STRATEGIEN DER AUFSTANDSBEKAEMPFUNG · Nisaar Ulama 106 Kommen nur die, die warten, in den Garten?...

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MICHAEL FRANZ FABIAN GINSBERGINA JOHANNA GOETTE MATTHIAS HESSELBACHER

EINLADUNG

NERINGA VASILIAUSKAITE

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ISBN 978-3-939423-74-4

2018

Verlag der Stadt Villingen-Schwenningen

STRATEGIEN DER AUFSTANDSBEKAEMPFUNGANTIIMPERIALISTISCHE KUNST IN BADEN–WUERTTEMBERG

MICHAEL FRANZ FABIAN GINSBERGINA JOHANNA GOETTE MATTHIAS HESSELBACHER

EINLADUNG

NERINGA VASILIAUSKAITE

.

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Strategien der

Aufstandsbekämpfung

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STRATEGIEN DER AUFSTANDSBEKAEMPFUNGANTIIMPERIALISTISCHE KUNST IN BADEN–WUERTTEMBERG

Verlag der Stadt Villingen-Schwenningen

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Inhalt

7

Strategien der Aufstandsbekämpfung

Antiimperialistische Kunst in Baden–Württemberg

Fabian Ginsberg

24

Anmerkungen zu Jacques Derridas

Marx’ Gespenster

Franziska Ipfelkofer

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Aufklärung durch Sichtbarmachung

Nisaar Ulama

106

Kommen nur die, die warten, in den Garten?

Lena Reich

116

Biographien

118

Abbildungsverzeichnis

120

Impressum

Das Regierungsinstrument ist

das primäre politische Problem,

mit dem die menschlichen

Gemeinschaften konfrontiert sind.

Al Qadda�

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Aufklärung durch Sichtbarmachung

Für wenige Jahre, zwischen 1929 und 1933, erschien

in Köln das dünne Heftchen a bis z – das, wie es im

Untertitel hieß, „Organ der Gruppe progressiver

Künstler“. So bezeichnete sich eine relativ heterogene

Gruppe, zu der u. a. Franz Wilhelm Seiwert, August

Sander, Heinrich Hoerle, Gerd Arntz, Augustin Tschin-

kel und Peter Alma gehörten. Die meisten waren in

Köln oder Umgebung ansässig, doch wurde, nicht

zuletzt durch Berichte in a bis z, der Anschluss gesucht

an die Kunstszenen der europäischen Nachbarn. So

lesen sich dann auch die Wort- und Bildbeiträge in

a bis z wie ein Kompendium der damaligen europäi-

schen Avantgarde und ihrer Tätigkeitsfelder in Malerei,

Gra�k, Film, Architektur oder Skulptur.1 In Ausgabe 9

�nden sich dabei in einer denkwürdigen Gegenüber-

stellung Artikel von Gerd Arntz sowie von Kasimir

Malewitsch. Man kann diese Kombination für abwegig

halten. Arntz berichtete über das Gesellschafts- und

Wirtschaftsmuseum in Wien, wo er seit 1926 an einer

bildstatistischen Methode arbeitete. Von Malewitsch

wiederum ist ein Auszug aus seinem Buch Gegen-

standslose Welt abgedruckt, in dem er sich mit den

seiner Ansicht nach zeitgenössischen Aufgaben der bil-

denden Kunst, insbesondere der Malerei beschäftigt.

Die Klammer beider Positionen ist jedoch klar: ihr

Anteil am ästhetischen Phänomen 'Konstruktivismus'.

1 Eine Reproduktion aller Ausgaben von a bis z �ndet sich in: Uli Bohnen, Dirk Backes (Hg.), Franz W. Seiwert: Schriften, Berlin: Karin Kramer Verlag, 1978. Siehe auch die Beiträge in: NGBK (Hg.), Politische Konstruktivisten. Die Progressiven 1919-1933, Berlin: NGBK, 1975.

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I.Die folgenden Ausführungen bewegen sich entlang

