Stephan Herzberg Wahrnehmung Und Wissen Bei Aristoteles Zur Epistemologischen Funktion Der...

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Aristotle. Theory of perception

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  • Stephan Herzberg

    Wahrnehmung und Wissen bei Aristoteles

  • Quellen und Studienzur Philosophie

    Herausgegeben vonJens Halfwassen, Dominik Perler,

    Michael Quante

    Band 97

    De Gruyter

  • Wahrnehmung und Wissenbei Aristoteles

    Zur epistemologischen Funktionder Wahrnehmung

    von

    Stephan Herzberg

    De Gruyter

  • ISBN 978-3-11-021236-5

    e-ISBN 978-3-11-021237-2

    ISSN 0344-8142

    Library of Congress Cataloging-in-Publication Data

    Herzberg, Stephan.Wahrnehmung und Wissen bei Aristoteles : zur epistemologischen

    Funktion der Wahrnehmung / von Stephan Herzberg.p. cm. (Quellen und Studien zur Philosophie, ISSN 0344-8142 ;

    Bd. 97)Revision of the authors thesis Universitt Tbingen, 2008.Includes bibliographical references (p. ) and index.ISBN 978-3-11-021236-5 (hardcover : alk. paper)1. Aristotle. 2. Perception (Philosophy) 3. Knowledge, Theory of.

    I. Title.B491.P38H47 2010121dc22

    2010036355

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

    ber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New YorkDruck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Gttingen

    Gedruckt auf surefreiem Papier

    Printed in Germany

    www.degruyter.com

  • Meinen Eltern

  • Vorbemerkung

    Die vorliegende Untersuchung ist die berarbeitete Fassung meinerDissertation, die im Wintersemester 2007/08 von der Fakultt fr Philo-sophie und Geschichte der Eberhard Karls Universitt Tbingen ange-nommen wurde. Sie ist im Rahmen des von der Deutschen Forschungs-gemeinschaft gefrderten Projekts Aristoteles Epistemologie imZusammenhang seiner theoretischen Hauptschriften entstanden. DemProjektleiter und meinem Doktorvater Prof. Dr. Drs. h.c. Otfried Hffemchte ich fr zahlreiche Verbesserungsvorschlge und stete Ermutigungherzlich danken. Meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Anton Friedrich Koch(Heidelberg) verdanke ich entscheidende Klrungen und Einsichten wh-rend der Zeit meiner Promotion. Beide gaben mir immer wieder die Ge-legenheit, Teile der vorliegendenUntersuchung in ihrenOberseminaren zurDiskussion vorzustellen. Herrn Prof. Dr. Johannes Brachtendorf danke ichfrdieMglichkeit, an seinemLehrstuhl zu arbeitenund indiesemRahmenmein Studium des Aristoteles fortzusetzen. Wichtige einzelne Hinweiseerhielt ich von Jun.-Prof.Dr. Klaus Corcilius (Hamburg) und Prof. Lloyd P.Gerson Ph.D. (Toronto), denen ich hiermit herzlich danke. Klaus CorciliusundTimWagnermchte ich fr das berlassen einer bisher unpubliziertenDe Anima-bersetzung danken.

    Tbingen, im September 2010 Stephan Herzberg

  • Abkrzungen der Aristotelischen Werke

    An. Post. Analytica posterioraAn. Pr. Analytica prioraCael. De caeloCat. CategoriaeDe an. De animaDiv. De divinatione per somnumEE Ethica EudemiaEN Ethica NicomacheaGen. an. De generatione animaliumGen. corr. De generatione et corruptioneHist. an. Historia animaliumInsomn. De insomniisInt. De interpretationeJuv. De juventute et senectuteMot. an. De motu animaliumMem. De memoria et reminiscentiaMet. MetaphysicaMeteo. MeteorologicaPart. an. De partibus animaliumPhys. PhysicaPol. PoliticaProbl. Problemata physicaProtr. ProtreptikosRhet. Ars rhetoricaSens. De sensu et sensibilibusSomn. De somno et vigiliaTop. Topica

    Soweit nicht anders angegeben, stammen diebersetzungen vomVerfasser.

  • Inhalt

    Einleitung: Aristoteles ein Empirist? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

    1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen . . . . . . . . . . 181.1 Die Wahrnehmung als gnsis tis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181.2 Aristoteles Begriff der epistm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261.3 Anti-fundamentalistische Interpretationsanstze . . . . . . . . . 401.4 Wahrnehmung und Wissen nach dem Protreptikos . . . . . . . . 47

    2. Weltzugang und Sinnestuschungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572.1 Die Wahrnehmung als gehaltvoller Zustand . . . . . . . . . . . . . 572.2 Das Kausalmodell und die Fallibilitt der Wahrnehmung . . 792.3 Reprsentationalismus oder Direkter Realismus? . . . . . . . . . 892.4 Aristoteles und das ,argument from illusion . . . . . . . . . . . . 100

    3. Der Gehalt der Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1093.1 Platons anti-empiristische Analyse im Theaitet . . . . . . . . . . . 1093.2 Grundri des Aristotelischen Wahrnehmungsbegriffs . . . . . . 1213.3 Die idia und koina aisthta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1273.4 Das aisthetische Ganze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

    4. Wahrnehmung und Intellekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1374.1 Zwei Interpretationsmodelle der akzidentellenWahrnehmung 1374.2 Assoziation innerhalb der animalischen Wahrnehmung . . . . 1554.3 Wahrnehmung und Wahrnehmungsmeinung . . . . . . . . . . . 1644.4 Wahrnehmung und Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

    5. Die Wahrnehmung in Aristoteles Theorie des Wissenserwerbs . . 1825.1 Wahrnehmung und Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1825.2 Von der Wahrnehmung zur empeiria nach An. Post. II 19 . . 1955.3 Vom ,fr uns Bekannteren zum ,an sich Bekannteren . . . . . 2045.4 Von der empeiria zu den Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

    6. Jenseits von Fundamentalismus und Kohrentismus . . . . . . . . . . 218

  • Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222I. Primrliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222

    I.1 Textausgaben, bersetzungen und Kommentare . . . . . . 222I.2 Andere Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

    II. Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223III. Sekundrliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224

    Index locorum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230Index nominum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235Index rerum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

    InhaltX

  • Einleitung: Aristoteles ein Empirist?

    Wenn wir uns fragen, welche Rolle die Wahrnehmung im Wissenserwerbspielt, scheinen sich zwei Funktionen unterscheiden zu lassen: Zum einenversorgt dieWahrnehmung unserDenkenmit basalen Informationen, ohnediewir nicht zu einem sachhaltigenWissenberdieWelt kommenknnten.Zum anderen fhren wir die Wahrnehmung auch als rechtfertigendenGrund fr eine bestimmteMeinung an, etwawennwir uns frdieMeinung,da ein bestimmter Gegenstand rot ist, darauf berufen, da wir gesehenhaben, dadieserGegenstand rot ist.WhrenddieWahrnehmung imerstenFall in einer kausalenBeziehung zuunseren kognitivenZustnden steht, gehtes im zweiten Fall um eine begrndende Beziehung zu einer bestimmtenMeinung berdieWelt.DenEmpirismus kannmannun erst einmal als eineepistemologische Position bestimmen, in welcher derWahrnehmung beideFunktionen in einem eminenten Sinn zugesprochen werden: Die Wahr-nehmung ist zum einen der Ursprung unseres gesamtenWissens, indem sieunsere kognitiven Aktivitten mit Informationen ber die Welt ,nhrt(gewissermaen der ,Stoff), zum anderen stellt sie in der Form extern ver-ursachter Sinneseindrcke das selbst nicht mehr rechtfertigungsbedrftigeFundament dar, auf das sich alle unsere Meinungen begrndend zurck-fhren lassen mssen, wenn sie als Wissensansprche auftreten wollen(gewissermaen der ,Boden).1

    Aristoteles Theorie des Wissenserwerbs wird immer wieder gerne alsempiristisch charakterisiert.2 Dafr scheinen nicht nur einige program-matische Passagen zu sprechen, in denen Aristoteles die zentrale Bedeutungder Wahrnehmung fr den Erwerb demonstrativen Wissens (epistm) be-tont.3 Auch die grundstzlicheAnnahme, dader Intellekt (nous) ber keine

    1 Das Problem an dieser empiristischen Konzeption ist, da wir anscheinend beideszugleich nicht haben knnen: Entweder die Wahrnehmung ist als blo ,kausalesZwischenstck zwischen der Welt und unseren Meinungen aufgrund ihrer feh-lenden begrifflichen Struktur nicht rechtfertigungsfhig, oder sie ist schon immerbegrifflich verfat und kann andereMeinungen begrnden, was sie dann aber selbstwiederum rechtfertigungsbedrftigmacht. Hierzu Sellars 1963.

    2 So etwa Barnes 1975, 259; Barnes 1982, 92;Modrak 1987, 123, 157179; Lesher1973, 65.

    3 Vgl. An. Post. I 18, 81a38 f.; I 31, 88a13 f.; De an. III 8, 432a7 f. ; Sens. 437a13.

  • angeborenen und unbewut vorliegenden Wissensinhalte verfgt, scheintauf eine empiristische Epistemologie hinauszulaufen: Die fr das demon-strative Wissen konstitutive Kenntnis der Prinzipien wird nach Aristotelesallein auf der Basis der Wahrnehmung als einem angeborenen und unter-scheidungsfhigen Vermgen erworben.4 Das Problem ist, wie diese Aus-sagen interpretatorisch einzulsen sind und was sich daraus fr AristotelesEpistemologie im ganzen ergibt.

    Man knnte nun der Meinung sein, da Aristoteles blo die Thesevertreten will, da unser gesamtes Wissen seine kausale Herkunft in derWahrnehmung hat und es keine angeborenen oder apriorischen Wissens-inhalte gibt. In diesem auf dieGenesedesWissens bezogenen Sinn kannmanAristotelesohneweiteresals einenEmpiristenbezeichnen;dieser schwchereSinn ist fr die vorliegende Untersuchung nicht von Interesse. Einige dereinschlgigen Passagen zum Wert der Wahrnehmung scheinen es aber na-hezulegen, da Aristoteles einen Empirismus im starken Sinn vertritt, undzwar in genau jenen beiden Spielarten, die gegenwrtig als ,Begriffsempi-rismus und ,Urteilsempirismus unterschieden werden.5 Nach dem ,Be-griffsempirismus gibt es Beobachtungsbegriffe, die sich durch einepsychologische Theorie der Abstraktion unmittelbar aus dem Wahrge-nommenen gewinnen lassen, ohne da dabei der Intellekt eigene, apriori-sche Inhalte beitrgt. Diese Beobachtungsbegriffe sind basal und auf siemssen sich alle anderen Begriffe definitorisch zurckfhren lassen.6 Nachdem ,Urteilsempirismus lassen sich alle synthetischenUrteile ausschlielichdurch Bezugnahme auf Wahrnehmungen begrnden. Das bedeutet, da allunsere Wissensansprche auf Wahrnehmungsmeinungen begrndend zu-rckgefhrtwerdenmssen, die selbst durch Sinneseindrcke gerechtfertigtwerden. Diese stellen als ein ,unmittelbar Gegebenes die Rechtfertigungs-basis fr unser gesamtes Wissen ber die Welt dar. Wesentlich fr dieseSpielart des Empirismus ist, da hier dieWahrnehmung eine rechtfertigendeRolle imWissenserwerb spielt: Als einGrund kann sie unmittelbar aus einerbestimmten Meinung ein ,empirisches Wissen machen und mittelbarweitergehendeWissensansprche sttzen, etwa inderWeise,damanseinenAnspruch, die Prinzipien einer Sache erfat zu haben, durch Rckgang aufeine bestimmte Klasse von Beobachtungen rechtfertigt.

    4 An. Post. II 19, 99b2635, 100a10 f.5 Fr diese Unterscheidung vgl. Kutschera 1982, 438 f.; Sellars 1989, 165228;

    Wolterstorff 1995, 262 f.6 Hierzu genauer Kambartel 1968, 21 ff.; Kutschera 1982, 435455.

    Einleitung: Aristoteles ein Empirist?2

  • Einige Passagen scheinen es nun nahezulegen, Aristoteles einen Empi-rismus in genau diesen beiden Spielarten zuzuschreiben.7 Fr einen ,Be-griffsempirismus wird immer wieder die Passage De an. III 8, 432a39angefhrt8:

    Da aber kein einziger Gegenstand, wie es scheint, neben den wahrnehmbarenGren getrennt existiert, sind die Gegenstnde des Denkens in den wahr-nehmbarenFormen,das inAbstraktionAusgesagtewie auchdieHaltungenundEigenschaften der wahrnehmbaren Dinge. Und daher knnte jemand, ohneetwas wahrgenommen zu haben, rein gar nichts lernen noch etwas verstehen,und wenn man betrachtet, mu man notwendig zugleich eine Vorstellungbetrachten (ja di toOto oute l aQshamlemor lghm oqhm #m lhoi oqdnumeg, ftam te heyq0, !mcjg la vmtasl ti9 heyqe?m) (De an. III 8,432a39).

