Stimmiges Klavier

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Um höhere Frequenzen zu erreichen, kann die Saite stärker gespannt werden oder kürzer oder dünner sein. Für eine größere Spannung muss allerdings der Querschnitt erhöht werden, dickere Stahlsaiten klingen jedoch nicht so har- monisch. Deshalb werden lange Saiten für tiefere Töne mit Kupferdrähten umwickelt, um die Masse zu erhöhen. Mit wachsender Tonhöhe werden erst zwei, dann drei immer kürzere Saiten pro Ton nebeneinander gespannt. Diese zwei oder drei Saiten pro Ton sind jedoch nicht exakt gleich ge- stimmt: Nach dem Anschlagen wechselwirken sie in einer Schwebung und klingen deshalb länger nach. Insgesamt hat ein Flügel für die 88 Töne 243 Saiten, acht Einzelsaiten, fünf Zweifache und 75 Dreifache, 20 davon sind umwickelt. Die Stahlsaiten stehen unter einer Spannung von etwa 1000 N/mm². Dadurch ergibt sich eine Gesamtkraft, die dem Gewicht einer Masse von ungefähr 20 t entspricht. Ein gusseiserner Rahmen nimmt diese Kraft auf. Die Grundfrequenzen der Saiten werden bei heutigen Pianos nahezu gleichstufig gestimmt, diese „gleichtempe- rierte“ Stimmung unterteilt eine Oktave in zwölf gleiche In- tervalle. Stimmt man einige Saiten derart, dass bestimmte In- tervalle harmonischer klingen, gelangt man zur „klassischen“ wohltemperierten Stimmung. Das Stimmen eines Klaviers umfasst jedoch nicht nur den Grundton sondern auch die Obertöne. Die höheren Obertöne f n von Stahlsaiten sind kei- ne exakten Harmonischen des Grundtons f 0 [1]: f n = n · f 0 · (1 + A · n 2 ). Physik des Pianos Stimmiges Klavier L EOPOLD MATHELITSCH | I VO V EROVNIK Nur eine gekonnt unreine Stimmung sorgt bei Tasten- instrumenten für einen harmonischen Gesamtklang. 302 Phys. Unserer Zeit 6/2013 (44) © 2013 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim DOI: 10.1002/piuz.201301350 „Wie viele Klavierstimmer gibt es in Chicago?“ Mit dieser Frage wollte Enrico Fermi aufzeigen, dass man auch eine Aufgabe, die zu wenig Information enthält, durch einfache Überlegung lösen kann: Aus der Einwohnerzahl von Chicago, dem geschätzten Prozentsatz der Klavierbe- sitzer, dem Zeitrahmen, wie oft ein Klavier gestimmt wer- den soll und wie lange dies dauert, kann man die Zahl der benötigten Klavierstimmer überschlagen. Aber warum ist das Stimmen eines Klaviers so schwierig, dass es dafür ei- nes eigenen Berufs bedarf? Ein Konzertflügel ist nicht nur ein imposantes Instru- ment. Er hat auch einen bemerkenswerten Tonumfang, der sich von A 0 bis C 8 über mehr als sieben Oktaven er- streckt. Die Tastatur umfasst 52 weiße und 36 schwarze Tasten. Drückt man eine Taste (Abbildung 1), so hebt das einen Dämpfer von der Saite, danach schlägt ein Hammer diese an und bringt sie zum Schwingen. Ein Steg überträgt die Schwingung auf den darunter liegenden Resonanz- boden, dessen Schwingungen in den Raum abgestrahlt wer- den. Die Saiten bestehen bei Klavieren aus hochwertigem Stahl. Die Grundfrequenz f 0 der angeregten Stahlsaite hängt vom Querschnitt der Saite d, ihrer Länge l und der Spann- kraft F ab [1]: f d l F 1 · . 0 Online-Ausgabe unter: wileyonlinelibrary.com © Sykwong@fotolia Dämpfer Stoßzunge Saite Steg Saitenanhang Hammer Resonanzboden Rippen Taste Stimmwirbel ABB. 1 MECHANIK EINES FLÜGELS Vereinfachte Darstellung des Mechanismus’ zur Erzeugung eines Klaviertons im Konzertflügel (nach [1]).

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Page 1: Stimmiges Klavier

Um höhere Frequenzen zu erreichen, kann die Saite stärkergespannt werden oder kürzer oder dünner sein. Für einegrößere Spannung muss allerdings der Querschnitt erhöhtwerden, dickere Stahlsaiten klingen jedoch nicht so har-monisch. Deshalb werden lange Saiten für tiefere Töne mitKupferdrähten umwickelt, um die Masse zu erhöhen. Mitwachsender Tonhöhe werden erst zwei, dann drei immerkürzere Saiten pro Ton nebeneinander gespannt. Diese zweioder drei Saiten pro Ton sind jedoch nicht exakt gleich ge-stimmt: Nach dem Anschlagen wechselwirken sie in einerSchwebung und klingen deshalb länger nach. Insgesamt hatein Flügel für die 88 Töne 243 Saiten, acht Einzelsaiten, fünfZweifache und 75 Dreifache, 20 davon sind umwickelt. DieStahlsaiten stehen unter einer Spannung von etwa1000 N/mm². Dadurch ergibt sich eine Gesamtkraft, diedem Gewicht einer Masse von ungefähr 20 t entspricht. Eingusseiserner Rahmen nimmt diese Kraft auf.

