Strukturen gebauten Raums und architektonische Raumbildung

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Karsten Schubert Körper Raum Oberfläche Strukturen gebauten Raums und architektonische Raumbildung Gebr. Mann Verlag Berlin

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Karsten Schubert

Körper Raum Oberfläche

Strukturen gebauten Raumsund architektonische Raumbildung

Gebr. Mann Verlag Berlin

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Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT

Die vorliegende Arbeit wurde von der Fakultät für Architekturdes Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) als Dissertation angenommen.Mündliche Prüfung: 10.07.2014

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Gestaltung: Nicola Gerndt • BerlinSchrift: FF ScalaPapier: Lessebo rough ivory, 100 g/m2 Druck und Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG • Göttingen

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… Es liegt ein äußerst einfaches optisches Problem vor. Um einen Gegen-stand zu sehen, müssen wir das Auge auf bestimmte Art akkommodieren. Ist unsere Akkommodation unzweckmäßig, sehen wir den Gegenstand gar nicht oder schlecht. Angenommen, wir betrachten einen Garten durch eine Fensterscheibe. Unser Auge wird sich so einstellen, dass der Sehstrahl das Glas ohne Aufenthalt durchdringt, um sich in Blumen und Laub zu verfangen. Je klarer das Glas, um so weniger sehen wir es. Aber nun stellen wir uns um; wir sehen vom Garten ab; wir ziehen den Seh-strahl zurück und richten ihn auf das Glas. Alsbald verschwimmt der Garten für un-ser Auge; wir sehen von ihm nur Massen undeutlicher Farbe, die hinter der Scheibe zu kleben scheinen. Den Garten sehen und das Glas des Fensters sehen, sind zwei unverträgliche Akte: der eine schließt den anderen aus; sie verlangen verschiedene Augeneinstellung.

Ganz ebenso wird das Kunstwerk nicht sehen, wer darin die rührenden Schicksale von Hans und Grete oder Tristan und Isolde sucht und seinen geistigen Empfangsapparat darauf einstellt. Tristans Leid ist nur leidvoll und kann daher nur rühren in dem Maße, wie es als wirkliches erlebt wird. Aber es gilt der Satz, dass der Gegenstand der Kunst nur künstlich ist in dem Maße, wie er nicht wirklich ist. Wol-len wir Tizians Reiterbildnis Karls V. genießen, so ist die erste Bedingung die, dass wir darin nicht Karl V. in Person sehen, wie er leibte und lebte, sondern ein Portrait, den Schein eines Wirklichen, ein Abbildendes. Der Dargestellte und die Darstellung sind zwei völlig verschiedene Dinge; wir interessieren uns entweder für das eine oder für das andere. Im ersten Fall „leben“ wir mit Karl V., im zweiten „betrachten“ wir einen Kunstgegenstand.

Die meisten Leute nun sind unfähig, ihre Aufmerksamkeit auf das Glas und das Durchsichtige zu richten, das Kunstwerk heißt. Statt dessen sehen sie durch es hindurch, ohne daran hängenzubleiben, und vertiefen sich in die menschliche Wirklichkeit, auf die darin angespielt wird. Fordert man sie auf, diese ihre Beute fahren zu lassen und das Kunstwerk selbst zu betrachten, so werden sie behaupten, dass sie nichts sehen, weil es dann in der Tat nichts Menschliches zu sehen gibt, son-dern nur Durchsichtigkeiten, reine Virtualitäten.

José Ortega y Gasset

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Inhaltsverzeichnis6

Vorwort Einführung

Erster Teil: Körper Raum Oberfläche

1.1 Das Raumproblem und die Thematisierung der Oberfläche1.1.1 Wem gehört die Grenzfläche zwischen Körper und Raum?1.1.2 Liegen die Flächen, die wir sehen, nebeneinander oder hintereinander?1.1.3 Zu welchem Raum gehört die Grenze zwischen zwei Räumen?1.1.4 Ist die Begrenzung des Körpers Oberfläche eines Stoffes oder Träger der Form?1.1.5 Die vier Erscheinungsweisen der Fläche: Oberfläche, Grenzfläche, Projektionsfläche und Blockfläche

1.2 Anmerkungen zum Ausgangspunkt der Untersuchung und der gewählten Beschreibungsmethode

1.3 Das Problem der Oberfläche Exkurs: Die Pilasterformen der Alten Sakristei als Ausdruck der verschiedenen Weisen des Raums

1.4 Die raumbildende Form1.4.1 Kritik bisheriger typologischer Modelle zur Beschreibung von Raumbildungsprinzipien Exkurs: Fraktale Formen der Raumgliederung1.4.2 Der architektonische Raum nach Dom Hans van der Laan1.4.3 Die aus den Anordnungsmöglichkeiten von Flächen sich ergebenden typologischen Unterscheidungen gebauten Raums1.4.4 Die aus der Raumdefinition durch gegenüberliegende Flächen sich ergebenden Grundmomente gebauten Raums1.4.5 Der diskrete Raum1.4.6 Zusammenwirken und Wechselwirken der raumbildenden Grundmomente1.4.7 Additive und subtraktive Raumbildungstypen

1.5 Die vier Ambivalenzen gebauten Raums1.5.1 Der Umschlag der Oberfläche und die Ambivalenz von konkav und konvex1.5.2 Der Umschlag des Umrisses und die Ambivalenz von Figur und Grund1.5.3 Der Umschlag der Form und die Ambivalenz von voll und hohl1.5.4 Der Umschlag des Raums und die Ambivalenz von innen und außen1.5.5 Die Ambivalenzen gebauten Raums sind Darstellungsformen der Fläche

