Stellungnahme Immobilisation PHTLS Deutschland V2 · Kolb JC, Summers RL, Galli RL (1999) Cervical...

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Stellungnahme zum Themenkomplex „Immobilisation von Traumapatienten“ durch das Nationale Board von PHTLS Deutschland (Stand: März 2015). Erarbeitet durch die Forschungsgruppe präklinische Wirbelsäulen-Immobilisation der PHTLS Europe Research Group Die Sinnhaftigkeit der Immobilisation beim Traumapatienten generell, sowie die verschiedenen Möglichkeiten der Durchführung dieser Immobilisation werden in der wissenschaftlichen Literatur zunehmend kontrovers diskutiert. Auch in zahlreichen notfallmedizinischen Foren und den verschiedenen sozialen Medien wird z. T. wissenschaftlich fundiert, z. T. aber auch äußerst emotional über dieses Thema berichtet und diskutiert. PHTLS Deutschland hat schon vor einiger Zeit damit begonnen die existierenden Kontroversen zu diesem Thema wissenschaftlich aufzuarbeiten. Im Rahmen der PHTLS Europe Research Group gibt es ein eigenes Forschungsprojekt zu diesem Thema. Gründliche wissenschaftliche Arbeit, welche auf ausreichenden Fallzahlen beruht, benötigt allerdings Zeit, weshalb noch nicht ausreichend eigene Studienergebnisse vorliegen. Zeitgleich erfolgte aber eine ausführliche Literatur-Recherche zum Themenkomplex der Immobilisation des verunfallten Patienten. Sowohl die PHTLS-Instruktorinnen und –Instruktoren und mittlerweile auch das PHTLS-Sekretariat erreichen häufig und zahlreich Nachfragen zu diesem Thema, wodurch auch immer wieder Unsicherheiten bei allen Beteiligten aufkommen. Es sollen deshalb zunächst die Kernaussagen der, für PHTLS relevanten, wissenschaftlichen Literatur zusammenfasst werden (auf Grund der Fülle an Literatur werden hier nur exemplarische Studien aufgeführt): 1) Es gibt keine Evidenz PRO oder CONTRA präklinischer Wirbelsäulen-Immobilisation durch kontrollierte, randomisierte Studien. (Kwan et al. 2009; Baez et al. 2006) 2) Es gibt unterschiedliche Ergebnisse bzgl. der Frage, ob das Unterlassen der Wirbelsäulen- Immobilisation Einfluss auf das Outcome des Traumapatienten hat. (Hauswald et al. 1998; Masini et al. 1994; Toscano 1988) 3) Es besteht weitgehende Einigkeit über die Tatsache, dass eine alleinig anliegende Zervikalstütze keine ausreichende Immobilisation der Halswirbelsäule bietet, sondern dies nur durch die Ganzkörper- Immobilisation erreicht werden kann. (Horodyski et al. 2011; Lador et al. 2011; Hostler et al. 2009; James et al. 2004; Perry et al. 1999) 4) Durch das Anlegen einer starren Zervikalstütze kann es zur signifikanten Steigerung des Hirndrucks und zu einem erschwerten Atemwegsmanagement kommen. Bei Patienten mit M. Bechterev kann das Anlegen einer Zervikalstütze die neurologische Symptomatik z. T. drastisch verschlimmern. (Clarke et al. 2010; Goutcher et al. 2005; Hunt et al. 2001; Kolb et al. 1999) 5) Durch die Ganzkörper-Immobilisation eines Traumapatienten auf dem Spineboard kann es neben Schmerzen zur Restriktion der Ventilation, zu Zeitverzögerungen und zur erhöhten Mortalität kommen. (Bruijns et al. 2013; Morrissey 2013; Connor et al. 2013; Haut et al. 2010) 6) Wird eine Ganzkörper-Immobilisation auf dem Spineboard durchgeführt, bringt die zusätzliche anliegende Zervikalstütze keinen weiteren Benefit. (Holla 2012; Butler et al. 2001) 7) Die Vakuummatratze bietet eine bessere Immobilisation als das Spineboard. (Luscombe et al. 2003; Hamilton et al. 1996; Johnson et al. 1996) Version 2; 20.03.2015

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Stellungnahme zum Themenkomplex „Immobilisation von Traumapatienten“ durch das Nationale Board von PHTLS Deutschland (Stand: März 2015).

