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Zeitschrift für Personalforschung, 16. Jg., Heft 1, 2002 5 Joachim Freimuth, Otmar Hauck, Tomke Asbahr * Struktur und Dynamik organisatorischen Erfahrungswissens. Dargestellt am Beispiel der Einführung von Gruppenarbeit in einer Automobilmontage ** Organisatorisches Erfahrungswissen besteht nicht nur aus fachlicher Expertise, sondern umfasst auch Prozessverständnis sowie das Verstehen von unternehmeri- schen Kontexten und Kooperationsbeziehungen. Innerhalb von Teams bilden sich diese Strukturen schrittweise aus und werden dort repräsentiert. Teams bilden somit die Grundeinheiten des organisatorischen Gedächtnisses. In dem Maße, wie die Teams ihre Erfahrungsbasis ausbauen und ihre Kompetenz nutzen, eröffnen sich auch Voraussetzungen für ein weitergehendes Commitment der Teammitglieder mit den Zielen der Unternehmensentwicklung. Den Teamkoordinatoren kommt in diesen Prozessen eine zentrale vermittelnde Rolle zu. The structure and dynamics of organizational knowledge – empirical results based on the implementation of teamwork in a car assembly plant Organizational knowledge consists not only of technical expertise, but also of the understanding of processes, entrepreneurial contexts and co-operative connections. These structures are developed successively within teams. Consequently, teams form the basic units of organizational memory. As teams develop their knowledge basis and make use of their competencies, the commitment of team members can be aligned with organisational development aims. Team co-ordinators embody a central, mediating role in these processes. ____________________________________________________________________ * Dr. Joachim Freimuth ist Professor an der Hochschule Bremen und Berater für Personalma- nagement und Organisationsentwicklung, Dipl.-Ing. Otmar Hauck ist Leiter des Cost Centers Montage bei der Volkswagen AG in Wolfsburg, Tomke Asbahr ist Diplom-Betriebswirtin und freie Mitarbeiterin bei Professor Freimuth. ** Artikel eingegangen: 17.9.2001 revidierte Fassung akzeptiert nach doppelt-blindem Begutachtungsverfahren: 28.11.2001.

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Zeitschrift für Personalforschung, 16. Jg., Heft 1, 2002 5

Joachim Freimuth, Otmar Hauck, Tomke Asbahr*

Struktur und Dynamik organisatorischen Erfahrungswissens. Dargestellt am Beispiel der Einführung von Gruppenarbeit in einer Automobilmontage**

Organisatorisches Erfahrungswissen besteht nicht nur aus fachlicher Expertise, sondern umfasst auch Prozessverständnis sowie das Verstehen von unternehmeri-schen Kontexten und Kooperationsbeziehungen. Innerhalb von Teams bilden sich diese Strukturen schrittweise aus und werden dort repräsentiert. Teams bilden somit die Grundeinheiten des organisatorischen Gedächtnisses. In dem Maße, wie die Teams ihre Erfahrungsbasis ausbauen und ihre Kompetenz nutzen, eröffnen sich auch Voraussetzungen für ein weitergehendes Commitment der Teammitglieder mit den Zielen der Unternehmensentwicklung. Den Teamkoordinatoren kommt in diesen Prozessen eine zentrale vermittelnde Rolle zu.

The structure and dynamics of organizational knowledge – empirical results based on the implementation of teamwork in a car assembly plant

Organizational knowledge consists not only of technical expertise, but also of the understanding of processes, entrepreneurial contexts and co-operative connections. These structures are developed successively within teams. Consequently, teams form the basic units of organizational memory. As teams develop their knowledge basis and make use of their competencies, the commitment of team members can be aligned with organisational development aims. Team co-ordinators embody a central, mediating role in these processes.

____________________________________________________________________ * Dr. Joachim Freimuth ist Professor an der Hochschule Bremen und Berater für Personalma-

nagement und Organisationsentwicklung, Dipl.-Ing. Otmar Hauck ist Leiter des Cost Centers Montage bei der Volkswagen AG in Wolfsburg, Tomke Asbahr ist Diplom-Betriebswirtin und freie Mitarbeiterin bei Professor Freimuth.

** Artikel eingegangen: 17.9.2001 revidierte Fassung akzeptiert nach doppelt-blindem Begutachtungsverfahren: 28.11.2001.

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6 Joachim Freimuth, Otmar Hauck, Tomke Asbahr: Struktur und Dynamik organisatorischen Erfahrungswissens

1. Zielsetzungen und Aufbau der Arbeit

Die im Folgenden dargestellten Erkenntnisse stammen aus der Evaluation eines Change-Prozesses in einer deutschen Automobilmontage, in dessen Zentrum die Ein-führung von Gruppenarbeit stand. Es ist in erster Linie ein Erfahrungsbericht. Unser Fokus war die Ausweitung und Vertiefung des kollektiven Wissens und Verständnis-ses in den Teams. Wir versuchen im Folgenden, für diese Prozesse eine Systematik vorzulegen. In den anfänglichen Kapiteln erläutern wir zunächst den Projektkontext, seine Ausgangsbedingungen und die Vorgehensweise unserer Untersuchung. Wir zeigen dann im 5. Kapitel, welche Wissensstrukturen sich in den Teams herausbilden. Diese gehen wesentlich über die bloße fachliche Expertise hinaus. Hinzu kommt das Verständnis für den gesamten Prozess, für den organisatorischen Kontext und für die Beziehungsdynamik in der Gruppe. Das 6. Kapitel widmet sich der Dynamik der Wissensentwicklung in den Teams. Diese Wissensbasis entwickelt sich schrittweise, verbreitert sich und erschließt größere Zusammenhänge. Es wird auch gezeigt, wie sich die Entstehung des kollektiven Gedächtnisses verstehen lässt, in dem das Wissen der Teams aufgehoben ist. In jeder Arbeitsgruppe bilden sich gleichsam lokale dyna-mische Wissensdatenbanken, repräsentiert in Form von Geschichten und einer spezi-fischen Sprache. Allerdings weiß nicht jeder im Team alles und muss auch nicht alles wissen. Es genügt, wenn man weiß, wer in der Gruppe über jeweils spezifische Erfah-rungen verfügt, um ggfs. darauf zurückzukommen. Der Zugriff erfolgt über die Fä-higkeit zur informellen und manchmal sprachlosen Kommunikation in den Teams. Das ist ein verändertes Modell der Repräsentation von Organisationswissen, das dem individuellen Expertentum der klassischen industriellen Organisation entgegengesetzt ist. Im Zentrum all dieser Wissensprozesse in den Teams stehen die Teamkoordinato-ren, die dort eine katalysatorische Wirkung entfalten, nicht zuletzt, weil die Ausdiffe-renzierung ihrer eigenen unklaren und widersprüchlichen Rolle ein Lernmodell für das Team selber ist (Kap. 7). Sie bilden auch den Ausgangspunkt dafür, dass die Teammitglieder sich mit dem Nutzen von Teamarbeit auseinander setzen und begin-nen, ihre Einstellungen daraufhin zu verändern (Kap 8). Das ist zunächst ein ganz nüchterner Prozess des Abwägens, aber auch der Vertrauensbildung. Im 9. Kapitel widmen wir uns schließlich der Frage, wie zumindest in ersten Ansätzen so etwas wie Commitment unter den Beschäftigten mit dem Prozess und seinen Zielen erreicht werden kann. Wir möchten betonen, dass die hier dargestellten, zum Teil sehr weit-gehenden Resultate nur für die am weitesten entwickelten Gruppen gelten. Das hat für uns aber deutlich gemacht, welche Potenziale in der Gruppenarbeit liegen. In den meisten Gruppen kämpfen wir nach wie vor mit zahlreichen Widerständen und Prob-lemen.

2. Datengrundlagen

Die empirische Basis für unsere Resultate sind ca. 25 halbstrukturierte Inter-views über einen durchschnittlichen Zeitraum von jeweils 90 Minuten, die wir auf al-len organisatorischen Ebenen mit dem Management, betrieblichen Vorgesetzten, Teamkoordinatoren, Prozessbegleitern, Technikern und Repräsentanten der Arbeit-

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nehmervertretungen führten. Zugleich hatten wir Gelegenheit, im Rahmen von teil-nehmenden Beobachtungen Qualifikationsmodule für Teamkoordinatoren, Teamko-ordinatoren-Runden und Routine-Meetings des Managements mit Arbeitnehmerver-tretungen zu erleben. Analyse und Auswertung umfassten einen Zeitraum von 6 Wo-chen. Die Ergebnisse wurden dann in 6 ausführlichen Feedback-Runden allen Inter-viewpartnern, im Werksmanagement und den Arbeitnehmerrepräsentanten präsen-tiert, dort diskutiert und noch einmal plausibel gemacht. Daraus entstanden eine Rei-he von Vorschlägen für die Weiterführung des Prozesses.

3. Projektkontext

Der gesamte Bereich zählt ca. 6500 Mitarbeiter und umfasst drei Montagelinien, die jeweils im Dreischichtbetrieb arbeiten. Die Teams haben eine durchschnittliche Größe von ca. 15-20 Mitarbeitern, sind also sehr groß.1 Darüber hinaus ist aufgrund einer Vielzahl von äußeren Faktoren, etwa die Notwendigkeit der Integration von Mitarbeitern aus anderen Bereichen oder das ‚Ausleihen’ von bewährten Mitarbeitern bei Engpässen in benachbarten Teams, die Stabilität und Kontinuität der Teamzu-sammensetzung nicht immer so, dass sich ungehindert Gruppenprozesse entfalten können. Da die Teams zudem an getakteten Fließbändern arbeiten, ist der Spielraum für Kommunikation und Kooperation durch die Taktzeit und die sukzessive Anord-nung der Arbeitsplätze beschränkt.2 Schließlich musste die Umstellung auf Teamar-beit bei laufender Fertigung vorgenommen werden. Insgesamt fanden wir damit Vor-aussetzungen für einen komplexen Prozess vor, die für alle Beteiligten alles andere als einfach waren.

Die Teams werden von ca. 300 Teamkoordinatoren geleitet. Sie sind prinzipiell von der Bandarbeit weitgehend freigestellt, d.h. springen ein, wenn Engpässe entste-hen. Das führt naturgemäß regelmäßig auch zu Konflikten mit ihrer Koordinations-aufgabe, für die so zuweilen nur sehr eingeschränkt Zeit verbleibt. Die Koordinatoren werden von der Gruppe für einen Zeitraum vom 6 Monaten gewählt, wobei die Wie-derwahlquote mittlerweile bei ca. 90 % liegt, d.h., diese Rolle hat eine deutliche Sta-bilität und Akzeptanz gewonnen. Sie sind dem Team nicht disziplinarisch vorgesetzt, das ist nach wie vor Teil der Rolle der Meister.

Der Prozess der Einführung von Gruppenarbeit umfasst jetzt einen Zeitraum von ca. 2 Jahren. Er verlief zeitversetzt an den drei Montagelinien. In dieser Zeit haben al-le Mitarbeiter an einem Seminar teilgenommen, um für sie die Grundlagen von Grup-penarbeit erlebbar zu machen. Die Teamkoordinatoren durchliefen ein differenziertes, modularisiertes Qualifikationsprogramm, in denen ihnen im Wesentlichen Schlüssel-kompetenzen wie Moderation, Problemlösung oder Präsentation vermittelt wurden.

1 Zum Vergleich: bei Opel in Bochum bestehen die Teams aus durchschnittlich 12 Mitarbeitern (Hoben 1997, 24).

2 Das ist ein wichtiger Unterschied zu anderen Formen und Varianten von Gruppenarbeit! (Vgl. Antoni 2001, 23 f.).

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Sie sind zudem am betrieblichen Informationsfluss im Rahmen von Teamkoordinato-ren-Meetings beteiligt, in denen sie Hintergründe mitbekommen und immer wieder auch Gelegenheit besteht, die eigene Rolle zu reflektieren. Alle 2 Wochen haben die Teams unter der Leitung des Koordinators für 30 Minuten Gelegenheit, über sie betreffende Themen zu sprechen, dann wird das Band angehalten. Das erscheint auf den ersten Blick sehr wenig, aber es hat sich gezeigt, dass die meisten der entschei-denden Lernprozesse parallel zum Fertigungsprozess laufen.

Die ca. 300 Teamkoordinatoren in diesem Betrieb sind gleichsam die kritische Masse in der Schnittstelle zwischen betrieblichen Vorgesetzten und Management ei-nerseits und der Werker-Ebene andererseits. Sie erreichen die ca. 6000 Mitarbeiter in der Linie täglich und unmittelbar, behalten die Nähe zu ihnen, aber zugleich auch Distanz, aus der sie auf das Ganze schauen können. Wesentliche Unterstützung be-kommen die Teams, die Koordinatoren und die Führungskräfte durch die hauseige-nen Prozessbegleiter. Als interne Berater führen sie Qualifikationen und Erfahrungs-austauschkreise durch, sind in den Teamkoordinatoren-Meetings anwesend und ste-hen vor allem immer wieder auch informell bei Problemen und Konflikten als Ge-sprächspartner, Vermittler und Coaches zur Verfügung (vgl. hierzu ausführlich Hurtz et al. 2001).