dieses Begriffes. Sie wollen dabei ein Verständnis ent-

wickeln für einen 'Konstruktivismus' im Sinne einer

Bild- als auch Körperkonstruktion, dessen historische

Wurzeln wesentlich tiefer liegen – so die These. Dabei

ist allerdings schon während der russischen Avant-

garde unklar, was genau 'Konstruktivismus' meinen

soll. Der Begriff steht neben und quer zu den damals

zahlreich aufkommenden und schnell �uktuierenden

Selbstbetitelungen. Dezidiert Bezug nimmt insbesonde-

re die 1922 eröffnete Ausstellung Konstruktivisten,

sowie der im selben Jahr erschienene Text Konstrukti-

vismus von Aleksej Gan; eng verbunden sind beide

mit dem Moskauer Institut INChUK und seinen theore-

tischen Ausarbeitungen und Diskussionen. Deren Aus-

führungen weichen teilweise erheblich ab von einer

ganz anderen, vielleicht der zentralen Figur jener Zeit,

nämlich von Kasimir Malewitsch. Es ist hier nicht der

Raum, die unübersichtliche Lage aus widerstreitenden

Positionen und gegenseitigen Interpretationen zu ord-

nen, die nicht nur die russische Szene, sondern eben-

so das Bauhaus oder De Stijl, und nicht zuletzt eben

die Kölner Progressiven zu berücksichtigen hätte.2

Doch lässt sich für eine Gemeinsamkeit argumentieren,

die hier als Minimalde�nition des Konstruktivismus

gelten soll: (1) Die künstlerische Gestaltung sollte sich

nicht mehr an in irgendeiner Form abbildenden, mimeti-

schen Prinzipien orientieren, die das Besondere einer

äußerlichen Welt zu fassen suchten, sondern sich an

technischen, geometrischen, dem Material inhärenten

Prinzipien orientieren. Es ging darum etwas 'Neues' zu

konstruieren, und hierzu musste auf einen Naturbegriff

rekuriert werden, der eher Ensemble logischer Gesetz-

mäßigkeiten denn Ort der Erhabenheit war. Jedwedes

Prinzip des 'Abmalens' jedenfalls war obsolet. „Ein

Künstler,“ so beschreibt es Malewitsch im von a bis z

gewählten Auszug, „der nicht imitiert, sondern schafft

– bringt sich selbst zum Ausdruck; seine Werke sind

keine Spiegelbilder der Natur, sondern neue Tatsäch-

lichkeiten, die nicht weniger bedeutend sind als die Tat-

sächlichkeiten der Natur selbst. […] Der Künstler, der

seine Kunst über die malerischen Möglichkeiten hinaus

entwickeln will, ist gezwungen, zur Theorie und Logik

zu greifen und somit das Gestalten des Unterbewußt-

seins unter die Kontrolle des Bewußtseins zu stellen.“3

Die neuen Tatsächlichkeiten, die einerseits keine Spiegel-

bilder der Natur mehr sein – sich aber sehr wohl an

deren Gesetzmäßigkeiten orientieren sollen (Theorie

und Logik), verbinden also die Bild�ndung, oder Ge-

staltung überhaupt, mit einem neuen Verständnis von

Natur. Ein Naturbegriff, der nicht mehr als ein dem

Menschen äußerliches 'Anderes' gedacht wird, an des-

sen ober�ächliche Erscheinung sich der Künstler hält,

sondern als ein abstraktes Konstruktionsprinzip. Und

2 Vgl. für einen guten Überblick: Hans-Peter Riese, Kunst: konstruktiv, konkret. Gesellschaftliche Utopien der Moderne, München: Deutscher Kunstverlag, 2008.3 Die Zitate �nden sich in: Kasimir Malewitsch, Die Gegenstandslose Welt (Bauhausbücher 11), München: Albert Langen Verlag, 1927, S. 28 und S. 49.

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so, wie die Kunst sich nicht mehr an der bloßen Erschei-

nung der Dinge abarbeiten, sondern natürliche Gesetz-

mäßigkeiten in ästhetische Konstrukte übersetzen will,

sucht sie die Nähe zu den dominanten Gestaltungs-

disziplinen ihrer Zeit: Ingenieurtum und Naturwissen-

schaft. Nicht zuletzt diese Disziplinen selbst waren in

ihrer jüngeren Entwicklung mit einer 'gegenstandslo-

sen' Welt konfrontiert, d. h. mit Objekten, die nur gegen

alle Intuition und mithilfe komplexer Apparaturen oder

Berechnungen erfassbar wurden – Atome, Röntgen-

strahlen oder die Geometrie nichteuklidischer Räume

beispielsweise. Entdeckungen dieser Art sorgten durch-

aus für eine Ambivalenz zwischen Fortschrittseuphorie

und Verunsicherung. Doch überwog bei den meisten

Avantgardisten ein Optimismus, der bis zur Idealisierung

führen konnte. „Das Senkblei in unserer Hand, die

Augen präzise wie ein Lineal, mit einem Geist so straff

wie ein Kompass konstruieren wir unsere Werke wie das

Universum die seinen, wie der Ingenieur seine Brücke,

wie der Mathematiker seine Formel der Umlaufbahn

konstruiert.“4 Das führt zur zweiten Grundannahme

über den Konstruktivismus (2), nämlich der Ausweitung

eines Kunstbegriffes, beziehungsweise einer Neuaus-

handlung des Verhältnisses zwischen Kunst und Ge-

sellschaft. Kunst soll jetzt in der Gesellschaft aufgehen

und Ein�uss auf das Leben haben, soll gewissermaßen

zu einem operativen Faktor werden. Das heißt mitnich-

ten, das der Begriff 'Kunst' sich in irgendeiner Form

in seiner sozialen, politischen oder technischen Anwen-

dung au�ösen soll. Die Malereien Malewitschs ver-

stand er auch als solche, und sowohl der Flugapparat

als auch der gigantische Turm zur III. Internationale

4 Naum Gabo, „Das Realistische Manifest“, in: Stephen A. Nash, Jörn Meckert (Hg.), Naum Gabo. Sechzig Jahre Konstruktivismus, München: Prestel Verlag, 1986, S. 203.

von Wladimir Tatlin blieben Modelle. Insofern gilt es der

Emphase, wie sie beispielsweise in obigem Zitat aus

dem Gabo-Manifest zum Ausdruck kommt, nicht auf

den Leim zu gehen. Aber Kunst war jetzt klar mit einer

gesellschaftlichen und politischen Utopie verbunden,

und wie jede Utopie ist sie immun gegen den Vorwurf

ihrer nicht eintretenden Verwirklichung.

II.Geht man der Nähe zu Naturwissenschaft und Ingenieur-

tum nach, insbesondere deren Bedarf nach einem nicht

Mortalität und Temperatur, Adolphe Quetelet

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abendländischen Wissens, sie stellen gewissermaßen

dessen unhintergehbaren Horizont des Denkens dar.

