtdem der verlorenen Staaten Afrikas. Für sie sind die Sonder-wirtschaftszonen mit ihren funkelnden Metropolen das irdi-sche Paradies, der Zufluchtsort ihrer Sehnsüchte.

Der Staat beschützt seinen produktiven Kern nicht nur imInnern. Er tut es mit großer Entschiedenheit auch in den äuße-ren Angelegenheiten. Das beginnt bei einer Außenpolitik, diesich als Rohstoffbeschaffungspolitik versteht. Das endet beider Währung, die nicht frei konvertibel ist. Mit dem staatlichfestgesetzten Renminbi hat die chinesische Regierung einenSchutzwall errichtet, der dem Land bisher gute Dienste leistete.Ausländisches Kapital kommt herein, aber nicht so ohne wei-teres wieder hinaus. Zudem wird die chinesische Währunggegenüber Dollar und Euro künstlich billig gehalten, ihr Wertist das größte Exporthilfsprogramm, das je eine Regierungfinanziert hat. Im Gegenzug werden Importe, also Bestellun-gen in Amerika und Europa, durch die Währungspolitik künst-lich verteuert. Die Amerikaner fordern seit Jahren eine deut-

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liehe Aufwertung, selbst der US-Präsident hat sich dafür schonstark gemacht. Die chinesische Führung aber lächelt nur. Derproduktive Kern des Landes kann sich auf die SchutzmachtStaat verlassen.

Verraten. Vergiftet. Verkauft.Umweltzerstiryng als Wachstumsmotor

Neben der menschlichen Arbeitskraft befeuern die Angreifer-staaten ihre Wirtschaftsmaschinerie auch mit einer zweiten,für sie billig zu erstehenden Ressource: der natürlichen Um-welt. Sie wird nach Herzenslust und weitgehend frei von Be-denken ausgebeutet. Als Klärbecken dient Mutter Erde, dieWüste wird als Mülldeponie genutzt, die Industrieabgasedurchlaufen als ersten Filter die Lungen der Anwohner. DiePestizide aus der intensiven Bewirtschaftung der Ackerbödenlanden in der Nahrung und im Trinkwasser, sodass dermenschliche Körper selbst als eine Art Sondermülldeponiefunktioniert. In Shanghai hat sich zwischen Himmel und Erdeeine gräuliche Dunstwolke geschoben, die alles an Partikelnund Schadstoffen enthält, was die Industrie hergibt. Viele Ein-heimische versuchen sich mit einem Mundschutz vor den gif-tigen Beimischungen zu schützen. Die Verbreitung von Atem-wegserkrankungen in den chinesischen Industrierevieren istWeltspitze.

Würden in den Metropolen Asiens die europäischen Grenz-werte für Feinstaub, Trinkwasserqualität und die Belastungvon Lebensmitteln gelten, müssten die Fabriken vielerortsschließen. Der Autoverkehr würde ganzjährig ruhen.

Schon aus ökonomischen Gründen wäre es an der Zeit, demSpiel ein Ende zu bereiten. Denn ein Umweltverzehr in dieserDimension gefährdet das Wachstum von morgen. Bei Lichtebesehen ist diese Politik des Raubbaus nichts anderes als eine

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Verraten. Vergiftet. Verkauft 247

besonders trickreiche Form der Staatsverschuldung. Die Ban-ken sehen und spüren nichts, die internationalen Beobachterloben die enormen Fortschritte beim Aufbau der Volkswirt-schaften. Doch in Wahrheit findet ein Substanzverzehr statt,den spätere Generationen zu begleichen haben.

China, das Land mit den beeindruckendsten Wachstumsra-ten der vergangenen Jahre, ist zugleich das Land, das Menschund Umwelt am meisten zumutet. Jährlich vergrößern sich dieWüstenflächen um mehr als 2500 Quadratkilometer. ZweiDrittel der städtischen Abwässer fließen ungeklärt in dieFlüsse oder versickern im Grundwasser. 70 Prozent aller Ge-wässer in China sind mittlerweile hochgradig verschmutzt.Arsen, Phosphate und Fluor, Herbizide und Pestizide gelangenvon dort überallhin, auch in den menschlichen Körper. Auchdie Zahl der an Leberkrebs erkrankten Menschen erreicht inzahlreichen Gegenden Chinas traurige Spitzenwerte. Die hei-mischen Umweltgesetze sind vielerorts kaum mehr als einAlibi gegenüber dem Westen; ihre Verletzung ist nicht dieAusnahme, sondern die Regel.

Chinas Diktatur und Indiens Demokratie überbieten einan-der in der Skrupellosigkeit, mit der sie die Natur als kostenlo-ses Rohstoff- und Abfalllager benutzen. Seit der Unabhängig-keit Indiens wurden 85 Millionen Hektar fruchtbaren Bodensverwüstet, durch Überweidung, Überdüngung und Versalzung.Nach einem 1951 aufgestellten Forstplan sollte ein Drittel desLandes bewaldet bleiben. Satellitenaufnahmen zeigen, dassdavon nur 14 Prozent geblieben sind. Das asiatische Wirt-schaftswachstum beruht eben nicht nur auf einer Leistungs-steigerung von Mensch und Maschine, sondern auch auf einemgesteigerten Ressourcenverbrauch. Die asiatischen Volkswirt-schaften sind energieintensiv, aber nicht energieeffizient.Wenn die Chinesen einen Warenwert von 10000 Dollar produ-zieren, haben sie dafür das Vierfache an Ressourcen eingesetztwie die amerikanischen Hersteller.

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Die chinesische Regierung ermuntert die Industrie regel-recht, sich auch in Zukunft derart lebensfeindlich zu verhalten,weil sie Wasser-, Luft- und Bodenverschmutzung als Kava-liersdelikt betrachtet. Es gibt zwar viele Gesetze zum Schutzder Umwelt, aber kaum einen, der ihre Einhaltung überwacht.Die Regierung schaut schamhaft zur Seite, wenn Flüsse ver-dreckt, Böden verseucht und die Luft verpestet wird. Ein Ver-treter Chinas gab auf der ersten UN-Umweltkonferenz inStockholm freimütig zu: »Wir werden nicht aus Angst vordem Ersticken das Essen aufgeben, nicht aus Angst vor Verun-reinigung der Umwelt darauf verzichten, unsere Industrie zuentwickeln.« Dieser Satz stammt aus dem Jahr 1972. Dieschlechte Nachricht: Das Gesagte gilt noch immer. »China be-kommt seine Umweltprobleme nicht in den Griff«, sagte erstkürzlich Zhu Guangyao, Vizeminister der staatlichen Umwelt-behörde SEPA. »Die Lage erlaubt keinen Optimismus.« An-lässlich des Weltumwelttages stellte er Anfang Juni den erstengroßen Umweltbericht seit zehn Jahren vor, der eine erschüt-ternde Bilanz offenbarte. Die jährlichen Umweltschäden betra-gen demnach bereits zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts -und sind damit so hoch wie das Wirtschaftswachstum.

Wer gewinnt und wer verliert?Eine Zwischenbilanz

Verschaffen die derart zustande gekommenen Billigimporteden alten Industriestaaten einen grandiosen Preisvorteil odersind sie untrügliches Zeichen ihres Niedergangs? Wer gewinntund wer verliert in diesem Poker um Macht und Reichtum? Istdie Globalisierung für den Westen Fluch oder Segen?

Drei Antworten sind denkbar und sie hängen ausschließlichvom Blickwinkel des Betrachters ab. Rot ist rot und laut nichtleise, aber ob die Globalisierung gut oder schlecht ist, muss

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Wer gewinnt und wer verliert? Eine Zwischenbilanz 249

jeder auf seine Art beantworten. Denn welche Haltung der Ein-zelne zur Globalisierung einnimmt, hängt entscheidend davonab, welche Haltung sie zu ihm einnimmt. Dass die einen siebejubeln, die anderen ihr misstrauen und eine dritte Gruppevon ihr nichts hören und sehen mag, hat vor allem mit Interes-sen zu tun. Es ist unmenschlich, gegen seine Interessen zu klat-schen, und niemand sollte das vom jeweils anderen verlangen.

Der Mächtige sieht die Welt mit anderen Augen als derSchwache. Wer mit breiten Beinen und verschränkten Armenvor der Weltkarte steht, um auch in anderen Weltregionenseine Chancen zu taxieren, sieht und fühlt anders als der, derbereits in die Knie gegangen ist. Was für den einen als uner-hörte Möglichkeit erscheint, ist für seinen Nebenmann eineZumutung sondergleichen.

Die meisten Unternehmer und ihre Verbandsfunktionäreschauen heute entspannter auf die neu entstehende Welt alsArbeiter und Arbeitslose. Sie profitieren von einer Entwick-lung, die die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Firmen steigen lässt,und womöglich können sie bei den Exporten sogar noch zule-gen, wenn sie die Importe steigern. Beim Tarifpoker haben siees leichter als zuvor, denn nahezu alle Trümpfe befinden sichin ihrer Hand. Nicht mehr die Hochverdiener im eigenen Land,sondern die Billigheimer andernorts setzen die Maßstäbe. DieReallohnverluste der vergangenen zehn Jahre sind für die be-troffenen Familien zwar eine herbe Enttäuschung, der Unter-nehmer aber steht glänzend da. Er läuft der neuen Zeit, dieihm Millionen neuer Kunden und billiger Arbeitskräfte be-schert hat, mit offenen Armen entgegen.

Der Kapitalismus hat seine Reichweite gesteigert, der Sozi-alstaat hingegen wurde geschrumpft. Der Unternehmer kanngerade von der Parallelität dieser Ereignisse gehörig profitie-ren. Der kluge Kapitalist, der die Importe der Billigarbeiterfür sich zu nutzen weiß, und sei es auch nur als Druckmittelgegenüber der Stammbelegschaft, ist eindeutig der Gewinner

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der Globalisierung. Er meldet größere Umsätze und in allerRegel auch wachsende Gewinne, was wiederum seinem Bör-senkurs gut bekommt. In seinem Heimatland steht ihm zusätz-lich zu seiner Stimme am Wahltag nun auch ein Notausgangzur Verfugung. Die Heimatnation ist für den Unternehmer wei-terhin eine Möglichkeit, aber keine Notwendigkeit mehr. Erkann mit seinem Kapital gehen, wohin er will. Der freie Kapi-tal- und Arbeitsmarkt hat ihn zu einem freien Mann gemacht.Wir können den Unternehmer für sein Tun verdammen, be-wundern oder beneiden, nur überschätzen sollten wir ihn nicht.Auch er ist ein Herdentier, dazu verdammt, dem Trend hinter-herzutrotten. Verweigert er sich den Gepflogenheiten der Glo-balwirtschaft, ist es schnell um ihn geschehen.

Arbeiter und kleine Angestellte stehen der neuen Zeit mitwachsender Skepsis gegenüber. Sie haben schlechte Erfahrun-gen mit ihr gemacht. Weil die Arbeitskraft nun weltweit sogünstig und noch dazu so reichlich angeboten wird, könnensie bei Lohnverhandlungen ihre Interessen schlechter durch-setzen als vorher. Die Globalisierung erzeugt Lohndruck, derden Anteilseignern einer Firma mehr nützt als den im LohnGedrückten.

Vor allem in Amerika ist der Preisverfall der einfachenLohnarbeit zu besichtigen. Anders als in Europa wird geschuf-tet, noch in der ärmsten Behausung. Es gibt keine Klasse, diesich von den Alimenten der anderen ernähren darf. Der dortschwächlichere Sozialstaat gestattet es nicht. Die neuen Jobsbringen allerdings nicht dasselbe ein wie die alten. Das Landder ehemaligen Fabrikarbeiter und der neuen Dienstleistun-gen, in dem sich Stahlarbeiter, Möbelhersteller und Computer-bauer nun als Masseure, Putzteufel und Paketzusteller verdin-gen, ist nicht das gelobte Land, das wir aus den Broschüren derArbeitgeberverbände kennen. Die amerikanischen Löhne inden neuen Berufen liegen bis zu einem Drittel unter den alten.Die enorme Verschuldung der Privathaushalte ist daher nicht

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die Folge eines ungezügelten Konsumrausches, wie zuweilenbehauptet wird. Sie ist der Versuch, das alte Leben mit Hilfevon Bankkrediten zu verlängern.

Auch in Europa waren die politischen Parteien den Arbeit-nehmern keine große Hilfe. Sie reagierten spät und dann oftfalsch auf den Gezeitenwechsel. Die Politiker haben, obwohles Alternativen gab, das Problem der kleinen Leute sogar mut-willig verschärft. Bei den einfachen Arbeitern ist der deutscheStaat für immerhin 40 Prozent der Lohnhöhe verantwortlich,weil er sich die Rechnung für die Sozialversicherungen überAufschläge zum Gehalt finanzieren lässt. Staaten mit geringerArbeitslosigkeit bestreiten ihren Sozialstaat aus Steuern, dienahezu alle Bürger zahlen. Viele Länder mit hoher Arbeitslo-sigkeit wie Deutschland und Frankreich verlangen Zahlungenfast nur von Arbeitern und Angestellten, was in Zeiten derLohnkonkurrenz für Millionen einfacher Beschäftigter dasAus bedeutet. Die künstlich verteuerten Arbeiter sind dannauch die Ersten, die im Preispoker der Arbeitsmärkte ausstei-gen müssen. Ausgerechnet der Staat, der sie halten sollte,stürzt sie in den Abgrund.

Wer seinen Arbeitsplatz retten konnte, lebt in einer anderen,glücklicheren Welt. Die Mehrzahl der Beschäftigten zähltelange Jahre zu den Gewinnern der Globalisierung. VieleArbeiter und Angestellte beobachten die neue Zeit zwar miteiner gehörigen und in letzter Zeit wachsenden Portion Miss-trauen. Aber sie erlitten keinen Schaden. Ihr Gehalt stieg, sta-gnierte oder sank, aber die Kaufkraft konnte deutlich zulegen.Sie erstanden Fernseher und Kleidung günstiger als je zuvor.Oft war auch das neue Auto billiger als das Vorgängermodell,was das Einkommen spürbar schonte. Viele Beschäftigte pro-fitierten davon, dass andere nicht mehr profitierten. Der Preis-verfall, auch der der Ware Arbeitskraft, hat ihnen billigeWaren ins Haus gespült. Der Lebensstandard oder das, waswir dafür halten, stieg an.

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Wer in der Exportindustrie sein Auskommen fand, war inden Augen seiner Mitmenschen ein Glückspilz sonderglei-chen. Denn die Angreifer aus Fernost waren seine willigstenAbnehmer. Überall sprudelten die Erträge der Firmen undauch die Lohnzuwächse der Exportarbeiter können sich inden letzten Jahren sehen lassen. Die Ingenieure, Juristen undMarketingspezialisten dieser Firmen haben gutes Geld ver-dient. Lange sah es sogar so aus, als könnten die Gewinne derGewinner die Verluste der Verlierer mehr als ausgleichen.

Diese Bilanz ist in Europa gekippt, denn mittlerweile sind eszu viele, die aus dem Wirtschaftsleben aussteigen mussten.Der Unternehmer kann die Menschen entlassen und seinemLand den Rücken kehren, die Regierung kann beides nicht.Arbeiter und ehemalige Arbeiter, Gewinner und Verlierer derGlobalisierung bilden auf dem alten Kontinent eine Schick-salsgemeinschaft. Sie sind über die Leitungssysteme des Sozi-alstaats miteinander verbunden. Viele beginnen zu begreifen,dass ihnen die Rechnung für die billigen Importprodukte inzwei Raten zugestellt wird. Der Verbilligung im Kaufhaus ste-hen die steigenden Beiträge für die Sozialversicherung gegen-über. Für das Netto kann der Arbeitnehmer zwar mehr kaufen.Aber von seinem Bruttogehalt bleibt ihm weniger Nettogehaltals zuvor. Denn die freigesetzten Arbeiter tauchen am selbenTag, an dem sie ihre Firma verlassen haben, in den Rechenwer-ken von Vater Staat wieder auf. Fortan ist er für ihren Lebens-unterhalt, für Kost und Logis, Arztrechnung und Altersruhe-geld verantwortlich. Was für die Firma eine Erleichterung ist,bedeutet für die Gesellschaft eine Beschwernis, weshalb über-all in Europa die Staaten unter der gewachsenen Soziallast lei-den und stöhnen. Nicht die Gewinne, wohl aber die Verlusteder Globalisierung werden auf diese Art sozialisiert. Je schlan-ker die Konzerne, desto größer die Belastung für den Staat. Esbleibt ihm nichts anderes übrig, als die hungrigen Mäuler zustopfen, die ihm die Privatwirtschaft überlassen hat.

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Wer mit Hilfe der glänzenden deutschen Ausfuhrbilanz ver-sucht, die Probleme des Landes in ein milderes Licht zu tau-chen, betrügt sich und andere. Die schmucke Ausfuhrbilanz,die oft als Beleg deutscher Stärke vorgezeigt wird, enthält beigenauerer Betrachtung eben auch eine weit weniger erfreu-liche Botschaft. Denn die Frage wird ja zu Recht gestellt:Wenn der Exportmotor so schön schnurrt, warum kommtdann die Volkswirtschaft im Innern so schwer auf Touren?Wieso springt der Funke von der Ausfuhrindustrie zur Binnen-wirtschaft nicht mehr automatisch über, wie er das in all denJahrzehnten zuvor immer getan hatte?

Die Antwort lautet: Noch immer stimuliert der Außen-handel das Geschehen im Inneren des Landes, aber der Impulsfällt deutlich schwächer aus. Aus dem Zündfunken von einstist ein Fünkchen geworden. Jene Millionen von Menschen inder heimischen Industrie, die früher das Verbindungsstückvom Export zur Binnenwirtschaft bildeten, gibt es heute nichtmehr. Sie sind Rentner oder Arbeitslose, jedenfalls arbeiten sienicht mehr als Produktionsarbeiter. Die Exporte bestehen mitt-lerweile zu über 40 Prozent aus Importen, was den Verkaufser-folg nicht schmälert, wohl aber die Wirkung dieses Erfolgs aufdie Binnenwirtschaft. Ohne die günstig erstandenen Vorpro-dukte gäbe es weniger deutsche Exporte, dafür mehr deutscheLadenhüter. Das muss man nicht kritisieren, aber es ist ebenschon bedeutend, wie sich die Ausfuhren eines Landes zusam-mensetzen - ob sie das Produkt heimischer Ingenieure undArbeiter sind, oder ob sich Ingenieure und Vertriebsleute übereinen im Ausland bestellten Setzkasten von Vorprodukten beu-gen, der dann auf intelligente und oft sogar einzigartige Artzusammengesetzt wird.

Das Statistische Bundesamt hat den Sachverhalt so präziseuntersucht wie kein Forschungsinstitut zuvor. Das Ergebnisfiel eindeutig aus: »Nach der vorliegenden Analyse hat sichim Zeitraum 1991 bis 2002 das Verhältnis zwischen der in den

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Exporten enthaltenen inländischen Bruttovwertschöpfüng undden importierten Vorleistungen stark zu Gu insten des Auslandsverschoben. 1991 lag der Importanteil der deutschen Exportenoch bei 26,7 Prozent, stieg insbesondere s zwischen 1995 und2000 stark an und erreichte 38,8 Prozentlmn Jahr 2002.«

Das hat noch immer wenig mit Basarökoonomie zu tun, wieder Präsident des Ifo-Instituts Hans-Wernenr Sinn den Vorgangnennt, denn eine Basarökonomie ist eine Öl'konomie der Kauf-leute. Auf den Basaren wird gehandelt,,, nicht produziert.Deutschland aber ist eine Volkswirtschaftft der Erfinder, derTüftler, der Verfeinerer und Bessermacherr, kurz gesagt: DasLand verfügt über eine weltweit einmalige Hochleistungsöko-nomie, die am besten dort funktioniert, VAVO Dinge geleistetwerden, die sonst niemand zu leisten \errmag. Die einfachenArbeiter werden dafür zunehmend weniger gebraucht.

Die Exporterfolge werden heute nahezu ausschließlich vongut ausgebildeten Menschen erzielt, die irrm hochroten, ener-giegeladenen produktiven Kern des Landes . aktiv sind. Die Un-gelernten und Geringqualifizierten, die irn den ohnehin nurnoch mattrot leuchtenden Zonen der Volkswvirtschaft beheima-tet waren, haben den Produktionsprozess üHberwiegend verlas-sen oder sind dabei, es zu tun. Trotz der VWiedervereinigungvon Ost- und Westdeutschland gibt es heute s weniger Industrie-arbeitsplätze, als sie das Land vor der Veereinigung zu ver-zeichnen hatte.

Die steigende Wettbewerbsfähigkeit deu itscher Firmen unddie schwindende Beschäftigung deutscher Arbeitnehmer ge-hören also zusammen. Die beiden Vörgärnge widersprechensich nicht, sie bedingen einander, weil ohnes die Mischung austeurer Ingenieurleistung und asiatischer BSilligzutat die Pro-dukte der Maschinenbauer nicht weniger rat.ffiniert, aber weni-ger preisgünstig wären. Der amerikanische 5 Professor JagdishBhagwati, ein ausgewiesener Freund der Globalisierung undzugleich einer ihrer schärfsten Analytiker, ssagt: »Es ist wie in

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einem Rettungsboot. Nur wenn einer der Insassen ins Wasserspringt, können die anderen neun überleben.«

Niemand sollte sich daher wundern, dass die Binnenwirt-schaft nicht mehr kraftvoll auf Touren kommt. Das Verbin-dungsstück zwischen Binnenwirtschaft und Exportindustriewaren einst Millionen von einfachen Arbeitern. Der Boomder Exporte führte in der Vergangenheit in ihren Reihen zuNeueinstellungen und schnell auch zu Lohnerhöhungen, wassich in erhöhter Kaufkraft niederschlug. Es dauerte meist einpaar Monate und dann meldeten die Einzelhändler steigendenAbsatz, woraufhin nun auch die Fabrikdirektoren der inländi-schen Wirtschaft in die Erweiterung ihrer Kapazitäten inves-tierten. Die Arbeiter wünschten sich neue Autos und einenFarbfernseher. Der Exportfunke war auf die Inlandsproduktionübergesprungen.

Dieser Kreislauf funktioniert noch immer, nur diesmal welt-weit. Wenn die deutschen Exporte boomen, profitieren davonnoch immer die einfachen Arbeiter. Nur leben die einfachenArbeiter diesmal anderswo.

Europa. Eine neue Unterschicht entsteht

Der heutige Prolet ist ärmer dran als sein Vorgänger zu Beginndes Industriezeitalters, obwohl es ihm besser geht. Er hungertnicht, er haust im Trockenen, er wird von keiner Seuche dahin-gerafft, er besitzt sogar deutlich mehr Geld. Er ist in jedemStaat Westeuropas nicht nur Bürger, sondern zugleich Kundedes Wohlfahrtsstaats, auch wenn dessen Leistungen nirgend-wo mehr üppig ausfallen. Die Schlafstätte früherer Jahre waroft nur ein Obdachlosenasyl oder ein Männerwohnheim. DieArmenspeisung war kärglich und fand im Freien statt. Krankewaren weder versichert noch konnten sie sich Arzneimitteloder gar ärztliche Honorare leisten. Greise waren auf Gedeih

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und Verderb der Gnade der Jüngeren oder der kirchlichen Für-sorge ausgeliefert.

Und dennoch: Der Prolet von einst besaß vieles, was dieArmen von heute nicht mehr haben: ein einheitliches und füralle gültiges Feindbild, ein Klassenbewusstsein, veritable Geg-ner und oft sogar eine ausgeprägte Kultur. Er sang Lieder, riefseine Parolen, er gründete Vereine, betete seine Theoretikeran, auch wenn er sie nie ganz verstand. Er konnte noch zu Zei-ten des Kaiserreichs zwischen politischen Gruppierungenwählen, die sich aus der Illegalität heraus um seine Zustim-mung bemühten. Der Arme von gestern war das Subjekt derGeschichte, wie man im Rückblick ohne Übertreibung fest-stellen darf. Der moderne Arme im vereinten Europa ist bishernicht viel mehr als das Opfer der Verhältnisse. Sein Vorgängerstand am Rand der Gesellschaft, er steht außerhalb.

Wir wissen mittlerweile eine ganze Menge über die Unter-schichtler von heute, obwohl sie sich kaum zu Wort melden.Sie machen kein großes Aufhebens von sich, kriechen immertiefer in ihre Wohnsilos hinein, wohin ihnen dutzende vonSoziologen gefolgt sind. Ihre Lebensgewohnheiten wurdenerforscht wie die von Feldhasen. Wir verfügen über eine ziem-lich scharf gerasterte Typologie, die uns die Fremdlinge imeigenen Land besser erkennen lässt.

Daher wissen wir: Der Prolet von heute besitzt mehr Geldals die Arbeiter vergangener Generationen und wenn er im An-zapfen des Sozialstaats eine gewisse Fertigkeit entwickelt hat,verfügt er über ein Haushaltseinkommen, das mit dem vonStreifenpolizisten, Lagerarbeitern und Taxifahrern allemalmithalten kann. Es ist nicht die materielle Armut, die ihn vonanderen unterscheidet.

Auffällig hingegen sind die Symptome der geistigen Ver-wahrlosung. Der neue Prolet schaut den halben Tag fern, wes-halb die TV-Macher bereits von »Unterschichtenfernsehen«sprechen. Er isst viel und fettig, er raucht und trinkt gern.

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Rund acht Prozent der Deutschen konsumieren 40 Prozentallen im Land verkauften Alkohols. Er ist kinderreich und inseinen familiären Bindungen eher instabil. Er wählt am Wahl-tag aus Protest die Linken oder die Rechten, zuweilen wechselter schnell hintereinander.

Der neue Arme ist kein Widergänger des alten. Vor allem anseinem mangelnden Bildungsinteresse erkennen wir denUnterschied. Er besitzt keine Bildung, aber er strebt ihr auchnicht entgegen. Anders als der Prolet des beginnenden Indus-triezeitalters, der sich in Arbeitervereinen organisierte, diezugleich oft Arbeiterbildungsvereine waren, scheint es, alshabe das neuzeitliche Mitglied der Unterschicht sich selbst ab-geschrieben. Selbst für seine Kinder unternimmt er keine allzugroßen Anstrengungen, die Tür in Richtung Zukunft aufzusto-ßen. Ihre Spracherziehung ist so schlecht wie ihre Fähigkeit,sich zu konzentrieren. Der Analphabetismus wächst im glei-chen Maß, wie die Chancen auf Integration der Deklassiertenschrumpfen. Die Amerikaner sprechen in der ihnen eigenenDirektheit von »white trash«, weißem Müll.

Das neue Proletariat als homogene Klasse ist erst in den ver-gangenen zehn Jahren entstanden. Überall in jenen Industrie-nationen, die sich die führenden nennen, bildet es sich heraus.Die moderne Volkswirtschaft hat offenbar nichts zu bieten fürLeute, die wenig wissen und dann auch noch das Falsche.

Das Auftauchen der neuen Unterschicht fällt nicht zufälligmit dem Abschied der Industriearbeitsplätze zusammen. DerProzess der Deindustrialisierung ist für Europa womöglichbedeutender als die einheitliche Währung und die gemeinsameVerfassung. Die Zerfallsprozesse im Innern der Gesellschaftbedrohen den Westen heute stärker als der internationale Ter-rorismus, auch wenn die Politiker sich auf die Bekämpfungvon Letzterem konzentrieren.

Demokratie und Marktwirtschaft können durch Bombenerschüttert, aber nicht beseitigt werden. Der ökonomische Ero-

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sionsprozess aber, von dem hier die Rede ist, entzieht demWesten erst die Jobs, dann das Geld und am Ende auch diedemokratische Legitimation. Was ist die Staatsbürgerschafteines Landes wert, wenn den Menschen dort die Teilnahmeam Arbeitsprozess verwehrt bleibt? Was nützen bürgerlicheFreiheiten aller Art, wenn das Recht auf eine eigenständigeLebensführung nicht mehr dazugehört? Ist es zulässig, dassdie in der Verfassung verbrieften Rechte auf Teilhabe nur fürden Gebildeten weiter ihre Gültigkeit besitzen? Fragen vonsehr grundsätzlicher Bedeutung drängen sich in den Vorder-grund: Kann eine Demokratie es tatsächlich hinnehmen, dassein Teil des Souveräns dauerhaft von der Wohlstandsmehrungausgeschlossen bleibt? Und wenn sie es hinnimmt: Wird sichdiese Entscheidung nicht noch zu unser aller Lebzeitenrächen? Ob dann wieder Nationen gegeneinander antreten,weil die aufgestaute Wut sich ein Ventil sucht, oder die Unter-schichten in ihren jeweiligen Ländern die Verhältnisse zumTanzen bringen? Beides ist denkbar. Schwer vorstellbar istlediglich, dass nichts geschieht.

Viele Triumphe und ein Todesfall.Die Tragik der Gewerkschaften

Im Folgenden geht es darum, eine Todesnachricht zu überbrin-gen. Zu berichten ist von einem Ableben, das bisher öffentlichnicht annonciert wurde und seine Tragik auch daraus bezieht,dass die engsten Verwandten den Vorfall verschweigen. An derSache ändert das freilich nichts: Die Gewerkschaften, so wiewir sie kannten, sind verstorben. Die Schutzmacht der kleinenLeute gibt es heute nicht mehr, weil denen, die sich heuteGewerkschaft nennen, die Macht fehlt, um anderen Schutz zubieten. In Wahrheit sind die Nachlassverwalter selbst schutz-bedürftig. Als Prellbock gegen Unternehmerwillkür haben die

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Gewerkschaften sich selbst einst bezeichnet, sie waren dieLohnmaschine, zuweilen auch die gesellschaftspolitische Ge-genmacht. Heute sind diese Gewerkschaften Teil der Ge-schichte.

Das Entstehen eines weltweiten Arbeitsmarkts, das Hinzu-treten von 1,5 Milliarden neuen Beschäftigten und die Bereit-schaft von weiteren Millionen Menschen, koste es, was es wol-le, zu arbeiten, hat die Makler der Ware Arbeitskraft ihrer einstmächtigen Position beraubt. Sie verfügten jahrzehntelang übereine Kostbarkeit sondergleichen; der gut ausgebildete Indus-triearbeiter war durch nichts zu ersetzen. Der Industrieroboterwar noch nicht intelligent genug und die Masse der heutigenLohnkonkurrenten lebte hinter Mauer und Stacheldraht, undzuweilen hatte sie sich auch nur im Morast der asiatischenSlums versteckt. Sie alle waren Menschen, aber auf demArbeitsmarkt waren sie keine Menschen wie du und ich.Denn die Teilnahme an der internationalen Arbeitsteilung desWestens wurde ihnen verwehrt, was dem Preis der westlichenArbeitskraft gut bekam.

Es war den Maklern der Gewerkschaft ein Leichtes, denUnternehmern immer neue Lohnprozente abzujagen. DieFabrikbesitzer hatten keine andere Wahl, als bei den Gewerk-schaften einzukaufen, denn es gab den nationalen und besten-falls noch den westlichen Arbeitsmarkt, aber keinen Weltar-beitsmarkt mit dieser einzigartigen Angebotsfülle. Die Arbeitwar nach den beiden Weltkriegen knapp und für dieses knappeGut besaßen die Gewerkschaften praktisch ein Monopol. Sienutzten es nach Kräften.

Damit ihr Ableben nicht weiter auffällt, nehmen die Nach-lassverwalter noch immer an den Tarifrunden teil. Sie kleidensich ähnlich wie ihre Vorfahren mit Lederjacke und Rollkra-genpullover, sie halten zuweilen die gleichen aufrührerischenReden. Das flüchtige Publikum konnte in den vergangenenJahren durchaus den Eindruck gewinnen, die Leiche lebt. Die

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ihr gegenübersitzenden Arbeitgeber spielen das schaurigeSpiel mit. Sie fürchten, die Todesnachricht könnte die Men-schen erschrecken und den Ruf nach Ersatz laut werden lassen.Sie haben die Gewerkschaft, als sie noch eine tapfere und da-mit für sie anstrengende Truppe war, nie sonderlich gemocht.Als Leiche ist sie ihnen lieber.

Wer allerdings genauer hinschaut sieht, dass die Nachlass-verwalter nicht über die gleiche Kraft verfügen wie einst derVerstorbene. Die Lebensenergie, die es zum Poltern, Fordernund Streiken braucht, ist ihnen fremd. Für die normalen Be-schäftigten wird seit längerem nichts mehr durchgesetzt, wasder Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen zu-träglich wäre. Heute geht es vor allem um das Verhindern vonSchlimmerem. »Besser mit Betriebsrat«, lautet die Werbekam-pagne des Deutschen Gewerkschaftsbundes, die sich nichtmehr an selbstbewusste Arbeiter, sondern an Betroffene wen-det.

Es ist nicht lange her, da stimmte die Gewerkschaft für denöffentlichen Dienst der Hauptstadt Berlin einer Gehaltssen-kung zu, die in der Spitze ein Minus von zwölf Prozent bedeu-tete. In ihren besten Tagen hatte dieselbe Gewerkschaft elfProzent zusätzlich herausgeholt. Das war in dieser Höhe poli-tisch und ökonomisch falsch, aber darum geht es hier nicht. Eswar ein untrügliches Zeichen ihrer Vitalität. Natürlich war derdamalige Vorsitzende der ÖTV Heinz Kluncker ein unver-schämter Nimmersatt, der für einen prallen Lohnbeutel derBusfahrer, Krankenschwestern und Müllmänner bereit war,die Autorität von SPD-Kanzler Willy Brandt zu beschädigen.Aber aus Sicht seiner Anhängerschaft war der Mann eben auchunverschämt erfolgreich.

Nichts Vergleichbares gibt es aus den letzten Jahren zu be-richten. Weder Unverschämtheiten noch Erfolge sind überlie-fert. Dafür von allem das Gegenteil. Die Nachlassverwaltersind sogar dabei, die großen Gewerkschaftserfolge der Vergan-

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genheit wieder zu kassieren. Die Arbeitszeit wird länger, derKündigungsschutz löchriger, die Reallöhne fallen und auchder Anteil der Löhne am Nationaleinkommen bildet sich zu-gunsten des Gewinnanteils zurück.

Die Gewerkschaft Verdi, die im Einzelhandel knapp zwei-einhalb Millionen Beschäftigte vertritt, sprach im Januar 2006vom »Durchbruch« bei den Tarifgesprächen. Früher bedeuteteDurchbruch, dass abgekämpfte Funktionäre vor die Mikrofonetraten, um ihrer Klientel nach durchverhandelter Nacht einensaftigen Lohnzuwachs zu verkünden. Im Januar 2006 bestandder »Durchbruch« aus einer mageren Lohnerhöhung voneinem Prozent, was angesichts der doppelt so hohen Geldent-wertung eine Lohnsenkung bedeutete. So sehen Durchbrüchenach unten aus.

Als die profitable und zu einem Drittel in Staatsbesitzbefindliche Telekom die Streichung von 32 000 Arbeitsplätzenbeschloss, hielt die Gewerkschaft still. Sie wird für derartigesWohlverhalten von den Arbeitgebern als »vernünftig« und»zeitgemäß«, in freudigem Überschwang sogar als »fort-schrittlich« gelobt, was angesichts der einsetzenden Leichen-starre als frivol bezeichnet werden muss.

Wohlgemerkt: Es geht hier nicht darum, ob unsere Gewerk-schaften immer richtig gehandelt haben. Wer hat das schon?Natürlich haben ihre Funktionäre gesündigt, auch wider dieInteressen ihrer Mitglieder. Selbstverständlich wurde zuweilenüberzogen, was den Arbeitnehmern nicht gut bekam. Die stän-dige Verkürzung der Arbeitswoche bei vollem Lohnausgleichwar eine Dummheit sondergleichen. Sie hat die deutscheVolkswirtschaft zu einer der kapitalintensivsten der Welt ge-macht. Arbeitskräfte wurden ausgemustert wie Ausschuss-ware. Die erhoffte Neuverteilung der Arbeitszeit auf mehrKöpfe fand in den meisten Firmen nicht statt.

Aber eines konnte unserer Gewerkschaft niemand abspre-chen: Sie hat gelebt. Sie war für die Kapitalisten eine Zumu-

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tung, aber eine notwendige. Das System von Angebot undNachfrage in seinem Rohzustand war erkennbar nicht dazuangetan, der Menschheit in Gänze zu nutzen. Millionen Arbei-tern wurde in der Morgenstunde des Kapitalismus grobe Ge-walt angetan. Sie mussten schuften bis zum Umfallen undselbst dann war niemand da, der sie auffing. Es gab keinSicherheitsnetz für niemanden, die Alten blieben mittellos,die Krüppel waren auf sich gestellt, die Witwen bekamen imbesten Fall das Mitleid der Fabrikanten übermittelt. Schlimmerdran als der Arbeiter war nur der Arbeitslose, er hungerte undfror. Er konnte daran auch zugrunde gehen. Keine 80 Jahre istes her, dass die Weltwirtschaftskrise in den USA und inEuropa derart heftig wütete, dass Hungertote zu beklagenwaren. In den Bergwerken und Chemiefabriken waren Arbeits-unfälle auch deshalb so häufig, weil der Mensch als Menschnicht viel wert war. Er war Produktionsfaktor und eben nochnicht Sozialpartner.

Die Geburtsstunde der westlichen Gewerkschaftsbewegungwar daher nicht eine Laune der Weltgeschichte, sondern einehistorische Notwendigkeit. Die Arbeitnehmer und ihre Funk-tionäre bildeten eine Zugewinngemeinschaft, wobei ein unge-stümer Kapitalismus und ein autoritärer Staat, die beide zumInteressenausgleich nicht in der Lage waren, sie zusammen-schweißte. Bald schon war gewerkschaftlicher Nachwuchs ineiner Vielzahl von Ländern zu besichtigen. In der Spitze be-saßen die westeuropäischen Gewerkschaften rund 50 Millio-nen Mitglieder. Es wurde gestreikt und demonstriert, auch des-halb, weil sich der Gewerkschaftskörper so am besten spürenkonnte.