    Hier scheint der intelligibleGegenstand (noton) irgendwie potentiell in denwahrnehmbaren Formen enthalten zu sein (als Teil in einem literalen Sinn)und nur noch imSinne des ,leave out and retain10 von den individuellenEigenschaften abstrahiert werden zu mssen, ohne da dabei der Intellektetwas ,Neues macht, d.h. apriorische Inhalte hervorbringt. Fr einen,Urteilsempirismus knnte An. Post. I 18 angefhrt werden:

    Es ist auch einleuchtend, da wenn eine bestimmteWahrnehmung ausbleibt,notwendig auch ein bestimmtes Wissen ausbleibt, welches unmglich zu er-werben ist, wennwir wirklichWissen erwerben entwederdurch Induktion oderdurch Demonstration und die Demonstration vom Allgemeinen abhngt (1jt_m jahkou), die Induktion dagegen vom Speziellen (1j t_m jat lqor), undes unmglich ist, dasAllgemeine zu betrachten auer durch Induktion []und

    7 Vgl. Barnes 1982, 92: The ultimate source of knowledge, in Aristotles view, isperception. Aristotle was a thoroughgoing ,empiricist in two senses of that slipperyterm.First,heheld that thenotionsorconcepts in termsofwhichweseek tograspandexplain reality are all ultimately derived from perception [] Secondly, he thoughtthat all science or knowledge is ultimately grounded on perceptual observations.Vgl. auch Barnes 1975, 259.

    Vgl. Modrak 1987, 123; 161: In short, noetic activity of all sorts, including theexerciseof knowledge, depends onperception; this psychological dependencehas anepistemological counterpart. According to the Posterior Analytics, knowledge isdependent upon perception in that perception is the ultimate source of universalconcepts and indemonstrable first principles.

    8 Auch die Passagen De an. III 7, 431a16 f. und 431b2 knnten in diesem Sinnverstanden werden, wennman das noton als eine ,verallgemeinerte Reprsentationdes wahrgenommenen partikularen Gegenstands auffat, der im einhergehendenphantasma prsentiert wird (Modrak 1987, 172).

    9 Die mglichen Lesarten dieser Stelle werden in Kap. 5.1 diskutiert.10 Vgl. Locke, An Essay Concerning Human Understanding III 3, 7.

    Einleitung: Aristoteles ein Empirist? 3

  • eine Induktion durchzufhren ohne Wahrnehmung zu haben unmglich ist.DieWahrnehmung richtet sich nmlich auf das Einzelne (jah 6jastom), dennman kann davon keinWissen erwerben weder nmlich aus demAllgemeinenohne Induktion noch durch Induktion ohne die Wahrnehmung (An. Post. I18; bers. Detel).11

    JedesWissen im Sinne der epistm kommt durch einen Beweis (apodeixis)12

    zustande, der vonoberstenPrmissen, denPrinzipien (An.Post. I 2, 71b1623), abhngt, die sich auf universelle und notwendige Tatsachen13 beziehen(katholou: I 4, 73b26 ff. ; I 31, 87b32 f.). Dieses katholou kann aber nurdurch Induktion erkannt werden, die wiederum beim Einzelnen (kath he-kaston) ansetzt, wofr die Wahrnehmung zustndig ist.14 Das vorliegendeKapitel knnte man nun so verstehen, da das Erkennen dieser oberstenPrmissen durch ein induktives Schlieen zustandekommt. Auf dieses in-duktiveVerfahren,dasbeiderWahrnehmungansetzt, knnteman sichdannberufen, um seinenAnspruch, die Prinzipien erfat zu haben, zu rechtfertigen.Letztlich wrde somit alles Wissen auf der Wahrnehmung beruhen unddurch sie legitimiert werden. Auch die ,Genetische Epistemologie (Ham-lyn) von An. Post. II 19 (99b36100b5) knnte in diesem empiristischenSinn verstanden werden: Die Frage, wie wir mit den Prinzipien bekanntwerden (99b18), wird einige Zeilen spter in der ,Schwierigkeit (diapoq-seiem %m tir) aufgenommen, ob die kognitiven Zustnde als ganze erstentstehen oder unbewut schon immer in uns vorliegen. Da letzteres nicht

    11 Vgl. auch EN VI 3, 1139b2631.12 Ein Beweis zielt darauf, die urschlich-essentiellen Strukturen eines bestimmten

    Phnomens aufzudecken und es dadurch zu erklren. Hierzu Kap. 2.113 Wenn in dieser Untersuchung in Bezug auf Aristoteles von ,Tatsachen die Rede ist,

    dann sind damit immer akzidentelle oder essentielle Verhltnisse des Zukommensgemeint. FrAristoteles besteht dieWelt aus individuellenSubstanzenundnicht ausTatsachen. Die Zugehrigkeit zu einer bestimmten Gattung und Art gewinnen dieindividuellenSubstanzendurchessentielleEigenschaften.Siewerdenin ,essentiellenPrdikationen (An. Post. I 22, 83a39 f.; I 4, 73a3437) als Tatsachen dargestelltund fungieren inBeweisen als unvermittelte und erklrungskrftige Prmissen.DenSubstanzen kommen bestimmte Akzidentien entweder notwendig (sog. per se-Ak-zidentien: z.B.demDreieckdieWinkelsummevon1808 ; vgl.Met.V1025a3034)oder blo zufllig zu (z.B. demSokrates eine bestimmte Farbe).Diese akzidentellenVerhltnissedesZukommens lassen sich in ,akzidentellenPrdikationen (An.Post. I22, 83a2529) als Tatsachen darstellen. Ontologisch betrachtet bilden essentielleund akzidentelle Verhltnisse jeweils eine ,substantielle bzw. ,akzidentelle Einheit(vgl. Met. V 6; Met. X 1, 1052a2225).

    14 Das kath hekaston kann hier so aufgefat werden, da es eine singulre Tatsache undnichtbloeine singulreQualittbezeichnet (vgl. auchAn.Post. I31,87b3788a2;EN III 5, 1112b341113a2; VII 5, 1147a2534; Top. V 3, 131b2227).

    Einleitung: Aristoteles ein Empirist?4

  • mglich ist, mssen sie erworben werden, was aber ex nihilo, also ohne ir-gendein Vorwissen, nicht mglich ist (99b2532). Hier kommt nun dieWahrnehmung als ein ,angeborenes unterscheidungsfhiges Vermgen(dmalim slvutom jqitijm : 99b35), das wir mit den anderen Lebewesengemeinsam haben, ins Spiel. Als ein solches Vermgen kann sie jene,Kenntnis (gnsis) gewhren, welche die Grundlage fr den Erwerb desPrinzipienwissens darstellt und dabei hinsichtlich ihrer Rangs an Genau-igkeit unterhalb des gesuchten Prinzipienwissens bleibt (99b33 f.;100a10 f.). Aristoteles skizziert, wie ausgehend von derWahrnehmung berdas Gedchtnis und die Erfahrung die Kenntnis der Prinzipien zustande-kommt und schliet diese Beschreibung mit dem Satz ab: Es ist also klar,da uns die ursprnglichen Dinge (ta prta) notwendig durch Induktionbekannt werden; denn auch die Wahrnehmung bringt auf diese Weise dasAllgemeine hinein (100b3 ff. ; bers. Detel mit nderungen). Auch dasknnte man so verstehen, da die Kenntnis der Prinzipien durch ein in-duktives Verfahren, das auf wahrgenommenen Tatsachen basiert, erworbenwird und auf das man sich dann als Rechtfertigung des Wissensanspruchs,die Prinzipien erfat zu haben, berufen kann.

    Entgegen dieses ersten Eindrucks in Richtung eines Empirismus betontAristoteles aber auch die Grenzen der Wahrnehmung hinsichtlich desWissenserwerbs. In An. Post. I 31 sagt Aristoteles dezidiert, da wir durchWahrnehmung nicht wissen knnen:

    Auch durchWahrnehmung ist es nicht mglich zu wissen (oqd di aQshseyr5stim 1pstashai). Auch wenn nmlich die Wahrnehmung sich auf das Qualeund nicht auf ein Dieses richtet (B aUshgsir toO toioOde ja l toOd timor) wahrgenommen wird doch jedenfalls notwendigerweise ein Dieses, und zwarirgendwo und jetzt (aQshmesha ce !macja?om tde ti ja po ja mOm). DasAllgemeine und auf alles Zutreffende (1p psim) dagegen kann nicht wahrge-nommenwerden,dennes istkeinDiesesundauchnicht jetzt; sonstwre esnichtallgemein,dennwas immerundberall (t cq!ei` japamtawoO) ist, nennenwirallgemein. Da nun die Demonstrationen allgemein sind, dieses aber nichtwahrgenommen werden kann, ist es einleuchtend, da man durch Wahrneh-mungauchnichtwissenkann(oqd1pstashai diaQshseyr5stim) ; vielmehr istklar, da selbst wennmanwahrnehmen knnte, da dasDreieckWinkel gleichzwei Rechten hat, wir nach einer Demonstration suchen und nicht, wie einigebehaupten, wissen wrden. Wahrgenommen nmlich wird notwendig dasEinzelne, das Wissen dagegen ist das Kennen des Allgemeinen (87b2839;bers. Detel).

    Da man ,durch Wahrnehmung nicht wissen kann (oqd di aQshseyr5stim 1pstashai), darf nicht so verstandenwerden, als obAristoteles hier imGegensatz zu anderen Aussagen die Relevanz der Wahrnehmung fr den

    Einleitung: Aristoteles ein Empirist? 5

  • Wissenserwerb gnzlichbestreitenwrde.Aristoteles verneint vielmehr, daein Wahrnehmungsinhalt als Prmisse eines Beweises verwendet werdenkann,durchdenmaneineTatsache imstriktenSinnwei (epistasthai hapls).WhrendsichderAktdesWahrnehmensnmlich immeraufeineneinzelnenGegenstand an einer bestimmten Raum-Zeit-Stelle bezieht (tde ti ja poja mOm)15, basiert Wissen im Sinn der epistm immer auf Prmissen, dieallgemein im strikten Sinn sind, d.h. sich auf universelle und ewige Tatsa-chen beziehen (!e ja pamtawoO ; vgl. auch I 4, 73a2834, b26 f.):Wahrgenommen nmlich wird notwendig das Einzelne, das Wissen da-gegen ist das Kennen des Allgemeinen (87b37 ff.).16 Da universelle Tat-sachen kein Inhalt der Wahrnehmung sein knnen, kann durch Wahr-nehmung auch kein Wissen zustande kommen. Aristoteles sagt damit alsonichts anderes, als daman sich fr die wissenschaftliche Begrndung einesPhnomens nicht einfach und allein auf eineWahrnehmung berufen kann.Dennochmildert er diese Empirismus-Kritik dahin gehend ab, indem er inBezug auf die Untersuchung eines natrlichen Ereignisses wie der Mond-finsternis sagt, da wir aus dem Beobachten, da dies oft geschieht, dasAllgemeine erjagend, einen Beweis gewinnen wrden: Denn aus mehrereneinzelnen Tatsachen wird das Allgemeine klar (88a3 ff. und a13 f.).

    Aus dieser ersten Durchsicht der einschlgigen uerungen desAristoteles zur Rolle der Wahrnehmung imWissenserwerb ergibt sich, dadie Wahrnehmung zumindest eine notwendige Bedingung fr den Erwerb

    15 Wie Detel (1993 II, 493 f.) zu Recht bemerkt, ist das, was Gegenstand der Wahr-nehmung (aUshgsir) ist, genau das, was nicht Gegenstand des Wahrnehmens(aQshmeshai) ist, nmlich das toimde (vgl. An. Post. II 19, 100a17: hier jahkou).Andererseits ist das, was Gegenstand des Wahrnehmens ist, genau das, was nichtGegenstand der Wahrnehmung ist, das tde ti. Wir werden auf diese Unterschei-dung noch eingehen.

    16 Es zeichnet sich schon hier ab, da es bei Aristoteles keine ,empirische 1pistlggeben kann, die sich auf singulre, wahrnehmbare Tatsachen bezieht in demSinn,wie in der gegenwrtigenEpistemologie vom ,empirischenWissengesprochenwird(z.B. Kern 2006, 77): Hier fungierenWahrnehmungsinhalte alsGrnde, durch dieein ,Wahrnehmungswissen hervorgebracht wird (vgl. etwa Audi 2003, 28 f.). BeiAristoteles dagegen bilden Wahrnehmbares und Wibares zwei verschiedene ,Be-reiche derWirklichkeit (vgl. De an. III 8, 431b21 f.), denen verschiedene kognitiveVermgen und Dispositionen entsprechen (vgl. An. Post. I 33; Met. VII 15,1039b271040a7; EN VI 2, 1139a614; VI 3, 1139b19 -24). Was Gegenstandder epistm ist, kann nicht Gegenstand der Wahrnehmung und der doxa sein undwas Gegenstand vonWahrnehmung und doxa ist, kann nicht im Sinne der epistmgewutwerden (hierzuGerson2009, 6770).Wirwerden imKap. 5.3noch sehen,da Aristoteles die sog. platonische ,Zwei-Welten-Epistemologie nicht einfachbernimmt, sondern entscheidende Verfeinerungen an dieser Lehre vornimmt.