Insgesamt waren Aufwand und Vorleistungen, die das Unternehmen in diesem Prozess erbracht hat, für diese produktivitäts- und kostengetriebene Industrie be-trächtlich. Es ist daher von großem Interesse für alle Beteiligten, im Detail zu verste-hen, worin der Nutzen für all diese Anstrengungen liegt.3

4. Ausgangslage des Prozesses

Der globale Wettbewerb auf dem Automobilmarkt setzt die Unternehmen unter Produktivitäts-, Qualitäts- und Innovationsdruck. Alle suchen nach Antworten, insbe-sondere nach Lösungen für eine moderne Fertigungsorganisation. Dieses Ringen um Antworten und besonders die vielen – auch fehlgeschlagenen – Experimente muss man als einen kollektiven Lernprozess der gesamten Industrie begreifen. Es gibt kei-ne Patentlösungen, jedes Unternehmen ist dabei, sich seinen eigenen Weg zu suchen. Einige sind dabei auch immer wieder mutig vorangegangen, insbesondere wenn es

3 Wir teilen daher nicht die skeptische Analyse von Kühl (2001), der das ernsthafte Interesse der Protagonisten solcher Veränderungsprozesse am Erfolg oder Misserfolg als Gesundrech-nen bezeichnet. Wir stimmen allerdings zu, dass solche Vorhaben natürlich auch politisch ge-gen Interessen und aus Interessen heraus verkauft werden müssen. Betriebswirtschaftliche Kalküle sind die Sprachformen, die hier in erster Linie verstanden werden, aber sie sind nicht nur beliebig. Wir sehen die Versuche mit Gruppenarbeit als Lernen, ebenso die Bestrebungen, ihre Wirtschaftlichkeit nachzuweisen. Man braucht Mut, solche neuen Wege zu gehen. Da-hinter steckt auch die Überzeugung, dass sich auf diese Weise neue Wege der Standortsiche-rung eröffnen können. Für viele Protagonisten ist auch die Demokratisierung von Organisati-onen ein lohnenswertes Ziel. Wie man das als ‚normativ aufgeladen‘ abtun kann, ist uns un-verständlich.

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um den Ausgleich von Arbeitnehmer- und Unternehmerinteressen ging und haben dabei auch Zeichen für die gesamte Wirtschaft gesetzt.4 Allerdings wird das von den Mitarbeitern nicht ebenso wahrgenommen. Es bleibt daher nichts anderes, als ihnen die Konfliktlagen immer wieder deutlich zu machen, wenn man sie – gerade auch für neue oder ungewöhnliche Lösungen – gewinnen möchte. Das war und ist auch im vorliegenden Projekt, der Einführung von Gruppenarbeit, möglicherweise das Kern-problem. Die Initiatoren des Vorhabens waren mit einer Reihe von abwartenden, skeptischen, indifferenten bis hin zu abwehrenden Attitüden und Einstellungen kon-frontiert. Das sind Lernprozesse, die Lernen verhindern, Vermeidungswissen oder de-fensive Lernroutinen (vgl. hierzu ausführlich Argyris 1993). Aber sie sind integraler Teil der Unternehmenskultur und bilden den Bezugsrahmen der Mitarbeiter, in des-sen Licht alle Veränderungsversuche wahrgenommen und bewertet werden. Die we-sentlichen Faktoren, denen wir in diesem Zusammenhang im vorliegenden Projekt begegneten, lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Bereits in den 90er Jahren gab es im Unternehmen Versuche mit Gruppenarbeit, die zum Teil mit großen Aufwand betrieben und dann mehr oder weniger sang- und klanglos wieder abgebrochen wurden. Damit war der Begriff ‚Gruppenar-beit’ schon vorderhand eher negativ besetzt, zumal der Eindruck entstand, dass diese Vorhaben auch mit Management-Karrieren verbunden waren. ‚Die Fürsten kommen und gehen, das Volk bleibt’, in diesen Formulierungen kommt die Skepsis gegenüber solchen Neuerungen treffend zum Ausdruck.

Prägend für die Unternehmenskultur war zudem eine langjährige, sehr hierarchi-sche Führungskultur mit dominanten betrieblichen Vorgesetzten. ‚Bei Schicht-beginn mussten wir unser Gehirn beim Pförtner abgeben’, auch das ein Aus-spruch, der sofort verdeutlicht, was gemeint ist. ‚Mehr Demokratie wagen’ im Rahmen von Gruppenarbeit bedeutet das Gegenteil, aber diese Wende braucht Zeit und Vertrauen.

Schließlich ist ein Großteil der Mitarbeiter schon sehr lange im Unternehmen, verfügt über einen stabilen Kündigungsschutz, Arbeitszeitregelungen und Be-zahlung sind überdurchschnittlich, und der Standort gilt als weniger gefährdet. Unter diesen Rahmenbedingungen ist kaum eine hohe Veränderungsbereitschaft zu erwarten gewesen. Der Umgang mit dieser Art von defensiven Routinen stellt die eigentliche Her-

ausforderung in jedem Change-Prozess dar. Es besteht ein wechselseitiger Zusam-menhang zwischen den individuellen Dispositionen, die sich in Erfahrungen kristalli-sieren und in Verhalten zeigen, und den sichtbaren Effekten, z.B. Absentismus oder Fehlerraten. Die subjektiven Realitäten werden so zu objektiven Realitäten und um-

4 Beispielsweise: Hartz (1996). Aktuell ist natürlich auch der jetzt gelungene 5000 x 5000-Abschluss zwischen den Tarifvertragsparteien zu nennen (vgl. dazu und auch darüber hinaus reichend Hartz 2001).

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gekehrt, so dass eine nahezu undurchdringliche Resistenz entsteht, vergleichbar mit einer Gummiwand (Abb. 1). Viele Change-Prozesse sind nicht wirklich nachhaltig, weil sie diese kulturellen Tiefenstrukturen und die Ebene des subjektiven Erlebens der betroffenen Mitarbeiter nicht erreichen.5 Das war im vorliegenden Projekt, bei mehr als 6000 Mitarbeitern und der wenigen Zeit, die angesichts des harten Wettbe-werbs blieb, noch einmal um Einiges schwieriger. Die Gefahr war und ist daher sehr groß, auf der Ebene von kurzfristigen Effekten stehen zu bleiben und bei den Mitar-beitern ein Gefühl von Unverständnis oder Zynismus zu hinterlassen.

Abb. 1: Ebenen organisatorischer Transition (aus: Douglas/Wykowski 1999, 44)

5. Strukturen organisatorischen Wissens

Den Kern der Wissensprozesse, die wir untersuchen, stellen die Teams dar. Das ist ein Ansatz, der im Gegensatz zum Expertenmodell des Wissensmanagements in der klassischen industriellen Organisation steht. Daher hierzu zunächst einige einlei-tende Bemerkungen.

5.1 Vom Expertenmodell zum Team als Nukleus der Wissensentwicklung

In der traditionellen Automobilfertigung waren Fertigungsingenieure, Techniker und Meister die Repräsentanten der operativen betrieblichen Wissensbasis. Sie be-stand aus partiellen Monopolen, die Kontrolle und Macht ermöglichten. Insbesondere die Meister beherrschten aufgrund ihrer langjährigen Erfahrungen fast jeden Hand-griff, kannten nahezu alle Werkzeuge oder Maschinen, waren in der Lage, die Kapa-zitäten und Möglichkeiten der Anlagen und schließlich die Kompetenzen der ihnen zugeordneten Mitarbeiter weitgehend einzuschätzen. Der Ehrgeiz der Meister bestand

5 Man muss sich allerdings auch von der Illusion befreien, dass alle Mitarbeiter vollständig er-reicht und überzeugt werden können. Wichtig ist gleichwohl das ständige und überzeugte Bemühen darum, damit der Prozess glaubwürdig bleibt (Douglas/Wykowski 1999).

Organisatorisches Wissen

Verhalten

Individuelle Dispositionen

Sichtbare Effekte

Kultur

Objektive Realität

Subjektive Realität

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darin, jedem einzelnen Mitarbeiter an seinem Arbeitsplatz ‚immer noch etwas vorma-chen zu können’, so eine Ausspruch in einem Gespräch. Durch ihre Rolle in der be-trieblichen Hierarchie verfügten sie schließlich auch über Kenntnisse von strategi-schen Zusammenhängen, die sie ihren Mitarbeitern gleichfalls voraus hatten. Diese Wissensmonopole begründeten ihre sehr weitreichende Macht und Autorität in der Fabrik. ‚Früher war ich das Gesetz in meiner Halle’, dieser Satz eines altgedienten Meisters drückt die ehemalige Bedeutung dieser Position aus.6

Im Vergleich mit den Meistern verfügten die Mitarbeiter in der hierarchisch-arbeitsteiligen Struktur lediglich über sehr wenig Erfahrungsmöglichkeiten und re-präsentierten daher nur beschränkte Ausschnitte der betrieblichen Wissensbasis. Der Sinn der tayloristischen Organisation bestand nicht zuletzt darin, diese Ausschnitte zu verkleinern und sie dadurch optimal beherrschbar und kontrollierbar zu halten.7 Im Gegensatz dazu machte die japanische Automobilindustrie Anfang der 90er Jahre mit einem ganz anderen Konzept des betrieblichen Wissensmanagements auf sich auf-merksam, in dessen Kern die Gruppenarbeit stand. Das betriebliche Wissen sollte stärker in den wertschöpfenden Tätigkeiten aufgebaut und auf mehrere Köpfe verteilt werden.8

6 Insgesamt sehen sich die Meister daher eher als Betroffene, nicht als Beteiligte am Change-Prozess, da sie Handlungskontrolle nach unten abgeben und die Erwartungen des Manage-ments nach wie vor hoch sind. Darüber hinaus fällt es ihnen schwer, aus sich heraus eine neue Rolle und Aufgabenfelder zu definieren. Allerdings wächst mittlerweile eine neue Meisterge-neration nach, die etwa durch einschlägige Auswahlseminare und Qualifikationen gegangen sind. Darüber gibt es in sog. Meisterlernteams gemeinsam mit dem Management regelmäßig Möglichkeiten, Erfahrungen auszutauschen und die eigene Rolle zu konturieren. All das ent-bindet aber nicht von der Notwendigkeit, ein gemeinsam getragenes Leitbild der neuen Meis-terrolle zu entwickeln, um diese wichtige vermittelnde Führungsposition für alle sichtbar zu stärken (vgl. auch Krings/Luczak 1997, 169 ff.; vgl. für zwei positive Beispiele Reimer/ Hußmann 2001, grundsätzlicher hierzu Floyd/Wooldridge 1996).

7 Man muss sich noch mal klar machen, dass es in der aufkommenden amerikanischen indus-triellen Massenproduktion um die Integration von unqualifizierten europäischen Emigranten ging, denen jedes Verständnis für industrielle Produktionstechnik und -prozesse abging. Auf der anderen Seite war das Management nicht fähig, diese latenten Produktivitätspotenziale nachhaltig zu erschließen. „Management controlled the playing field. But workers controlled quality, quantity, and costs. ... Key to a good organization was a productivity expert, roughly analogous to third-party facilitator“ (Weisbord 1987, 50 f.).

8 „So ist es schließlich das dynamische Arbeitsteam, das sich als Herz der schlanken Fabrik entpuppt. Der Aufbau solcher effizienten Teams ist nicht einfach. Als erstes müssen die Ar-beiter zahlreiche Fertigkeiten erlernen – tatsächlich alle Jobs ihrer Arbeitsgruppe, so dass die Arbeitsverteilung geändert werden kann und die Arbeiter für jeden anderen einspringen kön-nen. Dann müssen sie sich weitere zusätzliche Fertigkeiten aneignen: in einfacher Maschinen-reparatur, Qualitätsprüfung, Reinigung und Materialbestellung. Ferner müssen sie zu voraus-schauenden Denken ermuntert werden, so dass sie Lösungen finden können, bevor Probleme ernst werden.

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Je komplexer die Autos und die ihnen entsprechenden Fertigungsprozesse wer-den, um so risikoreicher sind individuelle Wissensmonopole. Ihre Inhaber entwickeln sich leicht – obwohl hochgradig qualifiziert – zu systematischen Engpässen, die sich in entscheidenden Momenten und an unzähligen Stellen hemmend auswirken können. Sie richten sich darüber hinaus allzu leicht in solchen Nischen ein und bilden in ei-nem System, das eigentlich schnell fließen müsste, Barrieren und Einbahnstraßen. Wissen und Kompetenz müssen sich heute daher dezentralisieren und verbreitern. Man erkennt sonst Fehler oder Probleme zu spät, sie verschleppen sich, so dass außerordentlich hohe Folgekosten entstehen. Teams bieten hingegen Möglichkeiten für eine verbreiterte und flexiblere operative Wissensbasis.9 Nach unseren Erkennt-nissen lassen sich zunächst vier verschiedene Aspekte des Wissens unterscheiden, die von den Gruppen im Verlaufe ihrer Evolution aufgebaut werden und die ihre Arbeits- und Handlungsfähigkeit ausmachen:10 Fachliches Wissen – das sind einerseits Kenntnisse über die Produkte, über Stof-

fe, Werkzeuge und die Anlagen, andererseits aber auch das spezifische hand-werkliche Können, das die Gruppenmitglieder auszeichnet.

Prozesswissen – darunter verstehen wir die Kenntnis von betrieblichen Zusam-menhängen und Abläufen, die insbesondere die Sinnhaftigkeit der eigenen Auf-gabenstellung im Gesamtprozess verdeutlicht.