Selbst in Amerika fassten die Arbeitnehmerorganisationenmit Verspätung Fuß, setzten den Achtstundentag und einen ge-setzlichen Mindestlohn durch, veränderten erst das Klima unddann die Geschäftsgrundlage des Wirtschaftssystems. DasRaubtierhafte des amerikanischen Kapitalismus verschwand

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nie ganz, aber es trat weniger auffällig in Erscheinung. DieGroße Depression arbeitete den Gewerkschaften in die Hände.Ihre Mitgliederzahl vervierfachte sich im Gefolge jener düste-ren Jahre, stieg von 1930 bis zum Kriegsende auf 15 MillionenMenschen. Der Glaube an die Weisheit der Unternehmer warnun auch im Stammland des Kapitalismus erschüttert; derRuf nach einer gewerkschaftlichen Gegenmacht erklang. Erst-mals in der Geschichte der USA war es modern, ein Mann derGewerkschaft zu sein. Unter Präsident Eisenhower erlebte dasLand eine Premiere: Ein Funktionär der Klempnergewerk-schaft schaffte es an den Kabinettstisch, wo er sich allerdingsnur acht Monate hielt.

Die Arbeitsbedingungen verbesserten sich, die Löhne stie-gen. Die Firmen verpflichteten sich, die Pensionszahlungenihrer Mitarbeiter zu übernehmen. Die Gewerkschaften konn-ten ihre Machtbasis weiter ausbauen. Pro Jahr kamen in derNachkriegszeit rund 100000 neue Mitglieder dazu, bis schließ-lich 17 Millionen Beschäftigte ein Gewerkschaftsbuch besa-ßen. In der Spitze erreichte der Organisationsgrad Mitte der50er Jahre fast 40 Prozent der Arbeiter, womit sich beim Lohn-poker aufs Schönste auftrumpfen ließ.

Dieses Spiel ist vorbei. Seit längerem läuft der Erfolgsfilmrückwärts: Die Arbeitszeit steigt, die Löhne stagnieren oderschmelzen. Selbst erste Adressen der Wirtschaft wie Ford undGeneral Motors versuchen in diesen Tagen, die Pensionslastenloszuwerden, was schon deshalb besonders schäbig ist, weildie Arbeiter in den USA keine auch nur halbwegs auskömm-liche Staatsrente besitzen.

Von gewerkschaftlicher Selbstverteidigung ist in der Stundeder Bedrängnis wenig zu spüren. Es gibt Aufregung hier undda, aber keine Gegenwehr. Wie ihre westeuropäischen Ver-wandten haben auch die US-Gewerkschaften vor längeremschon das Zeitliche gesegnet. Mit dem Verschwinden derIndustrie verließen sie die Kräfte. Nur acht Prozent der privat

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Beschäftigten gehören heute noch einer Gewerkschaft an; seitdem Höhepunkt hat sich der Organisationsgrad damit um mehrals zwei Drittel reduziert.

Die Durchschlagskraft der US-Gewerkschaften in der Lohn-politik war nie übertrieben groß, aber heute ist sie marginal. 85Prozent aller Beschäftigten in den USA arbeiten ohne Tarif-vertrag.

Der sinkende Zuspruch der Beschäftigten hat den Dachver-band der amerikanischen Gewerkschaften im Herbst 2005gespalten. Wenige Tage vor seinem 50-jährigen Jubiläum ver-abschiedeten sich vier Millionen Mitglieder. Sie warfen derGewerkschaftsspitze unter Führung des 72-jährigen JohnSweeney vor, den Bedeutungsverlust nicht gestoppt zu haben.»Change to Win« (Sieg durch Wandel) lautet das Motto der Ab-trünnigen. Nun sind die US-Gewerkschaften getrennt schwach.

In Europa ergibt sich ein ähnlicher Befund, nur der Zeit-punkt, an dem der Tod einsetzte, variiert von Land zu Land.Die Gewerkschaften in Großbritannien waren früher dran alsandere. Premierministerin Maggie Thatcher brach ihnen mitHilfe von Parlament und Polizei schon in den 80er Jahren dasGenick. Die aufmüpfigen Minenarbeiter unter Führung vonArthur Scargill boten der Regierungschefin, die sich erst indiesem Machtkampf den Titel »Eiserne Lady« redlich erwarb,die Gelegenheit zum Draufschlagen. Thatcher verfügte 1984die Schließung unrentabler Minen. Scargill, bekennender Mar-xist und erprobter Heißsporn, rief zum landesweiten Streik.2 000 Streiks pro Jahr, das war in den Jahren zuvor die britischeNormalität, nun aber blies dieser Teufelskerl zum Generalan-griff. Thatcher hatte keine andere Wahl, als sich ebenfalls indie Schlacht zu stürzen.

Das Land hatte hohe Schulden aufgetürmt, der Staatsetatwar wie der eines Dritte-Welt-Landes auf Geldzufuhr vomWeltwährungsfonds (IWF) angewiesen. Die Industrie lagdanieder, als sich im Juni 1984 streikende Bergarbeiter und

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berittene Polizei zur »Schlacht von Orgreave« gegenüberstan-den. Der einjährige Streik in den alten Kohlerevieren endetemit einer Niederlage der Arbeitnehmer, die so total war wiezuvor ihr Machtanspruch.

Thatcher schaffte in ihrer Amtszeit alles ab, was den Arbeit-nehmerfunktionären wichtig war, zum Beispiel die bis dahingeltende Verpflichtung britischer Unternehmer, nur Gewerk-schaftsmitglieder einzustellen. Vor Streiks müssen seither Ur-abstimmungen stattfinden, welche die Selbstherrlichkeit derGewerkschaftsführer beschneiden. Flächentarife gibt es nurnoch im öffentlichen Dienst. Seit den kämpferischen Tagen istfast die Hälfte aller Mitglieder von der Fahne gegangen, minussechs Millionen Menschen. Der Sozialdemokrat Tony Blair hatgar nicht erst den Versuch einer Wiederbeatmung gemacht.

Der Rückzug der Gewerkschaften blieb kein britisches Phä-nomen. In Italien sind die Arbeitnehmerorganisationen heutegetarnte Seniorenclubs. Die gemäßigte CISL und die sozialis-tische CGIL weisen einen Rentneranteil von über 50 Prozentauf. Die französischen Gewerkschaften bekämpfen sich amliebsten untereinander. Alle Arbeitnehmerorganisationen zu-sammen verfügen in dem Land mit 60 Millionen Einwohnernüber zwei Millionen Mitglieder, die sich vor allem auf denöffentlichen Dienst konzentrieren. Der Privatsektor ist heuteweitestgehend gewerkschaftsfrei. 95 Prozent der Beschäftigtengehören keiner Arbeitnehmervertretung an.

Die deutsche Gewerkschaftsspitze rief 2004 den Arzt. Erkam in Gestalt eines McKinsey-Beraters. Eine interne Studieüber Zustand und Zukunftsaussichten der Gewerkschaftsbewe-gung entstand unter seiner Federführung, die bis heute unterVerschluss gehalten wird. Die Arbeitnehmerorganisation be-finde sich in einer »Dauerdefensive«, weil sie die Erfolge vongestern verteidige, aber keine neuen erringe, heißt es darin. Esfehle an »ausreichend attraktiven neuen Kampfzielen« undKonzeptionen zur Bewältigung des Strukturwandels lägen

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auch nicht vor. Diese Studie war im Grunde nichts anderes alsder Totenschein.

Seit zehn Jahren verlassen pro Jahr im Schnitt 250 000 Men-schen die Gewerkschaften des DGB, was jedes Mal nahezueiner halben Volkspartei entspricht. Die Selbstauflösung hatdamit praktisch begonnen. Die verbliebenen Mitglieder sindnicht mehr das, was man eine starke Truppe nennt. Die Jün-geren fehlen fast völlig; über ein Viertel sind Rentner oderArbeitslose, was der Statistik gut tut, nicht aber der Kampfes-kraft. Rentner und Arbeitslose können schimpfen, aber nichtstreiken.

Gewerkschaftschef Michael Sommer unternahm den toll-kühnen Versuch, die Mitglieder über den bedauerlichen Todes-fall zu informieren. Die heutigen Gewerkschaften müssten dieWirklichkeit zur Kenntnis nehmen, mahnte er in einem Spie-gel-Interview. Sie hätten nicht mehr die Kraft, das politischeGeschehen grundlegend und zu ihren Gunsten zu verändern,gestand er ein. Der Sozialstaat werde auf eine Grundversor-gung reduziert. »Das können wir kritisieren, ändern werdenwir es nicht mehr«, sagte er.

Was er versuchte, war nichts Geringeres als eine Art Frie-densschluss mit den veränderten Wirklichkeiten. Sommerwollte die Nebelwand aus Selbsttäuschung und Illusion durch-schneiden, die seine Organisation von Millionen Beschäftigtenheute trennt.

Innerhalb des DGB war nach Erscheinen des Interviews derTeufel los. Die Funktionäre reagierten fassungslos. Säße Som-mer nicht so fest im Sattel seiner Organisation, hätte er Scha-den genommen. Die Nachlassverwalter wollen den Todesfallweiter verheimlichen, sich selbst und die Öffentlichkeit nochein wenig täuschen. Sommer jedenfalls hat seine Lektion ge-lernt: »Man darf den Menschen alles nehmen. Nur nicht ihreLebenslügen.«

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KAPITEL 5

Aggressives Asien.Weltfrieden in Gefahr?

Reich und halbstark

Es ist ein populärer Irrtum zu glauben, dass intensiver Waren-austausch und enge wirtschaftliche Zusammenarbeit die Staa-tenwelt friedlicher machen. Er bleibt auch dann ein Irrtum,wenn große Denker ihm erlegen sind. So meinte der Wirt-schaftstheoretiker John Stuart Mill, dass »der schnelle Anstiegdes Welthandels der beste Garant für den Frieden« sei. 1910vertrat der spätere Herausgeber von Foreign Affairs Sir Nor-man Angell sogar die Ansicht, ein Krieg zwischen den Groß-mächten sei schon aufgrund der »völligen wirtschaftlichenSinnlosigkeit von Eroberungen« undenkbar geworden.

Vier Jahre später brach der Erste Weltkrieg los. Aus den Han-delspartnern von eben wurden binnen weniger Monate er-bitterte Gegner, die nichts anderes miteinander austauschtenals Kanonenkugeln und Bomben, schließlich schütteten sieeinander Phosgen und Senfgas aufs Haupt. Kaum hatten sichnach Kriegsende die Wirtschaftsbeziehungen halbwegs norma-lisiert, zettelte der Verlierer der Völkerschlacht, Deutschland,die nächste an.

Auch die Japaner versuchten im Windschatten Hitlers fetteBeute zu machen. Aus der Luft bombardierten sie am Morgendes 7. Dezember 1941 den US-Marinestützpunkt Pearl Harbor.Statt der bis dahin üblichen Öllieferungen schickten die USAper Luftfracht nun zwei Atombomben nach Japan.

Einige Länder - Deutschland, Korea und Jugoslawien -

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wurden sogar zerteilt, obwohl ihre Territorien durch Waren-austausch verknüpft und verknotet waren wie orientalischeTeppiche. In den großen Schicksalsstunden der Menschheitist es aber noch immer so gewesen, dass die Kaufleute aufden Beifahrersitz rücken mussten, derweil Politiker und Mili-tärs das Steuer übernahmen. Lieferverträge sind nun einmalnicht viel wert, wenn die Panzer vorfahren.

Auch die heutige Globalisierung der Volkswirtschaften istkein Friedenswerk. Sie kann Wohlstand und ein gepflegtespolitisches Miteinander hervorbringen, aber mit großer Kraftauch das genaue Gegenteil erzeugen. Die ökonomische Ver-zahnung der Welt dient den Nationalstaaten vornehmlich dazu,Macht und Wohlstand zu steigern. Der Frieden schafft zwardie unerlässliche Voraussetzung für den Handel, aber umge-kehrt gilt das eben nicht: Der Handel ist kein Garant staatlicherFriedfertigkeit; die Globalisierung schafft keine pazifistischeInternationale. Auch wenn es den Ökonomen aller Länderschwer fällt, das zu akzeptieren: Es gibt höhere und es gibt nie-derere Beweggründe als die, miteinander Handel zu treiben.Ändern sich die Interessen, ändern sich auch die Warenströme.Und die Aussicht, dass sie für eine Zeit lang unterbrochenwerden, hat noch keine Nation gehindert, gegen die andereins Feld zu ziehen.

Zwei sich scheinbar widersprechende Dinge springen insAuge: Nie waren die Volkswirtschaften so eng miteinanderverflochten. Das Volumen des Welthandels hat sich in den ver-gangenen hundert Jahren um das 25-fache erhöht. Und den-noch machen diese anschwellenden Waren- und Geldströmedie Welt nicht friedlicher, sondern unsicherer. Auf vielfältigeArt verschärft die beschleunigte Globalisierung sogar dieSpannungen auf der Welt, weil sie beides vergrößert, die Un-gleichgewichte innerhalb der Staaten und zwischen ihnen.

Am geringsten sind diese Gefahren interessanterweise dort,wo die Absteiger der vergangenen Jahrzehnte zu Hause sind.

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Reich und halbstark 269

Von Afrika, Lateinamerika und Russland wird so schnell keineStörung des Weltfriedens ausgehen. Den Staaten Afrikas fehltfür den großen Schlag die ökonomische Kraft, den Russen undihrer Armee derzeit das Selbstbewusstsein, auch wenn dieenormen Rohstoffreserven eine erneute Weltmachtposition er-möglichen sollten.

Die Staatschefs Lateinamerikas sind füreinander keine Ge-fahr. Sie kämpfen gemeinsam dämm, nicht den Anschluss anAsien zu verlieren. Selbst der Islam ist nicht da am gefähr-lichsten, wo die meisten Islamisten wohnen; die 200 MillionenMuslime in Indonesien sind arm und wütend, sie mögen denWesten ängstigen, aber sie bedrohen ihn nicht. Der Mullah-staat Iran ist da von anderem Kaliber. Seit Jahren wächst dieWirtschaft des Landes doppelt so schnell wie die in Europa.Die Ölmilliarden werden nicht verprasst, sondern in den Aus-bau der Wirtschaft gesteckt. So entwickelten sich Selbstbe-wusstsein und Angriffslust gleichermaßen. Der jüngste Nah-ostkrieg wäre ohne die Unterstützung des Iran wohl kaumzum Ausbruch gekommen. Die von ihm finanzierten Terror-brigaden haben Israel bis aufs Blut gereizt. Ein neuer Regio-nalkonflikt wurde unausweichlich.

Der größte Gefahrencocktail für eine kontinentale kriegeri-sche Auseinandersetzung aber ist dort entstanden, wo die Sie-gerstaaten der vergangenen Jahrzehnte zu Hause sind. Erfolgund Übermut liegen in Asien dicht beieinander. Es fand einegeradezu unerhörte Ausweitung der ökonomischen Zone statt.Wer hätte es für möglich gehalten, dass ein 1945 kriegszer-störtes Land wie Japan sich so schnell erholen, ein hoffnungs-los zurückgefallenes China sich derart schnell dem Westennähern würde, dass Indien sich dieser Aufholjagd anschließenund dass in den ehemaligen Malariasümpfen von Singapur einzweites New York entstehen würde? Das asiatische Zeitalter istheute keine Prophezeiung mehr, es ist Realität geworden. Derproduktive Kern Asiens vergrößerte sich innerhalb von nur

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wenigen Jahrzehnten. Einst glimmte er, jetzt glüht er feuerrot;er liefert wachsenden Wohlstand, aber er produziert auch jenenleicht entflammbaren Stoff, aus dem Kriege beschaffen sind.

Damit sind wir bei der aggressiven, bisher öffentlich kaumbeachteten Seite der Globalisierung. Je steiler die Wachstums-raten, je größer die in der Welt der Wirtschaft errungenenErfolge, desto größer auch das Risiko eines politischen Fehl-schlags. Denn die enorme Beschleunigung, die Asiens Auf-steigerstaaten in der Weltwirtschaft erzeugten, wirkt heutezweifach auf sie zurück. Erstens steigt innerhalb der asia-tischen Gesellschaften die Temperatur, weil die schnelle Mo-dernisierung nicht alle Mitglieder zeitgleich erfasste. Einigehoben ab, derweil andere am Boden blieben. Die Unterschiedezwischen den Aufsteigern in Bangalore und Shanghai und denAgrarvölkern in der chinesischen Steppe sowie den Bewoh-nern indischer Elendssiedlungen nehmen ständig zu. In denehemals durch Bürokratie und Parteiwirtschaft normiertenGesellschaften baut sich Spannung auf. Die Obrigkeit, nichtnur in China, ist geneigt, den Zukurzgekommenen einen ag-gressiven Nationalismus als Wohlstandsersatz anzubieten.

Die Menschen ihrerseits flüchten in die Religiosität. Dennauch dieses Paradoxon ist zu beobachten: Der Weg in RichtungModerne führt viele Völker unmittelbar zurück zur Spirituali-tät ihrer Vorfahren. Die vier großen Religionen des Kontinents- Islam, Hinduismus, Buddhismus und Daoismus - meldenZulauf, was die Spannungen im Zusammenleben keineswegsdämpft. Die Gesetze der Wirtschaft gelten zwar nun universell,die Annäherung der Kulturen aber blieb aus. Modernisierungbedeutet in Asien nicht Amerikanisierung oder Europäisie-rung, auch wenn viele im Westen das gehofft hatten.

Zweitens: Das Verhältnis der Staaten zueinander hat sich imZuge großer ökonomischer Erfolge eher verhärtet als ent-spannt. Die Führer der Aufsteigerstaaten schauen auf einmalmit frischem Blick auf die Weltkarte. Die Zuwächse an Tech-

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nologie, Devisen und politischem Selbstbewusstsein versetz-ten sie in einen Zustand der Erregung. Nicht wenige habendas Gefühl, es ginge in absehbarer Zeit um die Neuverteilungder Macht und für sie selbst sei dabei womöglich eineFührungsrolle reserviert. Entsprechend zielstrebig werdenU-Boote, Mittelstreckenraketen, Korvetten, Fregatten, Zerstö-rer, Marschflugkörper und - als Ausweis besonderer Potenz -Atomwaffen angeschafft. Es gilt Maos Motto: »Die politischeMacht kommt aus den Gewehrläufen.« Stalin hatte denselbenGedanken, als er listig fragte: »Über wie viele Divisionen ver-fügt der Papst?«

Vor Beginn ihres Aufstiegs waren diese Staaten damit be-schäftigt, das eigene Auskommen zu organisieren. Nun aberdenken sie großflächig, am liebsten geopolitisch, sie teilen dieWelt in Einflusssphären ein, so wie sie es von Amerikanern,Russen und zuvor den europäischen Kolonialmächten gelernthaben. Nicht selten versuchen sie, sich als Vormund ihrer klei-neren Nachbarn zu bewerben. So entstehen aus dem ökonomi-schen Erfolg politische Rivalitäten. Überall in Asien bauen sichUngleichgewichte auf, auch wenn sie mit bloßem Auge nichtimmer zu erkennen sind. Das ist ja das Gefährliche in diesernoch frühen Stunde der Globalisierung: Diesen Ungleichhei-ten, die oft auf Ungleichzeitigkeit beruhen, fehlt die offensicht-liche Dramatik, sie besitzen nicht die Klarheit und Unmittelbar-keit einer militärischen Bedrohung, weshalb sie gern übersehenwerden. Dabei tragen sie den Keim des Kriegs in sich.

Wo liegt das neue Sarajewo?

Asiens Zukunft könnte so aussehen wie Europas Vergangen-heit. Die Situation des aufstrebenden asiatischen Kontinentsweist Ähnlichkeiten zum Europa des beginnenden 20. Jahr-hunderts auf, die in ihrer Vielzahl bemerkenswert sind. Ehrgei-

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zige Mächte zettelten einen europäischen Bürgerkrieg an, dersich wenig später zum Weltkrieg weitete. In Asien stehen sichebenfalls Rivalen gegenüber, deren Gemütslage wie seinerzeitdie von Franzosen, Engländern, Deutschen, Österreichern undRussen zwischen Überlegenheitsgefühlen und Bedrohungs-angst schwankt.

So wie damals in Europa sind alle Staatenlenker kriegsbe-reit, auch wenn niemand zur Stunde kriegsentschlossen wirkt.Es gibt keine realistischen Kriegsziele, für die ein Einsatz sichlohnte. China will Taiwan besitzen, aber nicht sofort. Pakistanwürde gern in Kaschmir das Sagen haben, Indien auch. Beideaber haben Zeit. Doch so war es im Europa des beginnenden20. Jahrhunderts auch. Es gab kein Ziel, das groß genug war,dafür einen Weltkrieg zu riskieren. Anders im Zweiten Welt-krieg: Adolf Hitler hatte ein Kriegsziel, das wir größenwahn-sinnig nennen können oder irreal, aber er hatte eines: Vernich-tung der Juden und dann Weltherrschaft. Aber die Mächte, dieim Sommer 1914 aufeinander prallten, hatten nichts vorzu-zeigen, das die Völkerschlacht in den Augen der damaligenHerrscher hätte rechtfertigen oder auch nur erklären können.Es war ein Krieg ohne Kriegsziel. Man marschierte nichtschnurgerade in die Arena, man stolperte hinein, ohne Sinnund Verstand.

Der Krieg kann die Fortsetzung der Politik mit anderen Mit-teln sein. Aber er muss es nicht. Wer anderes behauptet, unter-stellt dem Waffengang eine Rationalität, die er oft nichtbesitzt. Zuweilen ist der Krieg nichts anderes als die Fortset-zung der menschlichen Idiotie mit militärischen Mitteln.Frankreich wollte Lothringen, aber doch nicht um den Preisvon weit über einer Million getöteter Landsleute. Deutschlandwollte mit Großbritannien um die Vorherrschaft in Europa ran-geln, aber war es gerechtfertigt, dafür das Risiko der totalenNiederlage einzugehen?

Die Staaten Europas waren innerhalb kurzer Zeit von Agrar-

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Völkern zu Industrienationen aufgestiegen, so wie in unserenTagen die großen Flächenstaaten Asiens. Die neu gewonneneWirtschaftskraft verlieh den Europäern finanzielle und politi-sche Flügel. Sie machte mutig und erhöhte die Lust am Risiko,was noch dadurch begünstigt wurde, dass kaum ein Herrschersich seinem Volk verantworten musste. Die Mächtigen warendamals nur im Ausnahmefall durch Wahlen ins Amt gekom-men.

Die Staaten spürten Gefühle nationaler Überlegenheit insich aufsteigen, die sich vermischten mit einer Stimmung desSich-bedroht-Fühlens und des Eingekreist-Seins. Es existierteein Gleichgewicht der Kräfte, das deshalb Bestand zu habenschien, weil niemand allein das Sagen hatte. Jeder für sichwar zu schwach, um die anderen zu dominieren. Es gab seiner-zeit in Europa — wie im heutigen Asien — keine natürliche Füh-rungsmacht, die von allen akzeptiert wurde. Das aber wecktedas Bedürfnis nach Allianzen, die schließlich zum Schmiedenvon Gegenallianzen führten.

Es waren diese zwei Dinge, die aufgrund der Gleichzeitig-keit ihres Auftretens zur Katastrophe des Ersten Weltkriegsführten: Das gegenseitige Misstrauen und das Hochgefühl,die Angst und der Heldenmut. Am Ende konnten es die Re-gierenden und Generäle kaum mehr abwarten, ihr Militärgerätwider den Nachbarn in Stellung zu bringen. Der Anlass warzweitrangig, aber für die Generäle von Kaiser Wilhelm II.hoch willkommen. Sie ermutigten die Österreicher regelrecht,dass sie nach dem Attentat von Sarajevo nur ja zum Sühne-feldzug gegen Serbien aufbrechen sollten. Sie dachten nichtan Serbien, dafür aber umso intensiver an Frankreich undRussland. Man dürfe »den jetzigen, für uns so günstigenMoment nicht unbenutzt lassen«, sagte der Kaiser vor Ver-trauten.

Die aufgestauten Spannungen entluden sich. Insgesamtwurden in Europa 65 Millionen Soldaten mobilisiert, so viel

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wie nie zuvor und nie danach. »Die kriegführenden Industrie-staaten hatten sich in vulkanische Schmiedewerkstätten ver-wandelt«, wie Ernst Jünger später notierte.

Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Kriegsmächtenwaren mit dem ersten Schuss so gut wie beendet, was inDeutschland schon bald zu Engpässen bei der Lebensmittel-versorgung führte. Aber das wurde hungernd hingenommen.Nach und nach verrohte das Denken einer ganzen Generation,die mit den Begriffen des Kriegs zu leben lernte: Mobilma-chung, Zweifrontenkrieg, Stellungskrieg, Zermürbungskrieg,und schließlich war auch hier schon vom totalen Krieg dieRede, weil er nicht mehr nur die Streitkräfte, sondern auchdie Zivilvölker einbezog.

Im heutigen Asien sehen wir einen ähnlich robusten Drang,es anderen zu zeigen, bevor man selbst es gezeigt bekommt.Das Misstrauen untereinander wurzelt tief in der Geschichte.Die Völker des Kontinents haben in den vergangenen Jahr-hunderten miteinander ähnlich dramatische Erfahrungen ge-macht wie die Europäer im 19. und 20. Jahrhundert. Kaumkehrte einer dem anderen den Rücken zu, wurde er überfallenund in Knechtschaft gehalten. Die Erbfeindschaft von Franzo-sen und Deutschen findet in der Rivalität von Japanern undChinesen ihre Entsprechung. Die Reibereien von Indern undPakistanern sind vergleichbar dem aggressiven Argwohn zwi-schen Engländern und Deutschen in der zweiten Hälfte des19. Jahrhunderts.

Schon mehrfach haben die Japaner eine Vielzahl ihrer asia-tischen Nachbarn überfallen. 1931 besetzten sie die Mand-schurei. Im Zweiten Weltkrieg zog sich ihre Blutspur durchmehr als ein halbes Dutzend Länder. »Asien den Asiaten«, lau-tete ihr Schlachtruf, aber gemeint war: Asien den Japanern.Ihre Soldaten standen in Saigon, Hongkong, Manila, Singapur;sie marschierten in Birma und Neuguinea ein, und auch dasweitgehend wehrlose chinesische Riesenreich wurde besetzt.

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»Lasst ihre Köpfe baumeln«, skandieren heute die Studentenin Shanghai und Peking, wenn sie sich der japanischen Gräuel-taten erinnern.

Rachedurstig blicken Volk und Führung in Peking auf dasjapanische Inselreich. Dort bringt man bis heute keine Ent-schuldigung über die Lippen, zumindest keine, die in Chinaals angemessen empfunden würde. Der Streit über die richtigeForm der Entschuldigung wird zwischen den Staaten geführtwie zwischen zankenden Eheleuten. Im August des Jahres1995 schien die Versöhnung nicht mehr weit; dank diplomati-scher Vorarbeit sprach der japanische Premierminister sein»von Herzen kommendes tiefes Bedauern« aus und eine eben-falls »von Herzen kommende Entschuldigung«. Aber Japanweigerte sich, diese Entschuldigung auch schriftlich abzuge-ben, wie es die Chinesen verlangten.

Warme Gefühle gegenüber den Chinesen kommen auch inTokio nicht auf. Ihre innere Distanz haben die Japaner mitnahezu allen Anrainerstaaten des Riesenreichs gemein. DieChinesen werden nirgendwo gemocht, vielleicht ist ihr Volkdafür zu groß, zu stolz und in jüngster Zeit auch zu erfolgreichgewesen. In Thailand zwingt man Chinesen, sich zwangsweisezu assimilieren. Sie müssen thailändische Namen annehmen,um ihre Identität abzustreifen. In Malaysia wurden Quotenbei der Besetzung öffentlicher Stellen eingeführt, um die»Unterwanderung« durch Chinesen zu verhindern. In Indone-sien kam es wiederholt zu Progromen gegen die im Wirt-schaftsleben als übermächtig empfundene Volksgruppe.

Die Aversionen der anderen sind nicht gänzlich aus der Luftgegriffen. Chinas jüngere Geschichte weist eine Serie wieder-kehrender Aggressivitäten gegen die Anrainerstaaten auf, diesich nicht als Lappalien abtun lassen. Anfang der 50er Jahregriff China in den Koreakrieg ein, half das stalinistischeRegime in Nordkorea zu installieren. 1959 und 1962 rücktedie Armee gegen Indien aus, Ende der 60er Jahre kam es zu

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Scharmützeln mit den Russen am Ussuri-Fluss. Und immerwieder erfolgten Auseinandersetzungen im SüdchinesischenMeer, dessen Inseln und Atolle mehrere Länder für sich bean-spruchen. In den 70er Jahren geriet zweimal kurz hintereinan-der Vietnam ins Fadenkreuz der Pekinger Führung; DengXiaoping nannte den vorerst letzten Einmarsch einen »Erzie-hungsfeldzug«.

Das Misstrauen gegenüber den Chinesen hat die Jahrzehnteüberdauert. Selbst die Verkündung einer in ihrem Wortlautfriedfertigen außenpolitischen Doktrin durch Deng Xiaopingwird allgemein als Beleg von Heimtücke gewertet. Der riet,um das ökonomische Aufbauwerk nicht zu gefährden, seinemLand zur Zurückhaltung. China solle »sein Licht unter denScheffel stellen«. Das klang vernünftig, aber beunruhigendklang es in den Ohren der Anrainerstaaten eben auch. DerWolf hatte sich vor aller Augen den Schafspelz angezogen.

Der Kontinent lebt seither mit steigender Spannung, aberohne ausreichende Sicherungen. Es existieren überlappendeInteressenlagen und ideologische Bündnisse, die dem europä-ischen Status vor Kriegsbeginn im Sommer 1914 durchausähnlich sind. Die Komplexität der Verabredungen und Neben-absprachen, vor allem aber der eingebaute Automatismus vonGewalt und Gegengewalt, erwies sich damals als nicht be-herrschbar.

Der britische Historiker Eric Hobsbawm, der die Ereignisseder Vorkriegsjahre detailliert wie kaum ein Zweiter rekonstru-iert hat, stellte fest, dass bei Kriegsbeginn selbst die Mächtigenvon der Wucht der Ereignisse überrascht wurden: »Diejenigen,die das Mahlwerk des Kriegs gebaut hatten und in Gang setz-ten, sahen mit fast ungläubigem Staunen zu, wie die Räder an-fingen, sich zu drehen.«

Das Sarajevo von heute könnte auf der koreanischen Halb-insel liegen. Seit ihrer Teilung in einen stalinistischen Nordenund einen kapitalistischen Süden beherbergt dieser Zipfel im

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Chinesischen Meer ein politisches Pulverfass, das bereits beileichtem Funkenflug explodieren kann. Das Nebeneinandervon Nord- und Südkorea ist seit der Teilung gekennzeichnetvon anhaltender und über die Jahre wachsender Aggressivität.Dagegen wirkten die betulich-bürokratische DDR und dieBundesrepublik wie ein Ehepaar, das sich zwar nichts mehrzu sagen hatte, aber einander nicht mehr die Augen auskratzte.Anders die Koreaner: 1950 kam es zu einem der überflüssigs-ten Kriege der Neuzeit. Keinem der Teilstaaten brachte ereinen Geländegewinn, über drei Millionen Menschen starben.Der Norden hält den Süden seither mit immer neuen Drohun-gen und Raketentests in Schach. Der Bau von Atomspreng-köpfen und Mittelstreckenraketen, Letztere werden devisen-bringend auch an die Feinde der USA ausgeliefert, sichertdem Zwergenstaat das Überleben. Die Ökonomie liegt amBoden, die Bevölkerung hungert und das Geld des Staatsreicht nicht aus, nachts die Hauptstadt Pjöngjang zu beleuch-ten. Aber: Die Elite ist politisch obenauf.

China hält dem Regime die Treue, hilft mit Bauteilen fürNuklearanlagen und Reisimporten für die oberen Zehntau-send. Die nordkoreanische Fähigkeit zum Bau einer Atom-bombe hat sich gegenüber dem Westen als wirksames Erpres-sungsinstrument erwiesen. Die Supermacht USA wird zuimmer neuen Gefälligkeiten genötigt. Die Außenministerinder Demokraten, Madeleine Albright, nahm vor einigen Jahrenin Pjöngjang an einer Parade anlässlich des 55. Jahrestags derKoreanischen Arbeiterpartei teil, was im Umgang mit demletzten Stalin-Staat als politischer Kniefall bezeichnet werdenmuss. Das Resultat dieser Ergebenheitsadressen kann kaumüberraschen: Die Spannungen mit Südkorea nehmen zu.

Vielleicht sieht das neue Sarajevo aber auch aus wie einGrenzort, irgendwo entlang der 700 Kilometer langen Demar-kationslinie zwischen Indien und der Islamischen RepublikPakistan. Das hinduistisch dominierte Indien und der Islam-

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Staat verdächtigen sich gegenseitig, die religiösen Gefühle desanderen zu missachten. Scharmützel gab es immer wieder,Massaker auch. Gegenseitig schickte man sich zur Staatsgrün-dung Eisenbahnzüge voller Leichen. »Geschenk aus Pakistan«stand auf den Waggons der einen; »Geschenk aus Indien« hießes auf den Zügen der anderen.

Früh schon starteten die Inder mit Hilfe ihrer russischenFreunde ein Nuklearprogramm, das vor allem darauf angelegtwar, dem Nachbarn zu imponieren. 1974 zündete Indien dieerste Atombombe. Mit Hilfe aus Peking zog Pakistan nach.»Wir werden Gras essen oder Blätter, vielleicht sogar hungern,aber wir werden eine eigene Atombombe haben«, verkündeteder damalige Premierminister Zulfikar Ali Bhutto. 24 Jahrespäter folgte der Durchbruch: Auch Pakistan stieg zur Atom-macht auf.

Es war US-Präsident Bill Clinton, der daran erinnerte, dassderlei Kraftprotzerei die Welt schon einmal ins Verderbengeführt habe. Er könne nicht glauben, »dass der indische Sub-kontinent an der Schwelle zum 21. Jahrhundert die schlimms-ten Fehler des 20. Jahrhunderts wiederholt«. Doch Pakistan istseit längerem schon nicht mehr erreichbar für die Ermahnun-gen des Westens. Heute gilt das Bergland zwischen Pakistanund Afghanistan als Rückzugsgebiet von Bin Laden und sei-nen Mordgesellen. Die Sicherheit Indiens hängt heute auchvom Gemütszustand der pakistanischen Führung ab.

Denkbar ist aber auch, dass das neue Sarajevo aussieht wieTaipeh, die Hauptstadt der Taiwanesen. Peking pocht auf eineWiedereingliederung der »abtrünnigen Provinz«, auch wenndie nicht morgen zu erfolgen hat. »Wir haben hundert JahreZeit«, sagte schon Mao. Amerika erkennt die Position derchinesischen Führung an, versorgt zugleich aber Taiwan mitKriegsgerät aller Art. Militärisch steht der kleine, wider-spenstige, im Zuge des chinesischen Bürgerkriegs von Mao-Gegnern gegründete Staat unter dem Schutzschirm der Arne-

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rikaner. Würde dieser zugeklappt, wären die Tage Taiwans ge-zählt. Mächtige Freunde der Taiwanesen in Washington sorg-ten bisher dafür, dass es dazu nicht kam. Für viele Amerikanerist Taiwan der Stachel im Fleisch der chinesischen Kommunis-ten, den sie gern ein bisschen weiter hineindrücken würden.

Dabei sind alle militärischen Verpflichtungen und Ver-sprechungen der USA gegenüber den Asiaten vermutlich dasPapier nicht wert, auf dem sie festgehalten wurden. Einenmilitärischen Konflikt kann sich die westliche Führungsmachtin dieser Region nicht leisten. Die USA sind militärisch zuschwach, politisch und kulturell zu isoliert, als dass sie eineaufmüpfige asiatische Nation jemals befrieden könnten. Ihremilitärische Erstschlagkraft ist zwar gewaltig, aber das reichtnicht aus, einen Feldzug erfolgreich ans Ende zu führen.

Die bisherigen Erfahrungen in dieser Ecke der Welt sindwenig ermutigend: Im Koreakrieg ließen 33 000 US-Soldatenihr Leben; über Vietnam braucht hier nicht gesprochen zu wer-den. Die amerikanische Luftwaffe hat in den acht heißenKriegsjahren von 1965 bis 1972 über Vietnam mehr als sechsMillionen Tonnen Bomben abgeworfen. Das war das Dreifa-che dessen, was die USA im Zweiten Weltkrieg in Europa,Afrika und Asien zum Einsatz brachten. Es nützte nichts. DieWeltmacht wurde von den schlecht ausgerüsteten, aber hochmotivierten Rebellen der Bürgerkriegsarmee verjagt. Im heu-tigen Asien stehen die USA praktisch ohne Freunde da. Siebesitzen zwar Stützpunkte hier und dort, kreuzen rund um dieUhr mit ihren Flugzeugträgern im Südchinesischen Meer undverfügen mit Japan und Südkorea über respektable Bündnis-partner. Als Freunde und Friedensstifter aber werden sie,anders als in Europa, nirgendwo angesehen. Japan verlässtsich auf die USA, aber die USA können sich nicht auf Japanverlassen.

Der Einfluss der Amerikaner auf die Pekinger Führungmuss als eher gering eingestuft werden. Im chinesischen Bür-

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gerkrieg unterstützte die Weltmacht Maos Gegenspieler. Da-nach haben die USA die Nähe der Chinesen nur in der ÄraNixon/Kissinger ernsthaft gesucht. Nach der blutigen Unter-drückung der Studentenproteste auf dem Platz des himmli-schen Friedens ging Amerika auf Distanz. Rechte wie Linkein Washington forderten damals die sofortige Abkühlung derBeziehungen. Er habe das Chaos, nicht die Demokratiebekämpft, verteidigte sich Deng. Es nützte ihm nicht viel. DieMehrzahl der Republikaner wünscht keine allzu enge Tuch-fühlung mit den Kommunisten; auch die Demokraten bezich-tigen Peking der Verletzung von Menschenrechten. Beide ge-meinsam wollen auf der richtigen Seite der Barrikade stehen,wenn der Freiheitsdrang der Chinesen sich Bahn brechen soll-te. Viele Amerikaner hoffen, dass die ökonomische Liberali-sierung früher oder später einen politischen Systemwechselerzwingen wird. Die Ungleichheit im Land und die Korruptionder KP könnten diesen Prozess beschleunigen, hoffen sie.Wobei sich gerade in diese Hoffnung schlimmste Befürchtun-gen mischen.