    Einleitung: Aristoteles ein Empirist?6

  • demonstrativen Wissens darstellt ; sie hat eine zentrale epistemologischeFunktion. Darin unterscheidet sich Aristoteles von Positionen, die derWahrnehmung blo die Kompetenz zugestehen, uns ber das AngenehmeundUnangenehme zu informieren.17 Aristoteles betont inDe sensu, da dieSinne nicht nur der bloen Erhaltung (sytgqar 6mejem) dienen, indemmitihnendasEmpfindendesLustvollenbzw.des Schmerzvollen einhergeht, dasfr die elementaren Reaktionen des Fliehens und Verfolgens (veceim dijeim) verantwortlich ist. In Lebewesen, die auch ber Verstand verfgen,sind die Fernsinne auch ,um des Guten willen (toO ew 6meja) da: Denn siezeigen uns viele Unterschiede an, aus denen sowohl das Wissen der Ge-genstnde desDenkens als auch derGegenstnde desHandelns hervorgeht(Sens. 437a2 f.).18 Was bedeutet das aber genauer? Was trgt die Wahr-nehmung zumWissenserwerb bei?Wie ist ihrGehalt zu bestimmen? Bildetdie Wahrnehmung die rechtfertigende Basis, auf die sich unser ganzesWissen zurckfhren lt? Oder hat sie eine blo kausale Funktion alssensorischer Informationslieferant? Was mu noch hinzukommen, um diefr das demonstrative Wissen konstitutiven Prinzipien zu erkennen?

    Diese Fragen wurden in der Vergangenheit fast ausschlielich anhanddesSchlukapitelsderZweitenAnalytikendiskutiert: InderTat ist eswichtig,wie der hier skizzierte aisthetisch-epagogische Vorgang (99b36100b5)und der nous (100b517) jeweils verstanden und im Hinblick auf die Er-kenntnis der Prinzipien zueinander gewichtet werden.19 Je nachdem, wiediese beiden Gewichte verteilt werden, scheint Aristoteles eher einen Em-

    17 So betont etwa Descartes am Ende seiner Meditationes, da uns die Sinne von derNatur nur deshalb gegeben wurden, um dem Geist anzuzeigen, was fr dasKompositum, von dem er ein Teil ist, gnstig oder ungnstig ist, und die insofernklar und deutlich genug sind (AT VII, 83).

    18 pokkr cq eQsacckkousi diavoqr, 1n m F te t_m mogt_m 1ccmetai vqmgsir ja Bt_m pqajt_m. Der Terminus phronsis wird hier nicht im engen, technischen Sinnvon EN VI 5 verwendet, sondern in einem weiten Sinn, der auch ein theoretischesWissen bezeichnen kann (vgl. hierfr auch Sens. 437a11; Protr. B 71, B 77, B 103;Met. I 2, 982b24). Wir werden auf diese Stelle und auf den Terminus phronsisgenauer in Kap. 4.2 eingehen.

    Wenn nicht anders angegeben, wird im Folgenden der Protreptikos nach derEinteilung von Dring zitiert. Ich bin mir der Mngel seiner Fragmentsammlungbewut (vgl. Flashar 2006, 172 f.). Fr die vorliegenden Zwecke sind dieseMngelaber unerheblich.

    19 Fr einen genauen berblick ber die verschiedenen Interpretationsmglichkeitenvgl. Detel 1993 II, 839844; Horn/Rapp 2005, 2745.

    Einleitung: Aristoteles ein Empirist? 7

  • pirismus oder Rationalismus zu vertreten.20 In der Vergangenheit wurdediesesKapitel von vielen Interpreten so gelesen, dader im letztenAbschnitt(100b517) eingefhrte nous als ein spezifisch auf die Erkenntnis derPrinzipien ausgerichtetes Vermgen das vorher skizzierte aisthetisch-epago-gische Verfahren abschliet. Da durch die Induktion nur ein ,empirischesAllgemeines und gerade nicht das katholou im strikten Sinn gewonnenwerdenkann, scheintnur ein intuitivesVermgen inderLagezu sein, eine imhchsten Ma gewisse Kenntnis der Prinzipien zu gewhrleisten.21 NunsprechenaberguteGrndedafr, eine solche intuitionistische Interpretationabzulehnen22 vor allemder exegetischeGrund, da derAbschnitt ber dennous uns gerade nicht darber informieren will, wie wir die Prinzipien er-kennen (p_r te cmomtai cmqiloi : 99b18), sondern blo eine Antwort aufdie zweite Frage darstellt, welches die kognitiveHaltung oder Verfassung ist(tr cmyqfousa 6nir)23, in der wir uns befinden,wennwir die PrinzipienmitHilfe der ,Induktion (epagg) erkannt haben.24 Wenn also der Terminusnous in II 19 kein besonderes intuitives Vermgen der Prinzipienerkenntnisbezeichnet, wrde ihre Erkenntnis allein auf der Wahrnehmung und demdarauf aufbauenden induktiven Vorgang ,basieren (was auch immer dasheien mag). Also mte man Aristoteles Theorie des Wissenserwerbs als

    20 Vgl. Barnes 1975, 248 f.: B 19 is Janus-faced, looking in one direction towardsempiricism, and in theother towards rationalism.Theprinciples are apprehendedbyinduction (epagg) inanhonest empiricistway;but theyarealsograspedbynous, orintuition as it is normally translated, in the easy rationalist fashion. It is a classicproblem in Aristotelian scholarship to explain or reconcile these two apparentlyopposing aspects of Aristotles thought.

    21 Vgl. etwaRoss 1949, 86: Aristotle is thus neither an empiricist nor a rationalist, butrecognizes that sense and intellect are mutually complementary.

    22 Hierzu genauer Horn/Rapp 2005, 2745.23 Solche kognitiven Haltungen, die die ,Teile des vernnftigen Seelenvermgens

    qualitativ charakterisieren die hexis gehrt zurKategorie derQualitt und zeichnetsich gegenber derdiathesisdurch ihre grereBestndigkeit aus (Cat. 8, 8b2528), kommendurch eine bestimmte kognitiveTtigkeit zustande undbefhigen ihrenBesitzer dazu, eine bestimmte kognitive Leistung zu vollbringen.

    24 Vgl. Barnes 1975, 257: It is Aristotles first question, not his second, which asksabout the process ormethod by which we gain knowledge of the principles ; and themethod is, in a word, inductive. Nous, which answers the second question, is notintended to pick out some faculty ormethod of acquiring knowledge: nous, the stateor disposition, stands to induction as understanding (epistm) stands to demon-stration. Understanding is not a means of acquiring knowledge. Nor, then, is nous.Vgl. auch Kosman 1973, 385.

    Einleitung: Aristoteles ein Empirist?8

  • empiristisch charakterisieren.25 Doch damit sind die Fragen, welche RollegenaudieWahrnehmung imWissenserwerb spielt und inwelchemSinnhiervon einem Empirismus gesprochen werden mu, noch nicht beantwortetund sie knnen, wie sich noch zeigenwird, allein auf derGrundlage vonAn.Post. II 19 auch nicht beantwortet werden: Die Diskussionen um diesesKapitel konzentrieren sich vor allem auf den bergang von der Erfahrung(empeiria) zur Erkenntnis der Prinzipien.26 Wer hier eine intuitionistischeInterpretation des nous als eines speziell auf die Prinzipien ausgerichteten,intuitiven Erkenntnisvermgens ablehnt, scheint quasi automatisch eineempiristische Interpretationzuvertreten,ohnedadamit schonhinreichendklar wre, welche epistemologische Funktion derWahrnehmung hier genauzugeschrieben mu und welche Art von Empirismus hier vorliegt. Dieisolierte Konzentration auf An. Post. II 19 greift zu kurz, um diese Frageneiner befriedigenden Klrung zuzufhren. Auch neuere Interpretationen,die sich gegen einen fundamentalistischen Empirismus wenden, beant-wortendieFragenachder epistemischenRolle derWahrnehmungnur inderWeise, da sie Aristoteles Epistemologie in ihrem theoretischen Anspruchfr wenig ambitioniert erklren und somit fr nur gering explikationsfhighalten: Wenn der Wissenserwerb blo in einer ,Vertiefung oder grerenintellektuellen Vertrautheit mit schon erworbenen Kenntnissen besteht27

    oder sich auf die bloe Konsistenzprfung und richtige Anordnung tiefererund weniger tiefer phainomena beschrnkt28 oder einen blo kausalenProze darstellt, in dem sich die Kenntnis der Prinzipien auf natrlicheWeise aus dem diskriminativen Vermgen der Wahrnehmung und demGedchtnis entwickelt29, dann mu man zur Rolle der Wahrnehmung imWissenserwerb nicht mehr viel sagen. Es ist dann ausreichend darauf hin-

    25 Barnes 1975, 259: the answerAristotle gives to the first question iswhole-heartedlyempiricist.

    26 Dieser bergang ist der ,blinde Fleck in der ,Genetischen Epistemologie von An.Post. II 19: In 100a69gehtAristoteles unmittelbar vonderErfahrungwennmandas C in 100a6 epexegetisch versteht, so da das Folgende (100a6 ff.) den Inhalt derErfahrungserkenntnis beschreibt zum ,Prinzip der techn und epistm ber wenn man arch hier im terminologisch engen Sinn als Prinzip und nicht blo ineinem wrtlichen Sinn als ,Anfang (Phys. VI 5, 236a14 f.; Mot. an. 702b1) ver-steht. Lediglich 100a14b3 knnte man als eine sehr allgemeine Skizze diesesbergangs ansehen. AusMet. I 1, 981a5 f. erfahren wir blo, da eine Vielzahl vonErfahrungsinhalten fr die Kunst bzw. fr das Wissen notwendig sind.

    27 Burnyeat 1981, 130133.28 Nussbaum 1986, 251, 257.29 Frede 1996, 170 f. Wir werden auf die gerade angesprochenen anti-fundamenta-

    listischen Interpretationen im Kap. 1.3 noch genauer eingehen.

    Einleitung: Aristoteles ein Empirist? 9

  • zuweisen, da die Wahrnehmung uns eine bestimmte Art von Kenntnis(gnsis tis) gewhrt, indem sie Gegenstnde voneinander unterscheiden undvorlufig identifizieren kann, oder irgendwie zur Etablierung allgemeinanerkannter Tatsachen einen Beitrag leistet.

    Ziel der vorliegendenUntersuchung ist es, die Rolle derWahrnehmungin Aristoteles Theorie des Erwerbs demonstrativen Wissens (epistm)przise herauszuarbeiten und damit zu einem besseren Verstndnis vonAristoteles Epistemologie30 beizutragen.

    Wirwerden in folgenderWeisevorgehen: InKap. 1werdenwir zunchstdie beiden Begriffe ,Wahrnehmung (aisthsis) und ,Wissen (epistm) in-nerhalb des Aristotelischen Theorierahmens einer begrifflichen Klrungunterziehen. Auf der Grundlage von De an. III 3, 427a17-b29 lt sichzeigen, da fr Aristoteles die Wahrnehmung einen genuinen Typ des Er-kennens (gnrizein, gnsis) bildet, whrend das demonstrative Wissen(epistm) eine spezifische Form des anderen Typs des Erkennens darstellt,nmlich des diskursivenDenkens (dianoeisthai), das auf eineAnnahme oderein Urteil (hypolpsis) ber einen bestimmten Bereich des Seienden abzielt.Als ein diskriminatorisches Vermgen gewhrt uns die Wahrnehmung einebestimmte Art der Kenntnis (gnsis tis); sie erschliet uns in einer nicht-begrifflichen Weise die sinnliche Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit(Kap. 1.1). Im Anschlu daran wird Aristoteles Konzeption des demon-strativenWissens (epistm) dargestellt, das von sich aus auf eine andere Art

    30 Wenn in dieser Untersuchung von ,Aristoteles Epistemologie die Rede ist, dannimmer im Bewutsein der Tatsache, da sich bei Aristoteles weder eine spezifischephilosophische Disziplin mit diesem Namen noch eine Pragmatie finden lt, diesich in einer zusammenhngendenWeise mit der Natur, denQuellen undGrenzenunseres Wissens beschftigt und fr die die Frage nach der Rechtfertigung unsererWissensansprche zentral ist. Auch wenn Aristoteles, wie wir noch genauer sehenwerden, skeptische Fragestellungen und Argumente kennt und sich mit ihnen ineinem bestimmten Ma auseinandersetzt (Met. IV 46), geht diese Auseinander-setzung nicht so weit, da diese Fragestellungen ihn zu einer grundlegenden Re-flexion ber die Mglichkeit, die Quellen und Grenzen unseres Wissens motiviertundsomit eineeigenstndige ,Erkenntnistheoriehervorbringt.Dennoch findenwirber das ganze Werk verstreut einzelne Stcke, die man fr eine ,Theorie desWissens heranziehen kann: (i) die Lehre von den dianoetischen Tugenden imsechsten Buch der Nikomachischen Ethik als eine Untersuchung der verschiedenenFormen des Vernunftvermgens und seinem ergon, die Wahrheit; (ii) die ZweitenAnalytiken als eine Theorie einer besonderen Form des Wissens, des Wissens ausBeweis (epistm), und den Bedingungen seines Zustandekommens; (iii) eineTheorie derErkenntnis der frdie epistmkonstitutivenPrinzipien (An.Post. II 19;Met. I 1); (iv) eine Auseinandersetzung mit skeptischen Argumenten (Met. IV46); (v) eine Theorie des Denkens (De an. III 48).