Kontextwissen – das ist das Verständnis für Visionen, Strategien und Ziele des Unternehmens in seinem spezifischen Wettbewerbsumfeld, aus denen sich etwa die Bedeutung betrieblicher Entscheidungen erschließt. Schließlich fassen wir unter Beziehungswissen die Kenntnisse über Personen,

ihre Vorlieben, Eigenheiten und Beziehungen innerhalb und außerhalb der Gruppe zusammen sowie ebenfalls die spezifischen Verhaltensregelwerke und Normen, die sich innerhalb und zwischen den Gruppen herausgebildet haben.

Eine optische Darstellung der Strukturen betrieblichen Wissens ist nicht ganz einfach. Die Form eines Puzzles deutet die Komplexität der organisatorischen Wis-sensstrukturen ein wenig an (Abb. 2). Allerdings ist diese Darstellung auch nur eine unvollkommene Annäherung, weil die einzelnen Facetten sich bedingen, sich verän-

Unsere Studien von Werken, die versuchen, die schlanke Produktion einzuführen, offenbaren, dass Arbeiter nur dann ansprechen, wenn ein Geist der gegenseitigen Verpflichtung vor-herrscht, das Gefühl, dass das Management fähige Arbeiter wertschätzt, Anstrengungen un-ternimmt, sie zu behalten, und bereit ist, Verantwortung auf das Team zu delegieren“ (Wo-mack/Jones/Roos 1991, 104, Hv. im Text!).

9 Vgl. das Beispiel für erfolgreiches Wissensmanagement in einer Fabrik (Leonhard-Barton, 1994; 1995, 5 ff.).

10 Diese Systematik hat einige Parallelen zum Vorschlag von Willke (1998, 314 ff.).

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dern und an den Rändern ineinander verschwimmen. Organisatorisches Wissen ist weder eine Ansammlung diskreter Teile, noch ist es statisch, es ist ein Prozess.11

Abb. 2: Strukturen organisatorischen Wissens

Fach- Beziehungs- wissen wissen

5.2 Fachwissen

Beeinflusst vom Konzept der Kernkompetenzen wird die Basis des organisatori-schen Wissens im Allgemeinen in der spezifischen fachlichen Expertise, dem Wissen und Können der Mitarbeiter in den Kernbereichen der betrieblichen Wertschöpfung gesehen. Aus der Sicht der Kunden äußert sich das etwa in den Leistungsmerkmalen, der Qualität, der Funktionalität und dem Design des Produktes. Das fachliche Wissen in diesen Zentren der betrieblichen Wertschöpfung besteht aus unterschiedlichen Formen: Zunächst natürlich aus dem spezifischen Wissen und Können, das aufgrund der

formalen Ausbildung für die Ausübung der Funktion Voraussetzung ist. Es ge-

11 Vgl. dazu die folgende Beschreibung eines Problemlösungsprozesses: „But neither had a decisive ‚piece‘ of knowledge. Not was the final solution the property of either one. It was a collective process that created an indivisible product. Thus we tend to think of knowledge less like an assembly of discrete parts and more like a watercolor painting. As each new color is added, it blends with the others to produce the final effect, in which the contributing parts become indivisible“ (Seely Brown/Duguid 2000, 106).

Kontextwissen

Prozesswissen

Puffer und Slacks

Faust- regeln

Verständnis der

Gruppenziele

Kooperations-normen

Rollen im Team

Ansprech- partner in Nachbar-

funktionen

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hört weitgehend in den Bereich des expliziten Wissens, d.h., es ist dokumentier-bar und zu einem gewissen Grad auch reproduzierbar.

Viel nachhaltiger ist aber das inkorporierte Wissen, das wie selbstverständlich abgerufen werden kann, weil es mit den agierenden Personen eins geworden ist. Treffsichere Handgriffe, das Gefühl für Material und Maschinen oder der geziel-te Einsatz von Werkzeugen gehören in diesen Zusammenhang. Es gibt detaillier-te Kenntnisse über die Belastungsfähigkeit und Kapazitäten der technischen Sys-teme und Ausstattung. Die Teammitglieder wissen aus Erfahrung, wie weit man etwa ohne Risiken über Toleranzen gehen oder Materialien belasten kann, ohne sie zu zerstören. Damit werden wesentliche Handlungsspielräume eröffnet, die sich etwa einem außenstehenden Planer nicht erschließen.

Zum fachlichen Wissen gehören auch grobe Faustregeln und robuste Wenn-dann-Aussagen, die sich für die meisten Fälle bewährt haben. Sie sind nach den Gesetzmäßigkeiten von fuzzy logic organisiert, d.h., sie sind nicht ganz eindeu-tig und haben Randunschärfen.

Das inkorporierte Wissen und Können und das robuste Regelwerk ist die Grund-lage für eine spontane Urteilsfähigkeit und Intuition in Problemsituationen: ‚Man weiß eigentlich immer gleich, wo man suchen muss, wenn es mal knirscht’. Die letzten drei Aspekte des fachlichen Wissens sind eher in der Sphäre des im-

pliziten Wissens anzusiedeln (Polanyi 1985). Es gehört damit zum kollektiven Erfah-rungsschatz der Gruppe, der im Verlaufe ihrer Kooperation angesammelt wird und nicht ohne Weiteres benannt oder gar kopiert werden kann. Um ein Beispiel zu nen-nen: Bei der Installation von neuen Fensterdichtungen stellte sich beispielsweise her-aus, dass sie nur ‚mit etwas Nachhelfen’ problemlos angebracht werden konnten. Um die nötigen Handgriffe zu lernen, musste erst eine Weile gemeinsam herumprobiert werden, bis sie richtig saßen. Für die Gruppe wurden diese Handgriffe zum Gemein-gut, worüber man dann nicht mehr reden muss und auf das alle zurückgreifen können. Fachliche Expertise und Können ist auf diese Weise gleichsam körperlich und sinn-lich mit ihnen verbunden. Sie beherrschen ihr Handwerk aus dem Handgelenk, sehen etwa mit einem erfahrenen Blick, wo Hand angelegt werden muss, spüren, wenn Ma-terial sich anders als gewohnt anfühlt oder ‚riechen Probleme’, bevor sie manifest auftreten. Erfahrene Arbeiter erkennen etwa am Klang von Materialien, am Geräusch von Maschinen oder am Lauf von Motoren, ob sich etwa eine Unregelmäßigkeit an-kündigt oder ein Problem entstehen könnte. Sie verständigen sich dann untereinander nur mit einem kurzem Blick oder einem Kopfnicken, wissen ob und wie lange man noch weitermachen kann bzw. welche Maßnahme zu ergreifen ist, um ggfs. Schlim-meres zu verhindern (vgl. hierzu sehr anschaulich auch Jaeger 1999).

Es ist für einen Außenstehenden völlig unmöglich, all diese kleinen und großen Geheimnisse zu rekonstruieren oder zu dokumentieren. Man muss Teil dieses Ganzen sein, es in sich aufnehmen und aufgenommen werden. Dieser Vorgang wird explizit, wenn – was häufig in den Gruppen passiert – neue Mitglieder hinzukommen. Sie ko-pieren zunächst schnell Handgriffe oder Vorgehensstrategien, machen sich den Rhythmus der Gruppe zu eigen und lernen ihr spezifisches Vokabular. Natürlich un-

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terlaufen Fehler, sie stocken oder sie sind ratlos. Dann sind es Kollegen oder der Teamkoordinator, der die Situation erkennt und das neue Mitglied nach und nach mit dem impliziten Wissen der Gruppe vertraut macht.

5.3 Kontextwissen

Dieser Aspekt der organisatorischen Wissensbasis liefert nach unseren Beobach-tungen auf unterschiedlichen Niveaus Bezugsrahmen, vor deren Hintergrund etwa be-triebliche Informationen oder Entscheidungen sich in einem größeren und Verständ-nis vermittelnden Zusammenhang erschließen. Aus diesem Verständnis kann nicht zuletzt auch Akzeptanz entstehen. In dem Maße, in dem der Problemhorizont der Mitarbeiter schrittweise erweitert wird, verfügen sie über Bezugssysteme, die ihnen Orientierung und die Zuordnung von Einzelheiten in eine komplexe Matrix erlau-ben.12 Information ohne Bezugsfelder ist nicht anschlussfähig, d.h., sie erzeugt bes-tenfalls Verwirrung, nicht selten Gleichgültigkeit oder Ignoranz. Die Bedeutung von Kontextwissen zeigt sich aus unserer Beobachtung insbesondere bei folgenden An-lässen: Es ermöglicht ein größeres Verständnis von betrieblichen Entscheidungen, die

so sinnvoller interpretiert und umgesetzt werden können. Entscheidungen, die nicht ganz mit den eigenen Interessen übereinstimmen, finden darüber hinaus auch eher Akzeptanz.

Die Interpretation und Einordnung von betrieblichen Informationen, Zahlen oder Daten wird erleichtert, sie werden in Sinn vermittelnde Zusammenhänge gestellt.

Schließlich erschließen sich durch Kontexte nicht nur betriebliche Zusammen-hänge, sondern auch Ziele und Themen der Organisationsentwicklung, struktu-relle Innovationen oder neue Rollen in veränderten Beziehungsgefügen. Im Lichte von erweiterten und Sinn stiftenden Bezugsfeldern erschließen sich

nicht nur betriebliche oder organisatorische Zusammenhänge, es können auch auf ei-ner ganz anderen Grundlage und selbständig eigene Entscheidungen getroffen wer-den. Wenn die groben Zielrichtungen und ihre betrieblichen Hintergründe klar und verständlich sind, können die einzelnen Schritte dorthin selbständig gemacht werden, ohne sich ständig abzustimmen. Das ist eine elementare Voraussetzung für die Ent-wicklung von dezentraler Selbststeuerungskompetenz, auch und gerade dort, wo die wertschöpfenden Prozesse stattfinden.13

12 „Flooding someone with more information doesn’t necessarily make him a better thinker. Creating a shared understanding is simply a different task than exchanging information. It’s the difference between being deeply involved in a conversation and lecturing to a group. The words are different, the tone is different, the attitude is different, and the tools are different“ (Schrage 1995, 45).

13 Willke (1998, 332) verwendet dafür den Ausdruck Steuerungswissen: „Es ist ein Reflexions-wissen der Organisation über ihre Identität und ihre Mission (Zielsetzungen). Für die Organi-sation beantwortet dieses Wissen die Frage, wozu und wofür sie überhaupt tätig ist.“

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Die Vermittlung von Kontexten ist eine Führungsaufgabe. Gerade in den fragi-len Anfangsphasen eines Veränderungsvorhabens muss diese Aufgabe sehr ernst ge-nommen werden.14 In Besprechungen, Meetings und Präsentationen gibt es zahllose Anlässe und Gelegenheiten, auf die Zusammenhänge und Hintergründe von Ent-scheidungen einzugehen und nicht nur beziehungslos Zahlen oder Fakten ‚herunter-zubeten’. Häufig kommt noch hinzu, dass nur Defizite und nicht erreichte Ziele auf-gezeigt werden. Unverständnis, Verunsicherung und der Zwang zur Rechtfertigung gehen dann eine ungute Allianz ein. Führungskräfte müssen lernen, sich ihrer Wir-kung bewusster zu werden und Schlüsselsituationen zu nutzen, um Lernprozesse aus-zulösen.

Ein konkretes Beispiel soll das Gesagte etwas verdeutlichen: Ausgangspunkt war ein Konflikt zwischen einem Teamkoordinator und einigen Gruppenmitgliedern, den zufällig ein Unterabteilungsleiter mitbekam und auflöste. Er wurde in einem Teamkoordinatoren-Treffen zum Anlass genommen, um über die Rollen zu reflektie-ren. Interessant war dabei, das Zusammenspiel der unterschiedlichen Führungstraditi-onen zu erleben, die auch in der Diskussion wieder aufloderten. Der Unterabteilungs-leiter sah sich sehr in der klassischen hierarchischen Rolle, der Teamkoordinator wollte das Thema dialogisch und auf Verständnis hoffend lösen. Einer der Prozessbe-gleiter, der das Treffen als Coach begleitete, machte auf dieses Spannungsfeld auf-merksam und nahm es zum Anlass, die ambivalente Rolle der Teamkoordinatoren grundsätzlich zu diskutieren und sie am erlebten Beispiel zu konkretisieren. Viele an-dere anwesende Teamkoordinatoren hatten ähnliche oder vergleichbare Situationen erlebt und konnten sich in der Diskussion gut wiederfinden. Es ist wichtig, solche konkreten Anlässe aufzugreifen und als gemeinsames Lernfeld zu nutzen, weil nicht-hierarchische Führungsrollen und ihr Zusammenspiel mit anderen Führungsselbstver-ständnissen keine Tradition, keine Geschichte und keine Geschichten in der Organi-sation haben. Werden aber solche Fallbeispiele aufgegriffen, entsteht nicht nur situa-tiv etwas mehr Klarheit, wie diese Rollen gesehen und zusammen wirken sollen. Darüber hinaus bilden sie für künftige Konfliktfelder Referenzen, an denen man sich dann gemeinsam orientieren und auf die man sich beziehen kann. Kontextwissen um-fasst somit nicht nur das Verständnis von betriebswirtschaftlichen Zielen und Strate-gien, sondern auch die Entwicklung einer spezifischen Unternehmenskultur und Füh-

14 Da die durchschnittliche Führungsspanne der Meister sehr groß ist, gab es gerade hier drin-genden Handlungsbedarf. Die Rolle der Teamkoordinatoren und die Selbststeuerungskompe-tenzen der Gruppen haben einen Unsicherheitsraum ausgefüllt bzw. sind auf dem Wege dort-hin, zumal die Meister auch mit operativen Themen vollauf beschäftigt sind. Allerdings führt gerade die Überlastung der Meister und ihre erwähnte Rollenunsicherheit andererseits dazu, dass sie ihre stützende Rolle – nicht nur bei der Vermittlung von sinnstiftenden Informationen – nur unvollkommen wahrnehmen können. Eines der wichtigsten künftigen Ziele der Organi-sationsentwicklung besteht daher darin, das Führungstandem von Meistern und Koordinato-ren zu einer wirklichen und wirkenden Einheit zu machen. ‚Zusammen sind sie unschlagbar‘, so formulierte es einer unserer Interviewpartner.