Natürlich sind die Begriffe nicht neu, sondern seit der

griechischen Antike Gegenstand philosophischer und

politischer Re�exion. Aber nun, in der aufdämmernden

Moderne, begleitet vom steten Fortschritt der Natur-

wissenschaften, insbesondere der Biologie, werden sie

zu abstrakten biologischen Größen. In dieser Konstel-

lation sieht sich der Mensch der schizophrenen Situation

ausgesetzt, gleichzeitig Subjekt des Erkennens und

Objekt der Erkenntnis zu sein. Er steht als souveräner

Betrachter im Zentrum der Welt und kann sich diese als

Objekt der Erforschung und Beherrschung dienstbar

machen. Aber er wird sich auch selbst zum Objekt. In

den seit dem 19. Jahrhundert aufkommenden Human-

wissenschaften liegen die Bedingungen der mensch-

lichen Existenz auf der Ebene eines abstrakten, allgemei-

nen Naturbegriffs. Das hat Konsequenzen für Vorstel-

lungen von Zeit und Geschichte, für Konzepte von

Sprache und Ökonomie und viele weitere Sphären des

menschlichen Seins, die eine Naturalisierung erfahren.6

Es hat aber vor allem Konsequenz für das Verständnis

der menschlichen Existenz als solcher, die nun im Sinne

einer biologischen Substanz verstanden wird. Zu die-

ser gehören mehr und mehr Eigenschaften, die dem

Menschen nicht nur als Individuum zugehen, sondern

ihren Sinn erst in Verhältnissetzung zu einer Vielheit

erlangen, „kollektive Phänomene, die in ihren ökonomi-

schen und politischen Wirkungen erst auf der Ebene

der Masse in Erscheinung treten und bedeutsam wer-

den.“7 Tod oder Geburt sind individuelle Ereignisse.

Aber ab dem Moment, in dem die Anzahl der Todesfälle

6 Vgl.: Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1974.7 Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76), Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1999, S. 290.

bloß abbildenden, sondern operativen Bildprinzip,

wird man einen Vorläufer in jenem 'Konstruktivismus'

�nden, dessen tiefste historische Sedimente ungefähr

im 17. Jahrhundert liegen – also in einer Zeit, in der

sich Frühformen des modernen Nationalstaats ent-

wickeln, mitsamt seinem Verwaltungsapparat und den

damit verbundenen neuen Techniken der Regierung.5

Zu diesen gehört insbesondere eine sich allmählich

entwickelnde statistische Erfassung dessen, was über-

haupt Gegenstand des Regierens sein kann. Es sind

dies die ökonomischen Grundlagen des Staates, Anzahl

und Verteilung von Ressourcen, Güter, militärische Ka-

pazitäten. Aber insbesondere geht es um die Bevölke-

rung als ökonomische Produktivkraft und als somit

zentrale Quelle des staatlichen Reichtums. Die hiermit

verbundenen politischen und epistemischen Transfor-

mationen, die sich seit ungefähr dem 17. Jahrhundert

vollziehen, hat Michel Foucault als Biopolitik oder

Biomacht beschrieben. 'Das Leben' (gr. bíos) und mit

ihm 'der Mensch' rücken demnach in das Zentrum des

5 Vgl. zum folgenden auch: Nisaar Ulama, „Biopolitische Figurationen“, in: Martin Doll, Oliver Kohns (Hg.), Figurationen des Politischen. Bd.1: Die Phänomenalität der Politik in der Gegenwart, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag, 2016, S. 43-72.

Totentafeln, John Graunt

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oder Geburten für eine bestimmte Gruppe von Men-

schen (zum Beispiel die Einwohner einer Stadt, Provinz

oder eines Staates) über einen bestimmten Zeitraum

erfasst wird, bildet sich ein 'virtueller', nämlich aus

Daten bestehender Kollektivkörper, an dem sich Kon-

stanten zeigen und sich Durchschnitt, Normalität und

Abweichung ablesen lassen. Damit sind also die Anzahl

der Geburten, der Zeitpunkt des Todes, die Häu�gkeit

von Krankheiten usf. nicht länger isolierte Ereignisse

eines jeden Lebens, sondern in ihrer Verbindung zur

Gesamtheit der Bevölkerung politische Charakteristika.

„Der Mensch ist im Grunde nichts anderes – so wie

er von den sogenannten 'Human'-Wissenschaften des

19. Jahrhunderts erwogen wurde –, dieser Mensch ist

letztlich nichts anderes als eine Figur der Bevölkerung.“8

Die Bevölkerung ist dabei Exempel einer epistemischen

Verschiebung, wie sie paradigmatisch für die wissen-

schaftliche Erkenntnis seit der Aufklärung überhaupt

wird: Sie ist zwar empirisches Objekt, aber im Sinne

von Mathematik und Statistik, sie besteht – daher spricht

auch Foucault von Virtualität – mithin allein aus Daten.

Und insofern handelt es sich bei der Bevölkerung um

eine Konstruktion, um einen Körper, dessen Konstruk-

tionsbedingungen immer auch Aufschreibetechniken

sind. „Und was bedeutet 'Bevölkerung'? Die Bevölke-

rung ist eine Gruppe, die nicht einfach aus vielen Men-

schen besteht, sondern aus Menschen, die von bio-

logischen Prozessen und Gesetzen durchdrungen,

beherrscht und gelenkt sind. Eine Bevölkerung hat eine

Geburtenrate, eine Alterskurve, eine Alterspyramide,

eine Sterblichkeitsrate und einen Gesundheitszustand.“9

8 Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territori-um, Bevölkerung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 2004, S. 120.9 Michel Foucault, „Die Maschen der Macht“, in: Daniel Defert, Francois Ewald (Hg.), Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. IV, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 2005, S. 224-244, hier: S. 235.