Aus freien Stücken würde die KP Chinas die Macht nichtaus den Händen geben. Ein Bürgerkrieg in einem Land, daskontinentale Ausmaße besitzt - China ist nach Einwohnernfast doppelt so groß wie die USA und die Europäische Unionzusammen -, würde womöglich die ganze Welt erschüttern.

Wie hoch der Druck im chinesischen Kessel derzeit ist, lässtsich nur erahnen, nicht messen. Wahrscheinlich besitzt selbstdie chinesische Führung keine verlässliche Einschätzung,wann die Geduld der Millionen, die nicht vom Wirtschafts-wunder profitieren, erschöpft sein könnte. Da das Erfolgsre-zept der chinesischen Wirtschaftspolitik aber gerade darinbesteht, die Mittel des Staats in der Exportindustrie zu konzen-trieren und damit die Ungleichheit zu fördern, wird es auf ab-sehbare Zeit manches Zugeständnis, aber keine grundlegendeKorrektur geben können. Nach westlichen Schätzungen stellt

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sich die Lage wie folgt dar: Drei Prozent der Bevölkerung sindunermesslich reich, 17 Prozent besitzen eine bescheidene, 80Prozent keinerlei Absicherung für das Alter. In keinem ande-ren Land der Erde sind die Ungleichheiten zwischen den Men-schen derart rasant gewachsen wie in China.

Es ist im Grunde genommen ein unerhörtes Menschenexpe-riment, das die KP da veranstaltet. Es wirkt, als wolle sieherausfinden, wie viel Ungleichheit der Mensch verträgt undwann eine geschändete Umwelt gegen ihre Vergewaltiger zu-rückschlägt. Schon heute rumort es, in unregelmäßigen Ab-ständen kommt es zu Demonstrationen, wilden Streiks undkleineren bewaffneten Aufständen, von denen die Weltöffent-lichkeit, wenn überhaupt, nur mit Zeitverzögerung erfährt. DieVersuchung ist groß, den inneren Druck nach außen, wider denNachbarn, umzuleiten. Die Mächtigen vieler Nationen sind ihrim Lauf der Weltgeschichte schon erlegen.

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Es gibt keinen Automatismus zur Gewalt, aber eine gesteigerteWahrscheinlichkeit gibt es schon. Wenn sich in unseren Tagendas Virus eines Weltkriegs überhaupt wieder entwickeln kann,dann findet es im aufgeheizten Klima Asiens einen günstigenNährboden. Niemand kann diese Wahrscheinlichkeit berech-nen, da lediglich Teile der Gleichung zu erkennen sind. EinBlick auf die Militärausgaben zeigt allerdings seit jeher, wasdie Regierungschefs selbst von der Zukunft erwarten. Fahrensie ihre Rüstungsausgaben herunter, sind sie in der Regel eherfriedlich gestimmt oder einfach kriegsmüde. Unternehmen siezusätzliche militärische Anstrengungen, haben sie den Friedennoch nicht abgeschrieben, wollen aber vorbereitet sein, wennes anders kommt.

Der Unterschied zu den Terroristen liegt auf der Hand. Ein

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Sprengstoffgürtel lässt sich heimlich umschnallen, die Auf-rüstung von Millionenvölkern dagegen vollzieht sich nahezuöffentlich. Kriege werden von langer Hand vorbereitet. Sieentflammen nicht so spontan, wie es den Zeitgenossen zuwei-len scheint. Wer möchte, kann den Kriegsherren sogar bei denVorbereitungen zuschauen, da diese nicht nur mit deutlich er-höhten Militärausgaben, sondern in aller Regel mit aufwen-digen Testläufen von Mensch und Material einhergehen. DemErsten und Zweiten Weltkrieg war eine jahrelange Aufrüstungvorausgegangen.

Es begann in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts noch sehrverhalten und beschleunigte sich im Verlauf der 90er. Die jähr-lichen britischen Militärausgaben verdoppelten sich von da anbis zum Kriegsausbruch. Sogar die geplante Militärstrategieließ sich am veranschlagten Wehretat ablesen, sodass jederKundige in Kontinentaleuropa vorhersehen konnte, wie er spä-ter angegriffen würde, ob zu Lande, aus der Luft oder vomWasser her. Die britische Marine meldete die größten Zu-wachsraten. Von 1885 bis zum Kriegsjahr 1914 vervierfachtesich ihr jährlicher Etat. Die Engländer, das war die Botschaftan das übrige Europa, bereiteten sich auf einen Seekrieg vor.Den hatten sie seit jeher bevorzugt, er hatte sich aus Sicht derMilitärs bestens bewährt.

Selbst der in Militärfragen unkundigen Bevölkerung bleibtnicht verborgen, wenn ihre Staatsführung die Messer wetzt.Die Bürger zahlen schließlich die Aufrüstung der Vorberei-tungsjahre mit erhöhten Steuern. Und sie erleben, wie ihre an-gestammten Rüstungsbetriebe innerhalb kürzester Zeit zuwahren Imperien emporschnellen. Kanonenkönig Krupp be-schäftigte 1873 erst 16000 Arbeiter, zur Jahrhundertwendewaren es 45 000, 1912 bereits 75 000 Arbeitnehmer. Die Rüs-tungsausgaben im damaligen Deutschland eilten dem Wachs-tum der übrigen Wirtschaft weit voraus - ein untrügliches Zei-chen für veränderte Prioritäten in der Staatsführung.

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Vor dem Zweiten Weltkrieg dasselbe, leicht durchschaubareSpiel: Kaum war Hitler an der Macht, lenkte er die Einnahmendes Staats in Richtung der Rüstungsbetriebe. Die Größe seinermilitärischen Ambitionen war am Anwachsen des Militärhaus-halts deutlich ablesbar. Im Jahr 1937, zwei Jahre vor demBeginn seines Feldzugs, gab der NS-Staat 23,5 Prozent desVolkseinkommens für die Streitkräfte aus, die USA nur 1,5Prozent, das britische Empire 5,7 Prozent und Frankreich 9,1Prozent. Auffällig waren auch die Militärbudgets der anderenFaschisten. Italien steckte zu diesem Zeitpunkt 14,5 Prozentdes Völkseinkommens in die Rüstung, Japan sogar 28,2 Pro-zent. In allen drei Staaten reifte eine tödliche Frucht heran,die wenig später die halbe Welt verwüsten sollte.

Im Fall Deutschlands hätte es wahrlich keines Geheimdiens-tes bedurft, um die kriegerische Absicht der Hitler-Regierungzu erkennen. Die deutsche Flugzeugindustrie, die im Jahr vorHitlers Machtantritt nur 36 Militärmaschinen fertigte, liefplötzlich heiß: 2000 Maschinen im Jahr 1934, 5 000 Maschinenin 1936. Die Marine verfünffachte ihre Mannschaftsstärke. ImJahr 1938, es waren nur noch wenige Monate bis zum Überfallauf den Nachbarn Polen, steckte der NS-Staat sage undschreibe 52 Prozent aller Regierungsausgaben in die Aus-stattung der Armee. Deutschland gab damals mehr Geld fürWaffen aus als Großbritannien, Frankreich und die USAzusammen. Man brauchte kein Prophet und nicht einmal Mili-tärexperte zu sein, um zu erkennen: Hier wird ein Krieg vorbe-reitet, wie ihn die Welt noch nicht erlebt hat.

Nun zu Asien, wobei vergleichen nicht gleichsetzen heißt:Die neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten haben den Bodenbereitet für eine Aufrüstung, wie es sie in diesen Breiten niezuvor gegeben hat. Die Rüstungsausgaben in Japan sind sohoch wie die französischen und britischen, nur übertroffenvon den USA. China, Indien, Pakistan und die beiden Koreasrüsten ebenfalls kräftig auf. Derweil die weltweiten Rüstungs-

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ausgaben in den vergangenen zehn Jahren nur um drei Prozentzugenommen haben, wird aus Ostasien ein 23-prozentiger Zu-wachs gemeldet. Nach Expertenschätzungen werden die Ge-samtausgaben Asiens für Raketen, Panzer und Flugzeugträgerbereits im Jahr 2010 die europäischen Verteidigungsetats über-holt haben. Gemessen an der tatsächlichen Kaufkraft, die derDollar in Asien besitzt, sind die dortigen Staaten bereits heutedicht an den Westen herangerückt.

Eine Vielzahl bilateraler Rüstungswettläufe ist zu beobach-ten, bei denen die eine Seite sich genau jene todbringendenGerätschaften zulegt, die auch der Nachbar bestellt hat: Süd-gegen Nordkorea, China gegen Taiwan, Pakistan gegen Indien,China gegen Indien, Malaysia gegen Singapur. Sie alle zusam-men bereiten sich offenbar auf eine maritime Auseinanderset-zung vor, denn insbesondere die Verkäufer von Korvetten, Fre-gatten, U-Booten und seegestützten Lenkwaffen melden volleAuftragsbücher. Die Amerikaner sind bereits hellhörig gewor-den. Das wichtigste Planungsdokument der amerikanischenVerteidigungspolitik, der »Quadrennial Defense Review« desPentagon, sieht den Pazifischen Ozean als den wahrschein-lichen Kriegsschauplatz der näheren Zukunft.

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Auch die Atomtechnologie erfreut sich großer Beliebtheit.Das Nuklearzeitalter sei vorbei, hieß es nach dem Ende desKalten Kriegs. In Asien aber hat es erst so richtig begonnen.70 Prozent aller neuen Atomkraftwerke entstehen dort. DieZahl der Staaten, die Atomwaffen in ihren Depots halten, hatsich nach 1960 weltweit verdoppelt; drei Viertel der neuenAtommächte sind auf asiatischem Boden zu Hause. Inder undTaiwanesen schockierten zuletzt im Juli 2006 die Weltöffent-lichkeit mit ihren Raketentests, die nichts anderes als Drohge-bärden waren.

Während Amerikaner, Russen und Europäer ihre Streit-kräfte in der abgelaufenen Dekade verkleinerten, werden inAsien auch konventionelle Bodentruppen in beachtlicher Grö-ßenordnung vorgehalten: Taiwan hat derzeit rund 200 000 Sol-daten unter Waffen, Pakistan befehligt eine Armee von 550 000Soldaten, Nordkoreas Streitkräfte verfügen über 950000 Men-schen, die von den Armeen der Inder (1,1 Millionen) und derChinesen (1,6 Millionen) noch übertroffen werden.

In der neuen chinesischen Militärdoktrin ist ausdrücklichvon der Wahrscheinlichkeit regionaler Instabilität und be-grenzter Kriege die Rede, wofür das Riesenreich gerüstet seinwill. China ist heute nicht nur ein großer Einkäufer vonMaschinenbauprodukten und Öl. Über die vergangenen fünfJahre betrachtet ist China auch der weltgrößte Waffenimpor-teur. Die Politiker in Peking mühen sich redlich, damit dieEuropäische Union ihr nach den Ereignissen auf dem Platzdes himmlischen Friedens verhängtes Waffenembargo wiederaufhebt. Sie locken mit einem Militärbudget von beachtlicherGröße, das im Jahr 2006 die staatlichen Sozialausgaben umannähernd 50 Prozent übersteigen wird. Deutlicher kann eineRegierung ihre Prioritäten nicht dokumentieren.

Es fällt auf, dass wieder keine internationalen Institutionenzur Stelle sind, die in der Lage wären, die Ungleichgewichte zureduzieren und die von ihnen ausgehende Spannung zu dros-

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sein. Die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen Organi-sationen sind schon deshalb ungeeignet, weil sie die neuenKräfteverhältnisse in Asien nicht widerspiegeln. Der Welt-sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist ein lebendes Welt-kriegsmuseum. Als habe man sie konserviert, sitzen dort dievier Alliierten des Zweiten Weltkriegs, Amerikaner, Franzo-sen, Briten und Russen, den Chinesen gegenüber. Die anderengroßen Regionalmächte Asiens - Inder, Pakistaner, Indonesierund Japaner - sind nicht mit von der Partie.

Diese Vereinten Nationen sind besser als keine, aber eineSicherung sind sie nicht, wenn sich die Energie einer derartaufgeheizten Region unkontrolliert entladen sollte. Gelingt esnicht, die Sicherheitsarchitektur der Welt zu erneuern, sie anvielen Stellen erstmals überhaupt aufzubauen, werden die Ri-valitäten der auf- und absteigenden Imperien es leicht haben,sich in einem neuen Krieg auszutoben. Denn seit jeher ist esso: Wo gestritten wird, wird bald darauf geschossen, wo ge-schossen wird, wird, seit es die Technik erlaubt, bald auchgebombt. Willy Brandt und Egon Bahr, die Architekten derspäter auch von den Amerikanern übernommenen Entspan-nungspolitik, leiteten daraus ihre Maxime für eine Welt imEntspannungszustand ab: »Wo geredet wird, wird nicht ge-schossen«, sagte Brandt. Bahr sprach vom »Wandel durch An-näherung«.

Zwischen den verfeindeten Blöcken in West und Ost ent-stand damals eine Vielzahl von Verträgen, Konferenzen, Gre-mien, die alle nur dem einen Zweck dienten: Konflikte solltenschon im frühen Stadium erkannt und gedämpft werden. Ver-schiedene Abrüstungsrunden folgten, der Atomwaffensperr-vertrag und die Verträge zur Reduzierung strategischer Waf-fen. Die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit inEuropa (KSZE) zog wie ein Wanderzirkus durch Europa. Eskam in dieser Zeit zu zahlreichen Stellvertreterkriegen inAsien und Lateinamerika, aber der große Zusammenprall blieb

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aus. Zwischen Amerikanern und Russen wurde viel geredetund wenig geschossen.

Eine vergleichbare Architektur der Entspannung fehlt heute- vor allem in Asien. Das asiatische Haus ist alles andere alsfeuerfest. Es gibt keine den Kontinent umspannende Verant-wortungsgemeinschaft. Die neuen Aufsteigerstaaten leben ineiner Welt, die ähnlich unsicher ist wie zu Zeiten des Völker-bunds. Der Vorläufer der Vereinten Nationen verteidigte diePrinzipien von Gewaltfreiheit und staatlicher Unversehrtheitmit Verve, aber ohne Relevanz. Er war zum Drohen und In-die-Schranken-Weisen nicht geschaffen, weshalb Hitler, Mussoliniund auch die Kriegslüsternen in Japan sich von ihm nicht imMindesten gestört fühlten. Warum auch? Die Mächtigen inWashington, London und Paris definierten die Interessen ihrerHeimatländer mit provinzieller Engstirnigkeit, sodass ein Zu-sammengehen zum Zweck der Verteidigung außerhalb der Vor-stellungskraft lag. Frankreich war auf den Nachbarn Deutsch-land fixiert. Die Expansion der Japaner blieb unkommentiert.Auch England fühlte sich nicht angesprochen vom Überfallder Japaner auf China. Amerika wiederum schaute selbst dannnoch weg, als Hitler bereits Frankreich überrannt hatte und sichmit seinen Luftgeschwadern auf London zubewegte.

Die Aggressoren hatten leichtes Spiel, weil ihre jahrelangeAufrüstung zwar gesehen wurde, aber nirgendwo eine politi-sche Antwort erfolgte, die man als angemessen hätte bezeich-nen können. Die Politiker lebten von der Hand in den Mund,was der britische Premierminister MacDonald zwar nichtöffentlich, aber doch gegenüber seinem Nachfolger später freiheraus bekannte: »Wir waren alle durch die täglichen Pro-bleme so abgelenkt, dass wir nie die Gelegenheit hatten, diegesamte Situation zu untersuchen und eine dementsprechendePolitik auszuarbeiten, sondern stattdessen von einer Aufre-gung zur nächsten lebten.«

Die heutigen Politiker sind ihren Vorfahren zum Verwech-

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sein ähnlich. Sie reden gern über die Chancen der Globalisie-rung. Sie spüren nicht, was sich über ihnen zusammenbraut.Sie leben wie ihre Vorfahren von einer Aufregung zur nächs-ten.

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KAPITEL 6

Scheitert Europa?Strategien der Gegenwehr

Per erschöpfte Kontinent

Der Weltkrieg um Wohlstand hat im westlichen Europa deutli-che Spuren hinterlassen. Bei der Neuverteilung von Reichtumund Macht zog der alte Kontinent erkennbar den Kürzeren.Seit Anfang der 80er Jahre stagniert sein Anteil am Weltsozial-produkt, die Wachstumsraten fallen im Vergleich zu Amerikaund Asien bescheiden aus, rekordverdächtig ist einzig der An-teil von Menschen, die von jeder Wertschöpfung ausgeschlos-sen sind. Arbeitslosigkeit ist in Europa kein Randschicksalmehr.

Auch die wissenschaftlichen Eliten haben Mühe, das hoheTempo der globalen Herausforderer mitzugehen. Stellte Euro-pa bei den Natur- und Geisteswissenschaftlern in den erstenzwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts noch über 90 Prozentaller Nobelpreisträger, sackte dieser Spitzenwert seither dras-tisch ab. Von 1980 bis 2002 wurden nur noch 27 Prozent allerNobelpreise von Europäern gewonnen. Das Hoheitsgebiet vonForschung und Wissenschaft duldet keine Relativierungen: DerAufstieg des einen bedeutet den Abstieg des anderen.

Nun hat in unseren Breiten mitnichten eine allgemeine Ver-dummung eingesetzt, wohl aber eine für Wissenschaftler spür-bare Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen. Deshalbwandern die klugen Köpfe den gut ausgestatteten Forschungs-einrichtungen hinterher. Jeder fünfte Nobelpreisträger aus denUSA wurde in einem Land der Europäischen Union geboren.

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Selbst dieser Nachschub droht zu versiegen. Die europä-ische Bevölkerung hat die Fortpflanzung weitgehend einge-schränkt. Die Zahl der Neugeborenen halbierte sich innerhalbvon nur vier Jahrzehnten. In den Schlafzimmern der Menschenvollzog sich ein Akt, der beides ist: zutiefst intim und zugleichhochpolitisch. Die Geburtenrate einer Nation ist das Konzen-trat aus Millionen Einzelentscheidungen, weshalb sie Aus-kunft gibt auch über das, was die Menschen von der Zukunfterwarten.

Belief sich Europas Anteil an der Weltbevölkerung im Jahr1900 noch auf 25 Prozent, sind es heute nur noch elf Prozent.Bis 2050 wird der Kontinent rund 54 Millionen Einwohner ver-lieren. Europa miniaturisiert sich. Weltweite Führung kannEuropa vor allem beim Lebensalter seiner Bevölkerung vor-weisen. Das Durchschnittsalter in Spanien, Deutschland undItalien lag 1970 bei 33 Jahren und wird bald bei fast 50 Jahrenliegen. Ein Drittel der Europäer dürfte im Jahr 2030 über 60Jahre alt sein. Eine so deutliche Verschiebung im Altersaufbauhat es ohne Krieg oder Naturkatastrophe noch nie gegeben.

Nun gibt es keinen Automatismus zwischen einer großenPopulation und einer großen Wirtschaftskraft, aber einen Zu-sammenhang gibt es schon. Vor allem die Gleichzeitigkeit derProzesse ist das Problem; eine schrumpfende und alternde Ge-sellschaft kann das Wachstumstempo der Vergangenheit un-möglich halten. Mit den Kindern schrumpft unweigerlichauch die Zahl derer, die den Wohlstand erzeugen. Der produk-tive Kern der Volkswirtschaft bildet sich zurück, derweil dieunproduktive Krustenregion, der nun wenige Kinder, aberviele Alte angehören, sich enorm ausweitet. Die Wohlstands-produzenten werden zur Minderheit, umgeben von einer Mehr-heit der Gesellschaft, die sich alimentieren lässt. Schon heutebeträgt die durchschnittliche Kaufkraft der Europäer nur noch62 Prozent der amerikanischen. 1990 lag sie noch bei 80 Pro-zent.

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Der erschöpfte Kontinent 291

Wer ökonomisch schwächelt, kann auch in Machtfragennicht mehr das volle Kampfgewicht aufbringen. Politisch hatnach dem Ende des Kalten Kriegs in Europa eine Verzwergungstattgefunden. Die Führungsnationen des 19. Jahrhunderts ver-schwanden im Nebel der Geschichte, ohne dass Vergleichbaresneu entstand. Auch der Zusammenschluss in der EuropäischenUnion brachte nicht das erhoffte politische Wachstum desKontinents.

So prallen die Erinnerungen an eine scheinbar glorreicheVergangenheit und die Erwartungen einer offensichtlich düs-teren Zukunft mit großer Wucht aufeinander. Bis weit in dasBürgertum hinein kommt es zur Rückbildung der mentalenAntriebskräfte. Die Zukunft wird vielerorts als Addition vonZumutungen gesehen, vielen erscheint sie eine Ansammlungvon Bedrohungen zu sein, die unter Kapuzen vermummt vorder eigenen Haustür auf und ab marschieren. Immer wiederreißen die Kapuzenmänner aus der Mitte der Gesellschafteinen Bürgersohn aus seiner Existenz; das Sterben der Hand-werksbetriebe, die Konkursanfälligkeit des Mittelstands, diegrassierende Arbeitslosigkeit und die zur Routine gewordeneKürzung von Lohn und Zulagen verbreiten Angst auch unterdenen, die bisher von alledem verschont blieben. So werdenaus Zeitzeugen Betroffene.

Die Bevölkerung besitzt kein präzises Wissen über den vorihren Augen ablaufenden Prozess der Selbstzerstörung; eineUrahnung aber besitzt sie sehr wohl. Zunehmend missmutigbelauert sie jene, die das Wort Reform im Munde fuhren.Früher verbarg sich hinter der Vokabel eine Verbesserung derLebens- und Arbeitsverhältnisse. Es gab am Ende von allemmehr als zuvor - mehr Lehrer, mehr Gleichberechtigung,mehr Lohn und, zunächst kaum beachtet, mehr Schulden gabes auch. Heute bedeutet Reform Rückzug, auch deshalb, weildie Reformer von gestern dem Publikum zu viel versprochenhaben. Die Reform von einst und ihr Rückbau heute bedingen

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einander. Überall im Westen kam eine Wende zum Weniger inGang - weniger Lohn, weniger Kündigungsschutz, wenigerRente, und auch das Vertrauenskapital der Politiker hat sichim Zuge der neuen Realitäten verkleinert.

Nur schemenhaft, wie hinter Milchglas, nehmen viele Bür-ger das Problemgebirge wahr. Die Zusammenhänge werdenerahnt, aber nicht verstanden, weshalb hier der Versuch unter-nommen werden soll, die losen Enden der Debatte miteinanderzu verknüpfen. Es geht um drei Begriffspaare, die allgemein alsGegensatz empfunden werden, obwohl sie zwingend zueinan-der gehören: Europa und die Nation ist das erste davon. Beidebelauern sich wie Katz und Maus, was dem Kontinent nicht gutbekommt. Ein Vakuum ist entstanden, das die weltweiten Riva-len für sich zu nutzen wissen. Jeder spürt ja: Die Nation kannnicht mehr, Brüssel kann noch nicht auf die Veränderungen soreagieren, dass durchschlagende Erfolge zu erwarten wären. Sotritt der einst stolze Kontinent mit einer weithin sichtbarenImpotenz vors Publikum. Europa befindet sich im Ruheraumder Globalisierung, derweil es rundum tobt und tost. Erstwenn die Nation und Europa ihr Verhältnis zueinander geklärthaben, wird am Ende jene Fähigkeit stehen, die heute als ver-misst gelten muss: politische Führung.

Was im Generellen unklar ist, kann im Konkreten nichtfunktionieren, wie am Beispiel des zweiten Begriffspaares zubesichtigen ist: Freihandel und Protektionismus gelten als mit-einander unvereinbar, als Konzeptionen, die sich sogar feind-lich gegenüberstehen. Das tun sie heute. Aber: Sie tun das vorallem in Europa und aufgrund einer gedanklichen Trägheit, diees zu überwinden gilt. Denn was bedeutet Freihandel im Ange-sicht von Angreifern, die auf das Prinzip der gelenkten Markt-wirtschaft vertrauen? Was ist von den Waffen des Protektionis-mus zu halten, die andernorts gewetzt und geschliffen werden?Wie kann ein Handel aussehen, der möglichst beides ist - freiund fair? Denn den Handel zu beschleunigen ist nur das eine,

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die Entwertung der hiesigen Arbeitskräfte zu verlangsamendas andere große Ziel.

Zunächst aber soll vom Volk und der Wirklichkeit die Redesein, denn diese beiden haben den Sichtkontakt zueinanderverloren. Ohne klares Gespür für das, was ist, und das, waskommt, wird es schwerlich einen Wiederaufstieg geben kön-nen. Deshalb müssen sich Volk und Wirklichkeit miteinanderversöhnen. Am Beginn der Kraftanstrengung wird ein Endestehen müssen.

Das Ende der Volksnarkose

Der wichtigste Grund für das Versagen unserer Tage ist eineBewusstseinseintrübung, die weite Teile der europäischen Ge-sellschaften gefangen hält. Die Europäer sind nicht in derLage, sich selbst zu erkennen. Partei- und länderübergreifendhat man sich entschlossen, das Publikum über das Ausmaß derweltweiten Machtverschiebungen zu täuschen. Nicht aus Bös-artigkeit, wohl aber aus der nicht gänzlich unbegründetenAngst, der Wähler könnte die Gewählten bei allzu großerOffenheit aus dem Amt jagen. Ehrlichkeit ist auf dem Wähler-markt keine rentierliche Investition, wie die deutschen Regie-rungschefs Gerhard Schröder und Angela Merkel erfahrenmussten. Das Volk reagiert mitunter ausgesprochen unwirsch,wenn man ihm die Probleme des Landes ungefiltert vor Augenführt. Wie ein Schutzschild ziehen viele die Milchglasscheibedichter zu sich heran.

Der Stimmungspolitiker neuen Typs hat daraus die Lehregezogen, dass seine Wähler von ihm nicht Problemlösung ver-langen, sondern schon mit gekonnter Problemverdrängung zu-frieden sind. Die Pflichtlüge kam in Mode. Auftragsgemäßwerden von der Politik die Erfolge, die es im wahren Lebenseit längerem nicht mehr gibt, bei den Banken dazugekauft.

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Heute ist der milliardenschwere Staatskredit das Opium derVölker. Überall im Westen wird halluziniert auf Teufel kommraus. Was als harmlose Schuldenpolitik in den 70er Jahren be-gann, wuchs sich zum größten Betrugsmanöver der neuerenGeschichte aus. Eine Unwahrheit provozierte die nächste, bisein ganzes Gebäude der Illusionen entstand, das sich nichtmehr ohne Weiteres einreißen lässt. Allein in Deutschland er-höhte sich die Staatsschuld von 1950 bis 1989 von knapp 10Milliarden Euro auf 470 Milliarden Euro. Seit der Wiederver-einigung ist eine Verdreifachung zu melden, die Staatsschuldbeträgt nunmehr 1,5 Billionen Euro. Alle europäischen Gesell-schaften bewohnen heute Traumlandschaften, die mit demGeld künftiger Generationen errichtet wurden.

Niemand kann guten Gewissens den völligen Verzicht aufdie Kreditfinanzierung empfehlen, da die Abhängigkeit davonschon zu groß ist. Der Wirtschaftskreislauf würde binnen kür-zester Frist kollabieren. Eine paradoxe Situation ist entstan-den, aus der es keinen schmerzfreien Ausweg gibt: Was ges-tern falsch war, die weitere Kreditaufnahme, ist heute immernoch falsch. Aber unverzichtbar ist sie mittlerweile auch. DieWeimarer Republik hat schlechte Erfahrungen gemacht miteiner Sparpolitik, die am Ende alles nur verschlimmerte. DieWirtschaft zog sich zusammen wie ein verkrampfter Magen.Die Fabriken schickten die Beschäftigten millionenfach aufdie Straßen, wo die Feinde der Demokratie schon bereit-standen, sie aufzusammeln. Am Ende gab es mehr Schulden,mehr Arbeitslose und mehr Nazis; die ohnehin schon krän-kelnde Demokratie hörte auf zu atmen.

Der Sieger der Sparpolitik hieß Hitler, und der hatte nichtsEiligeres zu tun, als bei den Banken erneut größere Geld-summen zu bestellen. Seine Erfolge in der Wirtschaftspolitikwaren beachtlich, aber sie waren erkauft und erbeutet, nichtnach alter Väter Sitte erarbeitet. Die Preisstabilität, die Voll-beschäftigung, die steigenden Löhne, der Ausbau des Sozial-

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Staats, aber auch die staatlichen Pracht- und Protzbauten,Parteitagshallen und Sportarenen, Autobahnen und Kasernenwaren allesamt jenem rauschhaften Wahn entsprungen, mitdem er Geldnoten, Staatsanleihen und Schuldverschreibungendrucken und verteilen ließ, bevor er dazu überging, die jüdi-schen Vermögen zu konfiszieren.

Das Deutsche Reich ging unter, die Furcht vor der Wahr-heit hat überlebt. Sie ist eher größer als kleiner geworden. Injeder Krise und auch schon im Angesicht einer kleinerenKonjunkturdelle wird neuer Stoff bei den Banken abgeholt.Mittlerweile ist eine eigene Welt der Zahlen und Worte ent-standen, deren wesentlicher Sinn darin besteht, Klarheit zuvermeiden. Die von den staatlichen Statistikämtern veröffent-lichten Wachstumsraten fast aller westeuropäischen Staatenverdanken das positive Vorzeichen allein der steigenden Ver-schuldung. Unterm Strich der volkswirtschaftlichen Gesamt-rechnung steht die Wachstumsrate eines Landes, die Königinder Zahlen, die Glücksformel einer jeder Nation. Die aber inte-ressiert sich nicht dafür, wie dieses Wachstum erzeugt wurde;ob durch eine verstärkte Anstrengung der Bürger, durch mehrArbeit, mehr Ideenreichtum oder eben durch mehr Leihgeldvon der Bank.

Sie erweckt den Eindruck, das in Zahlen gegossene Abbildunserer Wirklichkeit zu sein. Aber genau das ist sie nicht. Sieliefert im Gegenteil das in Zahlen gegossene Zerrbild unsererWirklichkeit. Sie berichtet von einer Stärke, die wir erträumen,aber nicht besitzen. Sie vermeldet einen Wohlstand, den es nurals Leihgabe zu besichtigen gibt. Sie beruhigt, weil sie das Be-unruhigende verschweigt. Die volkswirtschaftliche Gesamt-rechnung ist nun mal eine große Additionsmaschine, dieGleiches und Ungleiches aneinander reiht. Sie addiert denerhöhten Warenausstoß der Stahlwerke mit den gestiegenenLöhnen der Staatsdiener, sie rechnet die steigenden Gesund-heitsausgaben hinzu und türmt als Letztes auch die Kredite

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des Staats obenauf. Selbst wenn das Wachstum der Kredite denZuwachs beim Produktionsausstoß übersteigt, wird noch vomWachstum der Volkswirtschaft berichtet. Die Experten spre-chen schamvoll vom »schuldengetriebenen Wachstum«, auchum das Wort Schrumpfung zu vermeiden.

Im Privaten würden wir den Nachbarn, der mit einem ge-stiegenen Einkommen prahlt, in Wahrheit aber sein gesunkenesGehalt durch immer neue Überziehungskredite aufbessert, eherbedauern als bewundern. Er würde uns als warnendes und nichtals leuchtendes Beispiel vor Augen stehen. An dem Tag, andem der Schwindel auffliegt, steht der Mann als Prahlhans da.Die Mär vom wachsenden Einkommen würde er uns, wenn erauch nur halbwegs bei Trost ist, kein zweites Mal auftischen.

Die Staaten in Westeuropa sind deutlich schamloser. DieKredite bringen ein steigendes Nationaleinkommen hervor,das Kanzler und Präsidenten wider besseres Wissen als Aus-weis erfolgreichen Regierungshandelns herumzeigen. Miteiner solchen Wachstumsziffer im Gepäck betreiben sie Wäh-lerwerbung, auch wenn es sich in Wahrheit um Wählertäu-schung handelt.

Beim ungetrübten Blick auf die deutsche Kassenlage fälltauf, wie weit der Prozess der Selbsttäuschung bereits fortge-schritten ist: Die 190 Milliarden Euro Steuergelder, die derBundesfinanzminister pro Jahr einnimmt, sind faktisch ausge-geben, bevor der Haushaltsausschuss des Parlaments ein einzi-ges Mal über die Verwendung der Gelder befunden hat. Ineinem nie da gewesenen Ausmaß diktiert die Vergangenheitdie Gegenwart, ohne dass ein heutiger Politiker darauf nochEinfluss nehmen kann. 80 Milliarden Euro überweist derBund zur Stützung der Rentenkasse, obwohl die Rentenver-sicherung eigentlich von den Beiträgen ihrer Mitglieder lebensollte und nicht vom Geld der Steuerzahler. 40 Milliarden flie-ßen auf der Stelle an die Arbeitslosen, obwohl auch für sie eineeigene Versicherung außerhalb des Bundeshaushalts unterhal-

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ten wird. Weitere 40 Milliarden Euro gehen als Zinszahlung andie Banken für die Leihgelder vergangener Tage. Der Rest bil-det das Budget unserer Bundeswehr. Dem Bund bleibt von 190Milliarden Euro Steuergeld kaum ein Euro für seine anderenAufgaben, die Forschung, die Familien, den Straßenbau, dieUniversitäten, den Umweltschutz, die Agrarbeihilfen, dieÜberweisungen in die Dritte Welt. Auch seine Beamten müss-ten leer ausgehen, würde die Regierung nicht jedes Jahr zwi-schen 30 und 40 Milliarden Euro neue Schulden aufnehmen.

Es gibt derzeit keine andere Wahrheit als diese: Die Bundes-republik Deutschland gibt das Geld, das ihr die Bürger anver-trauen, für die Abwicklung der Vergangenheit aus, mit der Fol-ge, dass der Staat überall da, wo die Zukunft lockt und lauert,nichts mehr zu bieten hat. Der deutsche Staat ist reich und armzugleich. Hohe Abführungen an den Fiskus und der Zerfallöffentlicher Straßen, Schulen und Kindergärten schließen sichnicht mehr aus.

Dabei haben die eigentlichen Herausforderungen noch nichtbegonnen. Es gibt für die Volkswirtschaften in Europa derzeiterst ein halbes demographisches Problem, auch wenn dieöffentliche Debatte den gegenteiligen Eindruck erweckt. Dievielen Alten, die deutlich länger leben als ihre Vorgängerge-neration, sind uns schon heute lieb und teuer. Aber noch stehendie geburtenstarken Jahrgänge in Saft und Kraft. Sie sind nachLeibeskräften produktiv. Ihre nur geringe Neigung, Kinder zuzeugen, spart dem Staat heute Milliardenbeträge. Allein fürdas deutsche Kindergeld müsste er, eine bestandserhaltendeGeburtenrate vorausgesetzt, 50 Prozent mehr ausgeben, alsomindestens 50 Milliarden Euro pro Jahr. Erst wenn sich dieBabyboomer im Ruhestand versammeln, wird sich die redu-zierte Kinderzahl auf die Staatsfinanzen negativ auswirken.Dann werden wir mit dem Rückzug der Erwerbsbevölkerungbei gleichzeitiger Verdoppelung der Rentnerpopulation einedüstere Weltpremiere erleben. Die millionenfachen Verspre-

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chungen, die der Staat den heute noch Beschäftigten macht,werden sich als nicht erfüllbar erweisen. Eine Finanzsituationkündigt sich an, die man getrost als nicht beherrschbar be-zeichnen darf.

Diese Ausgangslage taucht in den politischen Debattenunserer Tage nur als Hintergrundgeräusch auf. Die Politikervorn am Bühnenrand haben sich auf das Simulieren von Füh-rungsstärke verlegt. In der Opposition wird oft noch getöntund posaunt, dass einem die Ohren klingen. Kaum im Regie-rungsamt angekommen, versagt vielen schon die Stimme, ihrHeldenmut schrumpft binnen kürzester Zeit zur Fußnote dereigenen Biographie. Vor aller Augen wurde die CDU-Vorsit-zende und deutsche Kanzlerin Angela Merkel von den Zeitläu-fen zusammengeschrumpft. Mit Siebenmeilenstiefeln war sieauf die deutsche Machtzentrale losgestürmt, und bevor siesich versah, steckte sie in den Fußstapfen ihrer Vorgänger fest.Wahrscheinlich ist die Enttäuschung über eine zu hoch veran-schlagte politische Potenz bei niemandem größer als bei ihrselbst. Sie hat die Probleme durchschaut wie nur wenige Politi-ker zuvor. Sie hatte sich viel vorgenommen. Vor allem aberhatte sie sich viel zugetraut. Als Reformatorin wollte sie vordie Geschichte treten. Verschämt spricht sie heute von den klei-nen Schritten, die schließlich auch ans Ziel führen. Doch diekleinen Schritte der Kanzlerin führen weg von Angela Merkel.

Das Beeindruckende ihrer Amtszeit ist bisher vor allem dieGeschwindigkeit, in der sie eine über Jahre angesparte Glaub-würdigkeit gegen die deutlich weichere Währung des Beliebt-seins eintauschte. Der Rücktausch ist in der Demokratie einschwieriges und politisch riskantes Geschäft, weshalb er inaller Regel unterbleibt. Die wohlige Wärme der Popularitäthat schon viele Amtsinhaber schläfrig gemacht.

Die deutsche Verzagtheit ist nicht die Ausnahme, sonderndie Regel im westlichen Europa. Alle bisherigen Reformenwaren gegenüber dem Problem, das sie zu lösen vorgaben, un-

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angemessen - die Realität wurde von ihnen berührt, nicht ver-ändert. Nirgendwo ist eine Sparleistung zu besichtigen, in demeigentlichen Wortsinn, dass danach weniger Geld ausgegebenwird als zuvor. Die Sparrunden der Politik bedeuten nahezuausnahmslos, dass mehr ausgegeben wird als zuvor; nur ebenweniger als geplant. Die Überforderung der europäischen Ge-meinwesen ist zur Normalität geworden. Der Europäische Sta-bilitätspakt begrenzt das Treiben, aber er beendet es nicht. DerKontinent lebt seinen Problemen entgegen.