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rungsphilosophie.15 Es ermöglicht den Mitarbeitern Antworten auf die Frage ‚wa-rum?’. Es liefert ihnen Begründungszusammenhänge, die letztlich auf die Identität der Organisation und ihre Entwicklungsziele zurückführen. Dieser Prozess beginnt langsam mit dem Verstehen von einzelnen Zahlen oder kleineren Entscheidungen und führt von dort zum Begreifen größerer Zusammenhänge.

5.4 Prozesswissen

Darunter verstehen wir das Wissen über die Einbindung der eigenen Arbeitsver-richtung und des eigenen Teams in einen zusammenhängenden Gesamtprozess mit seinen übergeordneten Logiken.16 Die Gruppe versteht sich nicht als vereinzelte Zel-le, sondern als Geber und Empfänger von Leistungen in einer Kette. Sie ist sich der Konsequenzen der eigenen Ergebnisse für nachgeordnete Einheiten bewusst und nimmt damit auch Verantwortung für sie wahr. Daraus entsteht ein tieferer Sinnbezug für das eigene Tun und zugleich auch die Verpflichtung, sich in diesen übergeordne-ten Prozess einzufügen. Das ist die Voraussetzung für eine veränderte Einstellung et-wa zu Fragen der Qualität, der Pünktlichkeit oder dem Umgang mit Ressourcen. Wichtig ist allerdings, dass die betreffende Gruppe auch Rückmeldungen bekommt, wenn Sie Probleme in der Kette auslöst und ggfs. für die Folgen auch aufkommen muss.

Der Unterschied wird deutlich, wenn man sich im Kontrast dazu die klassischen Fertigungsstrukturen mit ihrer hochgradigen Arbeitsteilung betrachtet. Dort konnte sich Prozesswissen nicht nennenswert ausbilden, da die angestrebten Lernkurven auf die mengenmäßige Maximierung von Einzelleistungen ausgerichtet waren. Die da-durch induzierte Gleichgültigkeit gegenüber den Distanzwirkungen des eigenen Ar-beitens äußerte sich in Qualitätsproblemen, Nacharbeit und Ausschuss. Aus dieser in-stitutionellen Vergeudung entsteht zur Bewältigung ihrer Folgen durch Nacharbeit eine sog. ‚zweite Fabrik’. Sie beschäftigt in vielen Industrien eine Vielzahl von Mit-arbeitern, die – und hier wird die Paradoxie zur ökonomischen Perversion deutlich – ein genuines Interesse am Fortbestand der Vergeudung haben, weil sie trefflich davon leben. Die quantitativen Dimensionen, über die wir hier reden, sind mehr als beträcht-lich.17

15 Ähnliche Diskussionen finden auch in den Erfahrungsaustauschkreisen der Meister, den sog. Meisterlernteams statt. Diese Bemühungen stehen im Projekt allerdings erst am Anfang.

16 Willke (1998, 317 ff.) verwendet ebenfalls den Ausdruck Prozesswissen. 17 „Der erste Fehler, ein schlechtes oder unsachgemäß montiertes Teil, wurde von Arbeitern

weiter unten am Band noch vergrößert. War ein defektes Teil einmal in ein komplettes Fahr-zeug eingebaut, war zur Beseitigung des Fehlers ein enormer Aufwand an Nacharbeit not-wendig. Und weil das Problem erst am Bandende entdeckt wurde, waren viele Fahrzeuge mit den gleichen Fehlern produziert worden, bevor diese aufgedeckt wurden“ (Womack/Jones/ Roos 1991, 62).

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Zum Prozesswissen gehört auch die Abstimmung und Verflechtung unterschied-licher Rhythmen und Geschwindigkeiten zwischen den unterschiedlichen organisato-rischen Akteuren, Teams und Teilfunktionen. Traditionell sequentielle Prozesse in-tegrieren und vernetzen sich, die individuelle Optimierung muss damit auf die Opti-mierung des Ganzen Rücksicht nehmen. Innerhalb der Teams ist daher Sichtkontakt sehr wichtig, damit sich die Gruppe schnell und informell abstimmen und Rhythmus oder Geschwindigkeit harmonisieren kann. Taucht etwa ein Fehler auf oder benötigt ein Mitarbeiter eine kurze Unterbrechung, kann sich das Team auf Zuruf verständigen und sich flexibel darauf einstellen. Auch bei der Schichtübergabe wird dieser Aspekt deutlich. Es ist unumgänglich, dass es dort zeitliche Überlappungen gibt, um notwen-dige Informationen etwa über besondere Vorkommnisse weiterzugeben und sich ab-zustimmen.

Das kollektive Verständnis für den Prozess und die in ihm aufgehobene eigene Rolle im Gefolge von Teamarbeit verändert das Kooperationsverhalten nachhaltig. Das eigene Denken und Handeln wird im Hinblick auf die Konsequenzen für den ge-samten Fertigungsprozess und sein Ergebnis reflektiert. Es werden unbürokratische Formen der Interaktion ausgebildet, die notwendige Informationen schnell an die Stellen bringen, wo sie gebraucht werden und Entscheidungen dort einfordern, wo sie sinnvoll sind. Teamkoordinatoren wenden sich mittlerweile etwa mit einem techni-schen Problem oder einem Vorschlag direkt an Planungsfunktionen, wie Industrial Engineering, ohne den langwierigen Umweg über den formal zuständigen Meister zu wählen. Probleme und Vorschläge werden von ihnen direkt in einschlägigen Sitzun-gen präsentiert und vertreten. Das damit entstehende Wissen über übergeordnete Zu-sammenhänge fließt über die Teamkoordinatoren in die Gruppe zurück.

5.5 Beziehungswissen

Arbeitsgruppen sind natürlich nicht zuletzt soziale Systeme, in denen individuel-le Charaktere zusammen kommen, Rollen entstehen und Beziehungsgefüge ausgebil-det werden. Sie entwickeln Normen und Verhaltensmuster, die auf das Gruppenklima und die Arbeitsergebnisse nachhaltig Einfluss nehmen. Sie machen das Arbeiten für alle zu einer kalkulierbaren Größe und sind Ausdruck der emotionalen Intelligenz der Gruppe.18 Die wesentlichen Elemente dieser lokalen Arbeitskulturen sind: Spielregeln und Verhaltenserwartungen, die eine spezifische Form der Kommu-

nikation ausbilden, Entwicklung von spezifischen Mustern für den offenen und konstruktiven Um-

gang mit Konflikten und schließlich spezifische Formen der wechselseitige Unterstützung.

18 „We define group emotional intelligence as the ability of a group to generate a shared set of norms that manage the emotional process in a way that builds trust, group identity, and group efficacy“ (Druskat/Wolf 2001, 138).

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Betrachten wir zunächst die Formen der Kommunikation, insbesondere zur in-formellen und zum Teil sprachlosen Kommunikation. Sie drückt sich etwa darin aus, dass man sich schnell einigt, wer in einer Schicht welche Aufgabe übernimmt. Man weiß z.B., wer welche Vorlieben hat oder wer vielleicht nicht so belastbar ist. Je mehr sich dieses interne Beziehungswissen entwickelt, um so weniger muss die Gruppe auf formale Sitzungen zurückgreifen und kann Probleme gleichsam auf Zuruf lösen. Wir haben aber auch schon bei der Erläuterung des fachlichen Aspektes der Wissensbasis auf die informelle Kommunikation etwa beim Auftreten von Störungen hingewiesen. Eine erfahrene Gruppe erkennt oft in wenigen Sekunden, wo der Handlungsbedarf liegt, und sie verständigen sich dann nur durch kurze Blicke oder Zurufe, jeder weiß, was er zu tun hat, und alles geht Hand in Hand. Die Gruppe befindet sich sofort wie-der in einem eingeschwungenen Zustand, so als wäre sie ein Ganzes. Das verbinden-de Prinzip ist ihre Fähigkeit zur Kommunikation.

In den Gruppen bildet sich auch eine robuste und z.T. überaus wirksame Feed-back- und Konfliktlösungskultur heraus. Wenn jemand häufig unpünktlich oder nach-lässig ist oder gar auf Kosten des Teams agiert, bleibt das nicht lange unkommentiert. Es wird anfänglich zunächst vielleicht nur ‚gemeckert oder gemurrt’, es kommt zu kurzen Bemerkungen oder spitzen Kommentaren. Teamkoordinatoren geraten beson-ders hier in die Rolle des Spiegels für nicht akzeptierte Verhaltensweisen. Sie be-kommen entsprechende Stimmungen und Stimmungsveränderungen in der Gruppe sehr schnell mit. Und jeder entwickelt seinen eigenen Stil, mit solchen Themen um-zugehen. Einige sorgen zum Beispiel sichtbar für Ordnung und Sauberkeit, gehen al-so mit entsprechenden Verhalten voran, andere sprechen Dinge direkt an, z.B. ‚Du würdest doch auch bei Dir zu Hause nicht einfach Abfall unter das Sofa schieben!’. Es herrscht eine zuweilen raue, aber doch klare und unmissverständliche Sprache. Manches wird in den Gruppentreffen besprochen, vieles im Zweiergespräch oder zu dritt oder in einem Telefonat. Zuweilen wird der zuständige Meister, aber auch der Hallenbetriebsrat oder der zuständige Vertrauensmann hinzugezogen. Niemand darf sich auf Kosten der Gruppe auf die Dauer Vorteile verschaffen, sonst entstehen Un-gleichgewichte, Unzufriedenheiten und Konflikte.19

Der flexibilisierte Arbeitseinsatz innerhalb einer Gruppe erzeugt und beruht schließlich auf einer Kultur des wechselseitigen Unterstützens und Helfens. Gemeint damit ist die Bereitschaft, bei betrieblichen Engpässen oder persönlichen Restriktio-

19 Das ist ein Aspekt, den Stefan Kühl in seinem kritischen Aufsatz außer Acht lässt. Er argu-mentiert dort unter Bezugnahme auf die industriesoziologische Literatur, dass die Werktäti-gen in der taylorisierten Fertigung durch die Unbestimmtheit der formalen Vorgaben und Pla-nungen wesentliche Dispositionsspielräume haben, die ihnen im Gefolge der Leistungskon-trolle in den Teams verloren gehen. Das trifft bis zu einem gewissen Grad und besonders für qualifizierte Facharbeiter zu. Wir haben andererseits aber den Eindruck gewonnen, dass sich auch in den Teams ein Gleichgewicht zwischen Anreizen und Beiträgen ausbildet, ohne stän-dig an die Grenzen der Leistungsfähigkeit zu gehen. Was aber deutlich weniger passiert ist, dass sich einzelne auf Kosten des Teams Vorteile verschaffen (vgl. Kühl 2001).

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nen seine Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Die Teamkoordinatoren gehen dabei oft mit gutem Beispiel voran, indem sie bereit sind, bei Ausfällen aller Art immer wieder auch kurzfristig einzuspringen und Lücken zu vermeiden. Das geht häufig so-gar auf Kosten ihrer Rolle als Teamkoordinator, dann wird die Rolle aber ausgenutzt. Hilfreiche Beziehungen werden in der Gruppe auch durch die Einarbeitung neuer Kollegen aufgebaut, die mit dem neuen Arbeits- und Gruppenumfeld erst vertraut gemacht werden müssen. Auch dort leisten die Teamkoordinatoren einen wichtigen, fast geräuschlosen Beitrag, da der interne Arbeitsmarkt des Unternehmens außeror-dentlich beweglich ist.

Die Kenntnis all dieser Zusammenhänge der Beziehungsdynamik ist besonders auch für die Teamkoordinatoren wichtig, weil sie mit der Gruppe ihre Rolle gemein-sam definieren und ihr Vertrauen gewinnen müssen. Diese Rolle ist unklar, weil es dafür keine Traditionen im Unternehmen gibt. Und sie ist ambivalent, da die Team-koordinatoren einerseits formal Gruppenmitglieder sind, andererseits aber zugleich auch eine hervorgehobene Rolle spielen. Die Mitgliedschaft im Team macht es ihnen einerseits leichter, die individuelle Eigenheiten und Beziehungen zu verstehen, ande-rerseits begegnet man ihnen gerade anfänglich mit Misstrauen. Diese Ambivalenz ist aber auch Anlass für Klärungsbedarf und damit eine fruchtbares Gestaltungsfeld, das für alle Beteiligten zahlreiche Möglichkeiten zum sozialen Lernen bietet. Der Team-koordinator und die Entwicklung seiner Rolle ist somit zugleich ein Lernmodell für die Gruppe, an der sie sich selber abarbeitet und kristallisiert.