III.Und so beginnt die Geschichte der Bevölkerung mit

einer Geschichte ihrer Medialisierung, also ihrer Sicht-

barmachung. Deutlich wird dies beispielsweise bei

Gottfried Wilhelm Leibniz, der sich als einer der Ersten

Gedanken zur staatlichen Datenorganisation machte.

In mehreren Einlassungen zum Regierungswissen,

insbesondere in einem Entwurf gewisser Staats-Tafeln

beschreibt Leibniz die Zweckmäßigkeit einer tabellari-

schen Anordnung „aller zu der Landes-Regierung gehö-

rigen Nachrichtungen“ – also empirischer Daten, wel-

che auf Fakten und nicht auf 'Nachsinnen' oder logischen

Schlüssen beruhen. Dabei weiß auch Leibniz um die

'Ungegenständlichkeit' oder 'Virtualität' des Wissens,

welches eine neue Form der Aufschreibetechnik

erfordert, um entferntes an einem Punkt zusammen-

zubringen; „dieweil man nicht allezeit die dinge in 76 77

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Natura vor augen haben und besichtigen, auch nicht

alles in Modelle bringen, oder abmahlen und vorbilden

kan“10. Die Bevölkerung und überhaupt alle Räume

staatlichen Wissens sind, verkürzt gesagt, nichts das

sich länger im Sinne einer Repräsentation oder Abbil-

dung darstellen ließe, denn sie existieren nicht außer-

halb ihres Aufschreibesystems. Erst die Tabelle, die

das Wissen über Bevölkerungen, Güter, Armeen und

dergleichen zusammenführt, macht aus all diesen ver-

streuten Dingen eine einheitliche, sich jederzeit fort-

schreibende Entität – in diesem, sehr modernen Sinne

ist schon bei Leibniz der Staat nichts anderes als ein

Konglomerat eben jener Daten. Das Zusammenführen

alleine ist dabei nur der erste Schritt. Die Staatstafeln

erweisen ihre Nützlichkeit als Datenbank, wenn sie

Evidenzeffekte ermöglichen. Denn nicht allein das

Sammeln von Wissen schafft gouvernementalen Mehr-

wert, sondern das Auf�nden von Zusammenhängen

und Relationen (Connexionen): „Alles aber nicht allein

zu �nden, sondern auch was zusammengehöret, gleich-

sam in einen augenblick zu übersehen, ist ein weit

größerer Vortheil als der ins gemein bey inventariis an-

zutreffen, daher ich dieses werck Staatstafeln nenne,

dann das ist das amt einer tafel, daß die Connexion der

dinge sich darinn auf einmal fürstellet, die sonst ohne

mühsames nachsehen nicht zusammen zu bringen.“

Vorbild der Staatstafeln sind insofern Buchhaltungs-

systeme oder Seekarten: Sie bieten mittels visueller

Evidenzeffekte schnelle Orientierung in einem Wissens-

raum. Dem Auf�nden von Relationen kommt hierbei

eine zentrale Rolle zu. Denn während das empirische

Wissen endlich ist – es gibt beispielsweise eine festste-

10 Gottfried Wilhelm Leibniz, „Entwurff gewisser Staats-Tafeln“ [1680], in: ders., Sämtliche Schriften und Briefe IV, Bd. 3, Berlin: Akademie Verlag, 1986, S. 340-349, hier: S. 341.

hende Anzahl an Waren – sind die Möglichkeiten, diese

Daten in Verbindung zu setzen, unbegrenzt. „Dann der

Nachrichtungen sind wenig, die Conclusiones aber

so man daraus machen kan, unzählich; gleichwie aus

wenig Buchstaben unzählbare combinationes und

wörther formiret werden können.“11 Die tabellarische

Anordnung, wie sie von Leibniz erwogen – allerdings

seinerzeit nicht ausgeführt wurde – ist dabei das Er-

öffnungskapitel für etwas, das man 'politische Diagram-

matik' nennen könnte. Die Visualisierung von Wissen

in allen möglichen Spielarten – Tabelle, Graph oder

Karte – ermöglicht es dabei, das unsichtbare, unhand-

habbare Wissen des Staates in einen operativen Raum

zu überführen, indem beständig gemessen, verglichen,

normiert werden kann. Der Staat wird zu einem virtu-

ellen Körper der permanent sich selbst überprüft, sich

zerlegt, neu zusammensetzt. Er ist somit „nicht ein für

allemal gesetzt und gegeben, er ist vielmehr eine Institu-

tion, die sich im Selbstbezug einer Wissensrelation

beständig in Bewegung hält und beständig novelliert.“12

Was für den virtuellen Staatskörper des 17. Jahrhun-

derts gilt, lässt sich auch auf seine Einzelglieder übertra-

gen – mögen sie nun Bürger eines Staates oder Kno-

tenpunkte eines Netzwerkes sein: Ihre Existenzweise ist

beständig in Bewegung, Ergebnis von Prozessen der

Wissensrelation und Netzgefügen. Der Weg von einem

so groben (und eigentlich chaotischen) Raster wie den

Totentafeln John Graunts oder den zaghaften Korre-

lationsgraphen in Adolphe Quetelets Untersuchungen

zum Durchschnittsmenschen zu den hochau�ösenden

Datenbanken von heute ist lang. Aber nichts ändert

sich am Konstruktionsprinzip eines Körpers, der bestän-

11 Ebd. 12 Joseph Vogl, „Regierung und Regelkreis. Historisches Vorspiel“, in: Claus Pias (Hg.), Cybernetics – Kybernetik. The Macy-Conferences 1946–1953, Bd. 2: Dokumente, Zürich: diaphanes, 2004, S. 67-79, hier: S. 70.