Die Grundfrequenzen der Saiten werden bei heutigenPianos nahezu gleichstufig gestimmt, diese „gleichtempe-rierte“ Stimmung unterteilt eine Oktave in zwölf gleiche In-tervalle. Stimmt man einige Saiten derart, dass bestimmte In-tervalle harmonischer klingen, gelangt man zur „klassischen“wohltemperierten Stimmung. Das Stimmen eines Klaviersumfasst jedoch nicht nur den Grundton sondern auch dieObertöne. Die höheren Obertöne fn von Stahl saiten sind kei-ne exakten Harmonischen des Grundtons f0 [1]:

fn = n · f0 · (1 + A · n2).

Physik des Pianos

Stimmiges KlavierLEOPOLD MATHELITSCH | IVO VEROVNIK

Nur eine gekonnt unreine Stimmung sorgt bei Tasten -instrumenten für einen harmonischen Gesamtklang.

302 Phys. Unserer Zeit 6/2013 (44) © 2013 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim

DOI: 10.1002/ piuz.201301350

„Wie viele Klavierstimmer gibt es in Chicago?“

Mit dieser Frage wollte Enrico Fermi aufzeigen, dass manauch eine Aufgabe, die zu wenig Information enthält, durcheinfache Überlegung lösen kann: Aus der Einwohnerzahlvon Chicago, dem geschätzten Prozentsatz der Klavierbe-sitzer, dem Zeitrahmen, wie oft ein Klavier gestimmt wer-den soll und wie lange dies dauert, kann man die Zahl derbenötigten Klavierstimmer überschlagen. Aber warum istdas Stimmen eines Klaviers so schwierig, dass es dafür ei-nes eigenen Berufs bedarf?

Ein Konzertflügel ist nicht nur ein imposantes Instru-ment. Er hat auch einen bemerkenswerten Tonumfang, der sich von A0 bis C8 über mehr als sieben Oktaven er-streckt. Die Tastatur umfasst 52 weiße und 36 schwarzeTasten. Drückt man eine Taste (Abbildung 1), so hebt daseinen Dämpfer von der Saite, danach schlägt ein Hammerdiese an und bringt sie zum Schwingen. Ein Steg überträgtdie Schwingung auf den darunter liegenden Resonanz -boden, dessen Schwingungen in den Raum abgestrahlt wer-den.

Die Saiten bestehen bei Klavieren aus hochwertigemStahl. Die Grundfrequenz f0 der angeregten Stahlsaite hängtvom Querschnitt der Saite d, ihrer Länge l und der Spann-kraft F ab [1]:

f d l F1· .0

Online-Ausgabe unter:wileyonlinelibrary.com

© Sykwong@fotolia

Dämpfer

Stoßzunge

Saite Steg Saitenanhang

Hammer

Resonanzboden Rippen

Taste

Stimmwirbel

A B B . 1 M EC H A N I K E I N E S F L Ü G E L S

Vereinfachte Darstellung des Mechanismus’ zur Erzeugung eines Klaviertons im Konzertflügel (nach [1]).

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ZusammenfassungIn Pianos sorgen schwingende Saiten für den Klang, wobei fürmittlere Töne zwei und höhere Töne drei Saiten zuständigsind. Für einen vollen Ton müssen diese leicht gegeneinanderverstimmt sein. Vor allem müssen aber sämtliche Toninter-valle gegenüber dem physikalisch reinen Intervall leicht ver-stimmt werden. Dies erfordern erstens die Tonartwechsel derklassischen und modernen Musik. Wegen der anharmoni-schen Obertöne der Stahlsaiten wirkt zweitens nur so der Ge-samtklang des Instruments harmonisch.

StichwortePiano, gleichtemperierte Stimmung, wohltemperierte Stim-mung, Klaviermechanik.

Literatur[1] N. H. Fletcher, D. N. Rossing, The Physics of Musical Instruments,

Springer Verlag, Berlin und Heidelberg 1991.[2] D. W. Martin, W. D. Ward, J. Acoust. Soc. Am. 1961, 33(5), 582. [3] H. Hinrichsen, Entropiebasiertes Stimmen von Musikinstrumenten,

Rev. Bras. Fis. 2012, 34, 2301; www.physik.uni-wuerzburg.de/∼hinrichsen/research/entropy/tuning.