Aus unserer Beobachtung fühlen sich die meisten Teamkoordinatoren zu ihrer Rolle hingezogen, weil sie über eine ausgeprägte emotionale Intelligenz mit entspre-chenden kommunikativen Fähigkeiten verfügen. Es gelingt ihnen etwa, mehr und mehr ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie Einzelne angesprochen werden müssen, um sie für eine bestimmte Arbeitsaufgabe oder für Sonderaktivitäten zu motivieren. Sie bringen ihre Kollegen z.B. auch dazu, über ihre weitere Qualifizierung nachzudenken und geben ihnen das Gefühl, an einer sinnvollen Aufgabe mitzuwirken.

Beziehungswissen erstreckt sich schließlich nicht nur auf Zweier- oder Dreier-konstellationen im Team, sondern auch auf die Kooperation mit benachbarten Teams oder technischen Funktionen, wie etwa Planung oder Industrial Engineering. In dem Maße, wie es dem Teamkoordinator gelingt, Qualitäts- oder Technikprobleme anzu-sprechen und zu lösen, legen sich dort Skepsis und Vorbehalte. Man lernt sich kennen und respektieren. Zuweilen reicht dann nur noch ein kurzer Anruf oder ein informel-les Gespräch, und ein Thema kann ohne großen Aufwand erledigt werden. Funkti-onsübergreifende Beziehungsnetzwerke dieser Art sind für eine flache und lernende Organisation existenziell.

Beziehungswissen in Teams und der Aufbau von tragfähigen Beziehungsnetz-werken in Organisationen bildet soziales Kapital. Es bezeichnet die Summe von Be-ziehungen, die Einzelne oder Gruppen innerhalb von Netzwerken haben und die es ihnen ermöglichen, auf Ressourcen zurückzugreifen, über die sie nicht verfügen. Und auch umgekehrt ist es die Voraussetzung dafür, Ressourcen bereitwillig zur Verfü-gung zu stellen, ohne gleich eine Gegenleistung zu erwarten. Das können materielle

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Ressourcen sein, aber auch Informationen, Wissen, eingesparte Zeit und nicht zuletzt Anerkennung oder soziale Unterstützung (Lesser/Prusak, 2000). Solche nachhaltigen Beziehungsnetzwerke in und zwischen Gruppen und ihren Angehörigen beruhen ih-rerseits auf Vertrauen, und sie bilden es. In dem Maße, wie sich Vertrauen entwickelt, kann auf formale Regelungen, Prozeduren und äußerliche Zwänge verzichtet werden, weil die Mitglieder aus eigenem Antrieb und auf Grund von gemeinsamen Überzeu-gungen sich im Sinne der Normen verhalten.20

6. Zur Dynamik organisatorischen Wissens

Die skizzierten Wissensstrukturen in den Teams entwickeln sich in einem in-krementalen Prozess. Systematisiert man ihn anhand der Themen- und Problemstel-lungen der Gruppen, dann lassen sich zusammengefasst die folgenden Veränderungen ausmachen: Von der Reaktion auf Probleme zur Antizipation, d.h. dem aktiven Aufgreifen

und Bearbeiten von Fragestellungen und dem Einreichen von Verbesserungsvor-schlägen,

von Themen im eigenen und unmittelbaren Erfahrungsumfeld zu Themen mit weit reichenderen Auswirkungen auch in benachbarte Teams oder Funktionen

und schließlich von Sachfragen zu Beziehungsfragen. Während anfänglich die Gruppe sich eher mit sachorientierten Themen befasst,

vornehmlich auf diese reagiert und zuweilen vom Teamkoordinator sogar geschoben werden muss, erweitert sich der Horizont nach und nach. Es entsteht ein sichtbar hö-heres Reflexionsniveau, ein größeres Verständnis betrieblicher Zusammenhänge und schließlich auch Bereitschaft, mehr und mehr Verantwortung zu übernehmen. Die fachliche Wissensbasis der Gruppe weitet sich aus, es entsteht Verständnis für größe-re betriebliche Prozesse und unternehmerische Kontexte. Zugleich entwickelt sich in-nerhalb der Teams eine stabile lokale Arbeitskultur, die sich auch als Teil größerer Beziehungsnetzwerke verstehen lernt.

6.1 Die schrittweise Erweiterung der Wissensbasis

Untersucht man unter diesem Gesichtspunkt die Themen im Detail, mit denen die Gruppen sich im Verlaufe ihrer Evolution beschäftigen, erkennt man diese Pha-sen. Anfänglich dominieren ganz eindeutig Themen, die das eigene Interesse und die eigene unmittelbare Arbeitsumgebung berühren. Der Problemhorizont ist eher einge-schränkt, wenig initiativ und noch weniger reflexiv. Aber das darf keineswegs unter-schätzt werden, denn in diesen ersten gemeinsamen Bewegungen der Gruppe entsteht

20 „Trust is the expectation that arises within a community of regular, honest, and cooperative behavior, based on commonly shared norms, on the part of other members of that community. Those norms can be about deep ‚value questions .... but they also encompass secular norms like professional standards and codes of behavior“ (Fukuyama 1995, 26).

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gleichsam die kritische Masse für die Hinwendung zu komplexeren Themen, Proble-men und Konflikten, die dann wirklich auf veränderte Grundeinstellungen hindeuten, auf ein verbreitertes Verständnis und Akzeptanz strategischer und organisatorischer Entwicklungsziele.

Betrachten wir zunächst die Ergebnisse unserer Beobachtungen: Zu Beginn der Evolution der Gruppe stehen im Wesentlichen Fragen der Anwe-

senheits- und Arbeitszeitplanung sowie der Aufgabenkoordination im Vordergrund.21 Dazu gehören Schichteinteilung, Zuordnung auf Arbeitsplätze, Einigung über freie Tage oder Urlaub, etc. Diese Regelungen gehörten ursprünglich zum Aufgabenfeld der Meister und wurden nun an die Teamkoordinatoren delegiert. Sie sind nicht nur sachlich-organisatorischer Natur, es sind auch Fragen, die unmittelbar die Interessen der Mitarbeiter berühren und sie sind konfliktär. Die Personalressourcen sind knapp, die Arbeitsbelastung ist hoch und Verfügung über Zeit gehört zu den elementaren Dispositionsspielräumen der Arbeitnehmer, die sie auch verteidigen. Sie haben sich Freiräume und Dispositionsmöglichkeiten geschaffen, die es ihnen ermöglichen, ihre Arbeitsleistungen zu kalkulieren und zu kontrollieren. Aber diese Verhältnisse wer-den nun neu ausgehandelt, weil ein neuer Akteur ins Spiel gekommen ist, der nicht nur die Details in den Abläufen kennt, sondern der auch Einfluss hat und ausüben kann.

In dieser Phase ist die Energie der Gruppe auf sich gerichtet, sie konstituiert sich dort als organisatorischer und zugleich auch als sozialer Zusammenhang. Für jeden Einzelnen wird so unmittelbar spürbar, wie sich Gruppenarbeit auswirkt und wie sie sich anfühlt. Arbeitsleistung und Gegenleistung werden neu und vor allem kollektiv verhandelt. Bislang war die Disposition darüber ein individueller Prozess, jetzt sind von den Einzelnen Entscheidungen auch die Kollegen sichtbar betroffen, mit denen man in der Gruppe kooperiert. Der eigene Beitrag zur Gesamtheit ist transparenter, ebenso konturiert sich die eigene Rolle im Team. In der Gruppe entstehen so nach und nach neue Spielregeln der Kooperation, der Koordination und des Zusammen-wirkens.

Wenn die elementaren Routinen der Aufgabenkoordination definiert und die Ei-nigungsfähigkeit der Gruppe unter Beweis gestellt ist, richtet sich die Aufmerksam-keit nach außen, beschränkt sich aber zunächst auf die unmittelbare Arbeitsumge-bung. Ein wiederkehrendes Thema ist in dieser zweiten Phase ‚Ordnung und Sauber-keit am Arbeitsplatz’. Das sind vordergründig vergleichsweise wenig herausfordern-de Fragestellungen, und es war für uns zugegebenermaßen anfänglich sehr schwer, nachzuvollziehen, warum die internen Promotoren den Reifegrad von Gruppen am optischen Erscheinungsbild der Arbeitsplätze und des Besprechungs- bzw. Pausen-raumes messen. Für sie drückt das äußere Bild aber die innere Befindlichkeit der

21 Diese Abstimmungsprozesse über Anwesenheit und Abstimmung der Aufgaben ist der Kern von Teamarbeit und steht daher natürlich gerade am Anfang auch im Vordergrund (vgl. auch Gemünden/Högl 2001).

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Gruppe aus, ihre innere Einstellung zur Arbeit und ihrer Umgebung. Man kann hier aber in der Tat vom Beginn einer sich verändernden Wahrnehmung sprechen, Wahr-nehmung im Sinne von ‚bewusst sehen’ und Wahrnehmung im Sinne von ‚Übernah-me von Verantwortung’. Das Insistieren auf Sauberkeit und Ordnung bildet damit ei-nen möglichen Ausgangspunkt dafür, auf den gesamten Arbeitsprozess mit ganz an-deren Augen zu schauen. Es liegt dort in der Tat ein Wendepunkt in den Einstellun-gen,22 den man nicht unterschätzen darf, denn von nun an befasst sich die Gruppe mit ihrem eigenen Arbeitsverhalten und mit dem Bild, das sie abgibt und abgeben will.

Natürlich reduzieren übersichtliche Arrangements von Material oder Werkzeug auch unnötige Such- und Wegezeiten. Herumliegende Teile führen schließlich immer wieder auch zu unnötigen Betriebsunfällen, die man so vermeiden kann. Die ersten Verbesserungsvorschläge aus Gruppen beziehen sich oft auf kleinere Dinge wie Pa-pierkörbe, Ablagen u.ä., und es ist wichtig, dass diese ersten Anzeichen von Engage-ment über die eigenen unmittelbaren Interessen hinaus auch aufgegriffen und umge-setzt werden. Sie haben weniger einen substanziellen, dafür einen um so höheren symbolischen Wert. Das schrittweise Entwickeln von Vorschlägen entspricht auch stärker den evolutionären japanischen Vorstellungen von Veränderungsmanagement, dem Kaizen (Imai 1991). Wenn kleine Nachlässigkeiten nicht akzeptabel sind, dann ist das Ausdruck dafür, dass auch größere Nachlässigkeiten nicht geduldet werden.

Nach ersten Erfolgserlebnissen weitet sich in der folgenden Stufe der Horizont der Gruppe aus, und es entstehen auch weitergehende Verbesserungsvorschläge, al-lerdings zunächst noch reaktiv. Sie spiegeln Unzufriedenheiten oder Behinderungen in der täglichen Arbeitsorganisation und den Prozessen wider. Sie können sich auf die Vermeidung überflüssiger Wege beziehen, die Zusammenfassung von Verrichtungen oder die Anordnung von Werkzeugen. Oft ist es so, dass dieses Unbehagen im Ar-beitsprozess selber artikuliert wird, aber eher in Form von Unmut, wenig konstruktiv und handlungsorientiert. Der Prozesskoordinator greift das aber auf, wenn er es mit-bekommt. Er regt dann einen Verbesserungsvorschlag an. Den Betroffenen ist oft-mals nicht klar, dass in ihrem Unbehagen das Potenzial für einen Vorschlag liegt, oder sie glauben nicht an den Erfolg. Viele Teamkoordinatoren füllen anfänglich so-gar das Formular für die Einreichung eines Vorschlages für ihre Kollegen aus. Sie spielen so in dieser Übergangsphase eine überaus wichtige Rolle, um der Gruppe Zu-trauen zu ihren Erfahrungen und zu ihrem Wissen zu vermitteln und es aktiv einzu-bringen und auszubauen.

22 Die sog. ‚Broken Window Theory‘ begreift solche kleinen symbolischen Dinge, wie etwa ‚zerbrochene Fenster‘ als Signal, das zum Ausgangspunkt für weiteren Vandalismus, Graffiti oder ernstere Vergehen im großen Maße werden kann. „Soon, more windows will be broken, and the sense of anarchy will spread from the building on which it faces, sending a signal that anything goes. In a city, relatively minor problems like graffiti, public disorder, and aggres-sive panhandling .... are all the equivalent of broken windows, invitations to more serious crimes.“ Dieser Zusammenhang gilt auch umgekehrt (Gladwell 2000, 141).

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In den folgenden Phase entwickeln sich in der Gruppe mehr und mehr Verbesse-rungsvorschläge, die man als proaktiv bezeichnen kann und einen deutlichen Blick über den Tellerrand hinaus darstellen. Das sind Ideen, die sich auf konstruktive Details be-ziehen können, auf komplexere Fragen der Arbeitsorganisation, auf die Qualität von Materialien oder Möglichkeiten zur Einsparung und Rationalisierung. Solche Vor-schläge erfordern nicht nur ein größeres Prozess- und Kontextverständnis, sondern vor allem auch das Vertrauen, dass sie ernst genommen werden und es sich lohnt.