Das ist ja das Bequeme an der Staatsverschuldung: Siedämpft die sozialen Konflikte, sie entschärft den politischenDisput, sie schafft jene zunächst rauschenden und später nurnoch bescheidenen Erfolge des Augenblicks. Der Verände-rungsdruck verschwindet nicht, aber er wird nicht mehr alssolcher wahrgenommen. Die Politiker brauchen nicht umzu-schulen, sie können sich wie bisher als Familienförderer, Kin-derfreunde oder Technologieliebhaber in Szene setzen. Sieverkaufen dem Volk eine Zukunft, die es auch dank ihrer Mit-hilfe so nicht geben wird. Vor allem aber helfen sie mit, eineWohlstandsillusion zu verlängern. Die ökonomischen Folgender Verschuldung sind kalkulierbar. Die gesellschaftlichenFolgen sind es nicht.

Die neue Ehrlichkeit

Wer der Gefahr entkommen will, muss sie zunächst erkennen.Vergleichbar dem Bemühen der frühen Umweltschützer gilt esdaher, den Kampf gegen eine widrige Wirklichkeit mit demSichtbarmachen derselben zu beginnen. Die Umweltschützervon einst sorgten dafür, dass neben den Bilanzen der Finanz-buchhalter erstmals auch Schadstoff-, Energie- und Abfall-bilanzen verfasst wurden. Der bis dahin unsichtbare Ressour-cenverzehr wurde sichtbar und erst dadurch der Steuerung

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zugänglich. Eine gänzlich neue Form der Bilanzierung ent-stand. Die Umwelt bekam einen öffentlichen Stellenwert,lange bevor sie auch einen Preis bekam. Das Wort Nachhaltig-keit feierte seine vielbeachtete Premiere.

Die Menschen staunten und spotteten über die Ökos der ers-ten Stunde. Aber sie horchten zugleich auf, sie begriffenschnell und begannen, erst ihr Leben und dann das ihrer Staatenund Firmen neu auszurichten. Sterbende Flüsse, pestizidge-tränktes Obst und schwefelhaltige Luft waren eben noch eineallseits akzeptierte Begleiterscheinung des modernen Wirt-schaftens, bevor man sie fast über Nacht als Skandal empfand.Was gestern noch als stinkende Beimischung des Industriezeit-alters billigend in Kauf genommen wurde, galt nun als inakzep-tabel.

Nicht nur die große Politik geriet unter Veränderungsdruck,auch die Menschen selbst reformierten sich. Eben noch hattenviele Völker Europas, die Deutschen vorneweg, ihre Wasch-maschinen am Ortsausgang entsorgt. Bananenschalen, Ziga-rettenstummel und Bierdosen fanden den Weg aus dem halbgeöffneten Autofenster, bis die neue Lektion gelernt war. Dasgetrennte Sammeln von Müll kam in Mode, in die Heizungenwurden automatische Temperaturregler eingeschraubt, dieWärmedämmung rückte ins Zentrum des Baugeschehens, aufden Dächern wurden die ersten bläulich glitzernden Solaran-lagen bestaunt und begafft, als seien die Außerirdischen dortgelandet. Umweltschutz, eben noch als kostentreibende Ange-legenheit empfunden, wurde zur Sehnsuchtsvokabel breiterBevölkerungsschichten. Die Auflagen und Restriktionen, diedas neue Umweltbewusstsein auch bedeutete, wurden baldnicht mehr als Zumutung von der Politik an die Bevölkerungverstanden, sondern ergingen als Forderung von der Bevölke-rung an die Politik. In allen Ländern schössen Naturschutzge-setze wie Keimlinge aus dem Boden, Müll- und Energiekon-zepte wurden zuhauf vorgelegt; Sonne, Wihd und Biomasse

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gelten seither als die neue Energiereserve der Erde. Bis dahinunbekannte Worte hielten Einzug in den Sprachgebrauch, Re-cycling und Energiesparmaßnahme zum Beispiel. Der Kataly-sator tauchte auf und blieb. Neue Parteien wurden geboren, dieihre Eltern noch im Kreißsaal als »die Etablierten« beschimpf-ten.

Ausgerechnet eine zutiefst romantische Bewegung, derenfrühe Führungsfiguren durch eine zum Teil unerträgliche Weit-abgewandtheit auffielen, hat die Welt verändert, was nurwenige Staatsmänner von sich behaupten können. HelmutSchmidt hieß der deutsche Kanzler jener Jahre, der es gernhörte, wenn man ihn einen »Macher« rief. Valery Giscardd'Estaing war der französische Präsident, der sich viel auf seineIntellektualität zugute hielt. In Amerika versuchte ein Erdnuss-farmer namens Jimmy Carter sich Geltung zu verschaffen.Aber die Geschichte dieser Zeit haben andere geschrieben.Ausgerechnet jener Menschenschlag, der sich selbst als »alter-nativ« bezeichnete und mit oft unversöhnlichem Ton die Ver-söhnung von Mensch und Natur einforderte, lieferte ein politi-sches Meisterstück von bleibendem Wert. Es bestand nicht imBessermachen, sondern in erster Linie im Nichtakzeptierendessen, was bis dahin allgemein akzeptiert war. Mit ihrenzuweilen schlechten Manieren, einem oft klebrigen Pathos,der eifernden Art haben sie den Schleier zerschnitten, den dieWohlstandsgesellschaft so sorgfältig über ihre Schattenseitenausgebreitet hatte. Diese politische Bewegung hat den Mantelder Geschichte nicht erhascht, sondern selbst genäht. Die einenwaren Kanzler und Präsidenten. Aber die geschichtsmächtigeKraft waren die anderen.

Europa täte gut daran, die anhaltende Schuldenfinanzierungseines Gemeinwesens als einen Vorgang von ähnlicher Trag-weite zu begreifen wie den Umweltfrevel der frühen Jahre.Wieder handelt es sich um Raubbau, nur diesmal an uns selbst.Erneut wird Schindluder mit der Zukunft getrieben, auch wenn

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man die Zerstörung diesmal nicht schmecken und nicht rie-chen kann. Und wieder trifft man auf jene Zeitgenossen, denenschlicht die Vorstellungskraft dafür fehlt, dass eine Bevölke-rung, die zunächst nicht mehr als ihr Bewusstsein von derWirklichkeit verändert, später auch die Wirklichkeit selbstverändern wird. Die am häufigsten unterschätzte Produktiv-kraft der Völker ist ihre Willenskraft, die, einmal geweckt,Großes und Großartiges zuwege bringen kann.

Die Staatsverschuldung hätte es verdient, dass sich eineneue Generation von Sturköpfen an ihr festbeißt. Wieder malkönnte sich eine politische Kreativität entladen, die von ihrenGegnern zunächst als leicht verrückt gebrandmarkt würde,bevor man den Verrückten in gebotenem Zeitabstand dasgroße Verdienstkreuz andienen müsste. Als Erstes gehörte dievolkswirtschaftliche Gesamtrechnung, unser bisheriger Wohl-stands- und Glücksindikator, reformiert oder besser gleich aus-sortiert, damit Neues an seine Stelle treten kann. Das Volkmuss in die Lage versetzt werden, einen ungetrübten Blick insInnerste der Volkswirtschaft zu werfen. Millionen Menschenwerden ernüchtert und erschrocken sein, womöglich auchüber die eigene Maßlosigkeit der vergangenen Jahrzehnte.

Vorbild Reichsnotopfer,Die Wende zum Weniger

Staatsschulden gab es zu allen Zeiten, aber sie fielen nicht zuallen Zeiten derart hoch aus wie heute. Die europäischenMonarchen beispielsweise waren solider als ihr Ruf. Die fran-zösische Staatsschuld im 16. Jahrhundert betrug, gemessen amNationaleinkommen, nur ein Drittel der heutigen. Die Ver-schuldung der englischen Krone war bis ins 17. Jahrhundertunbedeutend. Erst danach kam es immer wieder zu Spitzen-werten auf der Schuldenskala, meist bedingt durch die Kriegs-

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Vorbild Reichsnotopfer. Die Wende zum Weniger 303

führung. War die Völkerschlacht beendet, setzte der Schulden-abbau ein. Großbritannien und die USA lebten fast das ge-samte 19. Jahrhundert hindurch mit einem ausgeglichenenStaatshaushalt.

Frankreich und Deutschland waren zwar mit Beginn desIndustriezeitalters weniger sparsam als Briten und Amerika-ner, aber auch weniger maßlos als ihre heutigen Nachfahren.Erst in den beiden Weltkriegen schössen die Defizite überallim Westen fast senkrecht in den Himmel. Doch auch diesmalgelang der Schuldenabbau, kaum dass die Kampfhandlungenbeendet waren. Europa fand zurück zur Normalität einergemäßigten Kreditfinanzierung.

Der Beginn des modernen Schuldenstaats datiert nahezuüberall in Europa in den 70er und 80er Jahren. Die Globalisie-rung begann ihren Siegeszug, die Ölpreise kletterten, dasKapital sah sich weltweit nach den günstigsten Investitions-standorten um, die Sozialstaaten litten unter der Last der vonnun an steigenden Arbeitslosigkeit. Da kam der Staatskreditals gebräuchliches Finanzierungsinstrument in Mode. DerBrite John Maynard Keynes hatte es in den 30er Jahren emp-fohlen, um damit eine erlahmte Volkswirtschaft wieder aufTrab zu bringen. Für Keynes blieb die staatliche Kreditfinan-zierung zeitlebens »eine aus der Verzweiflung resultierendeNotmaßnahme«. Wähler und Gewählte aber fanden Gefallenan dem Leben auf Pump. Sie feierten in fast allen Länderndes Westens rauschende Feste auf Kosten künftiger Generatio-nen.

Es gibt drei Möglichkeiten, um die Schuldenlast loszuwer-den. Krieg führen ist eine davon. Die Eroberung fremder Ter-ritorien, die mit Raub und Ausbeutung der Einheimischen ein-herging, war den Banken die liebste Form der Tilgung. DieRückzahlung erfolgte nach Ende des Feldzugs aus dem Fundusder Unterworfenen. Das war ein schnelles und aus Sicht derKreditgeber blitzsauberes Geschäft. Großbritanniens König

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Georg III. sprach in großer Offenheit von den »Kreditkriegen«,die es im Interesse solider Staatsfinanzen zu führen galt.

Die zweite Möglichkeit der Schuldentilgung ist wenigermartialisch, obwohl auch hier Opfer zu kalkulieren sind. Diemehr oder minder gewollte Geldentwertung ist zu allen Zeiteneine gängige Methode des Schuldenabbaus gewesen. Die Staa-ten ließen neue Geldnoten drucken, mit denen sie ihre Zinsenzahlten und zum Teil auch die Tilgung vorantrieben. Die Kauf-kraft des Geldes nimmt dabei Schaden, kleine und große Leutezählen zu den Verlierern, weil ihr Geld mit jedem Tag, an demdie Inflation marschiert, weniger wert wird. Fein raus sind nurdie Besitzer von Goldbarren, Häusern und Ländereien, weildie Geldentwertung ihre Besitzstände verschont. Der Staatallerdings profitiert: Er kann mit Hilfe der Inflation sogar einwahres Wunder vollbringen, wie es sich in den 20er Jahren inDeutschland ereignete. Die Hyperinflation des Jahres 1923hatte die Schulden auf nahezu null reduziert. Die Menschenhungerten und froren, der Finanzminister aber trat schulden-frei vor das Parlament.

Beide Wege des Schuldenabbaus sind den Europäern heuteversperrt. Der Krieg ist geächtet und die Gelddruckmaschinewurde den Politikern genommen. Zu oft hatten sie damitSchindluder getrieben. Die unabhängige Europäische Zentral-bank achtet wie ein Luchs darauf, dass der Geldumlauf sichnur in vertretbaren Dosen erhöht. Die Staaten dürfen sich ver-schulden, aber sie können diese Schulden nicht mehr per Geld-druckmaschine loswerden. Die Notenbanker fühlen sich derPreisstabilität verpflichtet wie der Priester dem Zölibat.

Die dritte Methode, um die Schulden zu reduzieren, ist einhohes Wirtschaftswachstum. Die Defizite können zurückge-führt werden, ohne dass es der Bürger merkt. Von jedem Zu-wachs der Einnahmen wird ohne großes Aufhebens ein Teilfür die Tilgung abgezweigt. Es bleibt noch genug zusätzlicherWohlstand übrig, um alle zu verwöhnen. Lange hatten die Poli-

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tiker gehofft, die Konjunktur würde ihnen diesen Ausweg er-öffnen. Aber sie tat und tut es nicht.

Ohne Lösung der Schuldenfrage aber wird es keine Rück-kehr zur Prosperität geben können. Der Schuldenstaat lässtdem Investitionsstaat derzeit keine Chance, sich zu entfalten.Europas Regierungen können über verstärkte Bildungsinvesti-tionen reden, aber sie können sie nicht bezahlen. Sie alle be-gutachten ihre zerfallende Infrastruktur, ohne dass sie stark ge-nug wären, für Abhilfe zu schaffen.

Da Krieg, Inflation und Superwachstum als Lösungen aus-scheiden, müssen die europäischen Gesellschaften das Pro-blem diesmal aus eigener Kraft stemmen. Die Akteure könntensich dabei von zwei Prinzipien leiten lassen, deren Verwirk-lichung nichts Geringeres bedeuten würde als einen neuenGesellschaftsvertrag. Als Vertragspartner säßen sich das ge-meine Volk, der Staat und die Vermögenden gegenüber.

Zwischen diesen Gruppen wäre zu reden über die wahrenGründe der sich vergrößernden Staatsschuld. Der Staat unddie ihn regierenden Parteien werden einräumen müssen, dasssie jahrelang das Blaue vom Himmel versprachen, ohne dasssie sich um die Einlösung dieser Versprechen mit der gleichenIntensität gekümmert haben. Dem Staat wird am Ende diesesGesprächs nichts anderes übrig bleiben, als seine Ausgabenzu drosseln, um seinen Kredithunger zu dämpfen. Die Sozial-politiker früherer Zeiten können dabei der Gesellschaft nocheinen letzten Dienst erweisen, wenn sie vors Publikum treten,sich zum Irrtum vergangener Jahrzehnte bekennen und sagen:Der heutige Wohlfahrtsstaat untergräbt die Bedingungen, dieer zu seinem Funktionieren braucht. Er schaufelt selbst dasGrab, in das er am Ende hineinplumpsen wird.

Wenn der Rückbau klug und fair vonstatten geht, wird er diewirklich Bedürftigen verschonen. Das Soziale ist in Europanicht verhandelbar. Zu Eigenverantwortung und Selbstvor-sorge kann nur der ermuntert werden, der die Befähigung

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dazu besitzt. Der kleine Rentner kann nicht viel tun, seinematerielle Lage zu verbessern. Dem chronisch Kranken ist esunmöglich, sich noch einmal krumm zu machen. Bei den Bud-gets für Kinder, Schüler und Studenten darf der Staat auch des-halb nicht Hand anlegen, weil diese Gruppen das Wurzelwerkist, über das er morgen und übermorgen mit Energie versorgtwerden soll.

Von vielen anderen, den Arbeitsfähigen, aber nicht Arbeits-willigen, vor allem von jenen Jugendlichen und jungenErwachsenen, die sich ohne Not in staatliche Obhut begebenhaben, wird ein Neustart verlangt werden müssen. Nichtstunbei vollem Lohnausgleich wird es für sie nicht mehr gebenkönnen. Der in vielen Ländern Europas eingeführte Kombi-lohn aus Sozialgeld und Schwarzarbeiterlohn muss wieder andie Ränder der Gesellschaft zurückgedrückt werden, von wo ersich in die Mitte vorgeschoben hat. Was als Kavaliersdelikt be-gann, wuchs sich zur Bedrohung für den Leistungswillen desEinzelnen und die Leistungskraft des Ganzen aus. Es gibt einRecht auf Faulheit und es gibt ein Recht auf staatliche Unter-stützung, aber beides darf miteinander nicht kombinierbarsein. Der Faule ist dem Staat auch weiterhin lieb, aber nichtmehr teuer. Wer anderes verspricht oder fordert, ist dem Sozi-alstaat nicht wohlgesonnen.

Auch die berufstätigen Mittelschichten, jene Menschenalso, die in der Lage sind, den Rückzug des Staats durch eineeigene Kraftanstrengung auszugleichen, müssen mit Ein-schnitten rechnen. Die Fülle von staatlichen Sozialleistungen,die sie bekommen, derer sie aber nicht bedürfen, wird zusam-menschmelzen müssen. Es gibt viele Fragen und die Zeit rücktnäher, da auf sie eine Antwort erfolgen wird: Warum wird dasKindergeld an alle ausbezahlt, auch an die Gutverdiener? Wie-so bekommt man es auch dann ausgezahlt, wenn Sohn oderTochter längst in den Mittzwanzigern sind? Weshalb fordertder Staat mittels Ehegattensplitting die kinderlose Ehe mit

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Milliardenbeträgen, obwohl doch der Zusammenzug einesPaares Einsparungen bringt und keinerlei Kosten verursacht?Warum sind Kinderkrippen teuer und Universitäten kostenlos?

Die Mittelschicht wird zunächst manches entbehren unddennoch am ehesten vom Zustandekommen dieser Kraftan-strengung profitieren. Die Wende zum Weniger hat für sieeine positive Seite, deren psychologischer Effekt nicht zuunterschätzen ist: Sie tauschen die reduzierten Auszahlungendes Staats gegen seine höhere Verlässlichkeit.

Doch das wird nicht ausreichen. Man kann es drehen undwenden, wie man will: Um die Handlungsfähigkeit des in dieSchuldenfalle geratenen Staats wiederherzustellen, ist dieSparsamkeit der einfachen Menschen eine Voraussetzung,aber nicht die einzige. Soll es zum Abbau der Staatsschuldkommen, werden die Vermögenden dazu einen Beitrag leistenmüssen, der über die bisherige Symbolik hinausgeht. Das Pro-blem der Staatsschuld ist nicht symbolisch, sodass Symbole zuseiner Lösung nicht viel beitragen können. Das ist für dieBetroffenen ärgerlich und nicht wenige werden es ganz undgar inakzeptabel finden. Ihre Steuerlast war schon bisherenorm. Die oberen zehn Prozent des Landes tragen zum Steu-eraufkommen in Deutschland rund 54 Prozent bei, in Frank-reich und England sieht es ähnlich aus. Ein Beitrag dieser Grö-ßenordnung verdient Respekt und keine Beschimpfungen. IhrReichsein verdanken die Reichen keiner Lotterie und nicht derSeeräuberei, sondern in aller Regel beruht es auf einer Leis-tung, die über das Normalmaß deutlich hinausragt. Die An-triebskraft der Vermögenden ist oft enorm, ihre Ideen, ihre Ge-schicklichkeit im Umgang mit Geld und Kunden, sogar ihreSchlitzohrigkeit ist gesellschaftlich erwünscht. Wir habenheute eher zu wenige Schlitzohren als zu viele. Wir solltenihnen den hysterischen Ruf nach mehr irdischer Gerechtigkeitund größerer Gleichheit ersparen. Ohne ihren Reichtum wärenwir alle ärmer. Mit ihren Vermögen, ihrem Ideenvorrat, ihrer

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Willenskraft sind sie die Quelle, aus der Verteilungspolitikeraller Parteien zu schöpfen pflegen.

Dennoch müssen wir ihnen einen Vermögensverlust zu-fügen, der erheblich und daher schmerzhaft ist. Sie verfügennun mal über die einzige ökonomische Ressource, die denGezeitenwechsel unbeschadet überstand. Wer ein glücklichesHändchen besaß, konnte in den vergangenen Jahrzehnten seinVermögen deutlich mehren. Der Vermögensertrag ist heute beivielen aus der Oberschicht höher als das gesamte Vermögender Nachkriegsjahre. Dem Kapital und seinen Eigentümernist das friedliche Wachstum der Weltwirtschaft gut bekom-men. Sie profitieren von jenen Prozessen, unter denen andereleiden. Der Weltfinanzmarkt und der Weltarbeitsmarkt sind fürsie ein großes Geschenk. Die privaten Vermögen der Deut-schen konnten allein in den vergangenen zehn Jahren um über40 Prozent an Wert zulegen.

Millionen von Wohlhabenden sind zusätzlich auch nochErben. Diesen an sie weitergereichten Reichtum verdankensie Vater und Mutter, aber auch dem Funktionieren der sieumgebenden Gesellschaft. Hinzu kommt, dass die Erben durchein Wesensmerkmal miteinander verbunden sind, über das zusprechen gemeinhin als unschicklich gilt. Sie bleiben gernunter sich. Die großen Reichtümer werden mit geradezu natur-gesetzlicher Regelmäßigkeit im oberen Drittel der Gesell-schaft weitergereicht. Reich und reich gesellt sich gern, wes-halb das Erben ein Vorgang ist, der die verschiedenen Teileder Gesellschaften weiter auseinander treibt. In vielen Länderndes Westens wird den privaten Erben daher eine Steuer zuge-mutet, die ihre Betriebsvermögen schont, in die Substanz ihrerprivaten Reichtümer aber eingreift. Eine Rentiersgesellschaftwie die, die sich in Europa ankündigt, wird nicht umhinkom-men, die Erben anzusprechen. Das politische Kunststück be-steht darin, ihnen das Fell zu scheren, ohne es ihnen über dieOhren zu ziehen.

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Vorbild Reichsnotopfer. Die Wende zum Weniger 309

Das historische Vorbild für einen Kraftakt der besonderenArt konzipierte der Zentrumspolitiker und FinanzministerMatthias Erzberger, der unmittelbar nach dem Ende des ErstenWeltkriegs seinen Auftritt hatte. Er fand eine Kassenlage vor,die alles andere als komfortabel war. Die Einnahmen flössenspärlich, der Investitionsbedarf war gewaltig. Die Staatskasseaber war de facto gesprengt, weil es keine Kriegsgewinnegab, mit denen sich die Kriegsschulden begleichen ließen.Allein der Schuldendienst verschlang im ersten Nachkriegs-jahr mehr Geld, als im letzten Jahr vor Kriegsbeginn für diegesamten staatlichen Ausgaben zur Verfügung stand. Der Ver-sailler Vertrag verlangte eine Reparation, die selbst unter Auf-bietung aller Kräfte so nicht zu stemmen war.

Erzberger sorgte erstmals in Deutschland für den Aufbaueiner einheitlichen Reichsfinanzverwaltung und führte dieheutige Einkommenssteuer ein. Damit war die Kleinstaatereiauf dem Gebiet der Staatsfinanzen weitgehend beendet. Allewurden nun zur Kasse gebeten, in größerem Umfang auch dieVermögenden. Erzberger ersann für sie das so genannteReichsnotopfer, das der Tilgung der Kriegsschuld diente.Das Reichsnotopfer war eine Einmalsteuer außerhalb deransonsten gültigen Systematik, in der Grundidee gleicherma-ßen trickreich wie simpel: Die Besitzer von Staatspapierensollten praktisch mit ihrem eigenen Geld ausgezahlt werden.Ausgenommen waren alle betrieblichen Vermögen, denn dieWirtschaft wollte man schließlich ankurbeln und nicht abwür-gen. Zahlbar war das Notopfer über einen Zeitraum von 30Jahren.

Erzbergers vorrangiges Motiv war nicht die Umgestaltungder Gesellschaft, sondern die Beseitigung der alles erdrücken-den Staatsschuld. Hören wir ihm zu, wie er sein »Reichsnotop-fer« am 12. August des Jahres 1919 vor den Abgeordneten derNationalversammlung begründete:

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310 Scheitert Europa? Strategien der Gegenwehr

»Meine Damen und Herren! Das hohe Haus und das deutscheVolk haben das Recht, drei Fragen beantwortet zu erhalten:Was ist? Was muss werden? Und wie muss es werden?

Was ist? Das größte Finanzelend, das die Welt je sehenkonnte oder befürchten musste. Was muss werden? BaldigsteOrdnung unseres gesamten Finanzwesens. Und wie muss eswerden? Neue Wege sind zu gehen, Abschied muss genommenwerden von manchem alten Liebgewonnenen.

Die schwebende Schuld ist das Schmerzens- und Sorgenkindjedes Finanzministers. Wenn man an frühere Zeiten vor demKriege zurückdenkt, wo man mit einer schwebenden Schuldvon nicht einer Milliarde gerechnet hat und wo dann schonSorgen für die Finanzverwaltung aufgetreten sind... glücklicheZeiten! Heute sind es 76 Milliarden. Der erste Schritt auf demWege zur eigentlichen Finanzreform soll das große Vermögens-opfer sein, das von dem Besitz in dieser harten Schicksals-stunde gefordert werden muss. Schon in der Wortprägungkommt die ganze Eigenart der Maßnahme zum Ausdruck.Damit wird sie herausgerückt aus dem Rahmen der übrigenSteuern und aller gewöhnlichen steuerlichen Maßnahmen undihre eigenartige wirtschaftliche und sozialethische Seite ge-kennzeichnet.

Die Gesundung unserer ungeheuer zerrütteten Finanzwirt-schaft und damit die Wiederaufrichtung der Volkswirtschaftkann nur erfolgen, wenn mit großen Mitteln gearbeitet wird.Mit kleinen Medikamenten kann die Krise nicht überwundenwerden, der kranke Finanzkörper nicht geheilt werden. Wirwerden bei der Reform der direkten Dauersteuern bis zurhöchsten Tragfähigkeit gehen, wir werden auch gewaltigeSummen aus den indirekten Steuern herauswirtschaften müs-sen. Das weiß das Volk. Aber man muss sich klar sein, dassder Weg zur Abwicklung dieser Aufgabe nur freigemacht wer-den kann, wenn am Anfang steht eine entschlossene Tat derRegierung und Volksvertretung, eine Tat, welche den eisernen

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Vorbild Reichsnotopfer. Die Wende zum Weniger 311

Willen des ganzen Volkes bekundet, trotz des schweren Falles,den Weg nach oben wiederzufinden, eine Tat, welche zugleichdie feste Bürgschaft dafür bietet, dass der Gedanke der sozia-len Gerechtigkeit im neuen Staate voll zur Wirkung kommt.Eine solche Tat soll das Vermögensopfer sein!«

Erzberger selbst zahlte einen hohen Preis. »Erzverderber« rie-fen ihn die Rechten, die ihn als Gegner früh schon ausgemachthatten. Denn Erzberger unterzeichnete am 11. November 1918an der zusammengebrochenen Westfront den Waffenstill-stand- eine Kapitulation, vor der sich die Militärs gedrückthatten. Bewusst hatte man einen Zivilisten vors Rohr ge-schoben. Erzberger sei »kugelrund, aber nicht kugelfest«,hieß es in einem Hetzartikel aus dem Jahr 1919. Am 26. Au-gust 1921 wurde er bei einem Spaziergang im Schwarzwaldvon zwei Angehörigen des rechtsradikalen Geheimbundes»Organisation Consul« mit mehreren Schüssen niederge-streckt. Deutschnationale Blätter begrüßten das Attentat, dieBevölkerung aber rückte in vielen Städten zu Trauer- und Pro-testmärschen aus. Die galoppierende Inflation ließ das Reichs-notopfer bald schon ins Leere laufen.

Erzbergers Idee aber war damals vernünftig und ist es jetztwieder. Ein Notopfer der Vermögenden hilft heute sogar dop-pelt: Zum einen würde so die Staatsschuld reduziert, was denRegierungen neue Spielräume eröffnet. Zum anderen würdenMillionen Menschen auf diese Art ermuntert, ihrerseits dieAnsprüche an den Staat zurückzuschrauben und im Gegenzugdie Ansprüche an sich selbst zu erhöhen. Das Vermögensopferder Wenigen lässt sich nur rechtfertigen, wenn es mit einemSubventionsverzicht der Vielen einhergeht. Gelänge ein sol-cher Gesellschaftsvertrag, würde das als Signal verstanden.Europa hätte sich vor aller Welt bereit erklärt, die verändertenRealitäten anzuerkennen - mit dem handfesten Ziel, sie zuüberwinden.

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312 Scheitert Europa? Strategien der Gegenwehr

Unrealistisch sei das, sagen die Wohlmeinenden. Naiv, hörtman die anderen murmeln. Dabei ist es in Wahrheit anders-herum: Es ist unrealistisch anzunehmen, der Sozialstaat würdenicht früher oder später seine Versprechen von einst ohnehinkassieren müssen. Er tut es ja heute schon, nur dass er ver-sucht, die Wahrheit in Scheibchen zu portionieren. Nicht min-der naiv ist es zu glauben, die Vermögenden würden ungescho-ren davonkommen. Die Parteipolitiker haben keine andereChance, als auch bei ihnen den Fuß in die Tür zu stellen. DieEntscheidung für einen neuen Gesellschaftsvertrag ist dahernichts anderes als die Beschleunigung und Bewusstmachungeines bisher schleichenden Prozesses. Bleibt es bei all demUnausgesprochenen zwischen Volk und Regierung, bei derverschämten Addition von Zumutungen, steigt der Verdruss,nicht die Motivation. Erst durch Klarheit in der Sache und Be-schleunigung im Tempo lassen sich jene Kraftreserven mobili-sieren, die für den Wiederaufstieg notwendig sind. Auch dannaddieren sich noch die Zumutungen; aber am Ende der Glei-chung könnte eine neue Zuversicht stehen.

Die europäische Idee.Den Primat der Vergangenheit überwinden

Ruinen und Leichen: Auf diesem Grund entstand das neueHaus Europa, das in allem das Gegenteil des alten sein sollte;es wollte friedlich, nicht kriegerisch sein, es versprach Mäßi-gung, wo vorher das Maßlose regiert hatte, es sollte entschleu-nigen und dämpfen, auch den Ehrgeiz, war doch in den Jahr-zehnten zuvor in allen Hauptstädten dampfende Ungeduld zuspüren.

Das erste Ziel war also die Bewältigung der Vergangenheit,was den Architekten ausgesprochen gut gelang. Zwischen deneuropäischen Partnerstaaten ist an Krieg heute nicht mehr zu

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Die europäische Idee 313

denken. Das gestern noch aggressive Europa wurde zum fried-lichsten Kontinent von allen. Selbst als in seinem Südosten, imehemaligen Jugoslawien, das Morden begann, konnte man sichzunächst nicht zur Gewaltanwendung entschließen. Die Ag-gression wurde erstmals in der europäischen Geschichte nichtmit sofortiger Gegenaggression beantwortet. Europa hatte aufbedrückende, man kann auch sagen auf beschämende Weiseseine Friedfertigkeit unter Beweis gestellt.

Wie sehr dieses Europa in seiner Machtstruktur parzelliertist, zeigt sich auch daran, dass es die eine Telefonnummer,die der amerikanische Außenminister Henry Kissinger frühschon von den Europäern verlangte, noch immer nicht gibt.Wer Europa anrufen will, braucht Geduld und diplomatischesGeschick, allein schon, um die richtige Reihenfolge derAnrufe herauszufinden. Beginnt er mit der Pariser Vorwahl,ist in London kein Anschluss unter dieser Nummer, wählt erzunächst nach Berlin durch, scheitert die Rundrufaktion, bevorsie begonnen hat. Beginnt er in Polen, zieht sich der halbeKontinent beleidigt zurück. Das heutige Europa ist in seinerganzen Betriebsamkeit nach innen gerichtet. Kommissionenund Kongresse sind das Mittel zum Zweck; und der Zweck istes, eine Kriegsverhinderungsmaschine in Gang zu halten, wiesie nirgendwo sonst auf der Welt existiert.

Nun hatte man den Menschen gerade in den letzten Jahrendeutlich mehr versprochen: mehr Macht und mehr Wohlstand.Das vereinte Europa sollte zwischen den anderen Mächten derErde einen soliden Mittelplatz einnehmen, was dem Selbstbe-wusstsein der Europäer gut getan hätte. In Zeiten des Um-bruchs war das eine Aussicht, die man mit einigem Recht alskomfortabel bezeichnen dürfte. Der Preis, der dafür zu ent-richten sei, halte sich in Grenzen, wurde gesagt. Zu zahlen seilediglich mit der kleinen, schon etwas rostigen Münze natio-naler Souveränität, die im Zeitalter fortschreitender Globalitätohnehin an Wert verliere. Kurzum: Europa sei das Angebot des

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Jahrhunderts, der passende Schlüssel zu all den prächtigenSchlössern, die nur darauf warten, bewohnt zu werden: Dereuropäische Binnenmarkt, der Sozialraum Europa, die Vertei-digungs- und die Wertegemeinschaft, der Vielvölkerstaat undVielreligionenstaat, das Reich des organisierten Friedens, vondem Jean Monnet so geschwärmt hatte.

Mit einem bunten Strauß erfreulicher Meldungen wurdendie Gutwilligen bei Laune gehalten. Der Binnenmarkt bringeWachstum und Arbeitsplätze, hieß es. Die gemeinsame Wäh-rung, der Euro, auch. Das Europäische Parlament gewinne anEinfluss. Eine gemeinsame Verfassung werde bald schon fürAufbruchstimmung sorgen. Die junge Generation denke euro-päisch. Und tatsächlich haben die Jüngeren die beiden Welt-kriege zwar nicht aus ihrem Gedächtnis gestrichen, sie aberpragmatisch weiter nach hinten gerückt. Die Geschichte wirktnicht länger wie eine Demarkationslinie zwischen den Völ-kern. Heute gibt es eine gelebte europäische Kultur, die inReise- und Essgewohnheiten ihren weithin sichtbaren Aus-druck findet. Florenz, Paris, London, Berlin, Lissabon, Athen,aber auch München, Marseille und Mailand sind heute keinedeutschen, französischen oder italienischen Städte mehr, siesind europäisiert im besten Sinne des Wortes. Uns wärmt esdas Herz, wenn wir an den nun offenen Grenzübergängen daseuropäische Sternenbanner flattern sehen, wo früher Zöllnerund Schäferhunde auf Kundschaft warteten.

Wer also in den vergangenen Jahren ausreichend politischePhantasie besaß, glaubte die Vereinigten Staaten von Europaam Horizont erkennen zu können.

Doch diese Vision ist eine Fata Morgana, die weiter zumHorizont rückt, je näher man sich ihr glaubt. Der BrüsselerHofstaat mit seinen 25 Kabinettchefs und dutzenden Staats-sekretären ist nicht der Nukleus eines neuen Staatswesens.Das Sternenbanner verheißt eine neue Kultur des Miteinander,aber es kündet nicht von einer neuen Staatlichkeit. Die Ge-

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fühle sind den wahren, den messbaren Erfolgen vorausgeeilt.Das Versprechen von Macht und Wohlstand ist bisher nur fürdie Brüsseler Beteiligten in Erfüllung gegangen, weshalb siesich auch als Avantgarde empfinden. Sie lieben das Europades Proporzes, sind wie vernarrt in die nächtlichen Vorberei-tungsrunden und Besprechungen ihrer Arbeitsgruppen. Sichselbst empfinden sie als Teil eines großen Friedenswerks, wasim Angesicht eines Kontinents, dessen Staaten sich jahrhun-dertelang wechselseitig überfallen haben, kein ehrenrührigerGedanke ist. Sie haben ihn nur absolut gesetzt.

Schon die Gründungsväter sahen nicht, dass sich die Gefahrfür ein vereintes Europa beim nächsten Mal aus anderer Rich-tung nähern würde. Sie setzten voraus, was es in Europa bisdahin so reichlich gab: Erfindungsreichtum und Arbeitseifer.Sie gingen davon aus, dass die Wirtschaft im gestrigen Europaimmer am besten funktioniert hatte. Die Kolonialmacht Eng-land und das Hitler-Deutschland fußten auf einer Wirtschafts-kraft, die alle anderen überragte. Die Herrscher und der Dikta-tor hätten ihre Kriege nicht wagen können, wenn hinter derKriegsmaschine nicht eine Wirtschaftsmaschinerie von enor-mer Durchschlagskraft gestanden hätte. So setzten denn auchdie Gründer des heutigen Europa das Ökonomische voraus.Man könnte auch sagen: Sie vergaßen es.

Die wirtschaftliche Bilanz der vergangenen Jahrzehnteeuropäischer Einigung fällt ernüchternd aus. Das Wohlstands-versprechen kann Europa für einen wachsenden Teil seiner Be-völkerung nicht mehr einlösen. 13 Jahre nach Vollendung desBinnenmarkts und vier Jahre nach der Einführung des Eurosind im gesamten heutigen EU-Hoheitsgebiet gut 18 MillionenMenschen arbeitslos.

Dabei hat sich Europa auf keinem Feld so stark engagiertwie auf dem des Wirtschafts- und Währungslebens, sollteman meinen. Von der Montanunion über den Binnenmarkt biszur einheitlichen Währung standen immer die Fragen des Gel-

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des im Mittelpunkt. Ist nicht Europa sogar als das Europa derKonzerne beschimpft worden?

Richtig ist, die Politiker befassten sich viel mit der Wirt-schaft. Aber genauso richtig ist: Diese Beschäftigung war fürsie oft nur Mittel zum Zweck. Der eigentliche, der ursprüng-liche, der alles andere beiseite drängende Sinn auch diesesEngagements war es, an die Stelle der alten Kriegsmaschineeine Kriegsvermeidungsmaschine zu setzen. Es sah nach Wirt-schaftspolitik aus, aber alles zielte darauf ab, Aggressionen zureduzieren. Die Montanunion sollte die Kriegsgegner mitei-nander verbandeln, der Binnenmarkt sie auf ewig zur Vielvöl-kergemeinschaft zusammenschweißen, die Währungsunionden Weg zur politischen Union in Europa freimachen. Es ging,so argumentierte Helmut Kohl in seiner dankenswert direktenArt, nicht in erster Linie um Währungsrelationen, Zinssätzeund Inflationsraten, sondern um eine »Frage von Krieg undFrieden«. Das war ins hohe Regal gegriffen, aber so dachtendamals alle.

Wir schauen heute auf ein Europa der Widersprüchlichkei-ten, das so unmöglich gedeihen kann. Für Steckdosen, Kinder-sitze und Teigwaren gelten die gleichen Normen, nicht aber fürSteuern und Sozialabgaben. Das Schwarzgeld, dessen Abflussdie einen bekämpfen, locken die anderen kunstvoll an. Selbstdie reguläre Wirtschaft schiebt nun die Milliarden hin und her,weil die von Land zu Land unterschiedlichen Grundsätze derUnternehmensbesteuerung sie dazu ermuntern. DieselbenStaatschefs, die auf europäischen Tagungen gern mit feierli-cher Stimme vom geeinten Europa sprechen, liefern sich einheißes Spiel um Investitionen und Arbeitsplätze: Schließt dereine ein Steuerschlupfloch, reißt der andere es auf.