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digen mathematischen Operationen des Zerschnei-

dens, Zerteilens und Sortierens ausgesetzt ist. Für die

Ermöglichung dieser Operationen betreibt der Staat

eine beständige Aufklärung über sich selbst. Eine Auf-

klärung allerdings, die man im Englischen mit dem

Wort 'intelligence' beschreiben würde – ruft man sich

noch einmal in Erinnerung, dass 'Daten' bei Leibniz

noch 'Nachrichtungen' heißen, ließe sich vielleicht

davon sprechen, dass der Staat seitdem immer auch

einen Nachrichtendienst unterhalten muss.

IV.Diese diagrammatische Visualisierung von Wissen als

Teil eines biopolitischen Machtgefüges markiert den

Horizont, vor dem – womit wir zur eingangs erwähnten

Doppelseite von a bis z zurückkehren – sich ab den

1920er Jahren die Geschichte von Diagrammatik und

politischem Konstruktivismus schließt: Das erst Wiener

Methode der Bildstatistik, später ISOTYPE13 bezeich-

nete Programm wiederum resultierte aus einer Koope-

ration zwischen einer philosophischen (Otto Neurath

als zentrale Figur des Wiener Kreises) und einer künst-

lerischen Schule (Gerd Arntz als Mitglied der Kölner

Progressiven). Der Philosoph und Ökonom Neurath

sah sehr genau, dass Gesellschaft, und d. h. eben auch

– gesellschaftliche Machtverhältnisse – auf Statistik

und somit einem mathematisch berechneten Körper

beruhten. Neurath war aber auch davon überzeugt,

dass die Neutralität der Statistik bisher nur ein theore-

tisches Versprechen bleibe. „Die schwersten Anklagen“,

so Neurath, „gegen die kapitalistische Ordnung kann

die Arbeiterschaft mit stärkstem Nachdruck auf Grund

der Statistik erheben. Begrei�ich, dass sehr wichtige

Daten, die hierfür in Frage kommen, von bürgerlicher

Seite nicht mit besonderem Eifer beschafft werden!“14

Die Forderung enthält eine Unterscheidung, die ein

klassischer Zug marxistischer Gesellschaftskritik ist. Es

geht darum, aufzuzeigen, zu entlarven, zu desavouie-

ren, dass immer dann, wenn 'Gesellschaft' gesagt wird,

eigentlich nur die 'bürgerliche Gesellschaft' gemeint

ist, dass immer dann, wenn es um das Wissen über

diese Gesellschaft geht, immer nur bürgerliches Wis-

sen gemeint ist, und dass aus diesem Grund die

Arbeiterklasse immer ausgeschlossen bleibt. Die Art

von Öffentlichkeit, die ein solches Wissen herstellt, ist

immer nur eine bürgerliche Öffentlichkeit. Die nicht

repräsentierte Arbeiterklasse �ndet sich hier nicht

wieder, und muss um dieses Wissen kämpfen. Das liegt

insofern in der Emanzipations- und Ermächtigungsstra-

13 Was einerseits die Abkürzung für International System of Typographic Picture Education sein sollte, aber im Griechischen auch 'immer das gleiche Zeichen' bedeutete.14 Rudolf Haller, Robin Kinross (Hg.), Otto Neurath. Gesammelte bildpädago-gische Schriften, Wien: Verlag Hölder-Pichler-Tempsky, 1991, S. 80.

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tegie des Marxismus, als dass auch Marx schon eine

„statistische Untersuchung der Lage der arbeiten-

den Klasse aller Länder, unternommen von der Arbei-

terklasse selbst“15 vorgeschlagen hatte. Denn: „Um

erfolgreich zu wirken, muss man das Material kennen,

worauf man wirken will.“16 Für Neurath war klar, dass

sich mit dem Moment der Sammlung und Verwaltung

politischen Wissens auch die Frage der Macht stellt,

die in ihrer allereinfachsten Form lautet: Wer verfügt

wie über dieses Wissen, wie ist es verteilt? Neurath

fragte, anders gesagt, nach der Demokratisierung des

Wissens, nach der Schaffung einer Öffentlichkeit, die

nicht nur theoretisches Bekenntnis der Aufklärung

bleibt, sondern tatsächlich umfassende Teilhabe – und

d. h. eben auch epistemische Teilhabe – garantieren

kann. Tatsächlich war das statistische Wissen bis dato

ein Wissen, das nur in staatlichen Institutionen ver-

wendet wurde, d. h. es war nicht dazu gedacht, eine

politische Öffentlichkeit zu erreichen. Es war, mit ande-

ren, marxistischen Worten, ein Wissen von Herrschen-

den über Beherrschte. Neurath zielte auf eine Demo-

kratisierung von Wissen, insofern er der Meinung war,

dass eine Visualisierung der Gesellschaft hier eine

Kluft überbrücken könne, was sich in seiner gerne zi-

tierten Wendung ausdrückte: „Worte trennen – Bilder

verbinden.“17 Es handelt sich um die Variation eines

Grundsatzes, der für Neurath, wie auch für die meisten

Mitglieder des Wiener Kreises galt: „Metaphysische

Termini trennen – wissenschaftliche Termini verbin-

15 Karl Marx, „Instruktionen für die Delegierten des Provisorischen Zentralrats zu den einzelnen Fragen“, in: MEW 16, Berlin: Karl Dietz Verlag, 1975, S. 190-191. Diesen Instruktionen ist 1880 ein „Fragebogen für Arbeiter“ gefolgt (MEW 19, a. a. O., S. 230-237). Aber: "Eine direkte Wirkung des Fragebogens für die Arbeiter konnte nicht belegt werden.“ MEGA, I, 25, Apparat, S. 798.16 Ebd.17 Otto Neurath, „Bildhafte Pädagogik im Gesellschafts- und Wirtschafts-museum in Wien“, in: Rudolf Haller, Robin Kinross (Hg.), a. a. O., S. 198.