Aus unserer Sicht wird in einer Gruppe das höchste Reflexionsniveau erreicht, wenn sie sich schließlich selber zum Thema macht. Die Fragen ‚wie gehen wir mit-einander um, welche Spielregeln der Zusammenarbeit sollen für uns gelten oder wel-che Rolle hat der Teamkoordinator?’ zielen auf die Beziehungsseite von Teamprozes-sen, die gerade in technisch geprägten Arbeitsorganisationen im Allgemeinen nur sehr zögerlich angesprochen wird. Es geht etwa um Konflikte mit Kollegen, die sich den Spielregeln entziehen, Fällen von Mobbing im Arbeitsteam oder der Kooperation mit anderen Funktionsbereichen. Es bleibt vom Teamkoordinator und auch vom Team nicht unkommentiert, wenn sich ein Kollege eine nicht abgesprochene Auszeit gönnt oder nicht bereit ist, einen weniger attraktiven Arbeitsplatz einzunehmen. In den weit entwickelten Gruppen bildet sich so eine sehr robuste Feedback- und Kon-fliktlösungskultur heraus, die ohne viel Aufwand und eher unauffällig Beziehungs-themen zu lösen vermag.

6.2 Kollektives Gedächtnis – Organizational Memory

Jede Gruppe baut so einen spezifischen Fundus an Wissen, Erfahrungen und Spielregeln auf, der ihnen auch für künftige Problemlösungen oder weiter gehende Verbesserungsvorschläge zur Verfügung steht. Man bezieht sich auf diese Bestände, man erinnert sich, bzw. sie werden im Dialog rekonstruiert und dann auf eine vorlie-gende Thematik bezogen, um sie zu lösen. Die Gruppe verfügt somit über ein von Führungskräften, Experten sowie von einzelnen Gruppenmitgliedern unabhängiges kollektives Gedächtnis,23 auch wenn Individuen als Mitglieder der Gruppe dieses Wissen speichern.

Die wichtigste Repräsentationsform dieses kollektiven Wissens in den Teams sind Fallbeispiele, Geschichten und gemeinsame Erlebnisse, auf die man sich bezieht und die wieder aktualisiert werden, wenn ähnliche Fragestellungen auftauchen. Das heißt, wir haben es primär mit narrativen oder metaphorischen Mustern zu tun, es sind Erinnerungsbilder, Sequenzen und Szenen, die in Erinnerung gerufen, Faustre-geln und robuste Handlungsorientierungen, die angewendet werden. Es sind Reprä-sentationsformen von Wissen, die sich daher nicht in Handbücher oder Prozeduren

23 Man kann sich darüber streiten, ob es sich hier lediglich um eine Metapher handelt. Jedenfalls wird auf diese Weise Wissen in Teams geteilt, behalten und abgerufen. Wissen ist daneben natürlich auch in anderen Formen repräsentiert, etwa in Strukturen oder Prozessbeschreibun-gen. Vgl. für eine übersichtliche und stringente Diskussion Walsh/Ungson (1997).

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zwängen und sich schon gar nicht digitalisieren lassen. Die Basis organisatorischen Wissens ist eher ein Flickenteppich, der sich aus zahlreichen Ereignissen und Bege-benheiten zusammensetzt. Diese gemeinsamen Geschichten über Probleme und Lö-sungen, über Erfolge und Misserfolge liefern der Gruppe ihren Bezugsrahmen für ih-re Sicht der Realität und ihrer Rolle darin.

Es entwickelt sich auch eine spezifische Sprache in jeder Gruppe, in der ihre Er-innerungen an bewältigte Probleme oder Konflikte bewahrt und weitergegeben wird. Die Sprache besteht aus einer fachlichen Terminologie und insbesondere aus einem Vokabular, indem Begriffe auch unkonventionell verwendet werden. Sie dient zu-nächst dazu, schnell und gemeinsam Probleme zu identifizieren und zu benennen. Zugleich konstituiert sich über diesen Code auch die Gruppe als Gruppe.24 Charakte-ristisch ist für diesen Aspekt organisatorischen Wissens, dass es sich um eine ‚oral history‘ handelt, also um kulturelle Formen, die nicht dokumentiert oder formalisiert sind, sondern durch Sprechen und Handeln weitergegeben werden. Dieses Sprechen während der und über die Arbeit ist die Basis einerseits für Kontinuität und Traditio-nalität, anderseits aber auch für die Erneuerungsfähigkeit und Innovativität. Die loka-len Sprachwelten sind geschlossen und offen, ermöglichen so Stabilität und Verände-rung (vgl. dazu ausführlich Althans, 2000). Wenn neue Mitarbeiter in die Gruppe kommen, wird dieser Aspekt sinnfällig.25 Sie sind zunächst darauf angewiesen, den spezifischen Code der Gruppe zu erlernen, sie hören zunächst zu und bekommen über die Geschichten und gemeinsamen Erlebnisse mit, welches Wissen für die Mitwir-kung im Team von Wichtigkeit ist. Andererseits bringen sie auch neue Erfahrungen in den Diskurs ein.

Die Sprache gibt auch Aufschluss darüber, wie das Team sich und seine Realität konstruiert. Es wird deutlich, was sie sich zutrauen, ob und wie sie sich als Gruppe sehen oder wie sie ihre Probleme lösen. Die Sprache kann Resignation oder Tatkraft ausdrücken, Misstrauen oder Vertrauen, Identifikation oder Individualismus (ausführ-lich hierzu Donnellon 1996). Diese in der Sprache aufgehobenen und durch sie re-produzierten Bilder verändern sich im Verlaufe der Teamentwicklung. Die Beurtei-lung von Verbesserungsvorschlägen geht etwa von ‚Bringt ja eh nichts’ über ‚Gut, kann man ja mal probieren’ bis zu ‚Vielleicht klappt es ja doch’. Es ist auch ein Un-terschied, ob Neulinge in der Gruppe als ‚Frischlinge’ oder ‚Fremdkörper’ bezeichnet werden. Teamtalk und Teamwork entwickeln sich wechselseitig. Interessant ist gera-de in diesem Zusammenhang die Wirkung des Humors, den jede Gruppe in einer spe-

24 „Mastery of both types of jargon, like the ability to understand a language or a joke that ex-cludes others, creates a strong sense of union among those in the know and a barrier to those left out“ (Gabriel 2000, 157).

25 Vgl. dazu die folgende Beschreibung: „A few short minutes and quick sketches after someone had started to present a problem for which he needed help from the community, everyone un-derstood the situation and knew what the difficulty was. They were all ready to work – but not me – I had not even begun to grasp what the situation was or what needed resolving. Such is the learning efficiency of a community“ (Wenger 2000, 11).

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zifischen Weise ausbildet. Das gemeinsame Lachen hat entlastende und verbindende Funktionen, etwa wenn man ein Problem oder einen Konflikt gelöst und durchge-standen hat. Es ist so mit dem gespeicherten Wissen eng verbunden. Im Moment des rückblickenden gemeinsamen Lachens sind diese Erlebnisse und das gemeinsame Wissen darüber wieder präsent, und das schafft eine angenehme Atmosphäre bei der Problemlösung und einen stabilen Zusammenhalt.

Die Gruppen und ihre Mitglieder sind somit gleichsam die kleinste Speicherein-heit des organisatorischen Gedächtnisses. In der Gruppe weiß allerdings nicht jeder alles, sondern es bilden sich für bestimmte Themen- oder Problemfelder gleichsam Spezialisten, die dazu eine besondere Beziehung haben oder besonders betroffen sind. Das ist im Allgemeinen kein bewusster Vorgang, er pendelt sich eher ein, wenn sich ein Gruppenmitglied für eine bestimmte Wissensdomäne besonders bewährt hat. So gibt es Spezialisten, die sich sehr gut mit Materialien auskennen, andere mit der Ma-schinensteuerung oder EDV, es gibt Experten für die Außenbeziehungen oder für die privaten Situationen der Gruppenmitglieder. Dieses Wissen kann bei einem und auch bei mehreren Akteuren angesiedelt sein, so dass durchaus Redundanz entsteht. Diese Experten werden immer wieder angesprochen oder fühlen sich angesprochen, wenn neue Wissensmodule hinzukommen oder Probleme entstehen.

Aber im Unterschied zum traditionellen Expertenmodell kann sich die Gruppe darauf verlassen, dass das Wissen bei Einzelnen stets abrufbar ist, und sie kann im Bedarfsfall darauf zurückkommen, ohne auf nachhaltige Zugangsbarrieren zu stoßen. Entscheidend ist, dass man situativ weiß, wer was weiß oder was wissen könnte, bzw. dass man einen weiß, der weiß, wer was wissen könnte. Man erinnert sich generell eher an einen ‚Speicherplatz’ als an konkrete Details und verlässt sich daher aufein-ander, um fehlende Facetten zu ergänzen. In der Diskussion wird dieser bedeutende Aspekt des Wissensmanagements das transaktive Gedächtnis genannt (Lehner 2000, 109 ff.). Es ist nicht lokalisierbar, sondern liegt in den personalen Beziehungen der Gruppe und wird durch Kommunikation adressiert. Je besser und reibungsloser die Gruppe also kommuniziert – das geht zuweilen auf Zuruf oder durch Blickkontakt –, um so kürzer sind gleichsam die Zugriffszeiten auf das kollektive Wissen.

Auch wenn der erste Zugriff auf dieses höchst dynamische Archiv nicht gleich erfolgreich war, entstehen im Problemlösungsprozess schnell gemeinsame Suchbe-wegungen auf die nächst höheren Abstraktionsebenen, die dann – wie in einem ver-netzten Suchbaum – den Weg zur fehlenden Information oder Idee liefern.26 Der kol-lektive Bezugsrahmen, der in den einzelnen Geschichten und Beispielen eingewoben ist, bildet den Ausgangspunkt für neue Formen, wenn das vorhandene Problemlö-sungsreservoir erschöpft ist, improvisiert werden muss oder neue Wege zu finden sind. Diese Suche nach neuen Formen wird angestoßen, wenn beispielsweise verän-

26 „Stories... convey not only specific information but als general principles. These principles can then be applied to particular situations, in different times and places“ (Seely Brown/Duguid, 107).

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derte Abläufe probiert, neue Teile eingebaut werden müssen oder ein Qualitätsprob-lem entstanden ist, für das es keine schnelle Erklärung gibt. Es entstehen gemeinsame tastende Denkbewegungen, bis jemand eine zündende Idee hat oder auslöst, die pro-biert und dann Schritt für Schritt in das Repertoire der Gruppe inkorporiert wird.27 Diese Denkbewegungen können unterschiedlich angelegt sein: Ausgehend vom vorhandenen Erfahrungspool werden Bedingungen verändert,

bestimmte Aspekte werden ausgeschlossen, andere Möglichkeitsbereiche einge-kreist. (‘Wenn es das nicht ist, bleibt eigentlich nur noch ...’)

Eine weitere Möglichkeit sind Analogien, also induktiv von Bekanntem auf Un-bekanntes zu schließen. (‘Auf den ersten Blick erinnert mich das an ...’)

Eine andere Variante sind Bilder oder Metaphern, die ein nicht klassifizierbares Phänomen in einen plausiblen Kontext stellen sollen. (‘Im Prinzip muss man sich das als ... vorstellen.’)

Wenn das Alles nicht weiterhilft, bleibt im Grunde nur noch Trial and Error, Ausprobieren und Experimentieren, wobei das nie ein blindes Vorgehen, son-dern von Intuition und Ahnungen geleitet ist.28 Das sind wichtige, aber oftmals unterschätzte kognitive Strukturen, die das Such- und Problemlösungsverhalten von Professionellen charakterisieren. Die Teams bilden so einen dynamischen, dezentralen, redundanten und vernetz-

ten Wissensspeicher mit einem sich stetig vergrößernden Wissen- und Lernpotenzial, das sich ständig tausendfach bewährt, in unauffälliger Selbstverständlichkeit, ohne dass man es von außen groß bemerkt. Die Natur dieses operativen Wissens in der be-trieblichen Wertschöpfung unterscheidet sich von dem Know-how, über das Pla-nungsfunktionen oder die Führungskräfte verfügen.29 Dieses ist abstraktes, von sinn-

27 „Forms are the crucial means by which an organization brings the heterogeneous world into line with it’s processes“ (Seely Brown/Duguid, 108).

28 In der Montage gibt es auch sog. Try out-Räume, die dafür gedacht sind, arbeitsplatznah, aber ungestört von Bandrhythmus etwa neue Abläufe durchzuprobieren. Das ist ein Aspekt, der noch viel weiter ausgebaut werden müsste: „We believe that a guiding principle for redi-signing work will be virtual learning spaces ... Learning often occurs best through ‚play‘, through interactions in an transitional medium where it is safe to experiment and reflect ... This transitional medium must look like the action domain of the learners“ (Kofman/Senge 1995, 36; vgl. dazu auch das Konzept der Learning Labs bei Roth/Kleiner 2000).

29 Das operative Wissen von Organisationen entsteht in den unmittelbar wertschöpfenden Pro-zessen. Es entwickelt und entfaltet sich in den Kernleistungsbereichen, wo dingliche Werte oder Dienste entstehen, also etwa in der Fertigung. Das Wissen, das in diesen lokalen Grup-pen von Praktikern entsteht, ist unterschiedlich von dem Wissen, was etwa Fertigungsplaner oder Qualitätsmanager haben. Sie unterstützen oder reflektieren die unmittelbare Wertschöp-fung. Ersteres ist erfahrungsgesättigt, Letzteres ist symbolisch, aufgelöst in Metriken oder Standardprozeduren, in dem sich die produktiv Tätigen allerdings oftmals nicht wiederfinden: „These policies, metrics, training programs, and system designs were often at odds with the rea-lity of their work. ... I found that it is the collective construction of a local practice that, among other things, makes it possible to meet the demands of the institution“ (Wenger 1998, 46).