Wie unterm Mikroskop lässt sich die schwindende KraftEuropas bei der Betrachtung des »Lissabon-Prozesses« beob-achten. Das Zentralkomitee der Sozialistischen EinheitsparteiDeutschlands (SED) hatte einst beschlossen, die Bundesrepu-

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blik »zu überholen, ohne einzuholen«. In Lissabon wurde fest-gelegt, dass die Europäische Union bis zum Jahr 2010 der»wettbewerbsfähigste und dynamischste wissensbasierte Wirt-schaftsraum der Welt« werden sollte. Konkrete Wege dahinwurden beschlossen, so sollten alle Staaten unverzüglich ihrenGeldeinsatz für Forschung und Bildung kräftig erhöhen. Min-destens drei Prozent des nationalen Sozialprodukts seien nötig,um gegenüber Amerika und Asien aufzuholen, hieß es.

Danach gab es weitere Beschlüsse, Broschüren wurden ge-druckt, Pressekonferenzen abgehalten und schließlich beauf-tragte man den ehemaligen niederländischen Ministerpräsi-denten Wim Kok, einen Halbzeitbericht abzufassen. Unterder Überschrift »Die Herausforderung annehmen« legte erihn im November 2004 vor, die Ermattung der europäischenEliten wird darin eindrucksvoll dokumentiert. Der Abstand zuden Amerikanern hatte sich vergrößert. 220 der 300 rührendenUnternehmen der Informationstechnologie seien mittlerweilein den USA beheimatet, heißt es da. Asien war den Europäernweit davongezogen. Es sei beiden Konkurrenten gelungen, soWim Kok, »den Abstand zu Europa zu vergrößern«.

So verpasst Europa beide Ziele: Es gibt weniger Macht undweniger Wohlstand. Der Kontinent steht heute relativ schwä-cher da als noch vor zehn Jahren. Noch mehr als dieser Befundverstört die Tatsache, dass keiner darüber diskutieren will.Viele im europäischen Haus empfinden bereits solche Debat-ten als Verstoß gegen die Hausordnung. Sie ahnen, dass dieseDebatte - angesichts ungeklärter Nachbarschaftsverhältnisse -noch einmal zum alten Ausgangspunkt zurückkehren muss,zum Nationalstaat.

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318 Scheitert Europa? Strategien der Gegenwehr

Auf den Nationalstaat kommt es an.Ein Weckruf

Die Vitalität des Nationalstaats ist ungebrochen, die Anmaßun-gen von rechts und die Anfeindungen von links konnten ihmbisher erstaunlich wenig anhaben. Das Nationale gründeterkennbar nicht allein auf seiner Historie, sondern in mindes-tens gleichem Umfang auf dem Leben der jetzigen Generation.Die Wurzeln der Nation sind Alltäglichkeiten ohne Bombast,die Erziehung und die Sprache, der Speisezettel und das Lieder-buch, politische Vorlieben und eine in Teilen noch immergelebte Religiosität. Vor allem anderen aber ist der National-staat bis in unsere Gegenwart hinein der primäre Ort des Politi-schen geblieben. Er ist eine natürliche Autorität, auch wenn erdie Probleme allein nicht lösen kann. Völkerwanderung, Tier-seuchen, Umweltverschmutzung und Kriminalität sind glo-bale Probleme, aber Polizei, Veterinäramt und Umweltbehördefunktionieren national oder sie funktionieren gar nicht.

Das Nationale kommt heute in aller Regel ohne Nationalis-mus aus. Der Stolz auf das Eigene richtet sich nicht mehr auto-matisch gegen die anderen. Man darf Italiener, Brite, Franzoseoder Deutscher sein, ohne zugleich in den Verdacht zu geraten,man sei den anderen Völkern feindlich gesinnt. Der National-staat ist lebendig, auch wenn er heute zu seiner Selbstverge-wisserung nicht ständig die Flagge hisst. Die Menschen wissenoffenbar fein zu unterscheiden zwischen dem notwendigenMaß an Europäisierung und den Anmaßungen, die von dereuropäischen Kapitale ausgehen. Sie akzeptieren die einheit-liche Währung, weil sie praktisch ist. Sie verweigern sich einergemeinsamen Verfassung, weil sie als symbolischer Akt derUnterwerfung gegenüber den Mächtigen in Brüssel verstandenwird. Sie träumen den europäischen Traum, aber sie miss-trauen dem Brüsseler Hofstaat.

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Auf den Nationalstaat kommt es an. Ein Weckruf 319

Viele Bürger beweisen damit ein deutlich besseres Gespürfür die Nation als jene, die in aller Welt das »Selbstbestim-mungsrecht der Völker« fordern, und in derselben Stunde, wodieses Recht sich in einer Nation materialisiert, es ihnen ver-dächtig, ja unheimlich erscheint. Peter Glotz polemisiertefrüh schon gegen das »unbrauchbar gewordene Gefäß desNationalstaats«. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler behauptetmit der ganzen Autorität seiner Zunft, die Völker seien dabei,sich seiner zu entledigen. Er spricht von dem »im Zeitalter derGlobalisierung ohnehin verblassenden Ideal des souveränenNationalstaats«.

Vorsichtshalber nennt er keine Staaten, in denen diese Ver-blassung zu beobachten wäre, denn welche hätten ihm einfal-len können? Das erstarkende, nationalistisch gesinnte Chinasicher nicht. Die in gleicher Weise sich ihrer Nation bewusstenInder, Pakistani, Malaysier, Vietnamesen, Iraner - wohl kaum.Russen und Amerikaner kommen für eine solche Betrachtungebenfalls nicht in Frage. Die ewigen Europakritiker von derbritischen Halbinsel schon gar nicht. Die europamüden Hol-länder und Franzosen, die den Verfassungsentwurf für eineEuropäische Magna Charta trotz eines imposanten Aufgebotsan Pathos seitens ihrer Politiker zurückgewiesen haben? DieDeutschen, die ausweislich aller Umfragen dasselbe getan hät-ten, wenn man ihnen die Möglichkeit zur Volksabstimmungeingeräumt hätte? Kurz gesagt: Da verblasst nichts, da ent-schlummert nichts, da stirbt nichts ab, auch nicht in Europa.Die Nation lebt, wenn auch Gott sei Dank weniger schrill undroh als noch vor 60 Jahren.

Ein Tor, wer die Nation gegen Europa in Stellung bringt.Joschka Fischer hat dieser Versuchung widerstanden. In seinerRede über die »Finalität der europäischen Integration« träumteer von dem einen Parlament und der einen Regierung, diedemokratisch legitimiert von Brüssel aus wirken. Doch auchin diesem Traum war ausreichend Platz für den Nationalstaat

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alter Prägung: »Dies alles wird nicht die Abschaffung desNationalstaats bedeuten«, sagte Fischer auf dem Campus derHumboldt-Universität. »Auch in der europäischen Finalitätwerden wir noch Briten und Deutsche, Franzosen und Polensein.«

Vor allem aber werden wir die europäische Finalität, dieGründung der Vereinigten Staaten von Europa, nur durch denNationalstaat bekommen, niemals gegen ihn. Er ist die MutterEuropas - oder Europas Totengräber. Er kann eine neue Ebeneder Staatlichkeit gewähren oder verhindern, und sei es da-durch, dass er sich gleichgültig zeigt.

Früher wurde der Nationalstaat gefürchtet, weil er alsQuelle großer Grausamkeit aufgefallen war. Er war waffenklir-rend, kraftstrotzend und anmaßend, zwischen sich und demNachbarn zog er eine Grenze aus Hass, die lange Zeit unüber-windbar schien. Heute wird der Nationalstaat von denen, dieihn gestern fürchteten, als Schwächling bezeichnet. Er sei zuklein geraten, um in der globalen Welt als Problemloser beste-hen zu können, sagen sie. Der Berserker von gestern gilt nunals antiquiert, besitzt angeblich nur noch als Folklorevereineine Existenzberechtigung.

Wer so redet, vergisst, dass der Nationalstaat noch immerund womöglich für lange Zeit die einzige legitimierte Machtverkörpert. Wer ihn beiseite schiebt, hat nichts zu gewinnen.Er schafft genau das, was er vorgibt, beseitigen zu wollen: Un-sicherheit und Instabilität. Denn mit denselben Argumentenkönnten wir auch das Wohnen in den eigenen vier Wänden auf-geben und mit den vielen Nachbarn der Stadt in der nächstge-legenen Kongresshalle zusammenziehen. Keine Familie kannglücklich werden nur mit sich allein, so könnte man den Men-schen den Umzug in die Gemeinschaftsunterkunft schmackhaftmachen. Das moderne Zusammenleben sei nun mal größer undkomplexer als das alte Idyll, das doch in Wahrheit keines war.Fanden nicht in der Kleinfamilie die grausamsten Dinge statt,

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die Misshandlung von Frauen, Kindern und Alten, würden wirlistig fragen? War dieses vermeintliche Idyll nicht in Wahrheiteine kulturelle Begrenzung, die fast zwangsläufig zur Eng-stirnigkeit führte, würden wir ihnen einzureden versuchen.

Mit solchen Propagandareden wurden im deutschen Ostenerst das Gesellschaftsleben und dann die Landwirte zwangs-kollektiviert. Im Westen wurden nach ähnlichem Muster inden Wohngemeinschaften die Türen ausgehängt und in denDörfern die Zwergschulen planiert. Die einen wollten diekleine Parzelle, die anderen die kleine Privatheit überwinden,was sich in beiden Fällen als Irrtum erwies. Wir sollten des-halb nicht beleidigt sein, sondern daraus die richtigen Schlüsseziehen, zum Beispiel den, dass der Mensch nur begrenzt alsHerdentier taugt. Er legt Wert auf sein Selbstbestimmungs-recht, die Unverletzlichkeit seiner Wohnung ist ihm heiligund auch die Souveränität seines Staats möchte er erhalten.

Bei den neuen Mitgliedsstaaten Europas, den Ungarn,Polen, Tschechen, Esten, Letten und Slowaken, können wir inErfahrung bringen, wie ausgesprochen lebenslustig der Natio-nalstaat ist. Sie alle sind heilfroh, ihre Sprache und ihr Selbst-bestimmungsrecht zurückerobert zu haben; auch die Familiegehört nun wieder ihnen, ohne dass sie sich dafür gegenübereinem übergeordneten Kollektiv entschuldigen müssen. IhreNationalstaaten empfinden sie keineswegs als antiquiert, son-dern als hochmodern. Sie haben viel zu erzählen über Staaten-verbände, die im Reich der Ideologie geboren wurden. Diewestlichen Grabredner des Nationalstaats sollten ihnen zuhö-ren. Die Leiche, die sie beerdigen wollen, ist putzmunter. Wirsollten es ihr nicht länger verübeln.

Natürlich ist der Nationalstaat nicht hermetisch abgeriegeltvon der Welt. Es gibt Zugluft an allen Ecken. Krankheitsvirennehmen keine Rücksicht auf Passkontrolle und Einfuhrbestim-mung, Drogen und Armutsflüchtlinge strömen genauso hereinwie das internationale Spekulationskapital. Der Nationalstaat

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ist kein Bunker und kein Erdloch, sondern ein Haus mit vielenEingängen. Er ist daher auch der Ausgangspunkt aller Überle-gungen, nicht ihr Endpunkt. Wir mögen ihn, aber wir verehrenihn nicht. Er ist keine Gottheit, die neben sich keine anderenduldet.

Europa braucht selbstbewusste Nationen, die Europa alsChance und nicht als Anmaßung verstehen. Im Moment habenwir beides - zu wenig Europa und zu wenig Nationalstaat. Dereine fühlt sich für die Herausforderung durch die Globalisie-rung nicht mehr und der andere noch nicht zuständig. DieNation macht sich kleiner, als sie ist, derweil die Brüsselereine Stärke zur Schau stellen, die sie in Wahrheit nicht be-sitzen. So treffen die Veränderungen der Globalisierung aufeinen Kontinent, dem das politische Kraftzentrum fehlt. Esbesteht als Idee und als Möglichkeit, aber nicht im wahrenLeben der Völker.

Notwendig wäre die Europäisierung des Nationalstaates, wasnicht seine Überwindung, sondern seine Erweiterung meint.Jürgen Habermas spricht von der »Aufstockung« der nationa-len Identität. Die Nationen müssten anerkennen, dass es unterihnen die Regionen und neben ihnen die »Europäische Union«gibt, die jene Dinge zu regeln versucht, die einer allein nichtstemmen kann. Es geht um den Verzicht der Nation auf das Aus-schließliche, um die Herausbildung einer multiplen Identität,die die bisherige Scheinehe von Nation und Europa beendet.

Europa ist eben nicht der Ersatz des Nationalstaats, sondernsein Partner, zuweilen auch nur sein Erfüllungsgehilfe. Wer dieDinge besser regeln kann als der andere, bekommt das Rechtzum Handeln übertragen. Die Politiker durchstreifen ohnehinnicht selbst die Großstädte auf Verbrecherjagd, sie verhaftennicht und klagen nicht an, und auch das Verurteilen und Weg-sperren übernehmen andere. So wie der Nationalstaat hoheit-liche Aufgaben an Polizei, Staatsanwaltschaft und Richterüberträgt, sollte er auch Europa für sich zu nutzen wissen. Die

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Nation bleibt die einzige Quelle von Staatlichkeit, aber nichtihr alleiniger Vollstrecker. Es kommt nicht zur Abtretung vonHoheitsrechten, wohl aber zu ihrer Übertragung. Die Nationverliert ihre Exklusivität, um im Gegenzug an Durchschlags-kraft zu gewinnen. Die europaweite Verbrecher- und Terroris-tenjagd ist nun mal deutlich effizienter als die kriminalistischeKleinstaaterei, wo der eine den anderen in den Abendnachrich-ten mit den Grausamkeiten des Tages überrascht.

Ausgerechnet eine europäische Wirtschaftspolitik ist bisherüber das Skizzenhafte nicht hinausgekommen. Dabei wäre dieBündelung der ökonomischen Interessen das Einzige, was imWeltkrieg um Wohlstand schnellen Erfolg verspricht. EineForschungspolitik, die weltweite Spitzenleistungen hervor-bringt, ist heute nur europäisch vorstellbar. Der Rückfall innationale Industriepolitik kann nur auf europäischer Ebeneverhindert werden. Gegenüber den mächtigen Rivalen in Über-see hat Europa eine Stimme oder gar keine. In der Welthan-delsorganisation sitzen die nationalen Minister ohnehin nurnoch als Zaungäste dabei.

Gesucht werden also Politiker, die bereit sind, über dasNationale hinauszugehen, ohne es zu verraten. Fragen von his-torischer Dimension warten auf ihre Beantwortung: Wie kanneine wirksame Außenvertretung funktionieren, die mehr zubieten hat als der Grüßaugust, den man heute als Kommissarfür die Außenpolitik bezeichnet? Wie vertreibt man die grauenGesellen des europäischen Bürokratismus, die bisher alsKräfte der wirtschaftlichen Entschleunigung wirkten? Waswäre zu tun, um die industriellen Kapazitäten Europas zu kon-zentrieren, damit sie international mithalten können? Wie las-sen sich gemeinsam die ins Rutschen geratenen Grundlagender europäischen Staatsfinanzierung neu befestigen? WelchesRegime an den Außengrenzen der EU ist notwendig, um denMitgliedernationen, ihren Firmen und deren Belegschaftenjenen Schutz zu bieten, den sie zu Recht erwarten?

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Der Sozialstaat ist tot. Es lebe der Sozialstaati

Niemand braucht Krokodilstränen um den Sozialstaat zu wei-nen. Zur Mutlosigkeit besteht kein Anlass, auch wenn esschick ist, das Gegenteil zu behaupten. Der Minimalstaat alsAntwort auf die Globalisierung ist eine Möglichkeit, aberkeine Zwangsläufigkeit. Die Globalisierung hält Europa nichtdavon ab, einen Wohlfahrtsstaat nach eigenem Gusto zu unter-halten. Er kann dicker oder dünner sein, großzügiger oder eherkleinlich; niemand wird es den Europäern verbieten oder auchnur verleiden, ihren Wohlfahrtsstaat auf alle nur denkbarenLebensbereiche auszuweiten. Das Gesundheitssystem kannteuer oder billig, privat oder staatlich organisiert sein, undselbst wenn die EU-Kommission morgen auf die Idee käme,Salbeitee, Wadenwickel und den Besuch eines Yogakurses fürjedermann verbindlich vorzuschreiben, wäre dagegen man-ches in Stellung zu bringen - aber nicht die Globalisierung.

Die globalisierte Welt wirkt nicht in jeder Hinsicht wie einNormierungsinstitut, das allen Völkern die Gleichheit im Zielverordnet. Die Gesellschaften können viel Benzin verbrau-chen, wie die Amerikaner, oder sparsam damit wirtschaften,wie die Deutschen; sie können in ihr Gesundheitssystem sie-ben Prozent des Nationaleinkommens pumpen, wie die Eng-länder es tun - oder deutlich mehr, wie es die Deutschen fürrichtig halten. Wichtig sind nicht die Produkte, für die dasGeld ausgegeben wird. Es ist der Volkswirtschaft herzlichegal, ob ein Volk mehrheitlich den Zug oder das Flugzeugbenutzt, ob es sich schöne Häuser baut oder für dasselbe GeldHeerscharen von Altenpflegern und Masseuren unterhält. DasAufbringen der Gelder, nicht ihre Verwendung macht denUnterschied.

Da nämlich ist die globalisierte Welt streng und fast schondiktatorisch in ihren Methoden. Sie gestattet es den National-

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Der Sozialstaat ist tot. Es lebe der Sozialstaat! 325

Staaten nur bei Zahlung hoher Strafen, sprich der Inkaufnahmevon Wohlstandsverlusten, ihre alten Finanzierungsmethodenweiter anzuwenden. Die Art der Gelderhebung hat direkteAuswirkungen auf die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapi-tal. Es kommt sofort zu Ausweichreaktionen und Umgehungs-versuchen, weshalb auf dem Feld der Steuern und Abgabenhöchste Alarmstufe herrscht. Wer hier die falschen Impulsesetzt, hat nichts zu gewinnen.

Viele Staaten Europas finanzieren ihre sozialen Sicherungs-systeme seit jeher über Beiträge, die auf das Arbeitseinkom-men aufgeschlagen werden. Dieses Verfahren stammt aus derZeit, als die westlichen Volkswirtschaften sich im Wettbewerbunter Gleichen befanden. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab esArbeit und Arbeiter reichlich; zu jener Zeit, als die europä-ischen Sozialsysteme ausgebaut wurden, herrschte annährendVollbeschäftigung. Was lag näher, als von der Schaffenskraftder Beschäftigten ein paar Prozente abzuzweigen für Rentner,Kriegswitwen und die wenigen Arbeitslosen, die es Ende der60er Jahre gab. Der Sozialstaat war so national wie derArbeitsmarkt. Selbst das Kapital - von dem das Börsensprich-wort sagt, es sei scheu wie ein Reh - machte bis zur Mitte der70er Jahre keine allzu großen Anstalten, sich in die Büsche zuschlagen.

Die sozialstaatlichen Verabredungen von damals sind nochimmer in Kraft, die Bedingungen, unter denen sie eingeführtwurden, aber existieren nicht mehr. Der beitragsfinanzierteSozialstaat verteuert daher nicht - wie so oft behauptet wird -die Arbeit. Das hat er gestern getan. Heute verteuert er aus-schließlich die Arbeit deutscher, französischer und italienischerArbeiter. Die Mobiltelefone aus Korea, die Kühlschränke ausTaiwan und die Computer aus China kennen derartige Auf-schläge auf den Faktor Arbeit nicht, weshalb der beitragsfinan-zierte europäische Sozialstaat für sie ein großes Glück ist. IhreArbeit bleibt unbelastet, ihre Produkte werden dadurch relativ

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verbilligt. Der beitragsfinanzierte Sozialstaat ist das wahr-scheinlich größte Import-Förderungsprogramm, das je ein Staataufgelegt hat. Es lockt die Ausländer und ihre Fabrikate herein,es räumt ihnen Vörzugskonditionen ein, derweil man den eige-nen Herstellern mit geradezu unerbittlicher Härte einen Preis-aufschlag aufbrummt, der viele Unternehmen schon in dieKnie zwang.

Es wäre ein Leichtes, den Vorteil der Importeure zu zerstö-ren und zumindest für Gleichstand zu sorgen. Ein Sozialstaat,der sich im Wesentlichen über Verbrauchssteuern finanzierte,würde In- und Ausländer mit mathematischer Exaktheit gleichbehandeln. Das Automobil aus Korea wird durch die Mehr-wertsteuer genauso verteuert wie die Modelle von Volkswagenund Opel. Die Käufer aller Produkte zahlen den Sozialstaat -und nicht mehr nur die Arbeiter deutscher, französischer oderitalienischer Fabrikate. Kein ausländischer Konzern kann derVerbrauchssteuer ausweichen, es sei denn, er verzichtet aufden Verkauf seiner Produkte. Aber warum sollte er das tun?Er erleidet durch die erhöhte Mehrwertsteuer keinen Nachteil,nur sein bisheriger Vorteil wäre ihm genommen.

Das europäische Wirtschaftskabinett.Politiker aller Länder, vereinigt euch

Bei der Unternehmensbesteuerung herrscht dieselbe Dring-lichkeit. Die Konzerne tragen zur Staatsfinanzierung nichtallzu viel bei. Die Steuersätze schnurren aller Orten zusam-men, die absoluten und relativen Zahlen lassen keinen anderenSchluss zu als diesen: Die Unternehmen ziehen sich aus derStaatsfinanzierung allmählich zurück. Die deutsche Körper-schaftssteuer brachte im gesamten Jahr 2005 nur so viel wiedie Mehrwertsteuer in den ersten sechs Wochen des Jahres.Auch dieses Leiden ist eines, das die Beschwerdeführer sich

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Das europäische Wirtschaftskabinett 327

selbst zugefügt haben. Das in Europa geltende Steuerrecht isteine einzige Einladung an clevere Finanzvorstände und ihreSteueranwälte, den Weg der geringsten Tributzahlung zu be-schreiten. Die Vorstände der Aktiengesellschaften sind per Ge-setz sogar verpflichtet, den Nutzen ihrer Anteilseigner zu meh-ren und Schaden von ihren Firmen abzuhalten. Ihnen ist esverboten, unter Berufung auf Gott und Vaterland hohe Steuernzu zahlen, wenn es dazu Alternativen gibt. Und die gibt esreichlich: Europa ist aus Sicht der Investoren eine großeSteueroase.

Der Wettbewerb der Finanzpolitiker trägt mittlerweile alleZüge einer Selbstzerstörung. Sie überbieten sich bei den An-siedlungshilfen, unterbieten einander bei den Steuersätzenund versprechen investitionswilligen Finnen sogar, ihnen dieFinanzaufsicht in den ersten Jahren vom Hals zu halten. Aus-gerechnet bei der Geldbeschaffung leistet sich Europa eineKleinstaaterei, die verblüffend ist. Der Binnenmarkt kam, dieEinheitswährung trat in Kraft, die Normierung von Produkt-typen und Haftungsrechten ist weit fortgeschritten, nur dieSteuergesetzgebung blieb in nationaler Hand. Die Steuer-hoheit gilt als das zentrale Recht der Nation, weshalb sich dieFinanzminister daran klammern.

Sie wollen nicht begreifen, dass die Globalisierung ihneneinen bösen Streich gespielt hat. Die nationalen Regierungenhaben ihre Steuerhoheit genau dadurch verloren, dass sie sichdaran klammerten. Sie wollten frei entscheiden und könnengenau das nicht mehr tun. Die europäischen Staaten sind heutefrei nur noch nach unten; sie dürfen die Steuern senken, ein-frieren oder abschaffen. Der umgekehrte Weg ist ihnen ver-sperrt. Nur der Souveränitätsverzicht würde sie in die Lageversetzen, neue Souveränität zu erzeugen.

Das freilich ist leichter gesagt als getan. Osteuropa spielt inder Steuerpolitik eine unrühmliche Rolle. Alle Beitrittsstaatenaus dem Beritt des ehemaligen Sowjetimperiums erhalten

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hohe Zuschüsse aus Brüssel, die ihren nationalen HaushaltenLuft zum Atmen verschaffen. Die Polen bekommen doppeltso viel, wie sie einzahlen, Lettland erhält das Vierfache seinesEinsatzes zurück. Das jetzige Europa ist fär sie eine Spielbankmit Gewinngarantie.

Dieses Geld ermuntert die Regierungen, es gegen ihre Spen-der einzusetzen. Da die Staatsfinanzierung in Polen, Ungarnund andernorts auch dank der Brüsseler Zuwendungen schöneExtraeinnahmen verzeichnet, ging man daran, die Unterneh-menssteuern zu senken. So sollen Unternehmer angelockt undabgeworben werden, vor allem solche, die bisher in Westeuropaihre Heimat hatten. Mittlerweile zählen die Unternehmens-steuern in Polen, Ungarn und Lettland zu den niedrigsten derWelt. Die Firmen müssen nur zwischen 15 und 20 Prozent desGewinns an den Fiskus überweisen, derweil in Deutschlanddurchschnittlich 38,3 Prozent des Gewinns dem Staat zustehen.

Lange durchhalten lässt sich eine solche Spreizung derSteuersätze nicht. Eine europäische Firmensteuer ist unaus-weichlich geworden. Die Frage ist nur, wer ihr Schöpfer ist.Wird die Politik sich zu einem Gemeinschaftsakt aufraffenoder wird diese Steuer in einem archaischen Ringen der Staa-ten gegeneinander auf dem Wege des Naturrechts durchge-setzt? Das gemeinsame Vorgehen würde den Staatshaushaltenmutmaßlich besser bekommen als das aggressive Gegeneinan-der, das die Grundlagen der Staatsfinanzierung weiter erodie-ren ließe. Die Bedenken der Osteuropäer, von denen einige dieniedrige Unternehmenssteuer für ihren wichtigsten Wettbe-werbsvorteil halten, müssten zuvor ausgeräumt werden, not-falls mit politischem Druck. Denn die Grundlage ihrer Groß-zügigkeit ist die Naivität des Westens. Sie werden es nichtgerne hören, aber so ist es nun einmal: Sie prassen mit demGeld anderer Leute, was diese ihnen ruhig verübeln sollten.

Natürlich kann die europäische Unternehmensbesteuerungkeine Einheitssteuer sein. Dafür sind die Bedingungen, welche

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die Finnen vorfinden, in Europa zu unterschiedlich. Siemüsste eine Mindeststeuer sein, eine »floor tax«, wie die Ame-rikaner sagen. Der Unterschied zu dem heutigen Steuerwettbe-werb wäre dennoch augenfällig: Jeder Staat könnte fortanmehr verlangen als der andere, aber nicht mehr weniger. DerWettlauf nach unten wäre abgeblasen.

Wer den Handelskrieg verhindern will, rniuss ihnYorbereiten. Strategien einer Gegenwehr

Die Bekämpfung der Demokratie ist bekanntermaßen keinKavaliersdelikt. Die Regierungen unterhalten tausende vonGeheimagenten, die nichts anderes tun sollten, als die offeneGesellschaft vor ihren Feinden zu schützen. Die Regierungenschufen sogar eine Vielzahl von Gesetzen, deren einziger Sinnund Zweck es ist, den Störenfrieden das Leben schwer zumachen. Aus gutem Grund darf nicht jeder unsere Kinderunterrichten, die Verdrehung historischer Tatsachen ist straf-bar, Satire findet da ihre Grenzen, wo sie andere in ihren Per-sönlichkeitsrechten verletzt. Wer das Volk verhetzt und anderezur Gewalt aufruft, darf sich nicht auf die Meinungsfreiheitberufen. Es gibt kein rechtsfreies Hinterland für die erklärtenFeinde der offenen Gesellschaft. Da eben endet die Offenheit.Wir begrenzen sie, um sie zu schützen. Nicht ohne Grund wirdvon der wehrhaften Demokratie gesprochen.

Mit unserer Wirtschaftsordnung gehen wir deutlich lieb-loser um. Das Ritual verlangt zwar, dass sich die Politiker zur»Sozialen Marktwirtschaft« bekennen, aber diesem Bekennt-nis folgt keine vorzeigbare Aktivität. Einen Ordnungsrahmenfür die Globalisierung zu fordern, das gehört zum guten Tonder Parteiprogramme, doch gleich danach folgen die Leer-zeichen. Es scheint, als würde ausgerechnet die wirtschaftlicheOrdnung kampflos preisgegeben. Wobei der größte Gegner der

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sozialen Marktwirtschaft die Bequemlichkeit ihrer Freundeund die Ahnungslosigkeit ihrer Nutznießer ist.

Ein offenbar nur schwer auszuräumendes Missverständnisdient als Entschuldigung für diese Tatenlosigkeit: Die Globali-sierung sei eine Naturgewalt, wird behauptet, ein geschichts-mächtiger Automatismus, eine weltweite Zwangsläufigkeit,der nur Urwaldvölker und totalitäre Regime wie das in Nord-korea entgehen könnten. Sie sei der Rhythmus der Zeit, demman sich nur bei Strafe des eigenen Untergangs entziehendürfe. Wer sich der Globalisierung in den Weg stelle, werdevon ihr in den Staub gedrückt.

Würden wir Terrorismus, Rechtsradikalismus und politischeKorruption mit gleicher Ergebenheit akzeptieren, könnten wirviel Aufwand sparen. Freie Bahn dem Schicksal, würden wiruns gegenseitig zurufen. Die Welt sei nun mal explosiv, ge-walttätig und korrupt, weshalb man sich gar nicht erst dagegenzu stemmen brauche. Die Überwachungskameras auf Flug-häfen, in U-Bahnhöfen und an Ministerien könnten abge-schraubt werden. Den Verfassungsschutz in Köln würde mandem Bundesarchiv in Koblenz zuschlagen.

Als Beleg einer allmächtigen Globalisierung wird die Ohn-macht der nationalen Institutionen angeführt. Die Gewerk-schaften, die Umweltbehörden, die Parteien und ihre Minister,stehen sie nicht alle klein und oft sogar nackt vor dem Publi-kum? Ein kollektives Frösteln setzt ein, das viele als letztesgroßes Gemeinschaftserlebnis erfahren. Das erschlaffte Euro-pa liebt seine Gespenster.

Natürlich haben die nationalen Interessenvertreter, von denGewerkschaften über die Parteien bis zur Handwerksinnung,im Zeitalter der Globalwirtschaft einen Bedeutungsverlust zubeklagen. Aber dieser Bedeutungsverlust ist keine Kapitulati-onsurkunde, die der Weltgeist ausgestellt hat. Wir können ihnauch deuten als eine Aufforderung, über den bisherigen Ak-tionsrahmen hinaus zu denken. Wären die mittelalterlichen

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Zünfte innerhalb der Stadtmauern geblieben, hätte niemandihren Bedeutungsverlust stoppen können. Auch sie hatten dieWahl zwischen Untergang oder Expansion. Mit der Nationwuchs die Nationalökonomie und aus beidem zusammenergab sich die Notwendigkeit für die Interessenvertreter, denneuen Herrschaftsraum zu betreten. Aus den Zünften wurdendie überregionalen Handwerkskammern, aus den örtlichenArbeitervereinen gingen die Gewerkschaften hervor, und baldschon entstanden nationale Parteien. Selbst die Sprache gingden Weg der nationalen Vereinheitlichung. Die Mundartenblieben als Relikt vergangener Zeiten in den Dörfern zurück.

Heute erleben wir, dass die Wirtschaft sich weltweit aus-dehnt, und es klagen diejenigen, die innerhalb des alten Herr-schaftsraumes zurückgeblieben sind. Sie stehen an derSchwelle zu einer neuen, für sie fremden Welt. Sie trauen sichden Schritt über die Schwelle nicht zu. Dabei müssten sie nichtklagen, sie müssen nur den anderen Akteuren folgen, vor allemgedanklich. Denn die Interessen der Beschäftigten sind nichtweniger global als die des Kapitals. Sie müssen heute außer-halb und innerhalb des Nationalstaats vertreten werden undaußerhalb seiner Grenzen deutlich raffinierter, als das bisherder Fall ist.

Die Tarifpolitik ist dafür nur noch bedingt geeignet. Siesetzt die Preise der örtlichen Arbeitskraft fest, nicht die derLohnkonkurrenz in China. Jeder Erfolg am Tariftisch kannsich binnen weniger Wochen in sein Gegenteil verkehren. EinBestellzettel aus China, Indien oder Taiwan reicht aus, dielokale Preisfestsetzung zu umgehen. Denn die Ware Arbeits-kraft wird weltweit gehandelt, nur dass nicht Menschen ver-packt und verschifft werden, sondern Produkte, die nebenPlastik, Blech und Elektronik immer auch geronnene Arbeits-kraft enthalten.

Wer Einfluss nehmen will auf den Preis der Ware Arbeits-kraft und die Bedingungen, unter denen sie antritt, muss seinen

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Aktionsradius erweitern und seine Methoden den neuen Mög-lichkeiten anpassen. Er muss sich, kurz gesagt, vom Tarif- zumHandelspolitiker entwickeln. Denn die Handelspolitik ist dieFortsetzung der Tarifpolitik mit anderen Mitteln. Die Löhnefür einfache Industriearbeit werden derzeit auf dem Welt-arbeitsmarkt festgesetzt. Nur der Handelspolitiker kann dieseArbeitskraft beeinflussen, sie begrenzen oder befördern, siehereinrufen oder bei Bedarf auch vom Verkauf im Inland aus-schließen. Das handelspolitisch aktive Europa ist souverän inseinen Entscheidungen. Der weltweite Drang zum Warenaus-tausch hat es sogar mächtiger gemacht.

Die Tarifpolitiker alten Schlags dagegen sind weitgehendmachtlos, weil ihr Einfluss nur bis zur Landesgrenze reicht.Sie können den inländischen Bossen die Hölle heiß machen,deren ausländische Konkurrenten aber erreichen sie nicht.

Der Handelspolitiker hat einen deutlich längeren Arm. Erentscheidet, ob er seinen Landsleuten tatsächlich den Wett-bewerb mit Lumpenproletariern und Umweltfrevlern zumutenwill. Er ist der Türsteher der Globalwirtschaft. Die Warekommt von sonst woher, aber sie muss an ihm vorbei; dieFlughäfen in Paris, London und Frankfurt, die Seehäfen inRotterdam, Amsterdam und Hamburg sind seine Kontroll-stationen. Wichtig ist hier der Unterschied zwischen Handelund Handelspolitik. Der Händler schaut auf die Welt und siehtden Warenfluss, der sich wie ein Urstrom durch die Kontinenteschiebt. Dieser dürfe von Menschenhand nicht berührt werden,glaubt er, weil das der Fließgeschwindigkeit nicht gut be-kommt. Der Handelspolitiker sieht denselben Strom, doch erverspürt einen politischen Gestaltungsauftrag. Er will nichtzwingend den Handel mehren, wohl aber den Nutzen seinesVolkes. »Managed trade« nennen die Amerikaner diesen Denk-ansatz, gestalteter Handel, was nicht zu verwechseln ist mitProtektionismus. Denn eine Außenhandelsdoktrin, die schüt-zende Zollmauern und strenge Einfuhrquoten vorschreibt, ist

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ähnlich unsinnig und mindestens genauso schädlich wie dieLehre vom unbedingten Freihandel. Die Grandidee der Han-delspolitik ist ja gerade die freie Wahl der Waffen: Der Staatgewährt die Eintrittskarte zum nationalen Marktplatz, und ertut dies zu seinen Bedingungen. Er verlangt Standgebührenoder er lässt es bleiben, vor allem aber erwartet er, dass mansich an die von ihm gesetzten Regeln hält. Er ist nicht dieMarktfrau, die selbst verkauft. Aber der gestrenge Marktwäch-ter ist er schon.

Der Staat sollte sich raushalten aus den Handelsströmen, errichtet nur Unheil an, wenn er sich auch da noch einmischt.Das ist bisher die europäische Position. Wer die Staatskunstunserer Zeit halbwegs richtig einschätzt, muss zugeben: DieBesorgnis ist nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Der Staathat schon häufiger bewiesen, dass er den hohen Erwartungenan ihn nicht gerecht wurde. Der Staat als Manager des interna-tionalen Handels ist kein rundweg wohliger Gedanke.

Aber: Es ist ein notwendiger Gedanke. Denn der Besorgnisliegt ein Irrtum zugrunde, der hier nicht verschwiegen werdensollte, obwohl er von jenen, die sich besonders laut sorgen,gern verschwiegen wird. Der Staat, der sich heraushalten soll,tut das zwar in Europa, aber er tut es nicht in Indien, nicht inSingapur, Japan, Korea und Malaysia und schon gar nicht inChina. Der Staat ist überall da, wo derzeit die rauschendenErfolge gefeiert werden, der große Förderer und Beschützerder Exportindustrien, er organisiert und garantiert jene Be-dingungen, die dazu führen, dass Europa unterboten wird.Der Aufstieg Chinas ist in erster Linie das Werk von Politi-kern, nicht das von Marktkräften. Die Staatsführung hat sicheiner gelenkten Marktwirtschaft verschrieben und westlicheRegierungschefs staunen nicht schlecht, mit welcher Lust undwelchem Wagemut dort das Spiel mit den vielen Unbekanntenbetrieben wird. In Peking und anderswo setzt man auf die»schöpferische Zerstörung« - auch die des Westens.

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»Ein Hauptgünstling des Glücks«.Die Irrtümer des David Ricardo

Wer die Globalisierung nicht erdulden, sondern gestalten will,muss den Glauben an die Freihandelsideologie in sich zerstö-ren. Dies sollte geschehen, ohne den freien Warenaustausch inGrund und Boden zu verdammen. Der Freihandel, also einWarenverkehr ohne Schlagbaum und Zoll, ist als Idee groß-artig, als Möglichkeit eine Verlockung, als Ziel weiterhin er-strebenswert. Nicht zuletzt dem freien Welthandel verdankenEuropa und Amerika ihre imposanten Aufstiege. Der Freihan-del sichert in aller Regel einen Wohlstand, der durch dasGegenteil, die beinharte Abschottung, nicht zu erzielen ist.