    Einleitung: Aristoteles ein Empirist?10

  • desWissens verweist :Wenn die epistm nur durch Beweis zustandekommtund dieser von Prinzipien, also unvermittelten und erklrungskrftigenPrmissen, ausgeht, mssen wir auch von diesen Prinzipien irgendeine Artvon Wissen haben, und zwar ein nicht-demonstratives. Die SpannungzwischendenAnforderungen,dieAristoteles andiesesWissenderPrinzipienstellt, und den drftigenAussagen darber, wie wir dieses besondereWissenerwerben, hat Interpreten immer wieder dazu bewogen, den nous zu einemspezifisch aufdiePrinzipien ausgerichteten, intuitivenErkenntnisvermgenzu machen, der das in An. Post. II 19 skizzierte induktive Verfahren ab-schliet. Interpreten, die einen solchen Intuitionismus ablehnen, erklrenmeist allein die Induktion fr hinreichend; der Anspruch, die Prinzipienerfat zu haben, wird dann durch Rckgang auf unmittelbar gegebeneSinneseindrcke gerechtfertigt (Kap. 1.2). Gegen diese beiden traditionel-len Interpretationen, die rationalistische wie die empiristische, wurde in derjngeren Vergangenheit immer wieder der grundstzliche Einwand vorge-bracht, daAristoteles das Interesse an so etwaswie Evidenz,Gewiheit undRechtfertigung und berhaupt die damit verbundene ,Idee eines Funda-ments fehle. Dieser ,anti-fundamentalistische Konsens hat sich in derAristoteles-Exegese in ganz unterschiedlichen Interpretationen niederge-schlagen, wie etwa darin, da Aristoteles Theorie des Wissenserwerbs alseine bloe Vertiefung schon erworbener Kenntnisse beschrieben wird oderals ein Kohrentismus, ein Fallibilismus oder eine kausale Theorie charak-terisiert wird (Kap. 1.3). Was das ,Vertiefungsmodell betrifft, so lt sichzeigen, da sich fr Aristoteles durchaus ein solches herausarbeiten lt; eshandelt sich hier aber blo umein protreptischesModell (Kap. 1.4), das nichtAristoteles letztesWort inBezugaufeineTheoriederWissensgewinnung ist.Auch wenn neuere Interpretationen auf je andere Weise einen ,Mythos desGegebenen (Sellars) vermeiden, insofern also als systematisch attraktivangesehen werden knnen, besteht doch ihr interpretatorischer Mangeldarin, da sie (i) die epistemische Rolle der Wahrnehmung nicht genauerklren und (ii) Aristoteles entweder keine theoretisch anspruchsvolle undinterpretatorisch explikationsfhige Theorie des Wissenserwerbs zubilli-gen31 oder ihn in einen letztlich ihm fremden Kontext stellen.32 Die vor-liegende Untersuchung versucht, diese beiden Mngel zu beheben.

    31 Das trifft auf das ,Vertiefungsmodell Burnyeats (Burnyeat 1981) und die kausaleInterpretation Fredes (Frede 1996) zu.

    32 Diese Kritik kann gegen die kohrentistische Interpretation von Nussbaum(Nussbaum 1986) und die fallibilistische von Detel (Detel 1993) vorgebrachtwerden.

    Einleitung: Aristoteles ein Empirist? 11

  • Um nun die Rolle der Wahrnehmung im Erwerb demonstrativenWissens genauerbestimmenzuknnenundumdieFrage zu entscheiden, obAristoteles Epistemologie als empiristisch charakterisiert werden sollte,mu zuerst geklrt werden, ob die Wahrnehmung gegenber skeptischenArgumenten als ein absolut sicheres Fundament aufgewiesen wird und wassie berhaupt zum Wissenserwerb beitragen kann, wie also ihr Gehalt be-stimmtwerdenmu.DieseFragenknnennunabernicht aufderGrundlageder Zweiten Analytiken beantwortet werden, da Aristoteles hier weder dieWahrnehmung als solche thematisiert, noch den Wahrnehmungsbegriff ineinem einheitlichen Sinn verwendet.33 Wir werden daher so vorgehen, dawir zuerst fragen, obdieWahrnehmungbeiAristotelesprinzipiell inderLageist, jene Anforderungen zu erfllen, die fr einen Empirismus konstitutivsind. Hierfr wenden wir uns in Kap. 24 zentralen Passagen ausDe animaund aus den Parva naturalia zu. Wenn wir fragen, wie der Gehalt derWahrnehmungbestimmtwerdenmu, setzt das voraus, damanAristotelesberhaupt so etwas wie einen ,Gehalt der Wahrnehmung oder ein ,Ge-richtetsein auf etwas zuschreiben darf. In Kap. 2.1 wird sich zeigen, daAristoteles durchaus das Spezifikum der Wahrnehmung, einen kognitivenZugang zu einer bestimmten Art vonObjekten zu haben, anerkennt. DiesesMerkmal kann aber nicht mit einem anspruchsvollen Begriff der Intentio-nalitt, gem dem intentionale Zustnde bestimmte Wahrheits- und Er-fllungsbedingungen besitzen, interpretiert werden. Der AristotelischenWahrnehmungstheorie liegt ein Kausalmodell zugrunde, in dem sich einbestimmterWahrnehmungsgehalt immer durch seine externe Ursache, alsodurch das aisthetische eidos, festgelegt wird. Somit setzt das Vorliegen einesbestimmten Gehalts notwendig das Vorliegen eines externen Gegenstandsvoraus, der diese Wahrnehmung verursacht hat (Kap. 2.1). Gegen diesesKausalmodell lt sich einwenden, dahiernichtmehr erklrtwerdenkann,wie Sinnestuschungen zustande kommenknnen;Aristoteles spricht ja derWahrnehmung im Hinblick auf alle drei Arten wahrnehmbarer Objekteverschiedene Grade von Fallibilitt zu (Kap. 2.2). Es wird diskutiert, obAristoteles zur Erklrung der Mglichkeit von Sinnestuschungen seinKausalmodell verlassen mu und zu einer bestimmten Form des Repr-

    33 In An. Post. II 19 spricht er zum einen von einem angeborenen unterschei-dungsfhigen Vermgen, das auch die Tiere besitzen (99b34 f.), zum anderenscheint er der Wahrnehmung auch irgendeine Art von katholou zuzusprechen(100a17-b5). Nach I 18 ist Ausgangspunkt der Induktion die Wahrnehmung, die,das Einzelne (kath hekaston) zum Inhalt hat (81b6). Es ist nicht klar, ob hier eineinzelner Gegenstand oder eine singulre Tatsache gemeint ist (vgl. fr das kathhekaston als eine singulre Tatsache: I 31, 88b37 -88a2).

    Einleitung: Aristoteles ein Empirist?12

  • sentationalismus gezwungen ist. Wir werden uns mit einer besonders ela-borierten reprsentationalistischen Interpretation auseinandersetzen undfr einenDirekten Realismus argumentieren. Zu diesemZweckwerdenwirdie verschiedenen Arten von Sinnestuschungen bei Aristoteles herausar-beitenunddaraufhinbefragen, obbei ihnendie phantasia imSinne eines derveridischen Wahrnehmung und der Tuschung gemeinsamen Faktors in-volviert ist (Kap. 2.3). In diesem Zusammenhang werden wir uns auch mitAristoteles Replik auf das ,argument from illusion beschftigen. Es wirdsich zeigen, da Aristoteles von einer teleologisch begrndeten Zuverls-sigkeitderSinneausgeht;die jeweiligenNormalzustnde, indenendieSinnekorrekte Informationen liefern, sind bestimmbar. Wer hier noch weitereBegrndungen verlangt, sucht einen Beweis fr dasjenige, fr das es keinenBeweis mehr gibt (Kap. 2.4). Nachdem die Frage nach dem sinnlichenWeltzugang bei Aristoteles geklrt ist, wendet sich die Untersuchung derFrage nach der Bestimmung desWahrnehmungsgehalts zu. Die Frage nachdem Gehalt und dem epistemologischen Status der Wahrnehmung war frAristoteles nicht neu, vielmehr hatte schon Platon am Ende des ersten Teilsseines Theaitet eine anti-empiristische Analyse der Wahrnehmung vorge-nommen: DieWahrnehmung wird hier auf die Aufnahme der spezifischenQualitten beschrnkt; ihrwird einUrteilen sowie ein genuinerWeltzugangabgesprochen, der in einem bewuten Unterscheiden verschiedener sinn-licher Qualitten bestehen wrde. Wir werden Platons Analyse darstellen(Kap. 3.1) und im Anschlu daran kurz aufzeigen, in welchen PunktenAristoteles gegenber Platon den Kompetenzbereich der Wahrnehmungerweitert.Hier wird sich zeigen, da frAristoteles dieWahrnehmungnichtblo die (kausale) Rolle eines sensorischen Informationslieferanten fr dasDenken spielt. Vielmehr handelt es sich bei der Wahrnehmung um ein zurDiskrimination und zum Bewutsein der eigenen Ttigkeit fhiges Ver-mgen, das uns schon unterhalb der diskursiv-begrifflichen Ebene einengenuin aisthetischen Weltzugang gewhrt (Kap. 3.23.4). Umstritten istnun allerdings, ob der Wahrnehmungsgehalt bei Aristoteles nur auf das ,ansichWahrnehmbare, also auf die idiaund koina aisthta, beschrnktwerdenmu oder ob dieser nicht auch um bestimmte Objekte aus der Klasse des,akzidentellWahrnehmbaren, nmlich umgedanklicheGehalte (nomata),erweitert werden kann. Durch solche nomata knnte das ,an sich Wahr-genommene, also der blo in seinen perzeptuellen Qualitten wahrge-nommene Gegenstand, begrifflich spezifiziert werden. Aristoteles knntedann aus heutiger Sicht ein begrifflich-propositionaler Wahrnehmungsge-halt zugeschrieben werden, was fr unsere Ausgangsfrage nach der episte-mischenRolle derWahrnehmung und demCharakter seiner Epistemologie

    Einleitung: Aristoteles ein Empirist? 13

  • im ganzen von entscheidender Bedeutung wre. Hier mte allerdings eineinterpretatorisch haltbare Erklrung dafr gefunden werden, wie etwas zueinem Teil des Gehalts werden kann, was prinzipiell nicht in der Lage ist,einen Wahrnehmungssinn zu affizieren. Diese Frage wird anhand zweierInterpretationsmodelle der ,akzidentellen Wahrnehmung diskutiert(Kap. 4.1). Es wird gezeigt, da sich gewichtige Argumente gegen die An-nahme vorbringen lassen, da das Wahrnehmungsvermgen selbst dazu inder Lage ist, auf gedankliche Inhalte (nomata) zurckzugreifen, diese mitdem ,an sichWahrgenommenen zu kombinieren und auf dieseWeise einenkomplexenGehalt hervorzubringen, derdannaus einer sinnlichenundeinerbegrifflichen Komponente bestehen wrde. Nicht betroffen von dieserKritik ist die Mglichkeit, da sich die ,perzeptuelle Kombination aufGehalte bezieht, die einen perzeptuellen Ursprung haben (Kap. 4.2). An-schlieend wird dann ein Interpretationsmodell genauer ausgearbeitet, dasfr die begriffliche Spezifikation des Wahrgenommenen den Intellekt ein-fhrt:Der in seinenperzeptuellenQualittenwahrgenommeneGegenstandwird innerhalb einer Wahrnehmungsmeinung (doxa), die eine Art des dis-kursiven Denkens (dianoeisthai) bzw. der Annahme (hypolpsis) darstellt,begrifflich charakterisiert. Wahrnehmung und Intellekt sind in einer engenKooperation ttig; die aktualeWahrnehmung ist das perzeptuelle Antezedensfr die Bildung einer Wahrnehmungsmeinung. Es wird aufgezeigt, dadieses ,noetische Interpretationsmodell die grere Konsistenz besitzt undsich in Aristoteles Psychologie als ganze besser integrieren lt (Kap. 4.3).Hinsichtlich des epistemischen Status der Wahrnehmung wird schlielichanhand von De insomniis gezeigt, da das Bilden einer Wahrnehmungs-meinung einer Beurteilung bzw. Korrektur durch ein bergeordnetes Ver-mgen unterliegt (Kap. 4.4).

    Damit gewinnen wir ein erstes Zwischenergebnis : Die Frage, ob dieWahrnehmung bei Aristoteles prinzipiell dazu in der Lage ist, jene Anfor-derungen zu erfllen, die fr einenUrteilsempirismus konstitutiv sind, kannmit einem klarenNein beantwortet werden. Aristoteles kann keine Positionzugeschrieben werden, in welcher der Anspruch, die Prinzipien erfat zuhaben, durchRckfhrung auf bestimmte Beobachtungen legitimiert wird,so da die Wahrnehmung das selbst nicht mehr rechtfertigungsbedrftigeFundament des gesamten Wissens bilden wrde: Weder hat die Wahr-nehmung einen propositional-begrifflichen Gehalt, so da sie eine ausrei-chend ,breite sinnliche Belegbasis fr andereMeinungen darstellen knnte,noch ist sie als solche schon ,selbst-rechtfertigend, vielmehrunterliegt siederBeurteilung bzw. der Korrektur bergeordneter seelischer Vermgen.

    Einleitung: Aristoteles ein Empirist?14

  • Aristoteles liefertunsauchkeinenanti-skeptischenAufweisdafr,daes sichbei der Wahrnehmung um ein absolut sicheres Fundament handelt.