den.“18 Mit diesen wissenschaftlichen Termini waren

solche im Sinne der „wissenschaftlichen Weltauffas-

sung“19 gemeint, die eine Klarheit und allgemeine Ver-

ständlichkeit als aufklärerisches Ideal einforderten –

und in diesem Sinne würden auch Bilder 'verbinden',

d.h. eine politische Erkenntnisgemeinschaft schaffen.

Doch Neurath hatte ein sehr genaues Gespür dafür,

dass 'Gesellschaft' kein einfach abzubildendes Ding sei,

oder jedenfalls das Entscheidende sich nicht einfach

repräsentieren lasse. Am Fall des statistischen Appara-

tes und seinen Formen des Wissens zeigt sich, dass

Transparenz noch nicht gleich Aufklärung bedeutet.

Es reicht nicht aus, den Erhebungsapparat, wie es

Neurath fordert, an sich zu reißen, um die Sichtbarkeit

der ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse

zu gewährleisten. Denn das, was dann in Form von

Zahlen, Kurven, Tabellen und Formeln sichtbar würde,

zeigte gleichzeitig nichts – weil es nur dem bürger-

lichen Experten, sprich dem ausgebildeten Statistiker

verständlich wäre. Der Arbeiter allerdings hätte gar

nicht die Zeit, seine Bildungsde�zite nach Feierabend

wettzumachen, und, obschon er eigentlich besser über

die sozialen Mechanismen Bescheid weiß, zur bürger-

lichen Belesenheit aufzuschließen. Die soziale Auf-

klärung, die Neurath anstrebt, muss sich also nicht

nur gegen eine Differenz von Wissen und Nichtwissen

(= statistischer Apparat in den Händen bürgerlicher

Eliten und nicht der Arbeiter) richten. Sie muss über-

haupt die Unanschaulichkeit einer Statistik überwinden,

18 Otto Neurath, „Einheitswissenschaft und Psychologie“, in: Joachim Schulte, Brian McGuiness (Hg.): Einheitswissenschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1992, S. 24-56, hier: S. 55. Siehe dort auch die lesenswerte Einführung von Rainer Hegselmann, „Einheitswissenschaft - das positive Paradigma des Logischen Empirismus“, a. a. O., S. 7-23.19 Otto Neurath, „Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis“, in: Rainer Hegselmann (Hg.), Otto Neurath. Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus und Logischer Empirismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1979, S. 87-105.

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oder jedenfalls eine Auffassung von Anschaulichkeit,

welche sich in Zahlen und Kurven erschöpft. Denn,

so Neurath, „[d]ie Darstellung in Kurvenform hat

ihren guten Sinn für mathematische Behandlung von

statistischen Erscheinungen, oft aber täuscht sie nur

Wissenschaftlichkeit dem Beschauer vor, der hinter der

Kurve etwas sucht, was gar nicht hinter ihr steckt. […]

Der realistische Blick leidet unter Kurvendarstellun-

gen.“20 Ein hinter der Kurve, das zu suchen man demzu-

folge genötigt ist, konnte die antimetaphysische Pro-

grammatik des Wiener Kreises nicht akzeptieren. Laut

dieser gehören Vorstellungen einer Wahrheit, die

irgendwo hinter, über oder unter der menschlichen

Erfahrung liegt und ihr daher verschlossen bleibt, zu

dem „metaphysischen und theologischen Schutt“21,

der aus dem Weg geräumt werden soll. „In der Wissen-

schaft gibt es keine 'Tiefen'; überall ist Ober�äche: Alles

Erlebte bildet ein kompliziertes, nicht immer im Ganzen

fassbares Netz.“22 Das musste auch für ein Konzept

von Gesellschaft gelten, dass sich demzufolge an der

Empirie der Sozialwissenschaften auszurichten hatte,

und nicht an politisch-metaphysischen Begriffen wie

'Volk' oder 'Nation'. Man kann Neuraths Kritik jedenfalls

als die Behauptung eines Fetischcharakters der Dia-

grammatik lesen. Die Kurven und Zahlen wären dann

nichts anderes als ein Fetisch, sie scheinen eine gesell-

schaftliche Realität widerzuspiegeln, sie scheinen ein

Bild der Gesellschaft zu sein, sind aber tatsächlich

20 Otto Neurath, „Statistische Hieroglyphen“, in: Rudolf Haller, Robin Kinross (Hg.), a. a. O., S. 40-50, hier: S. 44-45.21 Otto Neurath, „Wissenschaftliche Weltauffassung“, in: Rudolf Haller, Robin Kinross (Hg.), a. a. O., S. 100.22 Ebd., S. 87. Das Wissenschaftliche sollte dabei nicht vorschnell mit Szientis-mus gleichgesetzt werden. Das kühne, wenn natürlich nicht unproblematische Projekt des Wiener Kreises bestand ja gerade darin, einen neuen Begriff von Wissenschaftlichkeit zu manifestieren, demzufolge Neurath behaupten kann: „Gerade das Proletariat wird zum Träger der Wissenschaft ohne Metaphysik“. Ders., „Abkehr von der Metaphysik“, in: Rainer Hegselmann (Hg.), a. a. O., S. 310.