Dennoch soll hier vor einem Irrtum gewarnt werden, derauch dann ein Irrtum bleibt, wenn er groß in Mode ist. Es giltdie Lehre vom unbedingten Muss des Freihandels zu wider-legen, die besagt, dass er für alle Völker zu allen Zeiten glei-chermaßen nützlich ist. Es wird keinesfalls jeder, der Handeltreibt, am Ende wohlhabender sein als zuvor. Der Warenaus-tausch, gleichgültig ob zwischen Unternehmen oder Nationen,kann den Wohlstand aller Beteiligten heben. Aber er muss esnicht tun. Er kann ihn sogar senken. Selbst wenn alle sich vondem Handel viel versprechen, wird diese Erwartung nicht mitnaturgesetzlicher Kraft eintreten. Auf den Marktplätzen derWelt werden täglich Verlustgeschäfte abgeschlossen.

Dennoch gilt in den internationalen Wirtschaftsbeziehungenbis heute die Theorie von David Ricardo als eine Art Reli-gionsersatz, die das Gegenteil glauben machen will. Freihan-del bietet demnach eine Gewinngarantie für die Kaufleuteund eine Wohlstandsgarantie für die beteiligten Nationen. Ernützt allen, die sich an ihm beteiligen, sagt Ricardo. SelbstVolkswirtschaften, die kein einziges Produkt günstiger anzu-bieten haben als die anderen, würden von einer regen Handels-

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tätigkeit profitieren. Jeder werde unter Ausnutzung der ihm»von der Natur verliehenen besonderen Fähigkeit« das tun,was er am besten beherrsche. Der einzige Fehler, den ein Staatbegehen könne, sei der, sich dem freien Warenaustausch zuversagen.

Wir müssten uns mit dem Mann nicht näher befassen, wärennicht nahezu alle Politiker des Westens heute Ricardo-Anhän-ger, George W Bush und Tony Blair beispielsweise, mit be-sonderer Inbrunst auch Peter Mandelson, der in Europa dasKommissariat für Handelsfragen leitet. Freihandel fördertautomatisch den Wohlstand, sagt er und sagen heute fast alle.Ricardos Theorie liefert die Grundlage der World Trade Orga-nisation, die den britischen Ökonomen lange Zeit auf ihrerInternetseite mit einer Portraitskizze ehrte. Neidlos muss mananerkennen: Karl Marx gilt vielen als diskreditiert, John M.Keynes und Adam Smith sind wieder anderen suspekt, Ricardoaber hat sich durch die Jahrhunderte hindurch gut gehalten.

Wer die heutige Globalisierung verstehen will, muss sichdaher mit ihm befassen. Vor allem, wer begreifen will, warumdas globale Wirtschaften in den letzten Jahren dem altenKontinent so arg zu schaffen macht, wieso selbst stolzesteExportzahlen keine rechte Schubkraft mehr für die übrigeVolkswirtschaft zu Stande bringen, ist gut beraten, die Hinter-lassenschaft des Nationalökonomen genauer zu begutachten.Schauen wir also hin - erst auf den Mann, dann auf seine Idee.

Der Engländer David Ricardo war ein Börsenspekulantohne akademische Bildung. Er hat die Universität nur als Be-sucher, nie als Student betreten. Seine Schulausbildung mussunter Zugrundelegung heutiger Maßstäbe als schmalspuriggelten. Schon mit 14 Jahren verließ er die Schule, um sichdem Börsenroulette zuzuwenden. Als eines von 17 Kinderndes Finanzmaklers Abraham Israel Ricardo war er erkennbarnicht für die Studierstube, sondern für die Welt der Finanz-akrobaten geboren. Erstmals als sechsjähriger Pimpf stand er

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inmitten eines Börsensaals. Der strenge Vater bildete ihn spä-ter in der eigenen Firma für das Geldgeschäft aus. Ab dem21. Lebensjahr spekulierte der Junior auf eigene Faust.

Da zu jener Zeit erst wenige Aktiengesellschaften notiertwaren, machte Ricardo das Geschäft mit den Staatsanleihenzu seiner Spezialität. Am 18. Juni 1815 erlebte er seinengrößten Triumph, als weit entfernt von London die Schlachtzwischen der britischen Krone und dem französischen Kaisertobte und er den Zuschlag der Westminster-Regierung füreine Kriegsanleihe in zweistelliger Millionenhöhe erhielt. Siewar aufgrund ihres großen Umfangs und der UngewissenSiegeschancen zu günstigem Kurs begeben worden. DerKrieg mit Napoleon hatte schon viele Jahre hinter sich, ohnedass ein Ende in Sicht war. Und dann das: Nur vier Tage nachAuflegen der Anleihe trafen das französische und das bri-tisch-preußische Heer in Waterloo aufeinander, mit dem be-kannten Ergebnis. Napoleons Niederlage beflügelte RicardosAufstieg. Früh schon hatte er, gemessen in heutiger Währung,eine Million Pfund beisammen, der im Laufe seines Spe-kulantenlebens weitere folgten. Ricardo war mit 25 Jahrenbereits ein gemachter Mann, der sich mit Anfang 40 auf sei-nen Landsitz Gatcombe Park in der Grafschaft Gloucester-shire zurückzog.

Später kaufte er sich noch einen Parlamentssitz im briti-schen Unterhaus dazu, was damals unter den Reichen gangund gäbe war. Mal stimmte er mit den Liberalen, mal mit denKonservativen, für die eindeutige Zugehörigkeit zu einer derbeiden Parteien konnte er sich zeitlebens nicht entscheiden.Er warb für Versammlungs- und Meinungsfreiheit genausoleidenschaftlich, wie er gegen Importbeschränkungen zumSchutz der britischen Farmer wetterte. Als der 51 -Jährige über-raschend an einer Entzündung des Mittelohrs starb, hinterließer sieben Kinder und ein Erbe von umgerechnet gut 35 Millio-nen Pfund. Wäre seinerzeit schon eine Fortune-Liste der hun-

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dert reichsten Briten erstellt worden, Ricardo hätte einen Platzauf den vorderen Rängen eingenommen. In einem Brief ausdem Jahr 1802 bezeichnete er sich selbst als »Hauptgünstlingdes Glücks«.

Die Zeitläufe wären über das Glückskind hinweggegangen,hätte er neben dem Geldscheffeln nicht einem merkwürdigenHobby gefrönt. Der junge Mann liebte das Theoretisieren.War sein Tagewerk als Spekulant von großer Hast und der Ab-wesenheit von Tiefsinn geprägt, suchte er im Privaten denAusgleich. Ricardo sinnierte und abstrahierte, er versuchtedie Alltagswelt in Gleichnisse zu packen, die ihm das Verste-hen des großen Ganzen erleichtern sollten. Er war einer jenerEntdecker, die damals ohne Vorwarnung und ohne Vorbildungdie akademische Bühne betraten. Ricardo junior sprang regel-recht hinauf, um seine Sicht der Dinge kundzutun.

Erst legte er sich eine mehr oder minder professionelleMineraliensammlung zu, dann richtete er ein häusliches Laborein, in dem er mit Elektrizität experimentierte. Er war neugie-rig, geltungsbedürftig und überaus schüchtern. »Ich bemühemich, alles Zaghafte und Verschlossene in meinem Charakterzu überwinden«, schrieb er in einem Brief an seine Frau. Daswar der eine Wesenszug. Den anderen verriet er wenig spätereinem Freund: »Ich habe den dringenden Wunsch, etwasPublikationswürdiges hervorzubringen.« Dass er einst alsKlassiker der Nationalökonomie und Begründer der Freihan-delslehre gelten würde, war damals nicht im Geringsten abzu-sehen. Wahrscheinlich wäre Ricardo selbst erstaunt, wie devotihm fast 200 Jahre später viele Gelehrte begegnen. Zeitlebenshat er seine Theorien umgeschrieben und korrigiert, im31. Kapitel seines Standardwerks räumte er freimütig ein,schon des Öfteren Auffassungen vertreten zu haben, die er»nunmehr für irrig halte«. Wahrscheinlich hätte er sein Ideen-gebäude von damals längst selbst über den Haufen gepustet.Nach seinem frühen Tod aber wurde es luftdicht abgeschlos-

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sen und in konserviertem Zustand von einer Generation an dienächste weitergereicht.

Seine Botschaft verpackte er in einfache Gleichnisse. Seineberühmteste Erzählung ging so: Er unterstellte ein »System desvollkommenen freien Handels«, also eine Welt ohne jedenstaatlichen Eingriff, in der England Tuch und Wein produziert.Portugal stellt ebenfalls Wein und Tuch her, beides allerdingszu deutlich günstigeren Bedingungen. Dennoch wird sich derHandel zwischen beiden Volkswirtschaften zum gegenseitigenVorteil entwickeln, sagt Ricardo. Es komme nicht auf denabsoluten Vorteil und die tatsächlichen Preise an, sondern nurauf den vergleichbaren Vorteil und die relativen Preise. Im Fallvon Portugal seien die Verdienstmöglichkeiten beim Exportvon Wein höher als beim Export von Tuch, weil es pro Zeitein-heit mehr Wein als Tuch herstellen könne. Deshalb sei es öko-nomisch klug für die Portugiesen, sich darauf zu konzentrieren:Portugal also produziert Wein für den Export. Im Gegenzugerhält es aus England Tuch, und zwar mehr Tuch, als wenn esden Stoff selbst produziert hätte. Die englischen Tuchherstellerbesitzen zwar keinen absoluten, wohl aber gegenüber der auf-wendigeren Weinherstellung im eigenen Land einen kompara-tiven, das heißt vergleichbaren Vorteil. Der reiche aus, damitder Handel für beide sich lohne, so Ricardo.

Übertragen auf den Radprofi Lance Armstrong bedeutetdas: Der Mann ist ein Weltklasseradler und kann mit seinemSport viel Geld verdienen. Zugleich wäre er ohne Zweifel derschnellste Fahrradkurier der USA, besäße damit einen wei-teren, unschlagbaren Vorteil gegenüber jedermann. Doch derrelative Vorteil des Radsports ist so groß, dass es lohnt, ihnauszukosten. Von dem so verdienten Geld wird Armstrongvernünftigerweise lieber einen Fahrradkurier beschäftigen, alsselbst Briefe und Pakete auszufahren.

Die Welt der internationalen Wirtschaftsbeziehungen aller-dings ist komplexer und widersprüchlicher als von Ricardo

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unterstellt. Sein Werk ist theoretisch im schlimmsten Sinne desWortes. Das von ihm entworfene Modell ist von der Wirklich-keit derart entfremdet, dass es am Ende kaum noch praktischeAussagekraft besitzt. Die neueren Tendenzen der Weltwirt-schaft haben den Abstand sogar weiter vergrößert. Wer eswagt, die Ebene der Abstraktion zu verlassen, gerät immertiefer in Schwierigkeiten. Drei Argumente sind es, die wirRicardo vorhalten müssen.

Erstens: Der Weinexporteur Portugal, der seine Tuchpro-duktion zugunsten des Weinanbaus aufgibt und damit besserfahrt, als wenn er beides herstellt, verstößt gegen seine urei-gensten Interessen. Das wahre Portugal besitzt ein handfestes,durch nichts zu dämpfendes Interesse, den Status als Land derWeinbauern zu verlassen. Wie jeder andere Nationalstaat auchwill es auf die nächsthöhere Stufe des Wirtschaftens klettern,will Industrieprodukte erzeugen und moderne Dienstleistun-gen anbieten. Nur wo im Sortiment eines Landes Außerge-wöhnliches geboten wird, locken auch außerordentliche Han-delsgewinne. Die Akteure im wahren Leben der Nationendenken seit jeher strategisch, deshalb sind sie bereit, auf einenTeil ihrer augenblicklichen Vorteile zu verzichten. Die meistenStaatsführer wissen, dass die von Ricardo empfohlene Arbeits-teilung sie in eine Spezialisierungsfalle tappen lässt, die sie amEnde mit dem Niedergang ihrer Volkswirtschaft bezahlen. Werstehen bleibt, fällt zurück, weil alle anderen sich bewegen. Wersich auf seine komparativen Vorteile verlässt, wird bald garkeine Vorteile mehr besitzen.

Ricardos Modell aber kennt keine Dynamik. Er ging voneinem weltweiten Gleichgewichtszustand aus, was uns nurzeigt, wie wenig er, trotz seiner Börsenerfahrung, von deninneren Antriebskräften einer Volkswirtschaft verstand. Selbstder Staat spielt, seit es Staaten gibt, niemals nur die Rolle desVerwalters, er ist Antreiber, Trainer, und zuweilen versucht er,das entscheidende Tor selbst zu erzielen. Das fängt mit der

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Währungspolitik an, die eine staatliche Notenbank steuert undkontrolliert; das reicht bis zur Technologieforderung, die Men-schen und Firmen befähigen soll, Großes zu denken, zu planenund zu produzieren. Dutzende von Zollämtern, hunderte vonAusfuhrbestimmungen und ein tief gestaffeltes System derstaatlichen Subventionen dienen dem ehrgeizigen Ziel, dieUmtauschverhältnisse im internationalen Handel zum eigenenVorteil zu verändern, was nicht immer gelingt, aber immerwieder probiert wird. Der Handel der Nationen war zu allenZeiten vor allem eins: politisch. Die von Ricardo unterstellteEntstaatlichung der Handelsbeziehungen in einem windstillenWirtschaftsraum gab es zu keiner Zeit.

Der zweite Einwand bezieht sich auf einen Spieler, demRicardo keine eigene Rolle beimaß: das Finanzkapital. DieInvestoren aber denken von Hause aus in absoluten Vorteilen,nicht in relativen. Wer grob sein will, kann es auch so formu-lieren: Die von Ricardo angenommene Logik ist ihnen gänz-lich wesensfremd. Sie betrachten die ganze Welt als ein Land.Sobald das Finanzkapital einen absoluten Vorteil erblickt, undsei er noch so winzig, wird unverzüglich zur Tat geschritten.Auch der Finanzinvestor selbst, der dieses Geld steuert, istnicht mit der Scholle verbunden, auf der er sein Büro betreibt.Er sieht nur aus wie ein Brite oder ein Deutscher, in Wahrheitaber ist er ein Transnationaler. Er sitzt in London, aber erdenkt nicht britisch. Er schaut auf den Eiffelturm in Paris, aufdie Alte Oper in Frankfurt oder auf das Prado-Museum inMadrid, aber sein Instinkt lässt ihn einzig nach Rendite Aus-schau halten.

Wenn in seinem Herzen nationale Gefühle sich regen, hat erseinen Beruf verfehlt. Weltweit, das ist sein Gencode, sucht erdie besten Anlagemöglichkeiten und wird die Portugiesen,wenn sie tatsächlich die gleiche Qualität Tuch billiger als dieEngländer herstellen, nach Kräften unterstützen. Das aber be-deutet, dass die von Ricardo angenommene Symbiose von

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Nation und Finanzkapital im wahren Leben nicht existiert. Wirerinnern uns: Bei Ricardo produzieren die Portugiesen Weinund Tuch günstiger als die Engländer und dennoch konzentrie-ren sie sich am Ende auf den Weinexport, überlassen das Tuchalso den Engländern. Im wahren Wirtschaftsleben sieht esdagegen so aus: Der absolute Kostenvorteil der Portugiesenwürde den Todesstoß für die britische Textilindustrie bedeu-ten. Die unterstellte Arbeitsteilung der Nationen käme auf die-ser Geschäftsgrundlage niemals zustande. Warum sollte sieauch? Die internationalen Investoren würden den Portugiesenunter die Arme greifen und sich von den teuren englischenFabriken binnen kürzester Frist lossagen. Selbst gebürtige Bri-ten würden so und nicht anders handeln. Ihr Nationalschmerz,so er sich meldet, wird mit hohen Bonuszahlungen betäubt.Das Finanzkapital ist keine Filiale der Heilsarmee. Die eng-lische Wirtschaft müsste - und würde - sich nach einer Me-thode umschauen, kostengünstiger als die Portugiesen zu pro-duzieren. Oder aber das Land entdeckt eine andereProduktion, die unzweifelhafte Vorteile gegenüber der portu-giesischen ausweisen kann. Sofort würde das Investorengeldwieder landeinwärts strömen. Das ist ja gerade das Raffinierte(und Grausame) am Weltfinanzsystem, dass es wie ein Bewäs-serungssystem binnen kürzester Zeit die entlegendsten Winkelder Erde überschwemmen oder austrocknen kann. Wo immersich ein fruchtbarer Boden befindet, wird er mit Geld versorgt.Wo immer ein Land seine Vorteile hat verkümmern lassen,herrscht bald schon die große Dürre. Asien wird in diesenTagen überflutet, Afrika dagegen dürstet.

Der dritte Einwand wiegt am schwersten: Da Ricardo dieUnternehmen, die Staaten und das internationale Finanzkapi-tal falsch einschätzte, verwundert es kaum, dass auch seineSchlussfolgerungen nicht mit der Wirklichkeit übereinstim-men. Er sah nur Gewinner, wohin er auch blickte. Wer sicham freien Welthandel beteilige, stehe besser da, als wenn er

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es unterlasse. Wobei er davon ausging, dass geradezu mitnaturgesetzlicher Kraft eine Arbeitsteilung zustande kommt.Dass Portugal den Briten Wein liefern könnte, ohne Tuch zubestellen, kam ihm nicht in den Sinn. Die Handelsbilanzzweier Staaten war bei ihm immer ausgeglichen.

In Wahrheit aber sind Ungleichgewichte in den Handels-beziehungen gang und gäbe. Die Chinesen liefern den Ameri-kanern und den Deutschen mehr, als sie bereit sind zu kaufen.Von einer Arbeitsteilung unter Gleichen kann in der Welt-wirtschaft keine Rede sein. Das globale System der Wirt-schaftsbeziehungen hat sich genau in die entgegengesetzteRichtung entwickelt: Es ist von Asymmetrie gekennzeichnet,der Gleichgewichtszustand, von dem Ricardo träumte, rücktsogar mit jedem Handelstag in weitere Ferne. Die chinesischenExporte nach Amerika übersteigen die Exporte der USA nachChina mittlerweile um das Fünffache.

Auch Länder mit Exportüberschüssen gehören nichtzwangsläufig zu den Siegern des Welthandels. Die Geschichteder deutschen Exporterfolge ist auch eine Geschichte der Nie-derlagen. Denn der Preis für den im Ausland errungenen Titeldes Exportvizeweltmeisters wird im Inland entrichtet. Dieinternationale Wettbewerbsfähigkeit und der Abbau inländi-scher Beschäftigung sind keine Zufälligkeit. Ein Beschäftigternach dem anderen muss das Boot der Volkswirtschaft verlas-sen, damit die anderen, um diesen Ballast befreit, ihr Temposteigern können. Die gute Nachricht: Die vielen Boote einerVölkswirtschaft melden Tempogewinne. Die schlechte: DerStaat ist ohne Unterlass mit Bergungsarbeiten beschäftigt. Inseiner Obhut landen die Gekenterten, also jene Menschen, diedie stolze Exportflotte, der sie gestern noch angehörten, nunvon hinten sehen.

Damit sind wir bei den Ausgabeposten, die neben den Kos-ten für das Herstellen von Tuch und Wein auch noch anfallen,den Zahlungen des Sozialstaats. Die Dauertiefstpreise in den

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Kaufhäusern gehen heute einher mit steigenden Ausgaben fürden staatlichen Wohlfahrtsstaat, der mehr Kundschaft hat, alsihm recht ist. Ausgerechnet die überzeugten Freihändler inEuropa müssen erleben, dass weite Teile ihrer Bevölkerungzu den Verlierern des Welthandels zählen. Politiker und Öko-nomen versuchen diese neue Wirklichkeit mit dem alten Denk-schema zu erfassen, wenn sie den aufstrebenden Staaten diegünstigeren Voraussetzungen für die Industrieproduktion at-testieren. Der Westen müsse sich nun auf die Wissensgesell-schaft konzentrieren, um weiter Gewinner der Globalisierungzu sein. Der Wein wird durch Kinderspielzeug und Textilien,das Tuch durch Software und Arzneimittel ersetzt. Auf dieseArt neu geordnet, so hoffen viele, könnte die alte Theorienoch einmal funktionieren.

Aber sie wird dem Westen diesen Gefallen nicht tun. Es gibtin der globalen Wirtschaftswelt keine naturgesetzliche Ar-beitsteilung, auf die Verlass wäre; kein Gleichgewicht derBeziehungen, das nicht morgen aus der Balance geraten kann.Der von Ricardo behauptete Automatismus zu mehr Wohl-stand ist der kapitalistische Traum, der als Gegenentwurfzum kapitalistischen Albtraum seine Berechtigung hatte, dervon der gleichermaßen automatischen Verelendung handelte.Beide Automatismen haben im Wachzustand keine Chance,zu bestehen.

Selbst das heutige Deutschland, eine der unbestreitbarerfolgreichsten Außenhandelsnationen der Welt, kann nichtlänger als Beleg für Ricardos Thesen dienen. Das Land kauftund verkauft, ist in die Weltwirtschaft so tief integriert wiekaum ein zweites großes Industrieland, die Handelsbilanz istseit jeher positiv, rund ein Viertel aller Beschäftigten lebtdirekt und indirekt von den lebhaften Außenhandelsaktivitä-ten - und dennoch ist kein Anstieg des nationalen Wohlstandszu verzeichnen. Hier soll nicht gegen die Exporterfolge ge-sprochen werden, die ein Segen sind für das Land. Ohne sie

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sähe vieles trüber aus. Aber: Sie heben nicht mehr automatischden Wohlstand der gesamten Nation.

Die höchst unbequeme Schlussfolgerung lautet: Es kommtauf die Bedingungen an, unter denen die Erfolge im Äußerenerrungen werden. In Deutschland wird die Exportfähigkeit derVolkswirtschaft seit längerem mit dem Abbau inländischerBeschäftigung erkauft. Wobei es gleichgültig ist, ob der Ver-lust inländischer Beschäftigung eine Folge von Betriebsver-lagerungen oder von Rationalisierung ist. Fest steht: GroßeExporterfolge und eine im Innern schrumpfende Volkswirt-schaft sind die zwei Seiten einer Medaille.

Versuchen wir Ricardo mit einem Gleichnis beizukommen:Früher waren 100 deutsche Arbeiter und Angestellte mit derErstellung von Autobatterien beschäftigt. Wuchs der Export,kräftigte das auch die Binnenwirtschaft, denn die 100 Beschäf-tigten konnten Lohnsteigerungen für sich erzielen. Ihr Arbeit-geber fuhr einen stattlichen Gewinn ein. Je besser die Ge-schäfte im Äußeren liefen, desto besser war es auch für dieNationalökonomie. Der Arbeitnehmer konsumierte, der Ar-beitgeber investierte.

Heute werden die Batterien von 50 deutschen Beschäftigtenund 50 ausländischen Beschäftigten hergestellt, Letztere arbei-ten zum halben Preis. Die Firma zahlt also nur noch 75 Prozentder Löhne, was der Wettbewerbsfähigkeit enorm gut tut. DerExport brummt wie eh und je. Unter veränderten globalen Be-dingungen hat sich der Batteriehersteller behaupten können.Werfen wir nun einen Blick auf die staatliche und die volks-wirtschaftliche Seite dieser Bilanz: Die 50 überzähligen deut-schen Beschäftigten sind nur zur Hälfte bei anderen Firmenuntergekommen; 25 von ihnen leben nun von staatlichen So-zialleistungen. Die Folge ist, dass der Sozialstaat expandiert,derweil die Binnenwirtschaft im Zuge dieser Entwicklungschrumpft. Nur noch 75 deutsche Beschäftigte sind in Lohnund Brot, 50 in der Batterieherstellung und 25 anderswo.

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Zusammen mit den 25 ausgemusterten ehemaligen Kollegen,deren Kaufkraft mittelfristig nur noch ein Fünftel des letztenLohnes ausmacht, sinkt die Kaufkraft auf 80 Prozent desUrsprünglichen. Eine derart verfasste Wirtschaft kann beiihren Verkäufen im Ausland so erfolgreich sein, wie sie will.Der Binnenmarkt aber wird nie wieder in gleicher Weise pro-fitieren wie früher. Er kann sogar schrumpfen, derweil derAußenhandel zulegt. Denn das Entscheidende sind die Bedin-gungen, unter denen der Außenhandel abgewickelt wird. Unddiese Bedingungen, die Experten sprechen von den »terms oftrade«, haben sich in den vergangenen Jahren zu Ungunstendes Westens verschoben.

Einer Versuchung muss hier widerstanden werden: DieseZahlen sprechen nicht gegen den Freihandel, sehr wohl abergegen Ricardo. Er hat die richtige Grundidee mit falschen Ver-sprechungen verkauft. Er hat eine Möglichkeit zum Muss er-klärt, eine politische Idee zur Religion erhöht. Sein Menschen-bild war von zuweilen liebenswerter Harmlosigkeit geprägt, ersah alle Nationen der Welt »durch ein gemeinsames Band desInteresses« miteinander verbunden, wo doch in Wahrheit einoft gnadenloser Wettbewerb tobt.

Schon zu Lebzeiten war er in die Defensive geraten, was unsdie Schulbücher heute verschweigen. Es sei »beinahe Modesa-che geworden, von Ricardo in herabsetzender Weise zu spre-chen«, klagte bereits 1893 der ihm nahe stehende ÖkonomKnut Wicksell. John Maynard Keynes hatte weniger Mitge-fühl. Er war der Meinung, dass Ricardo eine Bedeutung er-langt habe, die ihm und seinen Überlegungen unangemessensei. Hätte sich die Nationalökonomie anderer Vorbilder be-dient, seufzte er einmal, »um wie viel weiser und reicher wäredie Welt heute«.

Immer wieder schickte Ricardo seinem Modell Erläuterun-gen und Rechtfertigungen hinterher, auch solche, die ihn alsgroßen Träumer überführten. Natürlich sei es für die engli-

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sehen Kapitalisten und auch die englischen Konsumenten vor-teilhaft, wenn angesichts der günstigeren Konditionen imSüden Europas das Kapital und die Arbeit »nach Portugal ver-lagert werden«, räumte er ein. Die Erfahrung zeige jedoch, sofuhr er fort, dass die »natürliche Abneigung jedes Menschen,das Land seiner Geburt und persönlichen Beziehungen zu ver-lassen und sich mit allen seinen eingewurzelten Gewohnheiteneiner fremden Regierung und ungewohnten Gesetzen anzuver-trauen, die Abwanderung von Kapital hemmt«. Leicht melan-cholisch fügte er hinzu: »Diese Gefühle, deren Verschwindenich sehr bedauern würde, bestimmen die meisten Menschenmit Vermögen, sich eher mit einer niedrigeren Profitrate imeigenen Land zu begnügen, als dass sie eine vorteilhaftereAnlage für ihren Reichtum bei fremden Nationen suchen.«

Dass dieser Schwärmer als Kronzeuge westlicher Handels-politik eine so große Rolle spielten konnte, ist nur auf den ers-ten Blick überraschend. Theoretiker der Ökonomie haben ihreBedeutung zu allen Zeiten auch den Interessen zu verdanken,denen sie nutzten. Die Sowjetunion hielt Karl Marx auch dannnoch in Ehren, als weite Teile seiner Theorie von der Verelen-dung des Proletariats bis zum tendenziellen Fall des Unterneh-merprofits durch die Praxis widerlegt waren. Eine Theoriewurde konserviert und ihr Erfinder götzenhaft verehrt, weildas der Legitimation der Sozialistischen Sowjetrepublikenund ihrer Satelliten diente. Keiner hatte so schauerlich-schönvor dem Kapitalismus gewarnt und insbesondere gegen den inMode kommenden Freihandel polemisiert. Wo Ricardo nurLicht sah, konnte Marx ausschließlich Schatten erkennen. Mitjeder Zunahme des Welthandels, so seine Prognose, »wächstdie Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Ent-artung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der vereintenund organisierten Arbeiterklasse«.

Im Westen wurde dasselbe Spiel mit anderen Darstellernaufgeführt. Ricardos harmonische Welt des Gleichgewichts

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verklärte eine Weltwirtschaftsordnung, die so ganz nach demGeschmack der damals Mächtigen war. Die Teilung der Weltin Arm und Reich war demnach ein Naturzustand.

Heute wissen wir es besser: Auch im Westen sind nichtwenige Nationen gut damit gefahren, dem Freihandelsgedan-ken nicht bedingungslos zu folgen. Es war Napoleon, der ausdieser Erkenntnis Schlussfolgerungen zog, so radikal wie kei-ner zuvor. Er verhängte im November 1806 eine Wirtschafts-blockade des weitgehend unter seinem Einfluss stehendeneuropäischen Kontinents gegen Großbritannien. Diese Konti-nentalsperre, eine durch Zoll und Militär gesicherte und durchöffentliche Drohgebärden begleitete Emfuhrbarriere, blieb bis1813 in Kraft.

Das Ergebnis der Kontinentalsperre konnte sich trotz vielerSkurrilitäten sehen lassen. Den Franzosen, aber auch den an-grenzenden Gebieten in Belgien oder dem Saarland tat es er-kennbar gut, eine Weile für sich zu sein. Denn natürlich wur-den die fehlenden Waren aus dem Empire bald schon durcheigene Produktion ersetzt. Da der Wettbewerb hinter denSperranlagen nun weniger scharf geführt wurde, konnten dieFabrikanten das Wichtigste ansammeln, was der Kapitalismusin dieser frühen Stunde zum Wachsen brauchte: Kapital. Diehöheren Preise, die nun für die inländischen Produkte verlangtwurden, waren nichts anderes als eine Sondersteuer zur Indus-trialisierung des Landes. Erst die relativ gesicherten Gewinn-margen, die nicht gleich im Preiskrieg mit den fortgeschrit-tenen Engländern verpulvert werden mussten, sicherten denAusbau des Maschinenparks. Die Kaufkraft der Bürger dientedem Aufbau der eigenen Industrie und nicht mehr der Förde-rung der britischen.

Ohne die Kontinentalsperre hätten sich die ostdeutsche Tex-tilindustrie und die linksrheinische Metallproduktion wohlkaum derart zügig entwickeln können. Vor allem die später zuDeutschland und damals zu Frankreich gehörenden Standorte

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der Metall- und Textilindustrie rund um Aachen, Krefeld undSaarbrücken erlebten einen raschen Aufstieg. Sie waren durchdie Zolllinie gesichert und die Kontinentalsperre hielt ihnendie Engländer vom Leib. Überall in Europa erlebte der Zucker-rübenanbau einen Schub, galt es doch nun, das Zuckerrohr ausden britischen Kolonien zu ersetzen. Seine besondere Förde-rung gilt bis heute. Der europäische Tabakanbau boomte, dieSchnapsbrennerei in Nordhausen, Quedlinburg, Wernigerodeund Richtenberg kam in Fahrt, weil die Tabakplantagen undRumdestillerien Westindiens als Lieferanten nicht mehr zu ge-brauchen waren.

Knapp 30 Jahre nach dem Beginn der Kontinentalsperregründete sich der Deutsche Zollverein, dem dieselbe Ideezugrunde lag wie der heutigen Europäischen Union. Eine Zoll-union entstand, die aus der Ansammlung von Fürstentümernund Herzogtümern schließlich eine politische Einheit formte.Der Deutsche Zollverein nahm die Bismarcksche Reichs-gründung vorweg. Er einte die Kleinstaaten und die König-reiche Bayern und Preußen, auch dadurch, dass er sie vor denüberlegenen Engländern beschützte. Natürlich verteuertensich die Waren hinter der Zollmauer, die vorhandene Kaufkraftwurde in ihrer Fähigkeit, Waren zu erstehen, herabgesetzt. DieSchlussfolgerung aber, dass dies automatisch zu einem Erlah-men der Volkswirtschaft, zu einem Sinken der Produktivität,zum Verlust an Kaufkraft und einem Rückgang des Außenhan-dels führe, wäre grundfalsch. Wer das behauptet, der irrt. Daskann so sein, aber das muss es nicht. Der Deutsche Zollvereinlieferte den Gegenbeweis.

Die bis dahin zersplitterte deutsche Volkswirtschaft fandhinter der Schutzmauer des Zolls erstmals zueinander, manintensivierte die Austauschbeziehungen im Innern, aus Manu-fakturen wurden Fabriken, eine Industrielandschaft entstand,es blühte die Vielfalt der Produkte - und schließlich auch derAußenhandel. Die Kaufkraft fiel nicht, sie stieg an, weil die

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Menschen innerhalb der Zollgrenze sich endlich entfaltenkonnten. Wettbewerb kann beleben, aber er kann, wenn derandere zu stark ist, auch alles erdrücken. Der Wirtschaftswis-senschaftler Sartorius von Waltershausen zog schon in den30er Jahren aus den ihm zugänglichen Erfahrungen einehöchst pragmatische Lehre: Beides, Protektion oder Freihan-del, könne den Wohlstand einer Nation mehren. Der von derPolitik vorgegebene Weg müsse nur »zur jeweiligen Entwick-lungsfähigkeit der Volkswirtschaft« passen.

Wer in Gedanken die letzten anderthalb Jahrhunderte durch-wandert, stellt schnell fest: Der Protektionismus kommt in derMorgenstunde einer Industrie genauso gern zum Einsatz wie inder Abendsonne einer Branche, wenn, wie bei Kohle und Stahl,das Feld der Verfolger zahlreich und mächtig ist. Auch dieNationen unterscheiden sehr wohl, in welchem Stadium sichihre Produktivkräfte befinden. Industrielle Anfänger haltensich aus Prinzip eher geschlossen, in der Blütezeit wird derFreihandel propagiert, im Niedergang gewinnt der Protektio-nismus neue Freunde. Nur England bildet die große Ausnahmevon der Regel, was dem Land nicht gut bekam. Es ist durch denFreihandel groß geworden, weil es als erste Nation moderneProdukte erzeugen konnte. Die Verfolger mussten erst nochgeboren werden. Die aufsteigenden Volkswirtschaften in Ame-rika und Kontinentaleuropa aber holten mächtig auf, auch des-halb, weil sie die Engländer in ihren jeweiligen Inlandsmärktenauf Abstand hielten. Die deutschen und die amerikanischenEinfuhrzölle glichen einer Strafgebühr für die Engländer.Man wollte den Aufbau eigener Industrien fördern und nichtdie Auslastung der britischen gewährleisten.

Auch im fortgeschrittenen Stadium ihrer Leistungsfähigkeitblieben die Verfolgerstaaten stur. Deutsche, Franzosen undAmerikaner nutzten die Freizügigkeit im britischen Imperium,derweil sie sich in ihren Heimatmärkten weiter reserviert zeig-ten. Der durchschnittliche Zollsatz für importierte Industrie-

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waren lag im Jahr 1913 in Deutschland bei 17, in Frankreichbei 20, in den USA bei 44 Prozent, nur in Großbritannienwurde praktisch kein Zoll erhoben. Wahrscheinlich hat Eng-land seinen Abstieg damit selbst beschleunigt. Dutzende vonHistorikern stürzten sich später auf den Wettlauf der frühenIndustrienationen, der für die Angreifer so überaus erfolgreichverlief. Über Ursache und Wirkung der Zollpolitik wird dabeibis heute gestritten. Fest steht aber, dass von 1870 bis 1913Länder mit hohen Zolltarifen zugleich hohe Wachstumsratenaufwiesen, derweil niedrige Zolltarife mit niedrigem Wachs-tum einhergingen.

Ganze Staatenformationen, vorneweg Japan, gefolgt vonTaiwan, Thailand, Singapur und Südkorea, organisierten ihrenAufstieg im Widerspruch zu Ricardos Theorien. Nicht Frei-handel, sondern sanfte Abschottung war ihr Erfolgsrezept.Hinter den nationalen Schutzmauern ließen sie ihre produkti-ven Kerne wachsen, deren Größe mittlerweile derart beeindru-ckend ist, dass viele im Westen von einem asiatischen Wundersprechen. Aber es war kein Wunder. Es war nur die richtigeMischung aus Schutz und Wettbewerb zur richtigen Zeit.Dem werdenden industriellen Leben wurde jene Protektion zu-teil, die auch die frühen Amerikaner für sich in Anspruch nah-men. Wer das Beschützen allerdings als Verschanzen verstehtund im Innern keinen Wettbewerb zulässt, hat seine Chanceverspielt. Das luftdichte Abschotten tötet jedes industrielleLeben, wie am Beispiel der Sowjetunion zu besichtigen war.Deren Plansystem ist abgetreten, und auch ihr SchutzpatronMarx wurde mittlerweile beerdigt. Es ist an der Zeit, auchDavid Ricardo die letzte Ehre zu erweisen.

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Protektion! 351

Protektion!

Wer den Krieg verhindern will, sollte auf ihn vorbereitet sein,lautet die Lehre aus der Geschichte, spätestens seit den altenRömern. Nach 1945 entstand deshalb die Nato als westlichesVerteidigungsbündnis. Ihre Kampfverbände bereiten keinenAngriffskrieg vor, gleichwohl müssen sie das Undenkbaredenken und planen und dann und wann sogar mit Einsatz dro-hen. Wer auch immer eine Lücke in ihrem Waffenarsenal er-blickt, ist verpflichtet, Alarm zu schlagen, selbst auf den Ver-dacht hin, als Kriegstreiber zu gelten.

Es bleibt Helmut Schmidts Verdienst, Ende der 70er Jahredie Aufrüstung der Sowjetunion mit SS-20-Raketen gesehenund in ihrer Bedeutung erkannt zu haben. Der Westen hattediesen Mittelstreckenraketen, die auf Westeuropa gerichtetwaren, nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen. Er war be-droht, auch wenn eine Mehrheit der Deutschen diese Bedro-hung nicht sah und nicht fühlte. Sogar die eigenen Genossenempfanden den Ex-Oberleutnant Schmidt als Übertreiber, undeinige bezichtigten ihn sogar, ein Kriegslüstling zu sein. SeinWerben für Pershing und Cruise Missile wurde von wütendemProtest begleitet. Die Nachrüstung kam, als Schmidt längstgegangen war.