    Auf dieser Grundlage34 kann dann die Frage in Angriff genommenwerden, inwelcherWeise dieWahrnehmung amWissenserwerb beteiligt istund wie man Aristoteles Epistemologie im ganzen charakterisieren sollte.Gegenber den jngeren anti-fundamentalistischen Interpretationen sollgezeigt werden, wie auf der Grundlage von An. Post. II 19 und im Zu-sammenhang mit anderen Passagen eine differenzierte Interpretation derAristotelischen Theorie des Wissenserwerbs rekonstruiert werden kann(Kap. 5). Hier ist zunchst auf die Frage einzugehen, woher die fr jedenWissenserwerb notwendigen Begriffe stammen, durch die der wahrge-nommene Gegenstand eindeutig identifiziert werden kann, um an diesemwissenschaftsrelevante Beobachtungen zumachen. DieUntersuchung wirdsich kritisch mit der einflureichen Lehre auseinandersetzen, nach der dieBegriffe bzw. noetischenGehalte in einem literalen Sinn in den phantasmataenthalten sind und im Sinne eines ,Empirismus der Begriffe aus diesennur abstrahiert oder ,freigelegt werden mssen. Wir werden eine Inter-pretation entwickeln, die sowohl einen Begriffsempirismus als auch einenApriorismus vermeidet (Kap. 5.1). In einem zweiten Schritt werden wirdann die uerst knappen und umstrittenen Aussagen von An. Post. II 19

    34 Wenn hier eine zusammenhngende Interpretation von Aristoteles Theorie desWissenserwerbs versucht wird und dafrDe anima herangezogen wird, so bedeutetdas nicht automatisch,Aristoteles Theorie der Seele zu ,epistemologisieren, wie dasin der Vergangenheit oft geschah.Wenn man das Kapitel An. Post. II 19 unter derFragestellung liest, wie man darin gerechtfertigt sein kann, die Prinzipien erfat zuhaben, oder woher unsere grundlegenden Begriffe stammen, dann scheinen sicheinige Passagen aus De an. III 48 als Antworten anzubieten. Wie sich allerdingsnoch zeigen wird, werden solche Fragen irrtmlicher Weise Aristoteles als seineeigenen Fragen unterstellt ; die ,Noetik vonDe anima ist ihrem Anspruch nach vielbescheidener. Es geht um eine allgemeine Theorie des Denkens, in der Fragen nachKriterien oder bestimmten Verfahrensweisen der Wissensgewinnung keine Rollespielen. DaAristoteles inDe an. III 48 die (nicht-diskursive) Erkenntnis des to tin einai (430b28) bzw. die epistt (431b23) anfhrt, entspringt keinem spezifischepistemologischen Problem (etwa: ,Wie knnen wir jemals sicher sein, diegrundlegenden Strukturen der Wirklichkeit erfat zu haben?), sondern ist einfachderTatsachegeschuldet,dadieseGegenstndeunterdieKlassedernota fallenwieeben auch die epistm eine Art der dianoia bzw. hypolpsis ist und somit zu denGegenstnden des Denkvermgens gehren, das durch jene individuiert und be-stimmt ist.Wennmandas imBlickbehlt,kannmanohneweiteresDeanima freineInterpretation vonAristoteles Theorie desWissenserwerbs heranziehen, um (i) denStatus und den Inhalt der Wahrnehmung genauer zu bestimmen und (ii) die ver-schiedenen Arten der Kognition (De an. III 3) genauer herauszuarbeiten.

    Einleitung: Aristoteles ein Empirist? 15

  • unter Rckgriff auf Ergebnisse frherer Kapitel einer Interpretation un-terziehen. Dabei werden wir uns zunchst auf den Weg von der Wahrneh-mung zur Erfahrung (empeiria) konzentrieren. Wir werden einen Deu-tungsvorschlag vorlegen, demgem aus diesem Kapitel nicht dieKonsequenz gezogen werden mu, da sich der Wissenserwerb bei Aristo-teles auf einen rein kausalen Vorgang beschrnkt. In II 19 werden vielmehrnur die seelischen Vorgnge und Zustnde (mit ihren jeweiligen Gehalten)notiert, ohne da dabei auf die zugehrigen methodisch geregelten ,epis-temischenHandlungengenauer eingegangenwird (Kap. 5.2). ImAnschludaran wird die fr An. Post. II 19 vorgelegte Interpretation in den grerenRahmen seinerMetaphysik gestellt : Der fr Aristoteles zentrale Grundsatz,da sich derWissenserwerb von dem fr uns Bekannterenzu dem an sichBekannteren vollzieht, wird hinsichtlich seiner metaphysischen und ko-gnitiven Implikationen genauer interpretiert. Von den hier gewonnenenErgebnissen aus zeigt sich, da das auf der Wahrnehmung basierende in-duktive Verfahren nicht als Legitimationsgrund dafr fungieren kann, einebestimmte Meinung als Wissen zu deklarieren. Es ist eher im Sinne einesHilfsmittels zu verstehen, um in den kognitiven Zustand der Kenntnis derPrinzipien zu gelangen (Kap. 5.3). In einem letzten Schritt werden wir kurzauf den bergang von der Erfahrung zur Prinzipienerkenntnis eingehen(Kap. 5.4). Abschlieend soll dann auf der Grundlage des Erarbeitetenversucht werden, die vorgelegte Interpretation vor dem Hintergrund ge-genwrtiger Debatten zu positionieren (Kap. 6).

    Am Ende dieser Arbeit wird sich zeigen: Gegenber den in den letztenJahrzehnten entwickelten anti-fundamentalistischen Interpretationsanst-zen ist eine differenziertere Interpretation der Aristotelischen Theorie desWissenserwerbs mglich, die die bliche Klassifizierung von epistemolo-gischen Fundamentalismus und Kohrentismus unterluft: Die Wahr-nehmung ist weder das letzte, selbst nicht mehr rechtfertigungsbedrftigeFundament all unseres Wissens, noch ist die Beziehung zwischen Wahr-nehmungundDenken35wie imKohrentismuseineblokausale, inwelcherderWahrnehmung blo die Rolle eines ,kausalenZwischenstcks zwischender Welt und unseren Meinungen ber sie zukommen wrde. Vielmehr istdas Wahrnehmen ein Unterscheiden (krinein), das sich in einer rein sinn-lichen Weise seiner selbst bewut ist. Als solche gewhrt uns schon dasWahrnehmen eine bestimmte Art von Kenntnis (gnsis), von der aus danndurch die Beteiligung des Intellekts innerhalb methodisch geleiteter epis-temischer Handlungen komplexere Arten von Kenntnissen entstehen, die

    35 Im generischen Sinn von De an. III 3, 427b15, b25.

    Einleitung: Aristoteles ein Empirist?16

  • andereBereichederWirklichkeit,nmlichdasAllgemeineundNotwendige,zumGegenstand haben. Aristoteles reduziert die Wahrnehmung weder aufeinen rein sensorischen Informationslieferanten, noch macht er sie zumletzten Rechtfertigungssttzpunkt. Vielmehr spricht er ihr einen genuineigenen Weltzugang zu, der mit Hilfe des Intellekts durch Begriffe ange-reichert werden und in hhere Arten von Kenntnissen berfhrt werdenkann.

    Einleitung: Aristoteles ein Empirist? 17

  • 1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen

    1.1 Die Wahrnehmung als gnsis tis

    Fr Aristoteles bildenWahrnehmen (aisthanesthai) undDenken (noein) diebeiden Typen des Erkennens (gnrizein); beide Ttigkeiten kommen darinberein, dawir hier auf je unterschiedlicheWeise etwas von etwas anderemunterscheiden (krinein) und einen bestimmten Bereich vom Seiendenkennenlernen.1 Der Terminus ,Denken (noein) wird hier in einem weiten,generischen Sinn verwendet (De an. III 3, 427b9, b27), nmlich als Be-zeichnung fr die diskursiven Ttigkeiten des menschlichen Intellekts(nous), den Aristoteles allgemein als das Vermgen bestimmt, mit dem dieSeele denkt und Annahmen macht (De an. III 4, 429a23). Das diskursiveDenken (dianoeisthai) vollzieht sich im Verbinden und Trennen einfachergedanklicher Gehalte (nomata) bzw. Begriffe und resultiert in einer An-nahme oder einem Urteil (hypolpsis), in dem etwas von etwas anderemausgesagt wird.2 Das diskursive Denken ist also der Proze, dessen Ergebniseine bestimmte Annahme ist.3 Innerhalb der dianoia bzw. der hypolpsis4 als

    1 Vgl. De an. III 3, 427a19 ff.: doje? d ja t moe?m ja t vqome?mspeq aQshmeshati eWmai (1m!lvotqoir cqtotoir jqmei tiBxuwjacmyqfei t_memtym) ;Dean. III9, 432a16: t` te jqitij`, d diamoar 5qcom 1st ja aQshseyr ; Insomn. 458b2 f. :totoir cqlmoir t_m 1mBl?m cmyqfolm ti ;Mot. an. 700b20 f.:jqitij cqpmta.Das Seiende ist nachAristoteles entweder wahrnehmbar oder denkbar (De an. III 8,431b22: C cq aQshgt t emta C mogt).

    2 De an. III 6, 430a26-b6; Met. VI 4, 1027b29 f. Die durch den Intellekt gestiftetengedanklichen Einheiten (430b5 f.) aus Unverbundenem (ta asyntheta:Met. IX 10,1051b17) bilden das ,dianoetischeKorrelat einer Aussage (Int. 16a10 f.) bzw. einerSchlufolgerung (Mot. an. 701a10 f.). Fr Aristoteles ist die gedankliche Ebenegegenber der sprachlichen primr: Die schriftlichen uerungen sind ,Symbole(symbola) unserer sprachlichen uerungen, diese sind wiederum ,Symbole der,Widerfahrnisse unserer Seele. Letztere sind ,Abbilder (homoimata) der Dinge(Int. 16a38). Man kann mit Weidemann (2002, 135 ff.) davon ausgehen, da essich bei diesen seelischen pathmata um Inhalte der Denkseele, also um Gedanken(nomata) handelt, die das noetische Korrelat der Begriffe bilden (z.B. ,Mensch:Int. 16a14 f.). Einem Allgemeinbegriff liegt also ein noma zugrunde und diesementspricht in einem Universalienrealismus das ,Eine im Vielen.

    3 Hicks 1907, 457; Gerson 2009, 77.4 Dieserweite, generischeSinn(vgl. Siwek1964,322Anm. 604) ist vondemengenzu

    unterscheiden, wie er etwa in EN VI 3, 1139b17 vorliegt.

  • ihrem Ergebnis lassen sich je nach Bereich des Seienden verschiedene Artenunterscheiden: ImIdealfall resultiert dasdiskursiv-begrifflicheDenkenberdas Allgemeine und Notwendige im demonstrativen Wissen (epistm)5,dasjenige Denken aber, das sich auf das bezieht, was sich auch anders ver-halten kann, resultiert im Idealfall in der praktischen Einsicht (phronsis)6

    bzw. derwahrenMeinung (doxa alths ;De an. III 3, 427b10, b25;ENVI5,1140b27 f.). Whrend das Urteil der phronsis den Proze des ,praktischenDenkens abschliet (EN VI 2, 1139a26 f.), das sich auf dasjenige bezieht,was dem guten Leben des Menschen berhaupt zutrglich ist (VI 5,1140a28, b5 f.), geht es der doxa blo um die Feststellung von kontingentenTatsachen (ENIII 4, 1111b33;An.Post. I 33).7DanachAristoteles gilt, dadie menschliche Seele niemals ohne Vorstellungsgehalt (phantasma) denkt(De an. III 7, 431a16 f.), jede Episode des Denkens also von phantasmatabegleitet seinmu,kannAristoteles auchsagen,danebenderhypolpsis (mitihren verschiedenen Arten) die phantasia eine ,Komponente8 des Denkens(noein) ist (De an. III 3, 427b27 f.).9 Darin zeigt sich die grundstzliche

    5 Vgl. EN VI 6, 1140b31 f. : 1pe d B 1pistlg peq t_m jahkou 1stm rpkgxir jat_m 1n !mcjgr emtym.

    6 Ich verstehe hier phronsis nicht in einem weiten Sinn (Sens. 437a13; Met. I 2,982b24; Protr. B 71, B 77), sondern in dem engen, technischen Sinn von ENVI 5.

    7 AndieserStellemukurzdarauf hingewiesenwerden,dader vorliegendeAbschnittDe an. III 3, 427a17-b29 nur eine ,Landkarteder beiden kognitivenVermgen undihrer verschiedenen Arten skizziert und keinen epistemologischen Charakter imengenSinnhat:Eswirdnicht gesagt, da esdasZielunseres diskursivenDenkens sei,zu wahren Urteilen ber einen bestimmten Bereich Wirklichkeit zu kommen,sondern nur, da es innerhalb des Denkens sowohl Richtiges als auch Nicht-Richtiges gibt (427b9 ff.). Dagegen wird in der Lehre von den dianoetischen Tu-genden der Vernunft besitzende Seelenteil mit seinen beiden Vollzgen, demepistmonikon und dem logistikon (EN VI 2, 1139a12), imHinblick auf sein ergon,die Wahrheit (1139b12), untersucht. Es geht um die jeweils ,bestmgliche Dis-position (B bektstg 6nir : 1139a16), also Tugend, durch die dieses Ziel, dasaltheuein, erreicht wird. Solche dianoetischen Tugenden sind wahrheitsgarantie-rend (VI 6, 1141a3 f.: oXr !kgheolem ja lgdpote diaxeudleha).