nur Expertenrealität der bürgerlichen Gesellschaft und

ihres Expertenwissens. Und wie bei jedem Fetisch

bezeichnet der Schein nicht einen Mangel (wie man

es umgangssprachlich verstehen würde), sondern

begründet im Gegenteil dessen Funktionsfähigkeit und

Macht. Diagramme über die Gesellschaft sind real, weil

sie Macht ermöglichen. Sie können Basis politischer

Entscheidungen und sozialer Kontrolle sein; sie konsti-

tuieren das, was doch eigentlich immer virtuell bleibt:

einen Kollektivkörper namens Bevölkerung, Gesell-

schaft oder Arbeiterschaft, ebenso wie einen Betrachter,

der zwar als Betrachter Subjekt ist, aber ebenso Objekt

der Darstellung.

V.Anti-Fetischismus führt fast zwangsläu�g zu einem

Ikonoklasmus, so auch in diesem Fall: Die alten Bilder

müssen weg, Neurath musste und wollte neue �nden.

Die Darstellungsform ist dabei nicht allein ästhetisches,

sondern ebenso politisches Problem. Und genau dies

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ist die Gemeinsamkeit mit den Konstruktivisten; waren

doch viele an einem ebenso 'realistischen Blick' auf die

Gesellschaft interessiert wie Neurath. Für die Kölner

Progressiven war es dabei insbesondere die Fixierung

auf das Leiden Einzelner, bei Künstlern wie Käthe

Kollwitz oder George Grosz, das überwunden werden

sollte. Man suchte nach einer Bildform, die „eine allem

sentimentalen und zufälligen entkleidete wirklichkeit

darzustellen“23 in der Lage war. „Das fabrikbild“, so

Tschinkel, „zeigt den einzelmenschen als wirkliche be-

standteile seines betriebes, die der unternehmer zahlen-

mäßig kalkulieren kann, wie anderes inventar. das zu

zeigen ist wichtiger als runzeln und schweisstropfen.“24

Das Interesse der Progressiven richtete sich immer

wieder auf (proletarische) Massen, aber eben nicht als

beeindruckende Kulisse Menzelscher Fabrikgemälde,

sondern als abstrakte Figur von Ökonomie und insbe-

sondere der damals noch jungen Disziplin Soziologie.

Gerade von Letzterer und ihrem Interesse an abstrakten

23 Franz Wilhelm Seiwert zitiert nach: NGBK (Hg.), Politische Konstruktivisten. Die Progressiven 1919-1933, Berlin: NGBK, 1975.24 August Tschinkel, „Tendenz und Form“, in: a bis z, Nr. 12, Köln, 1930, S. 1.

gesellschaftlichen Größen und Massenphänomenen

sei noch zu wenig in der Kunst angekommen, beklagte

Peter Alma in einer Ausgabe der niederländischen

Avantgardezeitschrift Wendingen.25 Das Faszinosum für

die vermeintlich reineren Wahrheiten der Empirie wur-

de also nicht nur vom Positivismus des Wiener Kreises

geteilt, sondern ebenso von großen Teilen der Avant-

garde. Es folgt damit natürlich auch einer Interpretation

von Marxismus, die an die Erfass- und Vorhersagbar-

keit sozialer Tatbestände glaubt, und gerade deshalb

so besessen von Statistik ist. „Nur mengenmäßige

Fakten sind sozial bedeutsam, aber die meisten Men-

schen haben Angst vor Zahlenreihen, und Diagramme

halten sie für eine Zumutung. So etwas, werden sie

sagen, ist eine Sache für Spezialisten. Aber auf die Ge-

sellschaft bezogene Mengen brauchen nicht als Zahlen-

reihe aufzumarschieren.“26 Neurath gelang es, im da-

maligen 'roten Wien' ein Institut zu gründen in dem die

Allianz von Sozialaufklärung und konstruktivistischer

Bild�ndung gelang, mit Gerd Arntz als Leiter der gra�-

schen Abteilung.27 So marschierten tatsächlich nicht

Zahlen, sondern die von Arntz entwickelten abstrakten

Figuren auf – Piktogramme. Gemäß dem Prinzip von

Klarheit und Transparenz sollte jede Figur für eine

exakt gleiche Menge (von Arbeitslosen, produzierten

Waren oder gehandelten Gütern) stehen, so dass die

Vergleichbarkeit nach wie vor im Sinne einer visuelle

25 Vgl. Wendingen, Nr. 9, 11. Jg., Amsterdam, 1930 (die Ausgabe Beeld-statistiek en Sociologische gra�ek wurde mitsamt ihrem Titelbild von Alma gestaltet).26 Otto Neurath, „Die Museen der Zukunft“, in: Rudolf Haller, Robin Kinross (Hg.), a. a. O., S. 244-257, hier: 253.27 Zur bewegten Geschichte der Wiener Bildstatistik: Kees Broos, „Bild-statistik: Wien – Moskau – Den Haag 1928 – 1965“, in: Ders., Flip Bool (Hg.), Gerd Arntz. Kritische Gra�k und Bildstatistik, Ausstellungskatalog, Gemeente-museum, Den Haag, 1976, S. 45-61. Sowie aus dem umfassenden Band zum Wiener Kreis: Friedrich Stadler, Studien zum Wiener Kreis. Ursprung, Ent-wicklung und Wirkung des Logischen Empirismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1997, S. 589-606.