Erarbeitet durch die Forschungsgruppe präklinische Wirbelsäulen-Immobilisation der PHTLS Europe Resear ch Group Die Sinnhaftigkeit der Immobilisation beim Traumapatienten generell, sowie die verschiedenen Möglichkeiten der Durchführung dieser Immobilisation werden in der wissenschaftlichen Literatur zunehmend kontrovers diskutiert. Auch in zahlreichen notfallmedizinischen Foren und den verschiedenen sozialen Medien wird z. T. wissenschaftlich fundiert, z. T. aber auch äußerst emotional über dieses Thema berichtet und diskutiert. PHTLS Deutschland hat schon vor einiger Zeit damit begonnen die existierenden Kontroversen zu diesem Thema wissenschaftlich aufzuarbeiten. Im Rahmen der PHTLS Europe Research Group gibt es ein eigenes Forschungsprojekt zu diesem Thema. Gründliche wissenschaftliche Arbeit, welche auf ausreichenden Fallzahlen beruht, benötigt allerdings Zeit, weshalb noch nicht ausreichend eigene Studienergebnisse vorliegen. Zeitgleich erfolgte aber eine ausführliche Literatur-Recherche zum Themenkomplex der Immobilisation des verunfallten Patienten. Sowohl die PHTLS-Instruktorinnen und –Instruktoren und mittlerweile auch das PHTLS-Sekretariat erreichen häufig und zahlreich Nachfragen zu diesem Thema, wodurch auch immer wieder Unsicherheiten bei allen Beteiligten aufkommen. Es sollen deshalb zunächst die Kernaussagen der, für PHTLS relevanten, wissenschaftlichen Literatur zusammenfasst werden (auf Grund der Fülle an Literatur werden hier nur exemplarische Studien aufgeführt):

1) Es gibt keine Evidenz PRO oder CONTRA präklinischer Wirbelsäulen-Immobilisation durch kontrollierte, randomisierte Studien. (Kwan et al. 2009; Baez et al. 2006)

2) Es gibt unterschiedliche Ergebnisse bzgl. der Frage, ob das Unterlassen der Wirbelsäulen-Immobilisation Einfluss auf das Outcome des Traumapatienten hat. (Hauswald et al. 1998; Masini et al. 1994; Toscano 1988)

3) Es besteht weitgehende Einigkeit über die Tatsache, dass eine alleinig anliegende Zervikalstütze keine ausreichende Immobilisation der Halswirbelsäule bietet, sondern dies nur durch die Ganzkörper-Immobilisation erreicht werden kann. (Horodyski et al. 2011; Lador et al. 2011; Hostler et al. 2009; James et al. 2004; Perry et al. 1999)

4) Durch das Anlegen einer starren Zervikalstütze kann es zur signifikanten Steigerung des Hirndrucks und zu einem erschwerten Atemwegsmanagement kommen. Bei Patienten mit M. Bechterev kann das Anlegen einer Zervikalstütze die neurologische Symptomatik z. T. drastisch verschlimmern. (Clarke et al. 2010; Goutcher et al. 2005; Hunt et al. 2001; Kolb et al. 1999)

5) Durch die Ganzkörper-Immobilisation eines Traumapatienten auf dem Spineboard kann es neben

Schmerzen zur Restriktion der Ventilation, zu Zeitverzögerungen und zur erhöhten Mortalität kommen. (Bruijns et al. 2013; Morrissey 2013; Connor et al. 2013; Haut et al. 2010)

6) Wird eine Ganzkörper-Immobilisation auf dem Spineboard durchgeführt, bringt die zusätzliche anliegende Zervikalstütze keinen weiteren Benefit. (Holla 2012; Butler et al. 2001)

7) Die Vakuummatratze bietet eine bessere Immobilisation als das Spineboard. (Luscombe et al. 2003; Hamilton et al. 1996; Johnson et al. 1996)

Version 2; 20.03.2015

Aus der oben zitierten Literatur und den aktuell gü ltigen Leitlinien wird für die Behandlung von Traumapatienten folgende Stellungnahme formuliert:

A) Die Immobilisation der Wirbelsäule darf beim „kritischen Patienten“ weder die Diagnostik im Rahmen des Primary Survey noch die Therapie akuter ABCDE-Probleme verzögern oder behindern. Alle notwendigen Maßnahmen sollten bei bestehender Indikation zur Immobilisation der Wirbelsäule nach Möglichkeit unter Einhaltung der physiologischen Achse der Wirbelsäule durchgeführt werden.

B) Wird die Indikation zur Immobilisation der Halswirbelsäule gestellt, erfolgt zunächst eine manuelle Immobilisation. Für den Transport ist eine Ganzkörper-Immobilisation durchzuführen. Auch bei bestehender Indikation zur Immobilisation der Brust- oder Lendenwirbelsäule ist eine Ganzkörper-Immobilisation durchzuführen.

C) Auf Grund der Nachteile, welche eine Ganzkörper-Immobilisation mit sich bringen kann, ist eine differenzierte Indikationsstellung wichtig. Dies kann z. B. durch den im PHTLS-Buch abgedruckten Algorithmus erfolgen (basierend auf den NEXUS-Kriterien). Die Canadian C-Spine Rule kann als sehr gute Alternative zu diesem Vorgehen angesehen werden.

D) Die Vakuummatratze bietet eine bessere Immobilisationsmöglichkeit während des Patiententransports. Das Spineboard behält seine Daseinsberechtigung für die akute Rettung des Patienten. Ob der Patient nach der Rettung mit dem Spineboard auf eine Vakuummatratze umgelagert werden kann, muss im Einzelfall geprüft werden.

E) Bei Patienten mit symptomatischem Schädel-Hirn-Trauma sollte abgewogen werden, ob das Anlegen einer starren Zervikalstütze unbedingt erforderlich ist, oder ob dieser Patient auch anderweitig immobilisiert werden kann.