    8 Wedin 1988, 73.9 Peq d toO moe?m, 1pe 6teqom toO aQshmeshai, totou d t lm vamtasa doje? eWmai

    t d rpkgxir Diese Unterscheidung kann man m.E. als Aristoteles eigeneansehen. Der Einwand, die phantasia komme auch einigen nicht-vernunftbegabtenLebewesen zu (De an. III 3, 428a24), so da jene nicht eine Komponente desDenkens sein knne, lt sich dadurch entkrften, da hier eine spezifische Art derphantasia gemeint ist. In der besonderen Weise, wie der Mensch von den phantas-mata Gebrauch macht (vgl. De an. III 11, 434a9 f.; Mem. 449b30450a9), wirddie phantasia zu einer Komponente des Denkens. Hierauf werden wir in Kap. 5.1genauer eingehen.

    1.1 Die Wahrnehmung als gnsis tis 19

  • Abhngigkeit des menschlichen Denkens vom Wahrnehmungsvermgen(vgl. 427b15 f.).10 Von diesem dianoetischen Denken (dianoeisthai), demnoein im weiten Sinn, unterscheidet Aristoteles an anderer Stelle ein nicht-diskursives Denken, das noein im engen Sinn, das imErfassen der einzelnenintelligiblenGegenstnde (nota) besteht (De an. III 6, 430a26 ff.).Das liegtzuerst einmal ganz im Rahmen von Aristoteles Theorie: So wie die ver-schiedenen Wahrnehmungssinne auf die ihnen jeweils eigentmlichenGegenstnde (idia aisthta) bezogen sind, durch die sie individuiert undbestimmt werden, so ist ebenfalls das Denkvermgen auf die intelligiblenGegenstnde alsdie ihmeigentmlichenGegenstndebezogen (Dean. III4,429a17 f.). Sachlich legt sich diese nicht-diskursive Form des Denkens in-sofern nahe, als der Intellektmit dennotanicht in derWeise desVerbindensundTrennens operieren kann, solange er diese nicht vorher in ihremGehalterfat hat. Die Schwierigkeiten eines epistemologischen Intuitionismusergeben sich erst dadurch, da zur Klasse der nota auch die Essenzen odersubstantiellen FormenderDinge gehren (De an. III 4, 430b27 f.)11, die dasZiel unsererErkenntnisbemhungendarstellen (vgl.Met.VII6, 1031b6 f.).In diesem Fall ist es umstritten, ob wir hier einen nous im Sinne eines spe-zifisch auf dieEssenzenbzw.Prinzipien ausgerichtetenErkenntnisvermgensannehmen drfen oder den nous blo als Bezeichnung der kognitivenHaltung (hexis), in der wir sind, wenn wir die Prinzipien schon erkannthaben, verstehen sollten.12

    Innerhalb der unterschiedlichen Arten des diskursiven Denkens er-kennen wir also die Wirklichkeit in der Weise, da wir etwas von etwasanderem begrifflich unterscheiden und schlielich zu einem Urteil bereinen notwendigen oder kontingenten Sachverhalt kommen, dem eineVerbindung gedanklicher Inhalte zugrundeliegt. Dieses begrifflich-urtei-lendeDenken bildet nun den einenTyp des Erkennens, von demAristotelesdas Wahrnehmen als den anderen Typ unterscheidet (De an. III 3,

    10 Daraus folgt, da sich dasDenken desMenschen nicht vomKrper abtrennen kann(De an. I 1, 403a8 ff.) imUnterschied zumDenkenGottes, der nichts anderes als einewiges, nicht-prozessuales und nicht an Vorstellungsgehalte gebundenes Denkenseiner selbst ist.

    11 Oehler (1985, 182186) unterscheidet innerhalb Met. IX 10 zwischen den t!smheta (1051b17) und den l sumheta oqsai (b27): Whrend erstere die Ge-genstnde oder Inhalte der isolierten Begriffe sind, die sich ber alle Kategorienerstrecken, handelt es sich bei letzteren um die reinen Formen oder das wesentlicheSein (t t Gm eWmai) derDinge, das in derWesensdefinition (bqislr) expliziert wird(vgl. Met. VII 5, 1031a1114).

    12 Darauf werden wir noch im nchsten Abschnitt dieses Kapitels eingehen.

    1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen20

  • 427a19 ff. , b27).13 Auch hier unterscheidenwir etwas von etwas anderem14,beziehen uns also diskriminatorisch auf die Wirklichkeit und zwar aufkontingent Seiendes (EN VI 3, 1139b21 f.; An. Post. I 31). Auch hierprsentiert sich uns etwas Wahres oder Falsches.15 Im Unterschied zumdiskursiven Denken vollzieht sich hier aber das Unterscheiden nicht mitHilfe vonGedanken bzw. Begriffen. DasWahrnehmen geht auch nicht mitdem Bilden einer Annahme oder eines Urteils einher (was logos voraussetzt:De an. III 3, 428a22 ff.): Die Sonne kann ein Fu breit aussehen, ohne damangleichzeitig derberzeugung seinmu,da sie einFubreit ist (vgl.Dean. III 3, 428b2 ff.). Dennoch handelt es sich fr Aristoteles bei derWahrnehmung um einen genuinen Typ des Erkennens (gnrizein); auch siegewhrt uns eine bestimmte Art von Kenntnis (gnsis tis): In Gen. an. I 23findet sichdieAussage,daalleLebewesen ineinemunterschiedlichemMaAnteil an einer gnsis tis haben und die Wahrnehmung diese gnsis tis sei(731a32 ff.16; Protr. B 76). Bevor wir diesen Punkt anhandmehrerer Stellennoch etwas weiter verdeutlichen, wollen wir drei wichtige Beobachtungenfesthalten: (1) Der Raum des Kognitiven ist bei Aristoteles weiter als derRaum des begrifflich-diskursiven Denkens. Der Bereich unterhalb derdianoia ist nicht ,blindoder rein sensorisch; vielmehr kommt schon auf derEbene der Wahrnehmung, insofern es sich bei ihr um ein angeborenes undunterscheidungsfhiges Vermgen handelt, ein genuiner Weltzugang zu-

    13 ImUnterschied zumDenken ist dasWahrnehmen an ein Organ gebunden (De an.III4,429a1318). InbeidenFllenhandelt es sichumeine rezeptiveBeziehung.Vgl.Oehler 1985, 188, 191; Burnyeat 2002, 71 f.

    14 Vgl. An. Post. II 19, 99b35; De an. III 2, 426b8427a14; III 4, 429b14 f. ZumTerminus krinein innerhalb der Aristotelischen Psychologie vgl. die eingehendeUntersuchung von Ebert 1983, der nachweist, da krinein hier bis auf wenigeAusnahmen ,unterscheiden (discern, discriminate) und nicht ,urteilen bedeutet.Das krineinder verschiedenen, einembestimmten Sinn zugeordnetenQualitten istsomit schon eine basale kognitive Ttigkeit (Ebert 1983, 184, 195).

    15 Vgl. De an. III 3, 428a3 f. (dmalir C 6nir jah $r jqmolem ja !kgheolem C xeu-dleha) ; ENVI2, 1139a18 (tqa d 1stim 1m t0xuw0 t jqia pqneyr ja !kghear,aUshgsir moOr eqenir).

    16 !kk ja cmser timor pmta letwousi, t lm pkeomor, t d 1kttomor, t dplpam lijqr. aUshgsim cq 5wousim, B d aUshgsir cm_sr tir. In Gen. an. I23 mchte Aristoteles zeigen, da die Fortpflanzung nicht das einzige ergon derLebewesen ist, sonderndasie auchaneinerbestimmtenArt gnsisAnteilhaben.DerRang dieser gnsis ist je nach Perspektive unterschiedlich: Im Hinblick auf diephronsis (hier im weiten Sinn vgl. Sens. 437a11) scheint der Besitz der Sinne fastnichts zu sein, hinsichtlich einemLeben ohneWahrnehmung aber das beste. EinemZustand des Todes oder der Nicht-Existenz ist das Erlangen dieser gnsis vorzu-ziehen.

    1.1 Die Wahrnehmung als gnsis tis 21

  • stande.17 (2) Im Idealfall gewhren uns die verschiedenen kognitiven T-tigkeiten verschiedene Arten von Kenntnissen (gnseis), die jeweils unter-schiedliche Bereiche der Wirklichkeit in unterschiedlichen Graden vonGenauigkeit18 zum Inhalt haben.Hier zeigt sich eine frAristoteles Theoriedes Wissens wichtige Konsequenz: Der Begriff der Kenntnis (gnsis) ist frAristoteles weiter19 als der Begriff des ,bewiesenen Wissens (epistm), dasnur eine besondere Art von Kenntnis unter anderen ist und durch einebesondere Art von diskursiver Ttigkeit, nmlich durch den Beweis her-vorgebracht wird.20 (Schon hier deutet sich die Vielfalt der Wissensformenan, die Aristoteles im sechstenBuchderNikomachischen Ethik entfaltet.) Beiallen anderen Resultaten intellektueller Ttigkeiten, die nicht mit einemBeweis verknpft sind, spricht Aristoteles schlicht von ,Kenntnissen (gn-seis):Das reicht vondemfr jedenWissenserwerbnotwendigenVorwissen21,das sich auf die Bedeutung grundlegender Termini, die Existenz bestimmterGegenstnde und das Vertrautsein mit wissenschaftsbergreifendenGrundstzen (Axiomen) bezieht, ber das durch die Induktion22 und durchDihairese hervorgebrachte Wissen23, bis hin zur Kenntnis der fr das de-monstrativeWissenkonstitutivenPrinzipien, alsoderersten,unvermitteltenund urschlichen Prmissen eines Beweises.24 Hier kann Aristoteles durchdenweitenBegriff des gnrizein (wie auch gignskein) eineZirkularitt inderBestimmung des demonstrativen Wissens vermeiden25: Zu wissen nunglauben wir eine jede Sache schlechthin, und nicht auf die sophistische, diezufllige Weise, wann immer wir von der Ursache glauben Kenntnis zubesitzen (cimsjeim), aufgrund derer die Sache besteht (An. Post. I 2,

    17 Auf diesen genuin aisthetischen Weltzugang werden wir in Kap. 23 genauereingehen.

    18 Zu den unterschiedlichen Kriterien von ,genau und dementsprechend den ver-schiedenen Arten von Genauigkeit vgl. Aristoteles uerungen in An. Post. I 27;Met. I 2, 982a2528; EN I 1; Part. an. I 5; Met. II 3.

    19 Hier handelt es sich um einen basalen oder grundlegenden Begriff, fr den es keineDefinition im herkmmlichen Sinn gibt. Man knnte hier an jene Bestimmungdenken, die amAnfang von PlatonsTheaitet von Sokrates beilufig in dasGesprcheingebracht wird: Danach besitzt das Wissen zumindest die beiden Merkmaleimmer vom Seienden und untrglich (toO emtor !e ja !xeudr : Tht. 152c5) zusein.

    20 Vgl. Burnyeat 1981, 100 ff.21 Vgl. An. Post. I 1, 71a1 -17 und II 19, 99b29 f. ; EN VI 3, 1139b26.22 Vgl. An. Post. I 1, 71a21; I 3, 72b29 f. und I 18, 81b3 f.23 Vgl. An. Post. II 5, 91b34.24 Vgl. An. Post. II 19, 99b22.25 Vgl. Barnes 1975, 97; Detel 1993 II, 53.

    1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen22

  • 71b9 ff. ; bers. Detel) ; Denn dann behaupten wir, einen Gegenstand zuwissen (eQdmai26), wenn wir glauben, die erste Ursache zu kennen (cmyq-feim) (Met. I 3, 983a25 f.).27 (3) Interessanterweise sind die beiden Typendes Erkennens, Wahrnehmung und Denken (mit den verschiedenen Artender doxa, phronsis und epistm), gerade nicht mit zwei strikt voneinandergetrennten Gegenstandsbereichen, dem Singulren und Kontingenten ei-nerseits und dem Allgemeinen und Notwendigen andererseits, korreliert,vielmehr gibt es hier berschneidungen. Im Modus der doxa und derphronsiskannsichder Intellekt auchaufdasKontingentebeziehen, indemerdiese Gegenstnde begrifflich charakterisiert und ber diese zu einer An-nahme kommt. Das wird fr den Wissenserwerb von entscheidender Be-deutung sein.

    Vor dem Hintergrund dieser verschiedenen Formen des Erkennens(gnrizein) und der daraus resultierenden Kenntnisse (gnseis), die Aristo-teles gem ihrer Genauigkeit und des Rangs ihrer Gegenstnde in eineHierarchiebringt,wollenwir jetzt anhandeinigerStellenherausarbeiten,wieAristoteles die von der Wahrnehmung gewhrte Art von Kenntnis genauercharakterisiert : (1) An mehreren Stellen spricht Aristoteles davon, da unsder Sehsinn, der uns von den einzelnen Sinnen am meisten ein Erkennengewhrt (poie?m cmyqfeim : Met. I 1, 980a26 f.28), die vielfltigen phno-menalen Unterschiede derWirklichkeit ,deutlich macht (dgkoOm : 980a27;Protr. B 5129) oder ,anzeigt (eQsacckkeim : Sens. 437a230, a5 f.31). Grund-stzlich stellen uns die Sinne die ,mageblichsten Kenntnisse (juqitatai

    26 Fr eQdmai an dieser Stelle vgl. auch Met. II 2, 996b14 ff.27 Fr diese sich auf die Ursachen und Prinzipien beziehende Verwendung von

    gnrizein vgl. Phys. I 1, 184a1014; An. Post. I 2, 72a38 f.; I 3, 72b24 f.; II 19,100b4;Met. I 1,981b6; II2, 994b29 f.; III 2, 996a21; auchAn.Post. I 31,87b38 f. ;II 19,99b18,b22;Met. I1,981a30;Part.an. I 5,645a10.Fr gignskein inderselbenVerwendung vgl. An. Post. I 2, 71b912; 72a28; II 19, 99b21; Met. V 1,1013a18 f. ; VII 1, 1028a36 f. Ausnahmen davon sind: I 3, 72b21; II 11, 94a20.