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Evidenz gewährleistet ist. Es gibt keine 'versteckten'

Wahrheiten oder Unklarheiten, wie dies z. B. (ein belieb-

tes Beispiel von Neurath) dann der Fall ist, wenn eine

doppelte Menge durch eine größere Figur angezeigt

wird. Abgesehen davon, dass somit die Größenunter-

schiede nur vage erkennbar sind (ob eine Figur 30%

oder 45% größer ist als eine andere, wird kaum er-

sichtlich sein), steht der Betrachter vor dem Problem,

dass eine doppelte Höhe einer Figur bei Wahrung der

Proportionen ein vierfaches Volumen mit sich bringt.

Welche Menge also ist dann die Entscheidende?

Der Atlas Wirtschaft und Gesellschaft ist so etwas wie

das Hauptwerk des Gesellschafts- und Wirtschafts-

museums. Statt Kurven oder Balken, die alles mögliche

bedeuten können, sind es hier zum Beispiel Arbeits-

lose als abstrakte Typen, die auf den ersten Blick das

Thema der Graphik vermitteln. Auch hier greift das

diagrammatische Prinzip, denn über die Symbolik hin-

aus ermöglicht es, in der Bildkomposition zeitliche

und räumliche Verhältnisse zu erkennen.

VI.Die Bildstatistik steht als Visualisierung von Wissen in

der gleichen Tradition des diagrammatischen Rasters,

wie es den modernen Staat immer schon begleitete.

Dabei zielte sie auf die Schaffung einer Öffentlichkeit,

konstruierte also nicht nur einen virtuellen Körper, der

aus statistischen Daten besteht, sondern ebenso ein

aufgeklärtes, vielleicht sogar revolutionäres Subjekt.

Doch das vermeintliche Umstülpen von Machtverhält-

nissen beseitigt diese bekanntlich nicht – es gibt auch

eine Dialektik der visuellen Aufklärung. Aus dem Herr-

schaftswissen mag ein allgemein verfügbares Wissen

geworden sein, doch wurde aus Herrschaftstechnik

auch eine Technik des Selbst: Die Bildstatistik läutet

in diesem Sinne auch das Zeitalter der biopolitischen

Selbstkontrolle und ihrer öffentlichen Kommunikation

ein. Aber natürlich sind solche historischen Verknüp-

fungen und vermeintlichen Kausalitäten mit Vorsicht

zu genießen. Vor allem angesichts der Tatsache, dass

sowohl die Bildstatistik als auch der Wiener Kreis

und damit das beide einende Konzept von 'Aufklärung'

unvollendete Projekte blieben.28 Mit der Bildstatis-

tik jedenfalls schließt sich ein historischer Kreis. Die

po-litischen Kollektivkörper seit dem 17. Jahrhundert

sind derart strukturiert, dass sie nicht außerhalb von

Diagrammen, Tabellen und Formeln existieren, der

Staat beginnt sich als Datenbank zu konstruieren. Die

europäische Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts

sucht neue Bilder für eine neue Gesellschaft, welche sich

ebenfalls von einem Außen lösen sollen, das als poli-

tischer und ästhetischer Ballast empfunden wird. Viel-

leicht stellt sich somit auch die Frage, inwiefern die

von Malewitsch imaginierte 'Gegenstandslose Welt'

nicht nur ästhetische, sondern auch gesellschaftliche

Wirklichkeit werden konnte – oder es bereits war? Die

Wiener Bildstatistik jedenfalls glaubte an ein emanzi-

piertes Subjekt, das gleichzeitig Objekt der Darstellung

ist – und dies ist auch die größte Hypothek ihres Ver-

fahrens. Aber das Risiko des Scheiterns musste noch

jedes Projekt der Aufklärung eingehen.

28 Dagmar Borchers, „Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen. Zur Vertreibung der Wissenschaftlichen Weltauffassung im 'Dritten Reich' und zu ihrer Bedeutung für die Entwicklung der analytischen Philoso-phie“, in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Philosophie im Nationalsozialismus, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2009, S. 323-340.

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Impressum

Michael Franz, Fabian Ginsberg,Ina Johanna Götte, Matthias Hesselbacher

STRATEGIEN DER AUFSTANDSBEKAEMPFUNGANTIIMPERIALISTISCHE KUNST IN BADEN–WUERTTEMBERG

5. August bis 7. Oktober 2018Städtische Galerie Villingen-SchwenningenFriedrich-Ebert-Straße 3578054 Villingen-Schwenningen

Herausgeber: Wendelin RennStädtische Galerie Villingen-SchwenningenKurator: Fabian GinsbergAusstellung und KatalogDie Künstler und Wendelin RennOrganisatorische Mitarbeit: Damaris Dymke, Vanessa Charlotte HeitlandGestaltung: Michael Franz, Fabian Ginsberg, Lody van VlodropDruck: jetoprint GmbHUmschlag: 'Villingen-Schwenningen', Michael Franz, C-Print, 2018

© 2018 Verlag der Stadt Villingen-Schwenningen und die AutorenISBN: 978-3-939423-74-4

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MICHAEL FRANZ FABIAN GINSBERGINA JOHANNA GOETTE MATTHIAS HESSELBACHER

EINLADUNG

NERINGA VASILIAUSKAITE

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ISBN 978-3-939423-74-4

2018

Verlag der Stadt Villingen-Schwenningen

STRATEGIEN DER AUFSTANDSBEKAEMPFUNGANTIIMPERIALISTISCHE KUNST IN BADEN–WUERTTEMBERG

MICHAEL FRANZ FABIAN GINSBERGINA JOHANNA GOETTE MATTHIAS HESSELBACHER

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