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licher und körperlicher Erfahrung entkoppeltes Wissen aus zweiter Hand, bestehend aus Organigrammen, Flow-Charts, Zahlen, Statistiken oder Portfolios, gewonnen auf Meetings oder Konferenzen, in Stäben erdacht oder entschieden in fernen Büros.30 Das Wissen in den Gruppen ist in Geschichten, ihrem Witz und in ihrer Sprache in-korporiert, es aktualisiert und entwickelt sich im Handeln und Reden.31

Wir haben daher auch nie erlebt, dass formalisierte Verfahren, vor allem in frü-hen Phasen der Problemlösung, systematisch Anwendung finden, so wie sie etwa in Handbüchern zum TQM u.ä. dargestellt sind. Das ist der Unterschied zwischen institutionalisierten Archiven und einer oralen Kultur. Diese beruht auf dialogi-schen Prozessen, in denen jeder der Anwesenden seine Erfahrungen und Vermutun-gen einbringt. Erst wenn sich die Unklarheit und das Dunkel etwas lichten, lässt sich der komplexe Problemlösungsvorgang vielleicht in eine Struktur einordnen, etwa ein Ishikawa-Diagramm oder eine A,B,C-Verteilung. Damit wird das Resultat auch für Außenstehende nachvollziehbar; aber das ist ein anderer Diskurs, in dem es um Außenrepräsentation oder Legitimation geht. Zwischen dem inkorporierten, in den Gruppen verkörperten Wissen und den abstrakten Formen seiner Repräsentation muss man einen grundsätzlichen Unterschied machen.32

Je mehr den Gruppen die Kontrolle über sich und ihre Ressourcen zurückgege-ben wird, um so mehr werden solche Wissensbasen aufgebaut, um so flexibler und intelligenter können sie reagieren und um so störungsresistenter sind sie. Das ist die Voraussetzung dafür, dass Probleme gleich vor Ort gelöst und nicht im System ver-schoben werden. Selbstgesteuerte Systeme dieser Art beruhen auf Redundanz, der bewussten Delegation von Wissen und Kontrolle über Ressourcen, ohne dass voraus-sehbar ist, was genau damit geschieht. Aber je mehr Kompetenz, Verständnis und Vertrauen sich in der Gruppe entwickelt, um so sicherer kann man sein, dass sich die-se Ressourcen und Potenziale sinnvoll und zielbewusst eingesetzt werden.

30 Das klingt vielleicht etwas ironisch, soll es aber nicht sein. Aus unserer Sicht ist gerade das Spannungsfeld zwischen diesen beiden Ebenen organisatorischen Wissens interessant. Es war immer schon die traditionelle Rolle der mittleren Management-Funktionen, in diesem Span-nungsfeld zwischen den strategischen Zielen und dem, was operational machbar erscheint, zu dolmetschen und zu vermitteln (vgl. Floyd/Wooldridge 1996).

31 Zum Zusammenwirken dieser verschiedenen Wissensebenen im Unternehmen vgl. Nonaka/ Tateuchi (1997).

32 In den Gruppenräumen wird im Rahmen von Visual Management monatlich in Grafiken und Zahlen anhand der sog. Zielmatrix dargestellt, wo die Gruppe im Vergleich zum Plan im Hin-blick auf Parameter wie Produktivität, Qualität, Unfälle oder Verbesserungsvorschläge steht. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass diese abstrakte Welt der Darstellung und Repräsenta-tion nicht dem Erleben der Gruppe entspricht. Man hat sich daher sehr schnell dazu entschlos-sen, diese ‚Zahlenfriedhöfe‘ zu reduzieren und nur noch wenige Schlüsselkennziffern zu ver-öffentlichen, um nicht noch zusätzliche Verwirrung zu stiften.

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Dahinter steckt eine intelligente Form von Ökonomie, die einen Unterschied macht zwischen Vergeudung und Verschwendung.33 Verschwendung liegt vor, wenn etwa einem Arbeitssystem Ressourcen zur eigenen Disposition überlassen werden, die es ihnen erlauben, optional zu denken und flexibel zu reagieren. Das ist notwen-dig, je mehr man damit rechnen muss, dass künftige Arbeitssituationen nicht planbar sind oder in die Hierarchie verlagerte Entscheidungen zu lange dauern. Das ist bei ei-ner Führungsspanne von vielleicht 30-40 Mitarbeitern pro Meister offenkundig der Fall. Sieht man diese Variabilität in den operativen Arbeitssystemen nicht vor oder wird sie sogar unterbunden, kann nur Ignoranz die Folge sein, und das führt zu Ver-geudung, teuren Überstunden für Nacharbeit, verlorenen Werten durch Ausschuss, verlorenen produktiven Zeiten oder, am Ende, nicht zuletzt zu verärgerten Kunden.

7. Die katalysatorische Rolle der Teamkoordinatoren

Wie gesagt, stieß der Prozess anfänglich auf eine Vielzahl von restriktiven Be-dingungen, und nach wie vor gibt es Probleme und Widerstände. Die Entfaltung der katalysatorischen Rolle der Teamkoordinatoren war einer der entscheidenden Vor-aussetzungen für die ersten nun sichtbaren Erfolge.34 Ihre formalen Aufgaben sind zunächst im Wesentlichen die folgenden: Anwesenheitsplanung und Personaleinsatz, Aufgreifen und Verfolgen von Problemen im Arbeitsprozess und Initiieren von

Lösungen bzw. Verbesserungsvorschlägen, Integration neuer Mitarbeiter ins Team, Pflege und Verfolgung der Zielmatrix für das Team, mit der Produktivitäts-,

Qualitäts-, Sicherheits- und Innovationsziele festgehalten und gesteuert werden, Einspringen und Aushelfen im Fertigungsprozess bei Engpässen aller Art.

Die Durchsetzung dieser Rolle war in dem sehr mengen- und kostenbewussten Unternehmen äußerst schwierig. Aber angesichts des Führungsvakuums zwischen Meister und Linie gab es dazu keine Alternative, zum anderen hätte sich ohne ‚Über-schusskapazitäten’ niemals der Change-Prozess zur Teamorganisation und die Ver-breiterung der organisatorischen Wissensbasis durchsetzen lassen. Wenn alle Res-

33 „Fabrikleiter wussten, dass das Nichterreichen des Produktionszieles großen Ärger bedeutete und dass Fehler in der Nacharbeitszone beseitigt werden konnten, ... Daher durfte das Fließ-band nur in absoluten Notfällen angehalten werden. Es war vollkommen in Ordnung, Autos mit einem schlecht montierten Teil bis zum Bandende passieren zu lassen, da dieser Fehler im Nacharbeitsbereich beseitigt werden konnte. Aber verlorene Zeit und Autos konnten nur in teuren Überstunden nach Schichtende aufgeholt werden. So wurde die Mentalität ‚beweg das Blech‘ geboren“ (Womack/Jones/Roos 1991, 61). Zur Strategischen Bedeutung von Über-schussressourcen, Redundanz bzw. Slack vgl. neuerdings ausführlich De Marco (2001, XI). Er schreibt: „Slack is a prescription for building a capacity to change into the modern enter-prise. It looks into the heart of the efficiency-flexibility quandary: The more efficient you get, the harder it is to change.“ (Hv. im Text!).

34 Vgl. dazu die Beschreibung einer ähnlichen Rolle in Projekten Freimuth (1999).

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sourcen und alle Aufmerksamkeit auf Output fokussiert ist, bleibt für die Verände-rung des eigenen Tuns kein Raum (De Marco 2001). Dieser ist aber gerade zwischen Management und Linie existentiell, weil dort letztlich die Vermittlung zwischen Zie-len und Wertschöpfung geleistet wird.35

Die besonders nachhaltige Rolle der Teamkoordinatoren wurde möglich, weil sie einerseits Mitglieder des Teams bleiben. Daraus ergibt sich eine intime Kenntnis etwa von Qualifikationen und Vorlieben der Teammitglieder, aber auch der Arbeits-abläufe und der technischen Ausstattung. Andererseits haben sie eine herausgehobene Funktion, die es ihnen gestattet, auf die Gesamtheit zu schauen und Impulse zu ge-ben. Je nach Gruppenzusammensetzung und -reife sind sie anfänglich dazu gezwun-gen, sehr stark einzuwirken, zu drängen, zu werben und aktiv Themen aufzugreifen. Äußert ein Kollege etwa Unbehagen, fordert er zu einem Verbesserungsvorschlag auf; bemerkt er herumliegendes Werkzeug, ordnet er es; stellt er fest, dass ein Kolle-ge einen schlechten Tag hat, setzt er ihn vielleicht anders ein; möchte jemand früher gehen, handelt er es aus; werden betriebliche Entscheidungen dargestellt, die viel-leicht Unverständnis erzeugen, vermittelt er; sind die Ziele nicht erreicht worden, ver-sucht er aktiv dafür zu werben, gezielte Anstrengungen zu unternehmen. Wenn es erste erlebbare Anfangserfolge gibt, wird seine Rolle und Akzeptanz bedeutender, andererseits wird auch das Verständnis, der Spiel- und Beteiligungsraum der Gruppe schrittweise größer.

Die Ursachen für die Nachhaltigkeit der Teamkoordinatoren-Rolle sind nach un-serer Einschätzung folgende: Sie definieren sich nicht durch höhere fachliche Kompetenz; von daher kommen

sie auch nicht so schnell in Versuchung, diese Rolle auszuspielen, sie lassen der Gruppe Platz für die Entwicklung ihrer Kompetenz.

Sie können sich auch nicht auf hierarchische Macht berufen; sie müssen sich ih-re Position erst erarbeiten und erkämpfen, ihre Akzeptanz ist nicht verordnet, sondern verdient. Daraus entsteht eine ganz andere Legitimität als für eine ver-ordnete Machtbasis.

Schließlich erzeugt gerade die Unbestimmtheit ihrer Rolle einen Sog nach ge-meinsamer Klärung und Ausdifferenzierung, so dass sie nach und nach Kontu-ren stärker wird. Die Konstitution der Teamkoordinatorenrolle ist das Spiegelbild der Konstituie-

rung der Gruppenkompetenz und -kohärenz und umgekehrt. Er gibt dem zunächst ge-sichtlosen Team eine Stimme, in dem er seine Stimme in der Gruppe und dann in der betrieblichen Arena erhebt, zunächst noch zögernd und tastend, dann aber fester und

35 „It is the middle of the organization where reinvention takes place. This is where the dynamic of today’s organizational functioning is examined, taken apart, analyzed, resynthesized, and assembled back into new organizational models that allow us to move forward“ (De Marco 2001, 5).

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klarer, bis er sich einen Platz erarbeitet hat, von dem er nicht mehr leicht zu verdrän-gen ist, so wie auch die Gruppe ihre Identität durch seine vermittelnde Rolle erhält.

Für die Gesamtorganisation ist es wichtig, dass mit den Teamkoordinatoren eine Führungsrolle entstanden ist, die sich nicht hierarchisch oder fachlich definiert, son-dern vor allem über soziale Kompetenz. Sie musste sich gegen viele Widerstände durchsetzen und behaupten. Damit stellen sie für die Organisation ein einmaliges Modell dar, das beweist, dass so etwas möglich ist. Sie legen zudem Zeugnis davon ab, dass man auch in Vorläufigkeiten und Zwischenstadien leben kann. Das wird von ihnen durchaus nicht als Verlust von Kontrolle begriffen, sondern individuell als Möglichkeit für Wachstum und persönliche Entwicklung und organisatorisch als Ge-staltungsauftrag. Diese Bedeutung der Teamkoordinatoren für die Entwicklung der Wissensbasen in den Teams ergibt sich auch aus der Kontinuität, die sie mittlerweile in der Organisation repräsentieren. Sie sind der ruhende Pol und der Kristallisations-kern der skizzierten sozialen und kognitiven Prozesse, bei all den stetigen Verände-rungen in den Teams, ihrer Größe und ihren technisch eingeschränkten Möglichkei-ten für den Austausch.

8. Wissensentwicklung in Teams als Austausch- und Vertrauensbildungs-prozess

Was bewegt nun aber die Gruppenmitglieder, sich am Veränderungsprozess ak-tiv zu beteiligen? Die Frage stellt sich vor allem vor dem Hintergrund der vielen ‚de-fensiven Attitüden’, die anfänglich beschrieben wurden. Es war nicht zu erwarten, dass unter diesen Voraussetzungen schnell Akzeptanz für weit gehende visionäre Zu-kunftsentwürfe entsteht. Unserer Erkenntnis nach betrachten Arbeitnehmer solche Prozesse zunächst sehr nüchtern und wägen einfach ab, was es für sie letztlich er-kennbar bringt.36 Jeder Mitarbeiter verfügt über eine individuelle Anreiz-/Beitrags-bilanz, die seine Leistungseinstellung und die Bereitschaft für Engagement prägt. Im Allgemeinen ist man sich darüber nicht im Klaren. Es ist eher ein implizites Abwägen zwischen Leistungsbeiträgen und wahrgenommenen Vergütungen des Unternehmens im weitesten Sinne. Diese Grundeinstellungen entstehen und kristallisieren sich über Jahre hinweg. Aber bei strukturellen Veränderungen kommt diese Bilanz ins Un-gleichgewicht und muss neu ausgehandelt werden.

