Stitchathon.handmadekultur, Juli-August 2012

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arum? Ihr müsst wissen, Agamemnon hat seine Tochter nicht aus niederen Beweggründen getö- tet, er wollte sein Land retten, und Iphigenie, die Tochter, wusste das und war bereit, dieses Opfer zu bringen.« Loukia Richards erzählt! Von zornigen Göttern, Rachegeistern, Kindsmördern und Hochverrat. Und sie stickt, und die anderen, die kommen, tun es auch: die Buchhalterin Karen aus Eendracht zum Beispiel oder Lisa, eine Schwestern- schülerin aus Hamburg-Altona. Beide folgten einer Einladung Loukias zum Stitchathon. Dahinter ver- birgt sich eine Aktion, bei der sich Menschen um ein Stück Stoff versammeln und darauf sticken, während Loukia – sehr wach und einnehmend – griechische Mythen lebendig werden lässt. Während man unter Erzählstoff üblicherweise die künstlerische Verarbeitung eines Themas in einem literarischen Werk versteht, geht es beim Stitchathon um die Verarbeitung des Gehörten direkt auf einem Stück Stoff. Loukia, die Künstlerin, bereitet den »Erzählstoff« mit ein paar Skizzen vor. Jede aus der Runde kann diese Entwürfe besticken oder eigene er- finden. Es darf freestyle gestickt werden oder gar nicht, zum Beispiel, wenn die Geschichte von Orestes so spannend wird, dass einem die Hand den Dienst verweigert und man nur noch Ohr sein kann. »Mein Wunsch ist, dass die Frauen, die kommen, angeregt werden, ihre Gefühle auszudrücken, und wenn es mal nicht mit Nadel und Faden ist, auch nicht schlimm«, sagt Loukia. »Letztens kam eine Frau zum Hamburger Stitchathon, die prompt einen Gospel von Orestes und seinem Muttermord improvisierte.« Far- ben wechseln, dicke Fäden, dünne Fäden, singen – jede, wie sie kann und will. Loukia sieht die Arbeit am Stoff als Weg und Ziel zugleich. Sie erlebt, wie die Frauen durch das gemeinsame Sti- cken in einen anderen Modus wechseln, vom Denkmodus zum Tun, vom Kopf zur Hand. »Ich möchte Geschichten erzählen, die uns auch heute noch etwas zu sagen haben, von Liebe, Eifersucht, Macht, Gier, Trauer, Lust«, sagt Loukia, die in Athen aufgewachsen ist. Sie wählt als »Erzählstoff« das, was ihr am nächsten liegt und was auf den Stationen in Athen, London, Amsterdam, Hamburg oder im Künstlerdorf Schöppingen gleichermaßen interessiert. Doch was treibt so jemanden wie Loukia an? Mit 36 Jahren, nach Wirtschafts- und Kunststudium, entscheidet sich die Griechin endgül- tig, Künstlerin zu sein und sich auf die Textilkunst einzulassen. Obwohl sie mit Fotografie, Malerei und Schmuckdesign erfolgreich experimentiert, wendet sie sich zunehmend textilen Materialien zu und »malt« mit Nadel und Faden auf Stoff. Sie kommt aus einem Land, in dem das Besticken von Textilien zur DNA des Volkes gehört, also auch zu ihr. Doch erst bei einer Ausstellung des Victoria & Albert Museums in London über griechische Stickkunst entdeckt sie die anthropologische, vor allem aber die künstle- Was passiert, wenn wir Wörter wörtlich nehmen? Zum Beispiel „Erzählstoff“? Wir würden vielleicht bei Loukia Richards und dem »Stitchathon« landen. TEXT: ANGELIKA VON AUFSESS, FOTOS: STUDIO KOMINIS ATHENS AKTION 56 LOUKIA RICHARDS Zuhören, erzählen und handarbeiten – Loukia Richards will mit dem Stitchathon an eine alte Tradition anknüpfen. www.loukiarichards.com

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arum? Ihr müsst wissen, Agamemnon hat seine Tochter nicht aus niederen Beweggründen getö-tet, er wollte sein Land retten, und Iphigenie, die Tochter, wusste das und war bereit, dieses Opfer zu bringen.« Loukia Richards erzählt! Von zornigen Göttern, Rachegeistern, Kindsmördern und Hochverrat. Und sie stickt, und die anderen, die kommen, tun es auch: die Buchhalterin Karen aus Eendracht zum Beispiel oder Lisa, eine Schwestern-schülerin aus Hamburg-Altona. Beide folgten einer Einladung Loukias zum Stitchathon. Dahinter ver-birgt sich eine Aktion, bei der sich Menschen um ein Stück Stoff versammeln und darauf sticken, während Loukia – sehr wach und einnehmend – griechische Mythen lebendig werden lässt.