    28 Vgl. Ross (Oxford-bersetzung, 1552): this, most of all the senses, makes us knowand brings to light many differences between things. Vgl. auch der LSJ (355) zugnrizein: make known, point out, become known, gain knowledge, become ac-quainted with, discover. Auf die Eingangspassage von Met. I 1 werden wir inKap. 1.4 genauer eingehen.

    29 Wie nmlich die Sehkraft nichts schafft oder hervorbringt, denn ihre Aufgabe istallein, jedes einzelne der sichtbarenDinge zuunterscheiden unddeutlich zumachen(t jqmeim ja dgkoOm), uns aber ermglicht, mit ihrer Hilfe etwas zu tun (bers.Dring).

    30 pokkr cq eQsacckkousi diavoqr31 diavoqr lm cq pokkr ja pamtodapr B t/r exeyr eQsacckkei dmalir

    1.1 Die Wahrnehmung als gnsis tis 23

  • cmseir) ber die einzelnen Dinge zur Verfgung, etwa da es (das Feuer)warm ist (Met. I 1, 981b11 ff.). Hier stellt sich natrlich die Frage, ob dieWahrnehmung bzw. die mit ihr verbundene Kenntnis nur die Qualitt,warm zum Inhalt hat oder auch die Tatsache ,da das Feuer warm ist.Manche Stellen legen es in der Tat nahe, da uns in derWahrnehmung einebestimmte singulreTatsache offenbar wird (ENVI 3, 1139b21 f.32; Top.V3, 131b2333, b27).34 Wir werden auf diese Frage noch spter eingehen. Andieser Stelle bleibt erst einmal festzuhalten, da uns dieWahrnehmung mitder Wirklichkeit in ihrer phnomenalen Mannigfaltigkeit bekannt macht.(2)Die von derWahrnehmung gewhrte Kenntnis spielt imWissenserwerbeine grundlegendeRolle:DasWahrgenommene ist das ,fr uns Bekanntere(An. Post. I 2, 72a2 f.; Phys. I 5, 189a5), von dem der Wissenserwerb, derzum ,an sich oder ,der Natur nach Bekannteren fhrt (An. Post. I 2, 72a3;Phys. I 1, 184a1621), ausgehen mu.35 Die Induktion im Sinne einer,Heranfhrungmacht nichts anderes, als einen allgemeinenGesichtspunktanmehreren Einzelfllen zu verdeutlichen36, die ihrerseits fr uns ,deutlichoder,bekanntsind (An.Post. I1,71a8 f.;Phys. I2,185a13 f.). InAn.Post. II19, wo Aristoteles die Entstehung der verschiedenen kognitiven Zustndebzw. Kenntnisse von der Wahrnehmung aus bis zur Prinzipienkenntnisbeschreibt, sagt Aristoteles, da es bei Lebewesen, bei denen sich neben derWahrnehmung kein Bleiben desWahrnehmungsinhalts findet, keine gnsisauerhalb des Wahrnehmens gibt: Fr diejenigen nun, in denen es nichtzustandekommt, entweder ganz oder in bezug auf was es nicht zustande-

    32 Vondem,wasanders seinkann,wissenwir,wennesauerhalbunsererBeobachtunggeschieht, nicht (kamhmei), ob es der Fall ist oder nicht (bers. Wolf ).

    33 Denn allesWahrnehmbare ist, wenn es sich derWahrnehmung entzieht, ungewiss(%dgkom). Unklar (!vamr) ist nmlich, ob es noch zukommt, weil es nur durch dieWahrnehmung erkannt wird (bers. Rapp/Wagner).

    34 Diese Frage kann natrlich nicht blo durchHinweis auf Aristoteles Formulierungmit einer propositionalen Konstruktion entschieden werden (vgl. Graeser 1978, 92Anm. 2). Hierzu ausfhrlich Kap. 34.

    35 Wieland(1992,71Anm. 2)hatberzeugendnachgewiesen,dacmqilomhiernicht,erkennbar, sondern schon ,bekannt bedeuten mu; wir setzen in jeder Untersu-chung schon immer bei einer Kenntnis an. Er fhrt hier das Regreproblem an:Wenn wir bei jedemWissenserwerb von etwas Erkennbarem ausgehen wrden, daswir erst noch erkennen mten, knnten wir wieder fragen, wie wir das erkennen.Dafr, da es sich hier schon um ein Bekanntes handeln mu, spricht das Bl?mcmqilom in EN I 2, 1095b4: Manmu schon immer sittlich gebildet sein, um dieVorlesung ber Ethik zu hren.

    36 Die Induktionmacht dasAllgemeine ,bekannt (cmqilom poie?m : I 3, 72b29 f. ; I 18,81b3) oder ,deutlich (dgkoOm : An. Post. II 5, 91b35; Met. VI 1, 1025b15 f.). Vgl.Wieland 1992, 95.

    1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen24

  • kommt, gibt es keine Kenntnis auerhalb des Wahrnehmens (oqj 5stitotoir cm_sir 5ny toO aQshmeshai) (99b37 ff.; bers. Detel). In der,Genetischen Epistemologie (Hamlyn) dieses Kapitels geht es Aristoteles inerster Linie um die Beantwortung der Frage, wie wir mit den Prinzipienbekannt werden (99b18), in zweiter Linie um die Frage, welches der ko-gnitive Zustand ist, in demwir uns befinden, wennwir sie kennen.Die ersteFrage wird anschlieend in folgender ,Schwierigkeit (diapoqseiem %m tir)wieder aufgenommen und genauer expliziert37: ob die Zustnde nicht inuns sind, sondern zustande kommen oder in uns sind, aber verborgenbleiben (99b25 f.; bers. Detel). Einerseits knnen wir diese Kenntnissenicht schon immer in uns haben, da wir dann Kenntnisse besitzen wrden,die demRang nach hher wren als die daraus resultierenden Beweise, ohnedaunsdasbewutwre.Wennwir sie andererseits erwerben,ohne sie schonzu besitzen, stellt sich das Problem, wie dasmglich ist, wennwir berhauptkeine Kenntnisse besitzen. Daraus folgt, da es weder mglich ist, diePrinzipien immer schon zu besitzen, noch da wir sie ex nihilo, ohne ir-gendeine vorangehende Kenntnis, erwerben. Dieses aus Platons MenonbekannteProblemlstAristotelesmitderEinfhrungderWahrnehmungalseinem angeborenen und unterscheidungsfhigen Vermgen (dmalim sl-vutom jqitijm : 99b2535).38 Als ein solches Vermgen kann die Wahr-nehmung zwei Bedingungen erfllen: Sie stellt zum einen ohne eine vor-herige Belehrung die fr jeden Wissenserwerb notwendigen Vorkenntnisse(pqoupqwousa cm_sir : 99b29) bereit, ohne die wir sonst keine weiterenKenntnisse gewinnen knnten. Die Kenntnisse, die sie gewhrt, sind zumanderen nicht ,ranghher gem der Genauigkeit (tiliytqa jat !jq-beiam : 99b33 f.)39 als die zu erwerbenden Kenntnisse. Die kognitiven Zu-stnde des Wissens liegen somit nicht schon immer in uns vor, noch ent-stehen sie aus solchen, die ,an sich bekannter wren (cmystijteqom),sondern sie entstehen ,imAusgang vonderWahrnehmung (!paQshseyr :100a10 f.).40 Insofern die Wahrnehmung als ein angeborenes Vermgen

    37 Die zweite Frage nach dem kognitiven Zustand wird zuvor in zwei Problemen re-formuliert (hierzu Detel 1993 II, 858 f.).

    38 Vgl. auchDean. III 3, 428a3 f.,woAristoteles bezglich aisthsis, doxa, epistmundnous von Vermgen oder Haltungen spricht, durch die wir unterscheiden undWahres oder Falsches sagen.

    39 Der Grad an Genauigkeit bemit sich hier an der Nhe zu den hchsten Prinzipienvgl. An. Post. I 27, 87a34 f.; I 24, 86a1417; Met. I 2, 982a25 ff.

    40 Aristoteles unterscheidet noch nicht wie Kant (Kritik der reinen Vernunft B 1)zwischen einem ,mit der Erfahrung anheben und ,aus der Erfahrung entspringen,weshalb ich in epistemologischen Zusammenhngen keinenUnterschied dem Sinn

    1.1 Die Wahrnehmung als gnsis tis 25

  • schon ,unterscheidungsfhig und damit ,kognitiv ist, kann sie uns mit dersinnlichen Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit in einer nicht-begrifflichenWeise bekannt machen. Auf diese Weise kann sie einen Teil des fr jedenWissenserwerbnotwendigenVorwissensbereitstellen41, vondemausgehenddann die hherrangigen Kenntnisse entstehen (An. Post. II 19, 100a10 f.;Sens. 437a2 f.).

    1.2 Aristoteles Begriff der epistm

    ImletztenAbschnitt habenwir schongesehen,daes sichbeider epistmumeine bestimmte Art von hypolpsis handelt, nmlich um eine solche, die ausder Ttigkeit des Beweisens resultiert und sich auf das Allgemeine undNotwendige bezieht (De an. III 3, 427b25; EN VI 6, 1140b31 f.42). NachAristoteles wissen wir dann etwas schlechthin (epistasthai hapls), wenn wirdieUrsachekennen,durchdie eineSache43 ist, da esdieUrsache jenerSacheistundda sichdieseSachenicht anders verhaltenkann (An.Post. I 2,71b912). Aristoteles entfaltet diese Art des Wissens mit Hilfe einer bestimmtenArt des Schlusses, nmlich des ,wissenschaftlichen Schlusses (syllogismosepistmonikos), dener,Beweis (apodeixis) nennt; durcheinenBeweis kommtWissen im Sinne der epistm zustande (jah dm t` 5weim aqtm 1pistleha :

    nach zwischen 1n/1j c.gen. (99b29, 100a6; Sens. 437a2) und !p c.gen. (100a10 f.)mache.

    41 Die Wahrnehmung liegt nach De an. II 5 von Geburt an schon auf der Stufe der,ersten Entelechie vor (wie ein erworbenes Wissen: 417b1619). Welsch (1987,117122) spricht hier von einem ,aisthetischenVorwissen oder ,Elementarwissen,auf derenGrundlage dieWahrnehmung unterscheiden kann.Mankann fragen, wiesich die durch die Wahrnehmung gewhrten Kenntnisse zu dem in An. Post. I 1erwhnten Vorwissen verhalten. Wir darauf in Kap. 5.1 eingehen.

    42 DemonstrativesWissen (epistm)bezieht sichgrundstzlich aufdasAllgemeineundNotwendige (An. Post. I 6, 74b6; I 33, 88b31 f.; hierzu Kosman 1973, 377 f. ;Burnyeat 1981, 109 f.). ,Allgemein (jahkou) wird hier im strikten Sinn von An.Post. I 4 (jat pamtr ja jah art ja aqt: 73b26 f.) verstanden. Aristoteles ltaber auchdas,was inderRegel geschieht (r 1p tpok), alsGegenstandder epistmzu (Met. VI 2, 1027a20 f.; An. Post. I 30).

    43 Da sich nach Aristoteles die Frage nach der Ursache (t di t) immer auf ein Ver-hltnis des Zukommens beziehen mu (Met. VII 17, 1041a10 f., a23: t %qa jattimor fgte? di t rpqwei), d. h. warum einem Gegenstand als Mitglied einer be-stimmten Spezies bestimmte Eigenschaften notwendig zukommen (die sog. per se-Akzidentien: An. Post. I 7, 75b1; I 10, 76b4), knnen wir hier pqcla auch als,Tatsache auffassen.

    1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen26

  • 71b19).44 Ein Beweis unterscheidet sich darin von einer herkmmlichenDeduktion, da seine Prmissen wahr, ursprnglich, unvermittelt und inBezug auf dieKonklusion ,an sichbekannter und frherundurschlich sind(71b21 f.). Solche unvermittelten und erklrungskrftigen Prmissen, dieAristoteles auch als ,Prinzipien des Beweises (72a7)45 bezeichnet, verweisenauf einen in der Wirklichkeit vorliegenden allgemeinen und notwendigenZusammenhang, der fr andere urschlich ist. Wenn wir einen solchenZusammenhang, also das Prinzip in seiner internen Struktur, ,durchschauthaben, wissen wir, warum bestimmten Gegenstnden, insofern sie einerbestimmten Art angehren, bestimmte Merkmale notwendig zukommenund sinddann imstande, solche allgemeinenTatsachenoderPhnomeneausunvermitteltenundurschlichenPrmissend.h.derMittelbegriff verweistauf eine Aristotelische Ursache, die ,an sich bekannter ist zu erklren. Soknnen wir durch Kenntnis der Form-Ursache oder des Wesens46 einerbestimmten Art aufzeigen, warum die Angehrigen dieser bestimmten Artbestimmte Eigenschaften notwendig besitzen. Diese notwendigen Eigen-

    44 Bei Aristoteles epistm handelt es sich umeine besondere Art vonWissen, das nichtmit dem Wissensbegriff der Standardanalyse im Sinne ,gerechtfertigter wahrerMeinung gleichgesetztwerdendarf (wie es sich prima facie vonENVI3, 1139b33 f.nahelegen knnte).Wie Burnyeat (1981, 100115) gezeigt hat, handelt es sich hierum ein Expertenwissen, das viel restriktivere Bedingungen erfllen mu als derWissensbegriff der Standardanalyse: Die epistm im strikten Sinn bezieht sich nurauf das Allgemeine undNotwendige und kommt nurdurchBeweis zustande.Dabeimssen die Prmissen eines Beweises die in An. Post. I 2 aufgestellten Bedingungenerfllen. Sind einem etwa die Prmissen nicht ,bekannter als die zu erklrendenTatsachen, dann hat man die 1pistlg nur in einem akzidentellen Sinn (EN VI 3,1139b34 f.). Daraus folgt aber gerade nicht, wie Burnyeat zuRecht hervorhebt, daman dann blo ber ,Meinung verfgen wrde. Vielmehr gibt es bei Aristotelesinnerhalb der epistm verschiedene Abstufungen (etwa An. Post. I 13; I 24).