Und genau dieser Abwägungsprozess zwischen Anreizen und Beiträgen wird von den Teamkoordinatoren in Szene gesetzt. Einer von ihnen brachte es in einem In-terview wie folgt auf den Punkt: ‚Ich mache den Leuten klar, dass Teamarbeit ein

36 „... people rarely give away valuable posessions (including knowledge) without expecting something in return. This may be especially true in our current business climate. Even if only partially mindful of doing so, people make choices on perceived self-interest. ... even social transactions are generally based on some sort of exchange, ... Just because the object of ex-change is intangible does not mean that the market forces are less strong“ (Davenport/Prusak 1998, 26).

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Topf ist. Man muss was hineingeben, wenn man was herausbekommen will.’ Die Be-teiligung an der Teamarbeit erscheint so gleichsam als ein Tauschhandel, dessen Struktur gerade am Anfang sehr deutlich wird, wenn etwa Anwesenheit, Personalein-satz und Aufgabenkoordination besprochen und geplant werden. Der Teamkoordina-tor kann hier durchaus seinen Einfluss und seine Macht geltend machen, aber auch die Gruppenmitglieder haben ihre Dispositionsspielräume. Wenn etwa die Regel ver-handelt wird, dass jedes Gruppenmitglied einige Minuten vor Bandbeginn anwesend sein sollte, dann kann als Gegenleistung zum Beispiel möglich sein, etwas früher zu gehen. Oder wenn jemand bereit ist, etwa für einen schlecht disponierten Kollegen einzuspringen, entsteht vielleicht das Recht, in einer anderen Schicht einen nicht so belastenden Arbeitsplatz zu bekommen. Und auch umgekehrt – wer auf Kosten von Kollegen einfach einige zu Stunden zu spät kommt, verwirkt solche moralischen Rechte, auf die man sich eine Anwartschaft erwerben muss. Da es gerade im Bereich der Anwesenheit und der Zeitdisposition um Belange geht, die unmittelbar das eigene existentielle Interesse der Arbeitnehmer berühren, wird dort der Nutzen von Grup-penarbeit und die unumgänglichen Opfer für sie sofort spürbar.

Man darf sich diesen Austausch jedoch nicht einfach nur als ein Geschäft ‚Zug um Zug’ vorstellen. Wer einen kleinen Schritt geht und einen Beitrag bringt, hat sich damit zunächst gleichsam eine moralische Option erworben, dafür etwas zurückzube-kommen, aber nicht unbedingt sofort. Der Wechsel kann auch später eingelöst wer-den, aber wichtig ist, dass in absehbarer Zeit das Gleichgewicht von Anreizen und Beiträgen wieder hergestellt wird.37 Unter dem Einfluss der Teamkoordinatoren gera-ten so die etablierten individuellen und kollektiven Anreiz-/ Beitragsstrukturen zu-nächst unmerklich und dann immer mehr ins Wanken. Erste, wenn auch kleine Vor-teile werden sichtbar. Der Versuch, sich zu entziehen, bleibt nicht ohne Feedback und auch nicht ohne Konsequenzen. Die Karten werden insgesamt neu gemischt und letzt-lich kann sich keiner entziehen, weil die Gruppe ein Interesse daran entwickelt, dass niemand auf Kosten der Gesamtheit lebt. Von ihr geht auch eine regulierende und zuweilen durchaus disziplinierende Wirkung aus.

Aber insgesamt muss vor allem der individuelle Nutzen von Teamarbeit erkenn-bar sein, damit die Bereitschaft entsteht, sich damit näher zu beschäftigen, sonst hat sie auf Dauer keine Chance. Dieser entsteht anfänglich durch eine Art von Güterab-wägung. Ein Interview-Partner äußerte etwa zum Thema der Anwesenheit einige Mi-nuten vor dem Schichtwechsel: ‚Was sind schon 5 Minuten, wenn man es genau be-trachtet. Dann kann ich dafür zum Beispiel mal früher gehen, wenn ich ein familiäres Problem habe.‘ Dieses Beispiel zeigt, dass anfänglich eher kurzfristige und sehr ma-

37 „Often it becomes necessary in organizational life, however, to make a request that exceeds routine expectations. Then people expect that one way or another, sooner or later, they will be compensated fairly for the acts they do above and beyond the obligations of their job. This re-quires that some form of ‚currency‘ equivalent be worked out, implicitly at least, to maintain balance and good feelings between those involved“ (Cohen/ Bradford 1991, 31).

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terielle ‚Währungen‘ in den Austauschbeziehungen im Vordergrund stehen. Harte Münze gilt als Garant für die Glaubwürdigkeit des Prozesses. Tauschvorgänge dieser Art bilden aber darüber hinaus den Nukleus für eine weitere Ausdehnung des Han-dels, der sich dann auf das Einbringen von Verbesserungsvorschlägen oder die Errei-chung der gesetzten Ziele beziehen kann. Die Gegenwerte können monetär sein, viel-leicht erweiterte Dispositionsspielräume oder auch einmal Sonderregelungen in der Arbeitszeit. Es treten aber zunehmend auch symbolische Gegenwerte auf, interessan-tere Arbeit, das Gefühl etwas bewegen zu können und ernst genommen zu werden. Die Aussicht, einmal ‚Team des Monats‘ für die beste Zielerreichungsquote in der Montage zu werden und einen Bonus für das Team zu gewinnen, erzeugt in den Gruppen beispielsweise einen erstaunlichen Ehrgeiz, großen Stolz, es erreicht, und ebenso großen Ärger, es knapp verfehlt zu haben

9. Wissen, Verständnis und Commitment

Damit wird die perspektivische Frage aufgeworfen, ob das Commitment mit dem Prozess und seinen Zielen auf dieser instrumentellen Ebene stehen bleibt oder ob weitergehende Einstellungsveränderungen möglich sind. Commitment ist für uns zu-nächst der Abgleichprozess zwischen Zielen, Motiven und Bedürfnissen der Mitar-beiter und den Zielen und Rahmenbedingungen von Organisationen. Das Commit-ment von Mitarbeitern kann unterschiedlich weit gehen, von der bloßen Entscheidung – auch mangels Alternativen –, zu bleiben, über Job- und Arbeitszufriedenheit (work bzw. job involvement) bis hin zum symbolischen Commitment, der Identifikation und aktiven Unterstützung der Unternehmensziele (vgl. ausführlich Moser 1996). Ge-meint ist eine generelle Handlungsbereitschaft, sich zielentsprechend zu verhalten. Commitment ist Voraussetzung für alle Ressourcen orientierte Führungskonzepte, in denen von Mitarbeitern einsichtsgestütztes Engagement und verantwortliche Selbst-steuerung verlangt wird (vgl. zusammenfassend Ridder et al. 2001, 110 ff.; Weinert 1998, 134 ff.).

In der Literatur zur lernenden Organisation wird ein weitgehendes commiment aller beteiligten Akteure, eine gemeinsame Vision, als Bedingung eines erfolgreichen Change-Prozesses vorgestellt.38 Insgesamt erscheint uns dieser Ansatz im Vergleich zu unseren Befunden als etwas sehr heroisch.39 Arbeitnehmer sind zumindest anfäng-lich eher nüchterner, orientieren sich nur zögernd an großen Entwürfen, bleiben ab-wartend und skeptisch, vor allem, wenn der Ausgangspunkt eine autoritäre, arbeitstei-

38 „... nothing happens without ‚personal transformation‘. And the only safe space to allow for this transformation is a learning community“ (Kofman/Senge 1995, 16).

39 „A shared vision, especially one that is intrinsic, uplifts people’s aspirations. Work becomes part of pursuing a larger purpose embodied in the organizations‘ products or services - ... The larger purpose can also be embodied in the style, climate, and spirit of organization“ (Senge 1990, 207 f.). Man muss sich bei solchen Formulierungen immer auch vorstellen, dass wir über Mitarbeiter im Dreischichtbetrieb und mit sehr belastenden Arbeitsbedingungen reden.

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34 Joachim Freimuth, Otmar Hauck, Tomke Asbahr: Struktur und Dynamik organisatorischen Erfahrungswissens

lige und technokratische Kultur war, die wenig Raum für Eigenverantwortung und Partizipation ließ. Sie orientieren sich zudem eher an ziemlich bodenständigen Le-bens- und Arbeitsperspektiven. Das soll nicht heißen, dass das Commitment von Ar-beitnehmern zu langfristigen Zielen der Organisationsentwicklung auf ein ausschließ-lich ökonomisches Interessenkalkül reduziert werden kann (vgl. dazu zusammenfas-send Kreps, 1997). Ohne inneren Einstellungswandel, der Verständnis und Akzeptanz von Zielen der Unternehmensentwicklung umschließt, kann man sicher nicht von ei-nem nachhaltigen Veränderungsprozess sprechen.40

Die Frage ist dann, wie kommt man dahin? Wie entsteht Verständnis und Ak-zeptanz für die visionären Ziele eines Change-Vorhabens, wie koppelt es sich an das vorhandene Arbeitsverständnis, und wie weitet es sich aus zu einer verbreiterten Per-spektive des eigenen Tuns? Aus unseren Beobachtungen ist das ein Prozess, der zu Anfang eher abwägend und abwartend ist, gekennzeichnet von Kalkülen und Interes-senwahrnehmung. Diese Phase ist jedoch ein notwendiges und wichtiges Durch-gangsstadium, in dem sich die Grundrisse einer Vertrauensbeziehung konstituieren können, in der sich instrumentelles zum symbolischen Commitment entwickelt (vgl. Abb. 3). Das ist durchaus vergleichbar mit der Beziehung zwischen langjährigen Ge-schäftsfreunden. Wenn man gemeinsam einige Transaktionen zum wechselseitigen Nutzen realisiert hat, entsteht parallel dazu auch eine Beziehung und Vertrauen, die mehr und mehr auf formale Regelungen, Kontrakte oder schriftliche Abkommen ver-zichten kann. Die Partner müssen sich jedoch zunächst als verlässlich und ehrlich er-leben, bevor sie sich auf größere und weitergehende Vorleistungen oder Risiken ein-lassen.

Wenn man Commitment definiert als Abgleichprozess zwischen individuellen und organisatorischen Interessen, Perspektiven und Werten, dann wird an unseren Befunden deutlich, dass man diesen Vorgang von der Evolution der Wissensbasen der Gruppe, ihrer erweiterten Perspektiven und Verantwortung, nicht trennen kann. Der S-förmige Verlauf der Darstellung soll andeuten, dass es sich um einen Wachs-tumsprozess handelt, in dem das Gruppenpotenzial mehr und mehr im Sinne der Un-ternehmensziele genutzt wird. Im gleichen Maße wird das ‚Gedächtnis’ der Gruppe mit Erfahrungen und Kompetenz angereichert. Aus eher defensiv eingestellten Indi-

40 „Economists typically argue that the formation of social groups can be explained as the result of voluntary contract between individuals who have made the rational calculation that coop-eration is in their long-term self interest. By this account, trust is not necessary for coopera-tion: enlightened self-interest, together with legal mechanisms like contracts, can compensate for an absence of trust and allow strangers jointly to create an organization that will work for a common purpose. Groups can be formed at any time based on self-interest, and group for-mation is not culture-dependent.

But while contracts and self-interest are important sources of association, the most effective organizations are based on communities of shared ethical values. These communities do not require extensive contract and legal regulation of their relations because prior moral consen-sus gives members of the group a basis for mutual trust“ (Fukuyama 1995, 26).

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viduen konstituiert sich eine Gruppe, die zunächst eine instrumentelle Attitüde zur Gruppenarbeit und ihren Zielen einnimmt. Diese geht langsam, schrittweise und mit vielen Rückfällen über in symbolisches Commitment. Es ist den entwickelten Teams nicht gleichgültig, wo sie stehen, es erfüllt sie auch mit Stolz, wenn sie ihre Ziele er-reicht haben und das nach außen auch dokumentiert wird. Symbolisches Commitment als wechselseitiges Vertrauen und Identifikation mit den organisatorischen Zielen ist verbunden mit dem tieferen Verständnis der eigenen Arbeit und Rolle sowie dem Er-leben von Einfluss und Kompetenz, das ist unsere These. Dort sind wir im Prozess noch lange nicht, es werden sicher auch nicht alle Mitarbeiter erreicht und nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Wie weit dieser Prozess geht, werden wir hoffentlich in einer späteren Evaluation zeigen können.

Abb. 3: Wissen und Commitment als Prozess

+ Potenzial Symbolisches Performance Commitment Instrumentelles Organizational Commitment Memory t Defensive Routinen -

10. Ausblick

Es ist aus den Ausführungen auch deutlich geworden, dass in den letzten zwei Jahren der Schwerpunkt des Prozesses auf der Teamentwicklung und der Rolle der Teamkoordinatoren lag. Hier ist Einiges bewegt und Potenziale sind entfaltet worden. Darüber hinaus, und das werden die nächsten Prozessschritte sein, muss es gelingen, auch die klassischen Führungsrollen, Meister und Abteilungsleiter, stärker und nach-haltiger einzubeziehen. Wir setzen darauf, dass die Signale, die das Management dann an die Mitarbeiter gibt, weitere Kohärenz und Glaubwürdigkeit bekommen und der Prozess an Stabilität und Nachhaltigkeit gewinnt. Parallel dazu wird an einer Vielzahl von weiteren Konzepten und Systemen gearbeitet, die zum klassischen Re-

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36 Joachim Freimuth, Otmar Hauck, Tomke Asbahr: Struktur und Dynamik organisatorischen Erfahrungswissens

pertoire einer lernenden Fabrik gehören, innovative Entgeltkonzepte, Qualitätsmana-gement etc.

Literatur

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