In der heutigen Wirtschaftswelt ist mit dem Auftauchen undErstarken der Wirtschaftsmacht China eine vergleichbareSicherheitslücke entstanden. Die europäischen Freihändlerstehen einer gelenkten Marktwirtschaft gegenüber, auf die siegedanklich nicht vorbereitet sind. Im Weltkrieg um Wohlstandist ein Rivale aufgetaucht, der gewillt ist, das volle Instrumen-tarium staatlicher Protektion für sich zu nutzen. China wirdvon einem Bankensystem bewässert, das nach anderen alsnach Rentabilitätskriterien funktioniert. Die Zölle umgebenganze Industrien wie einen Schutzwall. So will der Schuhex-

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porteur China auf keinen Fall ein Schuhimporteur sein. DerInlandsmarkt wird mit einem 27-prozentigen Preisaufschlagvor jenen Ländern abgesperrt, die noch billiger produzieren.Das geistige Eigentum fremder Firmen dagegen wird mitleichter Hand und ohne Entschädigung enteignet. Die chinesi-sche Währungspolitik wirkt wie eine große Exportsubvention,weil sie die Preise der Ausfuhrware künstlich verbilligt. Chinaversteht es wie kein anderes Land der Welt, über Marktwirt-schaft zu reden und Staatswirtschaft zu betreiben. Die Führungdes Landes folgt erkennbar nicht dem Fixstern des Freihan-dels, auch wenn sie sich in internationalen Verträgen dazu ver-pflichtet hat.

Europa schaut wie gebannt auf das fernöstliche Treiben.Das alte Ideal des unbedingten Freihandels verblasst, ohnedass bisher ein neues an seine Stelle getreten wäre. Es gibt kei-nen Konsens außer den einer kollektiven Empörungskultur,womit die chinesische Staatsführung zu leben gelernt hat.Besucher mahnen faire Handelsbedingungen an, fordern denSchutz geistigen Eigentums, äußern sich kritisch zur Rolleder Währungspolitik. Mit unbewegten Mienen nehmen ChinasStaats- und Regierungschefs das westliche Wehklagen ent-gegen, sie bitten um Verständnis, sie versprechen Abhilfe, umseit anderthalb Jahrzehnten nichts zu unternehmen.

Zu einem Wechsel vom Handel zur Handelspolitik konntesich Europa bisher nicht entschließen. Wer das Wort Protek-tion nur ausspricht, riskiert Verdächtigungen aller Art. DenMännern der Wirtschaft schwillt der Kamm, Politiker rollenmit den Augen. So ist es seit jeher. Aber: So wird es nicht blei-ben. Die neue Zeit dürfte schon bald eine Kurskorrektur er-zwingen. Es geht nicht darum, mit leichter Hand die Festungs-mauern hochzuziehen. Aber es geht darum, ihre Bauteile zufertigen und vorzuzeigen mit dem erklärten Ziel, sie nachMöglichkeit nicht benutzen zu wollen. Europa in seiner heu-tigen Verfassung ist ein wirtschaftspolitischer Pazifist, den

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schon der Gedanke an die eigene Wehrhaftigkeit mit Unwohl-sein erfüllt. Der alte Kontinent hat den Waffen des modernenWirtschaftskriegs abgeschworen, weil man glaubte, der Frei-handel werde im Selbstlauf für Wohlstand und Wachstum sor-gen. So kommt es, dass ausgerechnet jene Kreise aus Wirt-schaft und Wirtschaftspolitik, die sich selbst für hoch rationalund am wenigsten schwärmerisch halten, als die großen Träu-mer vor uns stehen. Was einst über die Totalverweigerer, Frie-densmarschierer und Blockierer von Mutlangen gesagt wurde,trifft auf sie heute auch zu: Sie sind gutmütig und deshalbgefährlich. Sie wissen viel und sind dennoch unfassbar naiv.

Die Frage lautet ja heute nicht: Sollte weltweit der Freihan-del beendet werden? Auch Helmut Schmidt hat nicht die Ent-spannungspolitik beendet und ist gegen die Sowjets ausge-rückt. Die Frage lautet vielmehr: Wann nimmt der Kontinentzur Kenntnis, dass es einen lupenreinen Freihandel nur imDenken europäischer Wirtschaftspolitiker gibt, nicht aber imwahren Leben der Staaten? Die Handelskonditionen sind fürChina eine Frage der Nützlichkeit, nicht des Glaubens. Europatäte gut daran, für Waffengleichheit zu sorgen.

Amerika ist unter dem Druck der Ereignisse längst vomeinst propagierten Ideal abgerückt. Der Staat schützt und för-dert seine Wirtschaft, auch wenn jede Einzelmaßnahme hochumstritten ist. Die Stahlindustrie und die Farmer stehen unterseinem besonderen Schutz, bei Medienunternehmen dürfenAusländer keinen beherrschenden Einfluss gewinnen, dieBetreiber von Hafenanlagen konnten sich erst kürzlich dankeiner Intervention des US-Kongresses eines ausländischenAufkäufers entledigen, die Verletzung von Markenrechtenund Softwareklau wird den Asiaten von höchster Stelle vorge-halten, für die chinesische Textilindustrie wurden Einfuhrquo-ten festgelegt, deren Überschreitung die Zollbehörden auf denPlan ruft. Importe und Exporte sind in den Augen von Demo-kraten und Republikanern keine Naturgewalten, die gottgege-

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ben hineinfluten und hinausschwappen. Die Handelsströmewerden als Produkte des politischen Willens betrachtet, deseigenen und des der anderen.

Der Handelsbeauftragte des US-Präsidenten ist Mitglied desKabinetts. Der Präsident selbst besitzt in Handelsfragen nur eineingeschränktes Mandat, das mitten in der Legislaturperiodeerneuert oder verweigert wird. Die Abgeordneten fordernRechenschaft über die Bedingungen des Welthandels. EineVielzahl von Universitätslehrstühlen und privaten Denkfabri-ken befasst sich praxisnah mit dem Instrumentarium der Han-delspolitik, da sich auch in Wirtschaftsfragen eine multipolareWelt herausgebildet hat. Der neue Finanzminister Henry Paul-son, einst Chef der Investmentbank Goldman Sachs, wurdevom US-Präsidenten zur Wehrhaftigkeit verpflichtet. Paulsonwerde den internationalen Freihandel vorantreiben, sagte Bush,was für ihn auch bedeute, darauf zu achten, »dass sich unsereHandelspartner an die Spielregeln halten«.

Die Kritiker einer Handelspolitik führen vor allem dasPreisargument ins Feld. Eine derartige Politik schade amEnde nur den Verbrauchern, weil die günstigsten Anbieternicht mehr zum Zuge kommen. Wer so spricht, der unter-schlägt, dass die Verbraucher nicht nur nach billigen T-Shirtsund günstiger Elektronik verlangen, sondern auch nach einemeigenen Arbeitsplatz. Hinzu kommt: Selbst die Verbilligungim Laden ist womöglich nicht von Dauer. Gelingt es einemHerstellerland, den Weltmarkt zu dominieren und die Konkur-renz zu vernichten, ist es mit den Dauertiefstpreisen schnellvorbei. Der Verbraucher aber hat an Monopolen und Kartellenkein Interesse, weshalb kluge Handelspolitik immer auchAnti-Monopolpolitik ist. Sie muss den Gedanken des Kartell-rechts, den Ludwig Erhard zum Erhalt der Marktordnung alszwingend ansah, in den internationalen Raum übertragen.Denn die Weltmärkte funktionieren unter dem Diktat von Kar-tellen und Monopolen ähnlich schlecht wie die heimischen.

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Der günstige Preis einer Ware ist immer ein, aber nicht dasalleinige Kriterium für den Handel. Wer den Wohlstand seinerNation (und nicht den des Importeurs) dauerhaft steigern will,muss genauer hinschauen. Die liberale Wirtschaftsordnung istliberal nur innerhalb ihres Ordnungsrahmens. Zu dessenDurchsetzung bedarf sie einer Autorität, die auch abstrafenund kontrollieren darf. Sie muss sich interessieren dürfen fürdas, was auf den Märkten geschieht. Wer liefert da? Zu wel-chen Bedingungen? Wie kam der Preis der Ware zustande?Und welche Gründe zugunsten der heimischen Produktiongibt es außerhalb der Preisliste?

Das Drohen mit Quoten, Zöllen und Einfuhrverboten istdabei wichtiger als der Vollzug. Die internationale Handels-politik gleicht nun mal einem Pokerspiel, wo der eine den an-deren zu übertrumpfen versucht, weil der Friedfertige immerauch der Dumme ist. Wer die Trumpfkarten aus ideologischenGründen beiseite legt, wird die Partie schwerlich für sich ent-scheiden können.

Mit Bedauern wird in Europa bisher das Aussteuern derArbeitskräfte zur Kenntnis genommen. Es ist zu einer merk-würdigen Ungleichzeitigkeit im politischen Handeln gekom-men. Einerseits interessieren sich die Europäer sehr dafür,was jenseits der Landesgrenze mit Luft, Wasser und ihreminvestierten Kapital passiert: Es gibt Umweltschutzabkom-men und Verträge über den Schutz ausländischer Investitio-nen mit mittlerweile über 100 Ländern. Selbst für den Fall,dass irgendwo auf der Welt diese Regeln missachtet werden,bietet jeder westliche Staat seinen Unternehmen eine Ausfall-versicherung an. Das Kapital genießt weltweiten Vollkasko-schutz, es braucht weder Wirbelsturm noch Enteignung zufürchten.

Auch die Inhaber von Finanzkapital waren deutlich erfolg-reicher als die Verkäufer der Ware Arbeit. Sie sorgten für eineenge Kooperation der Börsenaufsichtsämter. Die Wall-Street-

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Banker wollen das ihnen anvertraute Kapital schließlich wach-sen und nicht versickern sehen. Natürlich gibt es weiter Über-treibung und Spekulation, aber es gibt beides weltweit zu dengleichen Bedingungen. Die Finanzmärkte sind nicht perfekt,aber sie sind überall gleichermaßen unvollständig.

Der Staat achtet ebenfalls darauf, dass kein schmutzigesGeld seine Grenzen passiert. Millionen aus Drogenschmuggel,Menschenhandel und illegalen Waffengeschäften wird mitallen Möglichkeiten moderner Kriminalistik nachgespürt. Eswird geschnüffelt und beschlagnahmt, was die Schwarzgeld-verschieber unter Stress setzt. Der Staat gewinnt die Partienicht automatisch, aber er weicht dem Spiel zumindest nichtaus. Er tut, was er kann. Seine Botschaft an die Kriminellenist klar: Seid wachsam, denn wir sind es auch. Es gibt keinrechtsfreies Hinterland.

Selbst bei der Einfuhr von Lebensmitteln wird genau hinge-schaut. Die Lebensmittelgesetze von Vietnam oder Marokkogelten in Vietnam und Marokko und müssen uns nicht weiterinteressieren. Was aber zum Verzehr in Deutschland, Frank-reich und Italien auf den Tisch kommt, regeln die Einfuhrbe-stimmungen. Sie dienen der Protektion, also dem Schutz derheimischen Bürger, weil es einen Konsens darüber gibt, dassErnährung einen Wert und nicht nur einen Preis hat. DerZugang auf nahezu alle sensiblen Märkte ist auf diese Weisereglementiert. Der Verkauf von Arzneimitteln ist nicht insBelieben indischer Pharmakonzerne gestellt. Es gelten fürden Verkauf in Europa die Zulassungsregeln der EU, die vonden nationalen Behörden überprüft werden. Ein Atomkraft-werk vom russischen Tschernobyl-Erbauer hätte nirgendwo inWesteuropa die Chance, eine Zulassung zu erhalten. Automo-bile ohne moderne Katalysatortechnik dürfen auf unserenStraßen nicht fahren. Die Umwelt- und Sicherheitsstandardssetzt aus gutem Grund das Land, in dem die Ware verkauftwerden soll. Entscheidend sind die nationalen Bestimmungen,

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nicht für das Angebot, wohl aber für die Nachfrage - womitdie Nachfrage oft auch das Angebot verändert.

Treffen im Tiefkühlregal Krabben aus der deutschen Nord-see und Shrimps aus China aufeinander, können die Kundenhalbwegs beruhigt sein: Für beide gelten die gleichen Gesetzeüber verbotene Zusatzstoffe. Kühl heißt es in einer Mitteilungder deutschen Zollverwaltung vom 25.11.2005:

Bei verschiedenen aus China eingeführten Lebensmittelnwurde in der Vergangenheit immer wieder das AntibiotikumChloramphenicol festgestellt. Die Mitgliedstaaten der Euro-päischen Gemeinschaft haben deshalb die gewerbliche Ein-fuhr von Erzeugnissen tierischen Ursprungs verboten. EinKontrollbesuch, bei dem Sachverständige der Gemeinschaftvor Ort in China beträchtliche Mängel festgestellt haben, hattezu diesem Verbot geführt. Davon betrojfen sind grundsätzlichalle Erzeugnisse tierischen Ursprungs, die zum menschlichenoder tierischen Verzehr bestimmt sind. Dazu gehören vor allemLebensmittel wie Shrimps, Geflügel, Kaninchenfleisch undauch Honig.

So schützt die Bundesrepublik ihre Landsleute und erzieht ihreLieferanten. Der Kunde entscheidet und da, wo er selbst dieWahl nicht treffen kann, schützt ihn seine Nation, ohne davongroßes Aufhebens zu machen. Ganz selbstverständlich ist esheute so: Der Lebensmittelmarkt steht unter der besonderenProtektion der Europäischen Union.

Nur die Ware Arbeitskraft bildet eine seltsame Ausnahme.Sie unterliegt heute nahezu keiner Bestimmung, für sieherrscht im internationalen Handel ein Kapitalismus der ur-wüchsigen Art. Die eingeführte Arbeit kann so billig sein,wie sie will, sie kann unter menschenverachtenden Bedingun-gen erbracht werden, sie darf alle zu Hause geltenden Stan-dards - von der Arbeitshygiene über die Frauengleichberechti-

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gung bis zum Verbot der Kinderarbeit - großzügig unterbieten,und niemand im Zollamt interessiert sich dafür. Die Arbeits-kraft ist von allen handelbaren Gütern die freieste; sie reistunbehelligt ein, unsere Wert- und Preisvorstellungen sind fürsie suspendiert.

Treffen am Ladentisch zwei Mobiltelefone aufeinander,interessiert sich niemand dafür, dass sie zu unterschiedlichensozialen Bedingungen hergestellt wurden. Das eine enthältalle sozialen Verpflichtungen eines entwickelten Industrielan-des, von der geregelten Arbeitszeit bis zum Mutterschutz. Dasandere entstand zu den Bedingungen der kapitalistischen Ur-gesellschaft, in der die Arbeiter nicht viel mehr Rechte genie-ßen als ein Hofhund. Das klingt links und aufrührerisch, dabeibeschreibt es lediglich die Realität einer globalen Wirtschafts-welt, in der sich die verschiedenen Epochen beim Warenaus-tausch ständig begegnen. Das Zeitalter der Sozialstaaten trifftauf die Ära des Manchester-Kapitalismus und plötzlich sehendie, die sich für modern hielten, ziemlich alt aus.

Vor allem China fällt als Spieler auf, der mit großer Kühleseine Interessen verficht. Erst im Sommer 2006 musste sichdie Europäische Union mit einem neuen chinesischen Zoll-gesetz befassen, das die westliche Autoindustrie zur Total-verlagerung drängt. Demnach wird der Import von Autoteilennach China mit einem 25-prozentigen Strafzoll belegt, wenn esder Hersteller wagt, mehr als 60 Prozent des Wagenwertes aus-wärts fertigen zu lassen. Auf diese Art will die chinesischeFührung die ausländischen Autobauer dazu bringen, ihre Fer-tigung komplett nach China zu verlagern oder beim örtlichenZulieferer zu bestellen. Ein solcher Strafzoll ist in den Re-gularien der Welthandelsorganisation streng verboten, wieüberhaupt jede Vorgabe über die im Inland zu erbringendenWertschöpfungsanteile. China weiß das, setzt aber auf dieLangsamkeit der westlichen Demokratien. Zwischen einemsolchen Regelverstoß und einem offiziellen Beschwerdever-

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Protektion! 359

fahren vor den Gremien der WTO vergehen, wie in diesemFall, mehrere Jahre.

Die Mindeststandards für die Arbeit, die von der Internatio-nalen Arbeitsorganisation in Genf entwickelt wurden, werdenmit der gleichen Kaltblütigkeit ignoriert. Sie sind kein Mussim internationalen Warenverkehr, eher eine unverbindlicheEmpfehlung, weshalb für sie die alte Bürokratenregel gilt:gelesen, gelacht, gelocht. Die EU täte sich selbst den größtenGefallen, würde sie nicht nur den eigenen Bürgern, sondernauch den Regierungen anderer Länder etwas zumuten. DieForderung nach Zulassung freier Gewerkschaften beispiels-weise. Deren Einfluss auf die Arbeitsbedingungen und dieLohnfindung wäre die einzige halbwegs verlässliche Garantiedafür, dass die Löhne der Aufsteigerstaaten zügiger steigen alsbisher. Heute halten die Kommunistische Partei Chinas unddie von ihr kontrollierten Arbeitnehmerorganisationen dieBeschäftigten kurz, auch um die schnellen Exporterfolge fort-setzen zu können. Freie Gewerkschaften wären für den Westendoppelt nützlich - sie entspringen seiner Wertewelt und sindzugleich der Garant für einen Preisanstieg im Weltarbeits-markt, der den Schroffheiten unserer Tage entgegenwirkenkann. Die freie Preisbildung im Weltarbeitsmarkt wird auto-matisch zur Erhöhung der Löhne führen, und auch die Arbeits-bedingungen dürften sich dann schneller annähern. Das Fehleneines Vertragspartners auf der Seite der Lohnempfänger hatdie heutigen Tiefstpreise erst ermöglicht.

In das internationale Regime der Welthandelsorganisationfanden die in Genf formulierten Kernarbeitsnormen bisherkeinen Eingang. Die WTO, die Zitadelle der Freihändler, magsolche Themen nicht. Sie lehnt es bisher ab, über einen ver-traglichen Rahmen für den Weltarbeitsmarkt auch nur zureden. US-Präsident Bill Clinton hatte es zuletzt versucht undwar gescheitert - auch an den Europäern. »Wirtschaft findet inder Wirtschaft statt«, hieß es damals aus Bonn.

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360 Scheitert Europa? Strategien der Gegenwehr

Nun kann niemand im Ernst vom anderen verlangen, ermöge weichen. Die sich entwickelnden Staaten sind nicht inder Lage, zu den Bedingungen der reiferen Nationen zu produ-zieren. Wer das verlangt, könnte auch gleich einen Produkti-onsstopp über China und Indien verhängen. Auf ewig würdendie Aufsteigerstaaten in Armut versinken, was niemand sichauch nur wünschen darf. Andererseits können die reiferenNationen nicht auf das Niveau ihrer Verfolger absinken. Werdas empfiehlt, riskiert soziale Verwerfungen, politische Unru-hen und eine handfeste Wirtschaftskrise, weil die Weltwirt-schaft schrumpfen und nicht wachsen würde. Schon heute istder soziale Stress im Westen erheblich.

Es kommt also darauf an, den grenzüberschreitenden Ver-kehr der Ware Arbeitskraft als politisches Betätigungsfeld zubegreifen. »Auch beim Schutz der Arbeitnehmer bedarf esinternationaler Kooperation«, sagt heute selbst der ehemaligeBundesbankchef Hans Tietmeyer. Denn die Praxis desZuschauens und Durchwinkens ist erkennbar ein schlechtesGeschäft für den Westen. Das Aussteuern der einfachenArbeitnehmer und der Diebstahl geistiger Arbeitsleistunghaben ihn einer Zangenbewegung ausgesetzt. Am unteren undam oberen Ende des Arbeitsmarkts kommt es zu erheblichenWohlstandsverlusten. Die Innovationserlöse sinken, die Sozi-alkosten steigen.

Die bisherige Gesprächstherapie der Europäer mit denAngreiferstaaten hat keine Ergebnisse erbracht, die vorzeigbarwären. Solange der Westen nicht in der Lage ist, seine Wün-sche mit Drohungen und seine Drohungen mit Konsequenzenzu kombinieren, wird er keine Erfolge haben.

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Westintegration 361

Westintegration, Die Idee einer europäisch-amerikanischen Freihandelszone

50 Jahre lang wurde es von vielen bestritten, heute weiß esjedes Kind: Ohne die Nato gäbe es kein freies Europa. Hättedas westliche Verteidigungsbündnis nicht mit großer Ent-schlossenheit immer wieder seine Kampfbomber und Panzer-divisionen vorgezeigt, modernisiert und sie zuweilen auch auf-gestockt, wäre der Sowjetkommunismus nicht implodiert,sondern in Richtung Westen expandiert. Am Ende des KaltenKrieges hatten auch die letzten Skeptiker den Clou der Ge-schichte verstanden: Das Edelste wurde gerade dadurch vertei-digt, dass man zum Grausamsten bereit war. Die Friedenstaubeüberlebte, weil oben auf der Zinne der Falke saß.

Der Weltkrieg um Wohlstand verlangt eine andere, abernicht minder widersprüchliche Antwort. Und wieder fehlt vie-len die Phantasie, sich vorzustellen, dass das Gegenüber ande-ren als friedlichen Zielen nachhängt. Das Irritierende, denWesten in seiner Entschlusskraft Lähmende, ist die Lautlosig-keit des gegnerischen Vorgehens. Es steht in einem auffälligenKontrast zu allem, was wir gewöhnlich einen Konflikt nennen.Zwischen Europa und Amerika auf der einen und Asien aufder anderen Seite wurde bisher nicht gebrüllt, getobt oder ge-schossen, niemand droht, fordert oder klagt an. Es regiert diereinste Freundlichkeit, wohin unsere Politiker und Geschäfts-leute auch reisen. In Peking, Jakarta, Singapur und Neu-Delhiliegen die roten Teppiche ausrollbereit am Flughafen, diewestlichen Hymnen werden bei Bedarf akkurat vorgespieltund selbst die westlichen Klagen über Ideenklau, Umweltzer-störung und Menschenrechtsverletzung parieren die Gastgebermit bewundernswertem Langmut. Die Asiaten sind die freund-lichsten Angreifer der Weltgeschichte.

Ihre Waffe ist die stoische Beharrlichkeit, mit der sie ihre

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Interessen verfolgen und unsere missachten. Es beginnt schonbei der Rangfolge der Wichtigkeiten, die unterschiedlicherkaum sein kann. Was in Asien nach Marktwirtschaft aussieht,folgt in Wahrheit den Regeln einer Gesellschaftsformation, dieLudwig Erhard als »Termitenstaat« bezeichnete. Das Kollek-tiv, nicht das Individuum setzt in ihm die Prioritäten, weistdem Einzelnen auf geheimnisvolle und für den Außenstehen-den kaum nachvollziehbare Weise seine Aufgaben zu, die demhöheren Nutzen der Führung zu dienen haben. So viel Freiheitwie nötig, so viel Kollektiv wie möglich, lautet die Maxime,die genauso unausgesprochen bleibt wie all die anderen Dinge.China ist dem Wortsinne nach eine düstere Großmacht, weilwir nicht fühlen, was sie fühlen, nicht wissen, was sie denken,und nicht einmal ahnen, was sie planen. Es ist eine geschlos-sene Gesellschaft, die sich von niemandem in die Kartenschauen lässt.

Überall in Asien stoßen wir auf eine sehr ähnliche Gleich-gültigkeit gegenüber den westlichen Werten, auch wenn daskeiner so sagen würde. Gerade das Unausgesprochene trenntdie Welten voneinander. Freie Gewerkschaften werden nichtgeschmäht, aber auch nicht zugelassen. Die Umwelt wird alsschützenswertes Gut gepriesen und gleichzeitig wie ein Auto-wrack ausgeschlachtet. Kinderarbeit wird verurteilt und tole-riert. Zum Schutz westlicher Erfindungen gibt es umfang-reiche Gesetze, die nur leider keine Anwendung finden.Alles, was uns wichtig ist, die soziale Umrahmung des Arbeit-salltags beispielsweise, der individuelle Leistungsgedanke undseine Verankerung in der vom Staat garantierten Wettbewerbs-ordnung, wird von den Mitgliedern der asiatischen Elite höf-lich belächelt. Das für uns Elementare ist in ihren Augenbürgerlicher Brokat. In ihrem Denken spielt der Staat (Indien)oder die Partei (China) die entscheidende Rolle als Preisfest-setzer, Technologieforderer, Rohstoffbeschaffer, Schutzpatronund Impulsgeber für wirtschaftliche und politische Aktivitäten

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aller Art. Selbstverständlich kennen auch ihre Gesellschaftenden Interessenausgleich, betreiben einen Prozess des Gebensund Nehmens, aber es sind Staat oder Partei, die bestimmen,was gegeben und was genommen wird. Den triumphalen Er-folg ihrer Exportindustrien empfinden sie als Richterspruchder Geschichte, der keine Berufungsinstanz benötigt.

Amerikaner und Europäer könnten mit der gebotenen Libe-ralität auf das andere Menschenbild und das uns fremde Staats-verständnis blicken, würde es nicht in einer Welt des freienHandels zu enormen Rückkopplungen kommen. Der Westenwird, wo kein Schiedsrichter auf die Einhaltung gleicherRegeln pocht, zur raueren Spielweise ermuntert, gedrängt,zum Teil durch die Verhältnisse regelrecht gezwungen. Will ernicht an jedem Handelstag als Verlierer vom Platz gehen, mussauch er seine Betriebsräte domestizieren, seine Umweltgesetzelockern und die soziale Absicherung stückweise wieder an dieFamilie oder den Einzelnen zurücküberweisen. Der Westenglaubt, er verkaufe Maschinen, Automobile und Flugzeuge.Doch als Beigabe verkauft er mittlerweile auch ein Stück vonsich selbst. Nicht wenige Politiker und Unternehmer sind be-reit, Selbstmord aus Angst vor dem Tode zu begehen.

Dabei wäre mehr Selbstbewusstsein durchaus angebracht.Die Weltgeschichte trifft keine Festlegungen aus sich heraus.Eine Lösung oder doch zumindest Linderung unserer Pro-bleme ist durchaus möglich. Was die Nato im Zeitalter militä-rischer Bedrohung für den Westen bedeutete, könnte im Ange-sicht der ökonomischen Herausforderung eine transatlantischeFreihandelszone leisten. Zwei Wirtschaftszonen, die EU unddie USA, vielleicht noch um Kanada erweitert, würden demSchwinden ihrer jeweiligen Marktmacht durch die Additionder Kräfte entgegenwirken. Gemeinsam bringen Europäerund Amerikaner noch immer einiges Gewicht auf die Waage.Rund 13 Prozent der Menschheit und rund 60 Prozent der heu-tigen Weltwirtschaftskraft stünden bereit, nicht nur als Produ-

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zenten und Konsumenten von Waren, sondern auch als Nach-frager und Anbieter von Werten aufzutreten.

Drei Gründe sind es, die der Idee ihren Charme verleihen,und der erste Grund ist ein politischer. Amerikaner und Euro-päer würden im Licht dieser Kooperation wieder dichter zu-einander rücken. Der kindischen und in Anbetracht der asia-tischen Herausforderung sogar schädlichen Versuchung, sichauf Kosten des jeweils anderen in Pose zu werfen, würde dieGrundlage entzogen. Es gibt viele Gründe, gegen Bush zu sein.Es gibt aber wenige Gründe, gegen Amerika zu sein. Und esgibt viele handfeste Gründe, auch auf ökonomischem Gebietstärker mit der westlichen Führungsmacht zu kooperieren.Die im Kalten Krieg bewährte Waffenbrüderschaft könnte imWeltwirtschaftskrieg fortgesetzt werden, wobei das Ziel, Frei-heitserhalt und Wohlstandsmehrung, das alte bliebe und nurdas Instrument sich verändert hätte. Es käme im Zuge einersolchen Freihandelszone unweigerlich zur Konvergenz derWirtschaftssysteme; Europa würde amerikanischer, die USAmüssten sich europäisieren, wenn auch beides in einem langsa-men und Jahrzehnte währenden Prozess. Wer alle Handelsbar-rieren niederreißt, die Standards für Buchführung, technischeNormen, das Urheberrecht, das Börsengeschehen vereinheit-licht, wird von alleine zusehen, dass am Ende auch seineFinanz-, Sozial-, Steuer- und Umweltpolitik nicht auseinanderdriftet. Die Politik hätte ihren Herrschafts- und Gestaltungs-raum vergrößert. Große Chancen und Erwartungen lastetenauf ihr.

Zweitens: Der ökonomische Nutzen der Veranstaltung liegtauf der Hand. Ein Binnenmarkt dieser Größe und mit dieserVerlässlichkeit könnte günstig für beide sein, Investoren undArbeitnehmer. Er würde Wachstumsimpulse auslösen, auchwenn die in ihrer Stärke nicht überschätzt werden dürfen.Doch wo das Kapital hinströmt, wird am Ende auch der FaktorArbeit wachsen. Der Westen würde vor allem zurückgewin-

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nen, was er teilweise verloren hat: Die Kraft nämlich, techni-sche Standards zu setzen; wobei setzen in der Weltwirtschaftvon heute durchsetzen meint.

Die imposanteste Wirkung einer solchen Megafusion derMärkte ließe sich aber zweifellos in Fernost erzielen. DieBoomregion der vergangenen anderthalb Jahrzehnte würde zuRecht aufhorchen. Die neue Botschaft würde lauten: Der Preisder Ware interessiert den Westen noch immer, aber genausointeressiert ihn die Art seines Zustandekommens. Länder, diein ihren Grenzen keine freien Gewerkschaften dulden, dieFrauen und Kinder genauso ausbeuten wie die Natur, würdennicht länger mit Zollpräferenz verwöhnt. Der Vorteil, den sichdie Angreiferstaaten durch ihr heutiges Verhalten zu verschaf-fen suchen, könnte sich erstmals als Nachteil erweisen. DieFreihandelszone wäre nach innen eine Freiheitszone, die ihrenBewohnern Mut macht, und nach außen wäre sie eine Festung,zumindest für jene, die sich bewusst ihren Werten verweigernoder diese gar mit Füßen treten. Der Fehler der EuropäischenUnion, die sich an den Außengrenzen bisher servil verhaltenhat gegenüber den Feinden der Freiheit, die nahezu jedemDrittstaat das Recht auf gleiche Konditionen zugestand undso den Exklusivitätsvorteil der Mitglieder weitgehend zer-störte, wäre damit behoben. Eine transatlantische Freihandels-zone hätte Größeres im Auge als nur die Interessen der Import-und Exporthändler. Frieden in Freiheit war das Motto derNato. Ein Wohlstand mit Werten wäre das Ziel der transatlan-tischen Freihandelszone, und einer dieser Werte wäre der festeWunsch und Wille, dass dieser Wohlstand für möglichst allegilt.

Der Gedanke eines selbstbewussten und daher wehrhaftenWestens bewegt auch die Frau im deutschen Kanzleramt. Inden seltenen Momenten, in denen es für Angela Merkel jen-seits der Tagespolitik um strategische Weichenstellungengeht, rückt die transatlantische Freihandelszone in ihr Blick-

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feld: Einen Zusammenschluss der Gleichgesinnten sieht siedann vor sich. Die asiatische Variante des alten Teile-und-Herrsche-Spiels, das darauf setzt, Europäer und Amerikanergegeneinander in Stellung zu bringen, könnte auf diese Artzumindest erschwert werden. Die deutsche EU-Präsident-schaft ließe sich womöglich nutzen, dieses Jahrhundertprojektanzuschieben.

Wenn Merkel von der Idee einer Freihandelszone spricht,denkt sie an das Ökonomische, aber nicht ausschließlich. DerVorteil der Firmen lässt sich noch am ehesten auf Heller undPfennig berechnen, wenn man an den Wegfall von Zöllen unddie Beseitigung bürokratischer Regularien denkt. Aber zu-sätzlich tritt ein Nutzen hinzu, der unsichtbar ist, der auf demRechenschieber keinerlei Spuren hinterlässt, um dennoch dieTopographie der Macht zu beeinflussen. Merkel spricht vonden »nicht materiellen Werten«, die auf diese Art erhaltenund gestärkt würden. Ein den Nordatlantik umschließenderVerbund von Demokratien und Marktwirtschaften würde guttun nach all den Jahren, in denen die Globalisierungsangstüberall in den westlichen Hauptstädten de facto Kabinettsrangbesaß. Der Westen erhielte durch das neue Projekt neuenLebensmut.

Denn auch das lehrt die Geschichte des wehrhaften Wes-tens: Wer seine Werte verteidigt, verbreitet sie. So wie dieHelsinki-Konferenz 1975 einen großen Sog zugunsten derMenschenrechte im Ostblock erzeugte, so könnte auch dieIdee des fairen Handels in Fernost verbreitet werden. Asienhat ein Recht zum Aufstieg. Aber: Der Westen darf mit glei-chem Recht dafür kämpfen, dass seine Errungenschaften über-leben.

Kann eine westliche Freihandelszone den Aufstieg der Asia-ten wirklich verhindern? Die Antwort lautet: eindeutig nein.Das wird sie nicht schaffen und das ist auch nicht ihr Ziel.Was sie aber sehr wohl bewirken kann, ist den asiatischen

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Steigflug zu beeinflussen, seine Richtung so zu verändern,dass sich ihre und unsere Flugbahnen nicht ständig in dieQuere kommen.

Klingt das nicht zu defensiv, lohnt denn dafür der ganzeKraftaufwand, den die Schaffung einer westlichen Freihan-delszone ohne Zweifel bedeutet? Und ob! Aufstieg ist nichtgleich Aufstieg. Es gibt einen Aufwind, der am Boden Turbu-lenzen auslöst, und es gibt jene mildere Thermik, die anderemitzieht in die höheren Lüfte. Dieser Aufstieg verläuft wo-möglich weniger steil und schnell, aber er bedeutet nicht Zer-störung andernorts. Ja, das weltweite Wachstum würde sichverlangsamen. Aber das wäre nicht so tragisch, wie viele glau-ben. Das Wachstum der vergangenen Jahre war ohnehin unge-nießbar geworden durch die vielen Sünden, mit denen es er-kauft wurde, in Asien wie im Westen. Allzu viel von diesemWachstum können wir uns nicht mehr leisten.

Eine transatlantische Freihandelszone würde ein Signal aus-senden, das einer politischen Fanfare gleichkäme. Seht her, dieGleichgesinnten schließen sich zusammen. Die Herkunfts-länder der Aufklärung fühlen sich zwar dem Individuum undseinen Freiheitsrechten verpflichtet, aber nicht in einer Aus-schließlichkeit, die der kollektiven Kraftanstrengung entge-genstünde. Die Führung der Welt mögen am Ende andere über-nehmen, aber sie wird ihnen weder willfährig angedient nochkampflos überlassen. Noch brauchen die Asiaten uns mehr alswir sie, sie dürsten nach westlichem Kapital, westlichemKnow-how, und ohne die westlichen Absatzmärkte käme ihrExportmotor schnell ins Stottern.

Niemand Geringeres als Henry Kissinger, der Altmeisterder amerikanischen Außenpolitik, ermuntert die westlichenRegierungschefs, konkrete Schritte in Richtung einer solchenFreihandelszone zu wagen. Die Größe der Aufgabe solle nie-manden schrecken. Die Aufgabe der Regierenden besteheschließlich darin, sagt er, ihre Gesellschaften von dem Punkt,

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an dem sie stehen, dorthin zu führen, wo sie noch nie gewesensind.

Die große Kraftanstrengung

Was also hindert Europa, Angst und Apathie zu überwinden,das noch immer beeindruckende Potential gebildeter Men-schen und angehäufter Reichtümer zu einer großen Anstren-gung zu bündeln? Warum schaut der Kontinent nicht wenigs-tens den Angreiferstaaten ins Gesicht, fixiert sie, um sich dannmit Mut und Raffinesse seiner Haut zu wehren? Niemand, sosollte man meinen, dreht doch seinem Herausforderer denRücken zu, um freiwillig dem Abgrund entgegenzulaufen.Europa ist alt, aber nicht senil. Die Eliten sind reich, aber nichtdekadent. Das Volk ist mürrisch, aber nicht lebensmüde. DasAbendland sehnt sich nicht danach, die düsteren Untergangs-phantasien eines Oswald Spengler wahr werden zu lassen.Der Philosoph hatte in seiner »Morphologie der Weltgeschich-te« die Europäer zu Beginn des abgelaufenen Jahrhunderts als»Menschen des beginnenden Winters« bezeichnet, die in einer»Welt des wunderbaren Werdens und Vergehens« dabei seien,sich von der Hochkultur zu verabschieden. Eine naturgesetz-liche und daher unbeeinflussbare Kraft dränge sie, meinte er.Die Menschheit habe nun mal kein Ziel, keine Idee, keinenPlan, so wenig wie die Gattung der Schmetterlinge oder derOrchideen ein Ziel habe.

Wenn das so wäre, hätten wir diese Betrachtungen gar nichterst anstellen brauchen. Europa wäre dem Untergang geweiht,alles mahnen, fordern und vorschlagen würde verhallen, wärenichts anderes als das Läuten zum letzten Geleit.

Aber so ist es nicht, was man schon daran erkennen kann,dass Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einenWiederaufstieg ohne Beispiel erlebte. Ein Vierteljahrhundert

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nach Spenglers Tod kletterte aus den Kriegstrümmern einKontinent hervor, der binnen weniger Jahrzehnte strahlenderdastand als jener, der zuvor in die Völkerschlacht zog. Es warFrühling, nicht Winter in Europa. Der schon bisher beeindru-ckenden Geschichte des alten Europa wurde ein neues, glück-liches Kapitel hinzugefügt.

Auch heute ist der Wiederaufstieg möglich. Er setzt aller-dings eine Kraftanstrengung voraus, die über das hinausgeht,was Europa in den Nachkriegsjahren zu leisten hatte. Vorallem die mentale Anstrengung wird das Damalige überstei-gen, denn nach Kriegsende konnte jedermann die Lage erken-nen. Das alte Europa war untergegangen. Umringt von ameri-kanischen und russischen Soldaten, inmitten von Trümmernund Toten, blieb kein Raum für Realitätsverweigerung oderihre kleine Schwester, die Zauderei. Selbst jene endlos geführ-ten Debatten, bei denen Zeitverzehr und Erkenntnisgewinn imumgekehrten Verhältnis zueinander stehen, hatten sich erüb-rigt. Es gab keine zwei Sichten auf die Welt. Die Geschichtehatte die Überlebenden mit ungestümer Kraft nach vorn gesto-ßen, wo das Aufbauwerk nur daraufwartete, begonnen zu wer-den. Die Stimmung war so trostlos wie die Lage, was parado-xerweise in dieser Eindeutigkeit zur Mobilisierung der letztenReserven führte. Der große Bruder und Lehrmeister aus Ame-rika, das kam dankenswerterweise hinzu, stand hilfreich zurSeite. Er forderte und förderte.