Während man unter Erzählstoff üblicherweise die künstlerische Verarbeitung eines Themas in einem literarischen Werk versteht, geht es beim Stitchathon um die Verarbeitung des Gehörten direkt auf einem Stück Stoff. Loukia, die Künstlerin, bereitet den »Erzählstoff« mit ein paar Skizzen vor. Jede aus der Runde kann diese Entwürfe besticken oder eigene er-finden. Es darf freestyle gestickt werden oder gar nicht, zum Beispiel, wenn die Geschichte von Orestes so spannend wird, dass einem die Hand den Dienst verweigert und man nur noch Ohr sein kann. »Mein Wunsch ist, dass die Frauen, die kommen, angeregt werden, ihre Gefühle auszudrücken, und wenn es mal nicht mit Nadel und Faden ist, auch nicht schlimm«,

sagt Loukia. »Letztens kam eine Frau zum Hamburger Stitchathon, die prompt einen Gospel von Orestes und seinem Muttermord improvisierte.« Far-ben wechseln, dicke Fäden, dünne Fäden, singen – jede, wie sie kann und will.

Loukia sieht die Arbeit am Stoff als Weg und Ziel zugleich. Sie erlebt, wie die Frauen durch das gemeinsame Sti-cken in einen anderen Modus wechseln, vom Denkmodus zum Tun, vom Kopf zur Hand. »Ich möchte Geschichten

erzählen, die uns auch heute noch etwas zu sagen haben, von Liebe, Eifersucht, Macht, Gier, Trauer, Lust«, sagt Loukia, die in Athen aufgewachsen ist. Sie wählt als »Erzählstoff« das, was ihr am nächsten liegt

und was auf den Stationen in Athen, London, Amsterdam, Hamburg oder im Künstlerdorf Schöppingen gleichermaßen interessiert.

Doch was treibt so jemanden wie Loukia an? Mit 36 Jahren, nach Wirtschafts- und

Kunststudium, entscheidet sich die Griechin endgül-tig, Künstlerin zu sein und sich auf die Textilkunst einzulassen. Obwohl sie mit Fotografie, Malerei und Schmuckdesign erfolgreich experimentiert, wendet sie sich zunehmend textilen Materialien zu und »malt« mit Nadel und Faden auf Stoff. Sie kommt aus einem Land, in dem das Besticken von Textilien zur DNA des Volkes gehört, also auch zu ihr. Doch erst bei einer Ausstellung des Victoria & Albert Museums in London über griechische Stickkunst entdeckt sie die anthropologische, vor allem aber die künstle-

Was passiert, wenn wir Wörter wörtlich nehmen? Zum Beispiel „Erzählstoff“? Wir würden vielleicht

bei Loukia Richards und dem »Stitchathon« landen.Te x T: A n g e l i k A v o n A uf s e s s , FoTo s : s t u d i o k o mi n i s At he n s

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loukiA RichARdsZuhören, erzählen und handarbeiten – Loukia Richards will mit dem Stitchathon an eine alte Tradition anknüpfen.

www.loukiarichards.com

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rische Bedeutung der im modernen Griechenland als »Folklore« verschrienen Textilbearbeitung. Sie reali-siert: Sticken ist Kunst!

Loukia greift zu gesellschaftspolitischen Themen und verarbeitet ihre Erfahrungen als »Ar-tist in Residence« im Amster- damer Rotlichtviertel beispielsweise in ih-rem Werk »holy bitch«. Typisch dabei für die Künstlerin Richards: eine Kreuzung

traditioneller Techniken und Motive mit der eigenen kritischen und selbstreflexiven Sicht auf die Dinge. Und dabei ist es der 46-Jährigen gelungen, ihre kul-turelle Herkunft wieder erfahrbar zu machen, zu bewahren, was bewahrenswert ist, und wegzulassen, was keinen Wert hat. Für all das hat Loukia einen Platz gefunden: das Stitchathon – ein Geflecht aus Geschichten und Mustern, ein wachsender Stoff im Kreis. Niemand ist hinterher derselbe wie zuvor. Der Stoff nicht, und auch nicht die Menschen, die ihn be-arbeiten. Loukia ist überzeugt, dass Kunst als Mittel der Verständigung gerade dort greift, wo Verbindun-gen gekappt worden sind. Und sie erzählt von einem Stitchathon in Düsseldorf, auf dem alte Men-schen, Kinder und Patienten eines psychiatrischen Krankenhauses gemeinsam an einem Stück Stoff stickten und den Sagen aus der griechischen Götter-welt lauschten, einer Welt, die nicht minder chaotisch verlief als die der irdischen im Jahre 2012.

typisch loukiA! Kreuzung traditioneller Techniken mit der eigenen Weltsicht.