    45 Hier wird ,Prinzip in einem engen Sinn verwendet. In einem weiten Sinn werdeninnerhalb derApodeiktik dieHypothesen,Definitionen unddieAxiomePrinzipiengenannt (An. Post. I 2, 72a1424; I 10;Met. III 2, 996b26 ff.). In der vorliegendenUntersuchung verwenden wir die Begriffe des Prinzips und der Ursache der Ein-fachheit halber gleichbedeutend, wohl wissend, da alle Ursachen Prinzipien, abernicht alle Prinzipien Ursachen sind.

    46 Innerhalb der vier verschiedenen Typen von Ursachen (Phys. II 3; Met. V 2) bildetdie Form-Ursache den primren Bezugspunkt (vgl. Owens 1963, 178 f. , 234). Siekoinzidiert mit der ousia im primren Sinn, der Seinsursache eines selbstndigexistierenden Gegenstands (Met. V 8, 1017b14 ff.). Als prt ousia ist diese ver-antwortlich fr die Selbstndigkeit und Bestimmtheit der Einzelsubstanz und alssolche die primre Antwort auf die Was-ist-Frage, enthlt also das definitorischeSein.

    1.2 Aristoteles Begriff der epistm 27

  • schaften oder ,per se-Akzidentien (t jah art sulbebgjta)47, die imUnterschied zuden zuflligenAkzidentien (An.Post. I 6, 74b12.;Met.VI2)jedem Exemplar einer bestimmten Art notwendig zukommen, im Unter-schied zu den essentiellen Eigenschaften aber nicht zumWesen (ousia) bzw.zurDefinition (horismos) selbst gehren (Met. V 30, 1025a3034), spieleninnerhalb der Aristotelischen Konzeption der epistm eine entscheidendeRolle: Sie beschreiben das Feld der demonstranda48 einer Wissenschaft, mitdenenderForscher in der Formeines ,WissendesDa (eQdmai tfti) schonvertraut sein mu, bevor er mit der eigentlichen Ursachenforschung be-ginnen kann (An. Post. II 12; vgl. auchDe an. I 1, 402b2125).49Wissen

    47 Bei Aristoteles finden sich auch die Ausdrcke t jah art phg oder t jah artrpqwomta. Hufig spricht man von notwendigen, nichtdefinitorischen Attribu-te[n] (Kullmann 1998, 63, 94 f.) oder auch von den aus dem Wesen der Sache,abgeleiteten, notwendigen Eigenschaften (vgl. Ross 1924, 349: which yet flowsfrom the nature of the subject; zu der Redeweise eines ,Ausstrmens der per se-Akzidentien aus dem Subjekt oder den Prinzipien der Substanz vgl. Thomas vonAquin, etwa S.Th. q. 77 a. 6 ad tertium [hier emanatio]). Aristoteles unterscheidetdiese notwendigen und nicht-definitorischen Prdikate von den notwendigen unddefinitorischen Prdikaten anhand zweier Verwendungsweisen von jah art:Whrend bei Letzteren das Prdikat in der Definition des Subjekts vorkommt (alsessentiellesMerkmal, d.h. als generisches oder spezifisches), kommtbeiErsterendasSubjekt in der Definition des Prdikats vor (An. Post. I 4, 73a34-b4; I 22, 84a1117). Zur Frage, ob das sulbebgjr jah art mit dem Udiom oder Propriumgleichgesetzt werden kann, vgl. Tugendhat 1958, 59 Anm. 26. Ontologisch bildendie notwendigen Akzidentien den Zwischenbereich, in dem sich sulbebgjr undjah art durchdringen (Tugendhat 1958, 50) wir werden auf die ontologischenund epistemologischen Implikationen dieses sulbebgjr-Begriffs inKap. 5.3 nocheingehen.Hier wollenwir erst einmalmit Tugendhat (1958, 37) festhalten: Indemdas sulbebgjr das jah art in sich aufnimmt, das ursprnglich die Prsenz alssolche im Gegensatz zum sulbebgjmai auszeichnet, wird durch das sich darausergebendesulbebgjr jahartderBodengelegt frdie indenZweitenAnalytikenentwickelteneueFormvonWissenschaft, derenWesennichtmehrdarinbesteht, dasEinfache blo als solches definitorisch zu schauen, sondern in seiner Zwiefltigkeitund d.h. seinem Vorliegen zu begrnden.

    48 Vgl.An.Post. I7,75a40-b2; I10,76b3 f.,b13; I22,84a11 f. ;Met. III2,997a19 ff.;VI 1, 1025b12 f. ; Part an. I 5, 645b1 f.

    49 HierzuDetel 2005b,Detel 2005c undKullmann 1998,Kap. II.WieDetel zuRechtbetont, ist das Gewinnen eines solchen nicht-demonstrativen Wissens allgemeinerTatsachen durch Wahrnehmung, Induktion und andere Methoden alles andere alstrivial. Aristoteles schreibt auerdem der Kenntnis solcher allgemeiner Tatsachen,die das Zukommen der per se-Akzidentien zum Inhalt haben, auch einenNutzen frden Erwerb der Kenntnis des Wesens einer Sache zu (De an. I 1, 402b2125). Sieweisen gewissermaen den Weg zum Wesen einer Sache, insofern bei ihnen dieurschliche Analyse ansetzt. Wir werden darauf in Kap. 5 eingehen.

    1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen28

  • im Sinne der epistm beschrnkt sich dann nicht mehr auf ein blo defi-nitorisches Wissen d.h. auf die Kenntnis der essentiellen Eigenschafteneiner Sache, wie sie in der unvermittelten Prmisse eines Beweises logischentfaltet werden , sondern bezieht sich auf ein komplexes ontologisches Feld,in dem bestimmte notwendige Merkmale, die schon in der Erfahrung(empeiria) erfat werden knnen, aus ihren essentiell-urschlichen Struk-turen erklrt werden. Konkret zeigt sich dieses demonstrative Wissen ineinem System tief gestaffelter Demonstrationen, das eine ganze wissen-schaftliche Theorie oder Disziplin bildet.50

    Wenn nun das Wissen im Sinne der epistm nur durch Beweis zu-standekommt, und dieser von Prinzipien, also unvermittelten und erkl-rungskrftigen Prmissen ausgeht, mssen wir auch von diesen Prinzipienirgendeine bestimmteArt derKenntnis haben.NachAristoteles ist es fr dasepistasthai hapls sogar erforderlich, die Prinzipien des Beweises in einemhherenMae als dieKonklusionen zu kennenunddaher auch von ihnen ineinem hheren Grad berzeugt zu sein (lkkom cmyqfeim ja lkkompisteeim : An. Post. I 2, 72a30 ff. , a38 f.). Das folgt fr Aristoteles aus demallgemeinenPrinzip, da eine bestimmte, an einemGegenstand verursachteEigenschaft demVerursachenden im hheren Grad zukommenmu: stetsnmlich trifft dasjenige, aufgrund dessen ein jedes zutrifft, jenem gegenberin hherem Grade zu (lkkom rpqwei), wie etwa: aufgrund dessen wirlieben, das ist liebenswert in hherem Grade. Daher, wenn wir wirklichwissenaufgrundderursprnglichenDinge,undberzeugt sind,dannwissenwir auch jene Dinge, und sind berzeugt, in hheremGrade, weil aufgrundjener auch die spteren Dinge zutreffen (An. Post. I 2, 72a2932; bers.Detel).51 Das, was also Grund fr das Wissen einer bestimmten Sache ist,mu nach Aristoteles selbst in einem hheren Grade gewut werden (vgl. I25, 86a38 f., b27 ff.). Doch was heit hier, etwas in einem hherenGrad zuwissen? Aristoteles Redeweise von verschiedenen Graden des Wissens unddes berzeugtseins darf nicht im Sinne einer hheren subjektiven ,Evidenzoder ,Gewiheit verstandenwerden.52Hinter diesen verschiedenenGradensteht eine ontologische Rangordnung, in der das Fundierende an der Spitzesteht, also ein essentiell-urschlicher Zusammenhang, aus dem sich er-

    50 Vgl. Detel 2005b, 201.51 FrdiesesKausalverstndnis vgl.Met. II 1, 993b24 ff.HierzuweiterfhrendGerson

    2005, 180188. Fr den Fall des Wissens der Prinzipien vgl. auch Met. I 2,982b2 ff.: Ammeistenwibar sind aber die Prinzipien undUrsachen:Denndurchdiese und aus diesen wird das brige erkannt, nicht aber diese durch das Unterge-ordnete.

    52 Vgl. Burnyeat 1981, 127 f.

    1.2 Aristoteles Begriff der epistm 29

  • schliet, warum einer bestimmten Spezies bestimmte Eigenschaften not-wendig zukommen. Dieses ontologisch Primre oder Vorrangige bildet dasZiel unserer Erkenntnisbemhungen (Met. VII 6, 1031b6 f.53). Die Er-kenntnis dieses ontologisch Primren, das am weitesten von der Wahr-nehmung entfernt ist, ist fr uns schwierig Aristoteles illustriert unsereepistemische Situation mit dem berhmten Nachtvgel-Gleichnis (Met. II1, 993b711) und nur auf die Weise zu erreichen, da man von derWahrnehmung, welche die zuflligen Eigenschaften zum Gegenstand hat,ausgeht und sich schrittweise zu denUrsachen und Prinzipien vorarbeitet.54

    Diesen Weg des Wissenserwerbs beschreibt Aristoteles an vielen Stellen alsdas Voranschreiten oder den bergang vom ,fr uns Bekannteren zum ,ansichBekannteren55,wobeihiernichtvergessenwerdendarf,daontologischgesehen das ,fr uns Bekanntere gleichzeitig das ,an sich oder ,der Naturnach Unklarere oder ,weniger Bekannte ist.56 Wenn Aristoteles also davonspricht, da fr das epistasthai hapls die Prinzipien der Beweise in einemhheren Grad bekannt sein mssen als die Schlustze, knnen wir das soverstehen, da wir hierfr schon das ontologisch Primre erkannt habenmssen und eine ,ousiale Perspektive einnehmen knnen, in der wir diePrinzipien als ,an sich bekannter und als ,an sich berzeugender ansehen,weilnurdurchsie allesanderehinreichendbegrndetwerdenkann.Dagegensind in der gegenlufigen, ,symbebekotischen Perspektivedie Prinzipien imUnterschied zu singulren, beobachtbaren Tatsachen oder bloen Sym-ptomen ,weniger bekannt oder ,weniger klar. Genau dieser Unterschiedkommt in Aristoteles Lehre vom ,Beweis desWarumund vom ,Beweis desDa in An. Post. I 13 zumAusdruck, aus der sich zwei Formen der epistm,das t fti 1pstashai und das t diti 1pstashai, ergeben. Whrend im,Beweis desWarum der Mittelbegriff auf eine ,an sich bekanntere Ursache

    53 1pistlg te cq 2jstou 5stim ftam t t Gm 1jem\ eWmai cm_lem54 Eine treffende Beschreibung gibt Gerson 2005, 140: The governing idea of

    Aristotles account of embodied human cognition deserves to be acknowledged asone of the most elegant ideas in the history of philosophy. Roughly, the idea is thatcognition is the mirror image of reality. Or, to change the metaphor, the stages ofcognition unpack the packaged real world in reverse order.

    55 Vgl. Phys. I 1, 184a1623; Met. VII 3, 1029b312; An. Post. I 2, 71b3372a5;De an. II 2, 413a11 f.; EN I 4, 1095b2 ff.; Top. VI 4, 141b519. Wir werden aufdiesen Grundsatz in Kap. 5.3 noch genauer eingehen.

    56 Vgl. Phys. I 1, 184a19 f.;De an. II 2, 413a11.Der ontologisch niedereRang des ,fruns Bekannteren kommt besonders in Met. VII 3 zum Ausdruck, wo Aristotelessagt, da das fr jeden Einzelnen Bekannte und Erste oft nur schwach (an sich)erkennbar ist (Aqla 1st cmqila) undwenig oder nichts vomSeienden besitzt (jalijqm C oqhm 5wei toO emtor) (1029b9 f.).

    1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen30

  • verweist57, ein bestimmtes Phnomen also aus einem allgemein-urschli-chenZusammenhangbewiesenwirdunddafrdieserZusammenhang selbstverstanden sein mu58, wird im ,Beweis des Da, wo der Mittelbegriff aufeine ,fr uns bekanntere Wirkung verweist, aus einer Wirkung auf dieU