Das heutige Europa ist auf sich allein gestellt. Der Lehr-meister von einst ist noch immer Freund, aber auch Rivale.Auch die nackte Not steht als Geburtshelfer nicht mehr zurVerfügung. Sie war für die Betroffenen der Nachkriegsjahreschmerzhaft; für die gemeinsame Sache aber, das europäischeAufbauwerk, leistete sie wertvolle Dienste. Auf starke Politi-ker vom Schlage eines de Gaulle, Churchill oder Adenauersollte heutzutage keiner hoffen. Unter den Bedingungen par-zellierter Macht, im weiten Zwischenraum von Nation und

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Europa, hat kein Einzelner eine Chance, den Kontinent aus derKrise zu fuhren. Wäre ein europäischer Churchill auch nurdenkbar, sähe ja vieles anders aus. Aber das heutige Europagestattet Führung nur bis zum nächsten Sitzungssaal.

Die entscheidende Frage lautet diesmal: Wollen wir oderwollen wir nicht? Lässt Europa sich weiter fallen oder greiftes noch einmal beherzt in den Lauf der eigenen Geschichteein? Ist die politische Klasse stark genug, ihre vorsätzlicheAhnungslosigkeit zu beenden? Die Rettung wird diesmal demeigenen Wollen entspringen - oder gar nicht. Objekt undSubjekt der Ertüchtigung können nach Lage der Dinge diesmalnur die Völker selber sein. Europa entscheidet erstmals wirk-lich frei. Diese Freiheit schließt allerdings auch die Freiheitzum Scheitern ein.

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»Die Welt ist nervöser geworden«

Gespräch mit demWirtschaftsnobelpreisträgerPaul A. Samuelson, 91, über wachsendeArbeitslosenzahlen, schrumpfende Sozial-staaten und sein Leben im Zeitalter derGlobalisierung

Paul A. Samuelson wurde 1915 als Sohn polnischer Einwanderer inder Stahlstadt Gary, Indiana, geboren. Er studierte an der Universitätvon Chicago und später an der Harvard-Universität, half unter Präsi-dent Franklin Roosevelt im so genannten National Resource PlanningBoard, die Kriegswirtschaft zu organisieren, und zählte Ende der 50erJahre zum Beraterstab von John F. Kennedy. 1970 erhielt er in Osloden Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. In den USA mischtsich der 1986 emeritierte Professor des Massachusetts Institute ofTechnologie (MIT) noch heute in die politische Debatte ein. Im ver-gangenen Jahr forderte er eine grundsätzliche Neubewertung der Glo-balisierung.

Professor Samuelson, besitzen Sie eine Erinnerung andas Amerika Ihrer frühen Kindheit?

Meine Kinderheitserinnerung setzt Gott sei Dank sehr frühein, deutlich früher als mit vier Jahren. Ich wuchs in derdamals neu gegründeten Stadt Gary auf, direkt an der Frontier,der Grenze zum noch unbesiedelten Teil der USA. Die Men-schen lebten in Zelten, als meine Familie zusammen mit vielenanderen Siedlern dort eintraf. Die Stadt war gegründet wordenvon der damals weltgrößten Stahlfirma, US Steel. Denn inGary traf sich der Eisenerzstollen aus Minnesota mit der Koh-le, die auf dem Boden des Michigan-Sees lagerte.

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372 Gespräch mit Paul A. Samuelson

Woher stammten Ihre Eltern und was verschlug sie in dieseraue Gegend am Ende der Zivilisation?

Mein Vater war Drogist und zusammen mit meiner Mutterkam er schon in jungen Jahren nach Amerika, was sich späterals großes Glück herausstellte. Beide stammten aus dem TeilPolens, der nahe der Grenze zu Russland lag. Während desErsten Weltkriegs war es mit Sicherheit besser, in Amerika zusein als in diesem unruhigen Teil Europas. Als Apotheker warmein Vater ein gefragter Mann. Es gab praktisch keine Ärzte,aber viele Kranke. Die Arbeitsbedingungen im Stahlwerksorgten von ganz allein für den Nachschub.

Haben Sie oder Ihr Vater das Stahlwerk jemals von innen ge-sehen?

Das war unmöglich. Niemand in Gary, der nicht dort arbei-tete, hat das Werk von innen gesehen. Dieses Stahlwerk glicheinem Militärlager; es wurde Tag und Nacht bewacht. Aberwir wussten dennoch viel über die Arbeitsbedingungen.

Die Krankheiten der Arbeiter waren gewissermaßen das Fens-ter, durch das Sie in das Stahlwerk blickten?

Mein Vater konnte nicht nur verschreiben, er konnte auchKrankheiten diagnostizieren und selbst Medizin herstellen.Für die Arbeiter gab es keinen Arzt und so wurde er ihr Arzt.Wir waren wirklich gut darüber im Bilde, was im Innern derFabrik vor sich ging. Die Arbeiter schufteten zwölf Stundenam Tag, und das sieben Tage in der Woche. Wenn einem Ar-beiter der heiße Stahl über das Bein lief, war niemand da, derdie Maschinen anhielt. Die Stahlproduktion lief weiter und derMann verlor sein Bein. Sie denken vielleicht, dass ich 91 Jahrealt bin; aber in Wahrheit bin ich 140 Jahre alt. Ich verbrachtemeine Kindheit zur Hälfte im 19. Jahrhundert. Es gab keineToilette im Haus, keinen Strom; und es gab im Stahlwerk die-sen 100-Prozent-Kapitalismus.

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Ihr Studium begannen Sie an der Universität von Chicago.Haben Sie in all den Jahren des eigenen Aufstiegs das Lebender Menschen in Gary weiterverfolgt?

Oh ja! Ich bekam vor einigen Jahren eine Honorarprofessurvon der nahe gelegenen Universität Valparaiso verliehen -nicht für meine Verdienste, sondern weil ich aus der Regionstamme. Also packte ich die Gelegenheit beim Schopf undbegann nach meinen Wurzeln zu forschen. Aber es gab inGary keine Wurzeln mehr. Wo vorher unser Haus stand, befandsich nun ein großer Parkplatz. Das Stahlwerk war verschwun-den. Die wunderbare Carnegie-Bücherei gab es nicht mehr.Gary ist heute die Mörderhochburg der Vereinigten Staaten.Die Stadt sieht aus wie Rotterdam, aber wie Rotterdam nachdem Bombenangriff.

Sie selbst wurden Teil des amerikanischen Traums. Als Ein-wandererkind stiegen Sie auf in die höchsten Etagen von Wis-senschaft und Politik. Was trieb Sie an?

Ich sage Ihnen ohne jede Übertreibung, was passiert ist: Alsmir irgendwann in der Bibliothek meines Vater das Buch DerWohlstand der Nationen von Adam Smith in die Hände fiel,wurde ich ein zweites Mal geboren. Vor mir tat sich eine neue,eine faszinierende Welt auf. Die 30er Jahre, die Zeit der Gro-ßen Depression, waren eine wirklich perfekte Zeit, um Ökono-mie von Grund auf zu studieren. Der 2. Januar 1932, der Tag,an dem ich um acht Uhr morgens meine erste Vorlesung ander Universität von Chicago besuchte, markierte zugleich dentiefsten Punkt der Großen Depression. In Deutschland und inden USA war rund ein Drittel beziehungsweise ein Viertel derArbeiter arbeitslos. Auch die Familien der Mittelklasse spürtendie Krise. Es war nicht eine dieser kleinen Rezessionen, dienur ein Harvard-Absolvent bemerkt. In meinem Teil von Ame-rika gingen reihenweise die Banken pleite, und das bedeutete,dass die Sparer von einem Dollar nur noch 10 Cent zurückbe-

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kamen. Dies war ein wirklicher Tiefpunkt im Leben von Mil-lionen.

Es gab damals Hungertote in den USA. Haben Sie persönlichetwas mitbekommen von der Not der Arbeiterfamilien?Nein, aber ich wurde Augenzeuge, wie die Hungerndeneinen Kühlwagen plünderten, der gerade die Schlachthöfevon Chicago verlassen hatte. Es waren ungefähr 50 Leute, dieihn zum Stehen brachten, und innerhalb von nur zehn Minutenverschwanden alle Schinken und Schweinenacken aus demInnern des Fahrzeugs.

Herbert Hover war damals amerikanischer Präsident...... und unbestritten war er ein Mann von überdurchschnitt-licher Intelligenz. Ein Mann von Prinzipien war er auch - vonfalschen Prinzipien allerdings. Als er feststellte, dass dieFuttermittel eines staatlichen Agrarprogramms nicht in denMägen der Tiere, sondern in den Bäuchen hungriger Men-schen gelandet waren, hat er die Organisatoren dieser Aktionverfolgen lassen. Er glaubte, was ich auch an der Universitätlernte: Dass Massenarbeitslosigkeit von allein verschwindet.Wenn einer von drei Arbeitern keine Arbeit hat, so die Theo-rie, dann fällt der Lohn für die zwei noch beschäftigten Arbei-ter so lange, bis der Arbeitslose wieder in Lohn und Brot ist.Die Welt der Wirtschaft würde von allein ihr Gleichgewichtfinden, hieß es. Ich konnte auf meinem Weg zur Universitätjeden Tag studieren, dass diese Theorie nicht der Wirklichkeitentsprach.

Sie glauben, dass die Krise durch das Ignorieren und Nicht-handeln der Politiker verschärft wurde. Konnte sie sich wo-möglich erst dadurch zu einer wirklich großen Depression ent-wickeln? Viele meinten ja damals, der Börsencrash vom Oktober

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1929 habe die Weltwirtschaftskrise ausgelöst. Aber auch dasstimmte nicht. Aus einer normalen Rezession wurde erst durchdas Wegschauen und Ignorieren der Probleme eine große De-pression.

Wie ist es Ihrer Familie zu dieser Zeit ergangen?Meine Familie war nicht reich, aber durchaus ein bisschenvermögend. Und was glauben Sie, wo ich in dieser schwerenZeit meine Sommerferien als Student verbracht habe? AmStrand! Fühlte ich mich deshalb schuldig? Nein! Ich wusstevon meinen ärmeren Mitstudenten, die sich zum Teil bei 800verschiedenen Finnen um einen Ferienjob beworben hatten,dass es keine Jobs gab. Also habe ich es gar nicht erst probiertund bin direkt ans Meer gefahren.

Wann haben Sie zum ersten Mal den NamenAdolfHitlerge-hört?Eines Tages, im März 1933, kam ein Universitätslehrer inden Vorlesungssaal, rieb sich die Hände und sagte: »GuteNachrichten aus Europa, Adolf Hitler kommt an die Macht.«Dieser Lehrer war keineswegs ein Freund der Nazis. SeineFreude resultierte aus einer Fehleinschätzung: »Hitler hat allenalles versprochen. Er kann unmöglich allen alles liefern. Ineinem Jahr wird er entzaubert sein.«

So dachten damals viele, auch innerhalb der konservativenEliten in Deutschland. Es kam bekanntlich anders. Hitlerhatte zunächst beachtliche Erfolge vorzuweisen, auch des-halb, weil er die Wirtschaftskrise mit einem staatlichen Inves-titionsprogramm in den Griff bekam. War er der Erste, der dieIdeen des britischen Ökonomen John Maynard Keynes erfolg-reich umsetzte? Hitler und Roosevelt taten zur gleichen Zeit dasselbe. Beidesetzten mit beachtlichem Erfolg auf staatliche Ausgabenpro-

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gramme, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Hitlerwollte in erster Linie den Versailler Vertrag revidieren und be-reitete deshalb einen Krieg vor. Er ließ viel Geld drucken undinvestierte in die Rüstungsproduktion, erst heimlich, dannoffen. Aber sein erstes Ziel war es, Krieg zu führen. Rooseveltgab seinen Regierungsmitgliedern Millionen von Dollar, damitdie das Geld in Arbeit verwandeln. Er ließ sie regelrechtgegeneinander antreten in der damals einzig richtigen Diszip-lin, dem Geldausgeben. Denn die Wirtschaft hatte sich zusam-mengezogen und von allein wäre sie aus dem Strudel nichtmehr herausgekommen.

Auch heute berufen sich viele Regierungen auf die Lehren vonKeynes. Das Nebenprodukt dieser Politik ist eine enorme,man kann auch sagen unverantwortliche Staatsverschul-dung. Betrachten Sie eine Politik der staatlichen Milliarden-Programme noch immer als ein geeignetes Mittel der Wirt-schaftspolitik?

Jede Politik muss auf konkrete Situationen reagieren, sonstverfehlt sie ihr Ziel. Damals war die Wirtschaft in eine Liqui-ditätsfalle getappt, weil die gesamte Wertschöpfung im Westensich zusammenzog. Daraufhin wurden Millionen Menschenentlassen und im Ergebnis zog sich die Wirtschaft weiterzusammen. Die Situation im heutigen Europa und im heutigenAmerika ist eine völlig andere.

In Ihrem Lehrbuch für Studenten der Volkswirtschaft spielt dieLiquiditätsfalle noch immer eine wichtige Rolle.

Jetzt wieder! Mein Buch war zwischendurch überarbeitetworden und der Verlag nutzte die Überarbeitung zur Entrüm-pelung, zur Modernisierung, zur Beschneidung. Ein solchesTextbuch wuchert wie Krebs. Wenn man es wachsen lässt,schwillt es auf über 1000 Seiten an. Also meinte der Verlag,man müsse den neuen Erkenntnissen mehr Raum geben und

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könnte die alten Dinge rausschneiden; die Kaufkrafttheorie,die Liquiditätsproblematik, die ganze Keynesianische Lehre.Ich sagte dem Verlag: In der Wirtschaft kehrt alles zurück,was verschwunden ist. Bitte, bitte, lassen Sie uns die Liquidi-tätsfalle wieder aufnehmen. Japan hat uns gezeigt, dass auchheute noch Nationen in die Liquiditätsfalle tappen können.

Heißt das, Sie waren und sind ein glühender Verehrer der Leh-ren von Heynes?

Zuerst war ich sehr gegen Keynes eingestellt, weil seineLehre allem widersprach, was ich an der Universität von Chi-cago gelernt hatte. Ich konvertierte im Angesicht dessen, wasich draußen sah. Irgendwann musste ich mich entscheiden, obich der Wirklichkeit oder der Ideologie folgen wollte. JosephSchumpeter, der große aus Österreich stammende Ökonom,war aus Deutschland an die Harvard-Universität geflohen undwurde dort mein Lehrer. Er war während der Großen Depres-sion wirklich schwer erträglich. Er sah in der Weltwirtschafts-krise eine gesunde Sache, eine kreative Zerstörung, die in dergesamten Wirtschaft die Produktivität erhöhen würde. Aber inWahrheit war das nicht der Fall. In meinem nächsten Umfeldverloren die Besten der Besten ihre Jobs. Allein in meinemersten Harvard-Jahr mussten 40 Physiker und 40 Biologenihren Arbeitsplatz räumen. Wie sollte das der ProduktivitätAmerikas nutzen?

Haben Sie über die damaligen Beobachtungen und Ihre da-raus gezogenen Schlussfolgerungen mit Schumpeter disku-tiert?

Natürlich. Aber er war nicht sehr einsichtig. Ich glaube, erwar eifersüchtig auf Keynes. Er sagte mir: »Sie sind für Key-nes, weil Sie Sozialist sind.« Ich erwiderte: »Aber, Herr Pro-fessor Schumpeter, ich komme von der Universität von Chica-go, der Zitadelle des Kapitalismus. Man muss kein Sozialist

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sein, um für Keynes zu sein.« Er daraufhin zu mir: »Sie sindSozialist in dem Sinn, dass Sie dem kapitalistischen Systemmisstrauen.« An dieser Stelle muss ich zugeben: Das stimmt.Er hatte Recht. Ich lebte die ersten 15 Jahre meines Lebensunter einem System des puren Kapitalismus. Ich habe miter-lebt, dass dieses System große Vorteile und große Nachteilehat. Ich blieb mein Leben lang misstrauisch.

Der Kapitalismus der frühen Jahre verwandelte sich auch inden USA zu einer sozialen Marktwirtschaft. Ihre Skepsisaber blieb. Warum?

Vergessen Sie nicht, dass seit 1980 zuerst Reagan und späterBush alles Mögliche versuchten, um den Wohlfahrtsstaat zuschwächen. Und wenn wir heute über die Globalisierung spre-chen, dann beobachten wir doch dieselben beiden Phänomenewie in der Frühzeit des Kapitalismus. Die Globalisierung hatgroße Vorteile und sie hat große Nachteile, wie ich neulich ineinem Artikel für das Journal of Economic Perspectives ge-schrieben habe.

Das Echo war zweigeteilt.Ich bekam viel Zustimmung und großen Widerspruch. Der

damalige Vorsitzende des Rats der ökonomischen Ratgebervon Präsident George W. Bush, Gregory Mankiw, schriebeine 48-seitige Erwiderung, deren Kernbotschaft lautete: »Sa-muelson gibt Schützenhilfe für den Feind.« Es war interessantfür mich zu sehen, dass er nicht sagte, es sei unwahr, was ichüber die Globalisierung schrieb. Aber er war der Meinung, soetwas sagt man nicht. Ich denke, es ist besser für die Menschenzu wissen, was draußen vor sich geht.

Die herrschende Lehre in allen westlichen Staaten sagt, dassdie Globalisierung allen gleichermaßen nützt, die sich an ihrbeteiligen. Sie sagen: ein großer Irrtum.

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Die Globalisierung bedeutet derzeit eine Win-Win-Situa-tion für China. Sie nützt den armen Chinesen genauso wieden wohlhabenderen Chinesen. In den USA sieht das Bildsehr gemischt aus. Die hoch spezialisierten Experten unsererVolkswirtschaft profitieren, die untere Hälfte der Bevölkerungverliert. Es ist für den Westen eine Win-and-Lose-Situationentstanden.

Gerade die einfachen Leute haben Vorteile, weil sie billig ein-kaufen können, sagen viele Volkswirte. Noch nie warenAutos, Kinderspielzeug, Textilien, Computer und Urlaubsrei-sen so billig wie heute.

Besuchen Sie einen amerikanischen Supermarkt von Wal-Mart und Sie können die Widersprüchlichkeit der Globalisie-rung mit eigenen Augen besichtigen. Sie treffen dort armeAmerikaner, die billige Produkte kaufen. Die Leute wollen da-durch ihren Lebensstandard verbessern, aber gleichzeitig müs-sen sie fürchten, ihren Arbeitsplatz zu verlieren oder auf eineschlechter bezahlte Stelle zu wechseln. Es ist ein Irrtum zuglauben, die Globalisierung produziere nur Gewinner.

Ist die Globalisierung Ihrer Ansicht nach also ein Nullsummen-spiel, bei dem der eine gewinnt, was der andere verliert?

Nein, nur der Krieg ist meistens ein Nullsummenspiel. DerAufstieg Bismarcks im deutsch-französischen Krieg von1870/71 bedeutete den Abstieg von Napoleon III. Die ökono-mische Globalisierung nach dem Zweiten Weltkrieg nutzteAmerikanern und Europäern gleichermaßen. Der nachfolgen-den Generation ging es besser als der Elterngeneration. Auchheute ist die Globalisierung kein Nullsummenspiel. Der Wohl-stand der Welt steigt. Aber wenn wir genauer hinschauen, müs-sen wir erkennen: Nicht jeder profitiert von der Globali-sierung. Sie nutzt, aber sie nutzt nicht allen. Wir haben vieleGruppen unserer Gesellschaft, die verlieren etwas, ohne in

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gleichem Umfang zu gewinnen. Die Frage, die sich für eineNation stellt, lautet: Wie sind Gewinne und Verluste verteilt?Und die noch wichtigere Frage: Wiegen die einen die anderenauf?

Ihre Antwort?Ich habe eine Berechnung angestellt und öffentlich vorge-

legt, die den Beweis antritt, dass die Gewinne der Gewinnerdie Verluste der Verlierer im Westen derzeit nicht mehr aus-gleichen. Die Globalisierungsbilanz für Länder wie Deutsch-land oder Amerika ist seit geraumer Zeit negativ. In Deutsch-land verlieren viele Millionen ihren Job. In Amerika verlierenMillionen zwar nur kurzfristig ihren Job, allerdings um an-schließend eine schlechter bezahlte Tätigkeit aufzunehmen.Wir sind heute im Wettbewerb mit den Asiaten in einer Win-Lose- Situation, in der die einen gewinnen und die anderenunterm Strich verlieren.

Wer vor allem treibt diese Entwicklung voran?Die Verbreitung von Wissen beseitigt einen Großteil der

Vorteile, die der Westen besaß. Wenn China seine Produktivi-tät durch eigenen Einfallsreichtum oder auch nur durch dieKopie unserer Produkte erhöht, kann das zu Wohlstandsverlus-ten bei uns führen. Wir verlieren einen Handelsvorteil, Chinagewinnt einen Handelsvorteil. Zumal das Wissen sich heute injene Länder ausbreitet, die mit niedrigeren Löhnen arbeiten.Das wiederum verändert das Gleichgewicht auf unserenArbeitsmärkten. Es ist derselbe Sachverhalt, als ob wir einemassenhafte Einwanderung billiger und gut ausgebildeter Ar-beitskräfte zu verzeichnen hätten.

Wollen Sie damit sagen, dass die Globalisierung inzwischendamit begonnen hat, sich gegen den Westen zu richten?

Ich will sagen, der Prozess der Globalisierung verändert das

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Kräfteverhältnis in jeder Phase unserer Geschichte. Es ist naivzu glauben, es gehe immer allen Staaten besser. Es kommt im-mer wieder zu relativen Veränderungen und manchmal auch zuabsoluten Verschlechterungen. Großbritannien hat sich nachdem Ersten Weltkrieg nicht mehr erholt. Die hegemoniale Stel-lung blieb verloren. Gemessen allein in ökonomischer Stärkeüberholte Amerika Großbritannien bereits um das Jahr 1900.1946 war dann für Amerika der Zenit relativer Stärke erreicht:Fünf Prozent der Weltpopulation produzierten rund die Hälftedes Weltsozialprodukts. Natürlich war das nicht nachhaltig,weil diese relative Stärke Amerikas darauf beruhte, dass Euro-pa und Japan daniederlagen.

Derweil China noch schlief.Zehn Jahre später sah die Welt schon anders aus: Der Mar-

shallplan zeigte Wirkung. Die Europäische Union begann zuarbeiten. Europa war unser China. Wir scherzten damals, dasses sich offenbar auszahlt, besiegt zu werden. Die bestfunktio-nierenden und am schnellsten sich entwickelnden Volkswirt-schaften der Welt waren die von Deutschland, Italien undJapan. Vorher waren Ford, Chrysler und General Motors dieabsoluten Könige. Nun kamen Mercedes, BMW und Volvo,und wenig später folgten Toyota und Nissan. Was wir derzeiterleben, ist eine Wiederholung dessen, was wir bereits erlebthaben. Jeder kann das erkennen, wenn er nur die richtige Brilleaufsetzt. Ich sehe ein wagnerianisches Leitmotiv in der Welt-wirtschaft.

Sie betrachten die Weltgeschichte als eine Geschichte desschicksalhaften Werdens und Vergehens?

Gewinner und Verlierer wechseln einander ab, niemand istnur auf eine Rolle abonniert. China war im Jahr 1000 wahr-scheinlich das Land mit dem höchsten Lebensstandard. Da-nach wurden die Niederländer die Reichsten, wenn man das

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Sozialprodukt pro Kopf zugrunde legt. Irgendwann folgten dieBriten, bevor die Kinder der Briten, die nach Amerika ausge-wandert waren, die Führung übernahmen.

Welche Bedeutung messen Sie dem Aufstieg Chinas bei, öko-nomisch und politisch?

Was wir in Asien sehen, ist mit großer Wahrscheinlichkeitnicht das Ende, sondern der Beginn einer Entwicklung. Chinatritt mit seiner Bevölkerung von mehr als einer Milliarde Men-schen an. Derzeit ist nur ein kleiner Teil von ihnen wettbe-werbsfähig. Aber auch die anderen, die noch nicht Teil desWeltmarkts geworden sind, besitzen keine minderwertigereDNA und keinen geringeren Intelligenzquotienten als wir.Das Wissen verbreitet sich rasend schnell. Auch diese Men-schen werden sich integrieren. China kann sich noch hun-dertmal die Nase stoßen und wird auch in 25 Jahren nicht denPro-Kopf-Reichtum der USA erreicht haben. Aber als Volks-wirtschaft wird das chinesische Sozialprodukt das amerikani-sche in nicht allzu ferner Zeit übersteigen. Das ist es, was zähltin der Geopolitik. Schreibt man die Entwicklung fort, wirdChina bald die beherrschende Volkswirtschaft der Welt sein.China ist schon heute ein 800 Pfund schwerer Gorilla, der mit-ten im Wohnzimmer steht.

Der Aufstieg Chinas, so er sich fortsetzt, wird ohne Zweifeleine Zäsur bedeuten. Was ist Ihrer Ansicht nach die ein-schneidendste Veränderung für das Leben im Westen?

Das sind ohne Zweifel die Veränderungen in unsererArbeitsgesellschaft. Die Gewerkschaften, die großen Gegen-spieler der 100-Prozent-Kapitalisten, sind dabei, aus unseremLeben zu verschwinden. Streiks sind eine seltene Erscheinunggeworden. Jeder Erfolg der Gewerkschaften, zum Beispiel inder Autoindustrie, beschleunigt nur das Tempo, mit dem Men-schen ihre Arbeitsplätze verlieren. Derzeit gelingt es ja kaum,

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die Firmen zur Einhaltung ihrer Pensionszusagen zu bewegen.Die von früheren Gewerkschaftsmitgliedern erzielten Erfolgewerden jetzt wieder aufgehoben.

Würden Sie so weit gehen und von einem chinesischen Jahr-hundert sprechen, das soeben erst begonnen hat?

Niemand kann das heute mit Gewissheit sagen. Die mensch-liche Natur ist nicht perfekt. Ein Land kann schnell drei Gene-rationen von politischem Chaos erleben und alles erscheint ineinem anderen Licht. Wenn Sie 1945 zu mir gekommen wärenund hätten mich gefragt: Welcher Teil der Welt wird amschnellsten wachsen?, dann hätte ich ohne zu zögern Chileund Argentinien genannt. Beide Länder schienen mir damalsreif zu sein.

Rund drei Milliarden neue Menschen sind in die Weltwirt-schaft eingetreten, Chinesen, Inder, Osteuropäer. Wie ver-ändert diese Erweiterung des weltweiten Arbeitskräftepoten-tials das Leben im Westen?

Die heutige Globalisierung bedeutet für uns zwei Dinge.Erstens wächst die Ungleichheit in den westlichen Gesell-schaften. Zweitens geht die Verlässlichkeit der Biographienverloren. Früher war es doch so: Du hattest deinen Hochschul-abschluss in der Tasche, von der Harvard-Universität, vomMIT, von irgendeinem lokalen College, und damit hast dueinen guten Job bekommen. Wenn du sauber bliebst, war deinErwerbsleben von steigendem Gehalt begleitet. Du verdientestmehr mit 50 als mit 40 Jahren, und am meisten bekamst du mit60. Mit Erreichen des 65. Lebensjahrs überreichte dir deineFirma eine Uhr und du gingst samt deiner Pension in denRuhestand. All dies ist Vergangenheit. Meine sechs Kinderkönnen sich keinen Moment der Entspannung gönnen. Wirhaben heute überall verängstigte Arbeitnehmer. Die Globali-sierung hat einigen zusätzlichen Wohlstand gebracht, aber sie

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bringt uns ebenso zusätzliche Unsicherheit und Spannungen.Die Welt ist nervöser geworden. Was glauben Sie, was GeneralMotors und Ford heute noch wert sind? Vielleicht besitzen siegar keinen Wert mehr, wenn es den Konzernführern nichtgelingt, die Beschäftigten um ihre Pensionszusagen zu be-trügen. Viele Ökonomen versuchen immer noch, die Wider-sprüchlichkeit der Globalisierung in ihrer Bedeutung herunter-zuspielen.

Gegensteuern oder kapitulieren: Was kann eine Regierungtun?

Sie muss versuchen, durch Investitionen in Forschung undEntwicklung einen neuen Wissensvorsprung herauszuarbeiten.Und: Sie sollte versuchen, durch ihre Steuerpolitik die Nach-teile der Globalisierung auszugleichen. Ich würde mir wün-schen, dass sich die Politiker wieder stärker an die Ideen vonRoosevelt und Kennedy erinnern. Beide Präsidenten versuch-ten die Ungleichheiten in der Gesellschaft zu mildern, nicht siezu beseitigen. Eine Steuersenkung zugunsten der Reichen, wiesie Bush nun schon mehrfach durchgesetzt hat, bedeutet dasGegenteil. Sie ist unverantwortlich, weil sie die negativen Sei-ten der Globalisierung vergrößert. Der heutige Präsident ver-schärft die Spannungen, die Ungleichheiten und auch die Ner-vosität. Wenn mich Deutsche, Italiener oder Franzosen fragen,was zu tun ist, sage ich daher immer: Versucht es nicht mitdem amerikanischen Weg. Das ist ein Weg, auf dem vor allemeines steigt: Die Wut der Menschen.

Andererseits scheint die Konsumlust der Amerikaner unge-brochen und sie ist mittlerweile zu einer wichtigen Stütze derWeltwirtschaft geworden. Wie passt das zu Angst und Nervo-sität?

Wir sind eine Gesellschaft geworden, die kaum noch spart,eine Gesellschaft des Ich, Ich, Ich und des Jetzt. Die Arbeiter

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sollten sparen wie die Teufel, aber sie geben das Geld mit vol-len Händen aus. Ohne die Kredite, die uns ärmere Länder ein-räumen, sähe hier vieles anders aus. Aber die Welt wird denamerikanischen Konsum nicht dauerhaft finanzieren. Solltendie Chinesen ihr Geld abziehen, werden die vermögendenAmerikaner dasselbe tun. Ich glaube, dass vor uns eine ziemli-che Holperstrecke liegt. Glauben Sie mir: Amerika taugt heutenicht mehr zum Vorbild für andere. Schauen Sie lieber auf dieeuropäischen Länder mit der geringsten Arbeitslosigkeit.

Sie sprechen von Skandinavien?Schauen Sie auf Dänemark! Ich habe mir das Land genau

angesehen, denn es weist einige interessante Besonderheitenauf. Es besitzt einen ordentlich ausgestatteten Wohlfahrtsstaat.Andererseits ist es jederzeit möglich, Menschen zu entlassen,auch mit Zustimmung der Gewerkschaften. Die Betroffenenbekommen dann für ein Jahr ihr Geld von der Arbeitslosenver-sicherung. Wenn sie danach keinen neuen Job haben, müssensie eine Weiterbildung absolvieren. Wichtiger noch ist: siesind verpflichtet, jeden Job anzunehmen, auch wenn dieserJob schlechter bezahlt ist als der frühere.

Das sei eine Spirale nach unten, sagen die Kritiker einer der-artigen Arbeitsmarktpolitik.

Widerspruch. Das ist eine Spirale in Richtung Realität. DerArbeitsmarkt bleibt funktionstüchtig und der Sozialstaat, derdeutlich besser ausgestattet ist als der amerikanische, bleibtfinanzierbar. Das ist ein Teil von dem, was man braucht, umzu überleben und zu wachsen.

Aber warum steht dann Amerika in nahezu allen Statistikenbesser da als Europa?

Weil die Statistik in Geld rechnet. Die Europäer und insbe-sondere die Deutschen haben international viel an Boden ver-

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loren, weil sie ihren Reichtum in Freizeit verwandelten. Siewissen, wovon ich spreche: 35-Stunden-Woche, sechs WochenJahresurlaub, kurze Lebensarbeitszeit. Bevor die deutscheVolkswirtschaft wieder an Fahrt gewinnen kann, müssen dieMenschen ihre Einstellung zur Arbeit und zur Leistungändern. Es ergibt keinen Sinn, überkommene Strukturen zubeschützen. Man befindet sich sehr schnell im stagnierendenTeil der Welt, derweil alles rundherum wächst. Viele Men-schen in Deutschland werden sich an den Gedanken gewöhnenmüssen, dass sie demnächst Jobs annehmen, die 30 Prozentschlechter bezahlt sind als ihre früheren.

Die politischen Folgen dessen, was Sie skizzieren, sind der-zeit schwer abschätzbar. Wohlstandsvermehrung und Demo-kratie waren im Westen eng miteinander verbunden. Was hal-ten Sie von einer Verlangsamung der Globalisierung, anstattsie mit immer neuen politischen Initiativen stimulieren unddamit beschleunigen zu wollen?

Ich glaube, dass man in jedem Fall versuchen sollte, denProzess zu verlangsamen. Man kann ihn nicht stoppen undsollte es auch nicht tun. Damit tötet man nur die Gans, die diegoldenen Eier legt. Aber eine Entschleunigung wäre sinnvoll.

Was würden die großen Ökonomen der Vergangenheit denheute Regierenden raten, Karl Marx zum Beispiel?

Ich halte Marx nicht für einen guten Ökonomen. Ich weiß,dass sein Bild hier im Institut an der Wand hängt, aber da hän-gen auch viele andere. Wir sind am MIT eben liberal. AberMarx hat jeden pragmatischen Ratschlag vermieden. Er warvoll von unverdientem Selbstvertrauen.

Was hätte uns Ihr ehemaliger Lehrer Joseph Schumpeter zusagen?

Er starb 1950, und ich war der letzte Ökonom, der zehn Tage

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vor seinem Tod mit ihm sprach. Er hätte die heutige Dynamikgemocht und diesen Ausbruch von Energie gelobt, auch des-halb, weil er gesagt hätte: Das steht im Einklang mit meinenSchriften. Schumpeter hat allerdings nie viel Zeit darauf ver-schwendet, sich mit Verlierern zu befassen. Und er hat nierealisiert, wie produktiv die gemischten Wirtschaftssystemewaren, in denen Privatwirtschaft und Staat ihre Rollen spielen.

Und Keynes?Das ist wirklich schwer zu sagen, was Keynes uns heute

raten würde. Er wechselte seine Meinung zu Lebzeiten in teilsatemberaubender Geschwindigkeit. Aber soll ich ihm das vor-werfen? Es ist manchmal besser, seine Meinung zu ändern, alswie eine Stoppuhr herumzulaufen, deren Zeiger sich nichtmehr bewegen.

Was würden Sie selbst den Mächtigen zurufen?Mein erster Rat lautet: Geht den mittleren Weg! Wir verfü-

gen über keine Alternative zur Marktwirtschaft. Aber ohnepolitisches Korrektiv schafft der Markt kein Gleichgewicht,sondern eine sich vergrößernde Ungleichheit. Wir sollten unsimmer bewusst sein: Der Markt besitzt kein Gehirn und keinHerz. Zweitens: Die Globalisierung in ihrer jetzigen Ausprä-gung und im jetzigen Tempo macht die Welt unsicherer undnervöser. Wir sollten versuchen, das Tempo zu drosseln undin unserem eigenen Interesse sanfter zu sein.

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Danksagung

Was auch immer die Unzulänglichkeiten dieses Buches sind,sie wären zahlreicher ohne die Hilfe von Freunden, Kollegenund Experten. Ich danke sehr herzlich Professor Bert Rürup,der neben seiner Arbeit als Vorsitzender der Fünf Weisen dieZeit fand, dieses Buchprojekt zu begleiten. Seine Anmerkun-gen als Erstleser des Manuskripts waren überaus wertvoll. Fürdie aufwendige Recherche und die akribischen Dokumen-tationsarbeiten danke ich Bernd Musa, Rainer Lübbert undHolger Wilkop; ihr Widerspruchsgeist war hilfreich, ihr De-tailwissen mehr als beeindruckend. Ohne die engagierten Dis-kussionen an der Harvard University und dem MassachusettsInstitute of Technology sähe dieses Buch anders aus, weshalbich insbesondere den Professoren Paul Samuelson, DanRodrick und Guido Goldman zu Dank verpflichtet bin. Zudanken habe ich auch dem Harvard-Absolventen und heuti-gen Statthalter der Bertelsmann-Stiftung in Brüssel GregorSchmitz, der mich mit aktuellem Lesefutter aus den USA ver-sorgte und mit mir zusammen das Samuelson-Interview führ-te. Ein besonderes Dankeschön gebührt dem Sprecher der Ge-schäftsführung der Alfred Herrhausen Gesellschaft WolfgangNowak und dem ehemaligen Spiegel-Kollegen Hans Halter,die das Buchprojekt über die vergangenen zwei Jahre mitreichlich eigenen Ideen, freundschaftlichem Zuspruch und -wo nötig - mit leidenschaftlicher Gegenrede beförderten. Zu

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danken ist Martin Brinker, der mit seinen kreativen Grafik-ideen nicht unwesentlich zum Gelingen beitrug; ich dankeden Kollegen Konstantin von Hammerstein, Jan Fleischhauerund Armin Mahler, deren Kritik stets Ansporn war; meinemLektor Ulrich Wank für die engagierte und kollegiale Zusam-menarbeit, ebenso wie meinem Verleger Wolfgang Ferchl;Christophe Hocquet für seine über all die Jahre ungebremsteLust an der französisch-deutschen Debatte; Sandra Latz, San-dra Roderburg, Julia Groten, Brigitta Witt, Simone Miesner,Petra Beck, Kristina Wolf, Anuradha Sammaddar und HannahSchiller für Fröhlichkeit und Fleiß beim Bearbeiten der Manu-skriptseiten. Stefan Aust danke ich für Kritik und Unterstüt-zung. Hilfreich und anregend waren auch die zahlreichenGespräche mit Politikern, Spitzenbeamten, Botschaftern, Ver-tretern der Wirtschaft aus aller Herren Länder, die mir mitgroßer Offenheit ihre Sicht der Dinge schilderten. Nicht seltenkontrastierte sie mit dem öffentlich ausgestellten Optimismusund der diplomatisch gebotenen Zurückhaltung gegenüber denneuen Rivalen. Den größten Gefallen, meinten daher nichtwenige, täte ich ihnen, wenn ich ihren Namen im Anonymenbeließe, was ich hiermit tue.

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