[4] J. Gedan, Praxis des Klavierstimmens, www.pian-e-forte.de/texte/pdf/praxis.pdf.

K L A V I E R S T I M M U N G P H Y S I K U N D M U S I K

Die Anharmonizität A hängt dabei von Radius, Spannungund Länge der Saite ab; sie ist bei langen, dünnen und starkgespannten Saiten am geringsten.

Für einen schönen Klang werden die Grundtöne so ge-stimmt, dass die Obertöne insgesamt harmonischer zuein -ander wirken. Die Praxis zeigt, dass man dies durch eineStreckung der Oktaven erreichen kann, das Verhältnis derFrequenzen übersteigt dann 2 : 1. Diese Streckung hat aucheinen psychoakustischen Nebeneffekt: Viele Hörer empfin-den es als „wahre“ Oktave, wenn das Verhältnis der Fre-quenzen um etwa 0,6 % größer als 2:1 ist. Abbildung 2 zeigtdiese Streckung der Intervalle als blaue Linie. Diese Kurvehat O. L. Railsback vom Eastern Illinois State Teachers Col-lege in Charleston (USA) 1938 entdeckt.

Abbildung 2 zeigt mit der roten Linie aber auch, dass die-se Abweichungen bei einem Klavier von Ton zu Ton ver-schieden sind. Die teils beträchtlichen Abweichungen hän-gen von den Eigenarten des jeweiligen Instruments ab. EinKlavierstimmer muss darauf eingehen, damit ein wohltö-nender Zusammenklang entsteht. Dieses Suchen nach dembesten Kompromiss der Übereinstimmung der Obertönehat der Würzburger Physiker Haye Hinrichsen auf elektro-nischem Weg versucht: Er hat ein Entropiemaß für die Über-einstimmung von Obertönen eingeführt und die Gesam-tentropie durch ein Monte-Carlo-Verfahren minimiert. Da-mit konnte er nicht nur die Railsback-Kurve eines Klavierswiedergeben, sondern zum Teil auch tonabhängige Abwei-chungen aus einer Stimmung nach Gehör [3]. Diese Arbeithat ein großes, aber auch missverständliches Echo hervor-gerufen, in dem irrigerweise über das Ende des Klavier-stimmerberufs spekuliert wurde.

Warum Tasteninstrumente im Gegensatz zu Saitenin-strumenten nicht von ihren Spielern gestimmt werden kön-nen, hängt aber nicht nur damit zusammen, dass die Stim-mung nicht rein ist und anharmonische Abweichungen berücksichtigt werden müssen. Neben diesen hohen An-forderungen an Gehör und Erfahrung wird das Handwerk-liche oft unterschätzt. Eine Saite liegt nicht nur am Steg auf,sondern auch an anderen Stellen, vor allem vor dem Wirbel,um den sie gewickelt ist. Wird die Saite durch Drehung desWirbels stärker gespannt, so ist die Spannung vor und nachder Auflage durch die Reibung nicht gleich. Außerdem kannsich der Wirbel biegen und in sich verwinden. Da sich diesnach einiger Zeit ausgleicht, muss die Spannung höher an-gesetzt werden, um letztlich das gewünschte Resultat zu er-reichen. Dabei sind die Spannbewegungen winzig. Zur Er-höhung eines Tons um 1 Cent (Definition s. Abbildung 2)darf der Stimmhammergriff um nicht mehr als 1/10 mm be-wegt werden! Dies betrifft allerdings nur hohe Töne, tiefeTöne mit längeren Saiten sind leichter zu stimmen [4].

Ob Klaviere bespielt werden oder nicht: Im Lauf derZeit lässt die Spannung ihrer Saiten nach. Deshalb wird derBeruf des Klavierstimmers nicht aussterben, so lange es die-se Instrumente gibt. So lange wird auch Enrico Fermis klei-ne Denksportaufgabe aktuell bleiben.

© 2013 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.phiuz.de 6/2013 (44) Phys. Unserer Zeit 303

A B B . 2 S T I M M U N G

Abweichungen der Töne eines Pianos von den mathematisch idealen, temperiertenWerten (Nulllinie grün). Blaue Linie: Mittelwerte vieler Instrumente. Rote Linie:Daten eines Klaviers. Die Zahlen auf der waagrechten Skala geben die Frequenzwieder (in Hertz), auf der senkrechten ist ein logarithmisches Frequenzverhältnisaufgetragen (in Cent, 1 Cent = 1/1200 einer Oktave) (nach [2]).

Die AutorenLeopold Mathelitsch und Ivo Verovnik verfassen seit Anfang 2013 die Serie „Physik und Musik“.

AnschriftProf. Dr. Leopold Mathelitsch, Institut für Physik/Theoretische Physik, Karl-Franzens-Univer sität Graz,Universitätsplatz 5, A-8010 Graz, Ö[email protected]