F) Bei der technischen Rettung eines Patienten sollte auf Grund der z. T. erheblichen Manipulation am Patienten zusätzlich zur manuellen Inline-Immobilisation eine Zervikalstütze angelegt werden.

Diese Empfehlungen wurden auf Basis der aktuellen D atenlage formuliert. Sie unterliegen den, in der Medizin üblichen, dynamischen Prozessen und müssen stets auf Aktualität überprüft werden. Bei der Umsetzung dieser Empfehlungen ist neben der medizinischen Dimension auch immer die juristische Dimension zu beachten. Hier sind vor al lem die Ärztlichen Leiter der Rettungsdienste gefragt, klare Indikationen und Vorgehensweisen in Ihren Rettungsdienstbereichen bei der Immobilisation zu geben. Diese sollten auf den aktu ellen wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen und den aktuellen Leitlinien nicht widersprechen. Für Rückfragen stehen ihnen die Unterzeichner des Textes gerne zur Verfügung. Für das Nationale Board PHTLS Deutschland gez. Bernhard Gliwitzky

(Vorsitzender PHTLS Deutschland) Dr. Dr. Michael Kreinest

(Forschungsgruppe präklinische Wirbelsäulenimmobilisation)

Dr. Christoph Wölfl

(Medizinischer Direktor PHTLS Deutschland) Dr. Matthias Münzberg

(Koordinator PHTLS Europe Research Group)

Literaturverzeichniss:

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Bruijns SR, Guly HR, Wallis LA (2013) Effect of spinal immobilization on heart rate, blood pressure and respiratory rate. Prehosp

Disaster Med. 28: 210-214 Butler J, Bates D (2001) Towards evidence based emergency medicine: best BETs from the Manchester Royal Infirmary. Cervical

collars in patients requiring spinal immobilisation. Emerg Med J. 18: 275 Clarke A, James S, Ahuja S (2010) Ankylosing spondylitis: inadvertent application of a rigid collar after cervical fracture, leading to

neurological complications and death. Acta Orthop Belg. 76: 413-415 Connor D, Greaves I, Porter K, Bloch M (2013) Pre-hospital spinal immobilisation: an initial consensus statement. Emerg Med J. 30:

1067-1069 Goutcher CM, Lochhead V (2005) Reduction in mouth opening with semi-rigid cervical collars. Br J Anaesth. 95: 344-348 Hamilton RS, Pons PT (1996) The efficacy and comfort of full-body vacuum splints for cervical-spine immobilization. J Emerg Med. 14:

553-559 Hauswald M, Ong G, Tandberg D, Omar Z (1998) Out-of-hospital spinal immobilization: its effect on neurologic injury. Acad Emerg Med.

5: 214-219 Haut ER, Kalish BT, Efron DT, Haider AH, Stevens KA, Kieninger AN, Cornwell EE, 3rd, Chang DC (2010) Spine immobilization in

penetrating trauma: more harm than good? J Trauma. 68: 115-120; discussion 120-111 Holla M (2012) Value of a rigid collar in addition to head blocks: a proof of principle study. Emerg Med J. 29: 104-107 Horodyski M, DiPaola CP, Conrad BP, Rechtine GR, 2nd (2011) Cervical collars are insufficient for immobilizing an unstable cervical

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56: 511-513 James CY, Riemann BL, Munkasy BA, Joyner AB (2004) Comparison of Cervical Spine Motion During Application Among 4 Rigid

Immobilization Collars. J Athl Train. 39: 138-145 Johnson DR, Hauswald M, Stockhoff C (1996) Comparison of a vacuum splint device to a rigid backboard for spinal immobilization. Am

J Emerg Med. 14: 369-372 Kolb JC, Summers RL, Galli RL (1999) Cervical collar-induced changes in intracranial pressure. Am J Emerg Med. 17: 135-137 Kwan I, Bunn F, Roberts I (2009) Spinal immobilisation for trauma patients. Cochrane Database Syst Rev. Cd002803 Lador R, Ben-Galim P, Hipp JA (2011) Motion within the unstable cervical spine during patient maneuvering: the neck pivot-shift

phenomenon. J Trauma. 70: 247-250; discussion 250-241 Luscombe MD, Williams JL (2003) Comparison of a long spinal board and vacuum mattress for spinal immobilisation. Emerg Med J. 20:

476-478 Masini M, Alencar MR, Neves EG, Alves CF (1994) Spinal cord injury: patients who had an accident, walked but became spinal

paralysed. Paraplegia. 32: 93-97 Morrissey J (2013) Spinal immobilization. Time for a change. Jems. 38: 28-30, 32-26, 38-29 Perry SD, McLellan B, McIlroy WE, Maki BE, Schwartz M, Fernie GR (1999) The efficacy of head immobilization techniques during

simulated vehicle motion. Spine (Phila Pa 1976). 24: 1839-1844 Toscano J (1988) Prevention of neurological deterioration before admission to a spinal cord injury unit. Paraplegia. 26: 143-150