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1.6 Diskontinuierlicher, diskreter, fragmentierter und kontinuierlicher Raum

1.7 Ausblick auf weitere Aspekte der Bildung gebauten Raums1.7.1 Geometrische Aspekte gebauten Raums1.7.2 Chorologische Aspekte gebauten Raums1.7.3 Topologische Aspekte gebauten Raums

Zweiter Teil: Sinn Raum Struktur

2.1 Das Problem des Raums und Ansätze zu seiner Strukturierung

2.2 Raum als „Ordnung im möglichen Beisammen“ nach Ernst Cassirer2.2.1 Der mythische Raum2.2.2 Der ästhetische Raum2.2.3 Der theoretische Raum

2.3 Bestimmtheitsrichtungen gelebten Raums nach Graf Karlfried von Dürckheim

2.4 Die vier möglichen Sinnrichtungen und die aus ihnen abgeleitete noologische Struktur nach Paul Frankl

2.5 Über die Ursprünge unterschiedlicher Raumbegriffe2.5.1 Die etymologischen Bedeutungen von Raum: rum und spatium2.5.2 Raumbegriffe der griechischen Antike: chaos, chora, topos2.5.3 Zusammenhang der ursprünglichen Raumbegriffe von rum, spatium, topos und extensio nach Martin Heidegger

2.6 Präsentischer und historischer Raum bei Erwin Straus

2.7 Mythischer Raum, physiognomischer Raum, gestimmter Raum, präsentischer Raum als Grundtypen je eigener Raumstrukturen

2.8 Verschränktheit als kennzeichnendes Merkmal dualistischer Raummodelle

Zusammenfassung Verzeichnis der verwendeten Literatur Weitere berücksichtigte Literatur zur Theorie des architektonischen Raums Abbildungsnachweis Dank

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Vorwort8

Die ersten Vorarbeiten zu diesem Buch gehen zurück auf meine Erfahrungen in der Architektur-lehre. Ich stellte fest, dass die von einer wissenschaftlich orientierten Schulausbildung gepräg-ten Studenten für rationale Erklärungsmodelle weit empfänglicher waren gegenüber Methoden des Kopierens, des Nachempfindens oder anderer analoger Verfahren, welche in früheren Zeiten die Architekturausbildung prägten. Also entwickelte ich schon früh für die Lehre einsetzbare theoretische Modelle, noch bevor ich den Plan zur vorliegenden Publikation fasste. Die theore-tisch-abstrakte Denkweise inspirierte gleichzeitig meine eigene praktische Arbeit als Architekt. Theoretische Modelle und praktische Experimente bilden letztlich gleichermaßen den Ausgangs-punkt für die vorliegende Untersuchung.

Walter Nägeli ermöglichte durch die an seinem Lehrstuhl vorherrschende unideo-logische Offenheit und theoretische Neugierde, dass die hier dargelegten Gedanken entwickelt werden konnten. Er lieferte aber vor allem mit dem Thema des architektonischen Raums einen Schlüssel, mit dem historische wie moderne Architektursprache auf ihren (gemeinsamen) geisti-gen Kern zurückzuführen waren.

Weitere Impulse für die vorliegenden Forschungen gingen aus von Johannes Uhl und Hans Kollhoff. Johannes Uhl brachte mir die Lesarten, die in den ambivalenten Formschöpfun-gen eines Peter Behrens oder Karl Friedrich Schinkels angelegt sind, nahe. Er legte damit den Grundstock für mein Architekturverständnis. Hans Kollhoff verdanke ich die Hinführung zum logischen Architektursystem Filippo Brunelleschis und der Architektursprache der Renaissance.

Walter Nägelis Beschäftigung mit der Theorie des architektonischen Raums motivierte mich schlussendlich zu vertiefter Forschungsarbeit. Einen deutlichen Niederschlag finden seine Über-legungen unter anderem in seinem in dieser Arbeit verwendeten Begriff des Basilika-Paradoxons.

Eine der größten Schwierigkeiten bei der Erarbeitung eines allgemeingültigen, unterschiedlichen Architektursprachen zugrunde liegenden logischen Systems, war die Wahl des richtigen Medi-ums zu dessen Formulierung. Allein sprachliche oder allein logisch-mathematische Methoden erwiesen sich als zu wenig anschaulich. Die Illustrierung und Herleitung der analysierten Phäno-mene mit Hilfe gebauter Beispiele erschien unausweichlich.

Paradoxerweise zeigt sich erst in der konkreten Ausgestaltung der architektonischen, materiellen Form deren geistiger, nicht-materieller Bedeutungsgehalt. Der Hinweis auf konkrete Bauten scheint aber andererseits den allgemeinen Anspruch der aus ihrer Analyse hergeleite-ten Schlussfolgerungen einzuschränken. Noch dazu gerät die Auswahl der herangezogenen Bei-spiele zu einem kritischen Unterfangen.

Ein zweiter sich anbietender Weg, die Erstellung diagrammatischer Grundrissgrafiken, führt zwar leichter zu einer allgemeingültigen Formulierung, ist aber durch den Mangel gekenn-zeichnet, bloß stellvertretend für ein Phänomen zu stehen, das von der grafischen Darstellung nicht selbst hervorgebracht wird. Noch dazu entziehen sich die räumlichen Vorstellungen, die durch einen angedeuteten Grundriss beim Betrachter angeregt werden, letztlich der Einflussnahme durch den zeichnenden Verfasser; es werden mitunter ganz andere Bilder erzeugt als die intendierten.

Das Darstellungsproblem wurde von mir pragmatisch angegangen: Alle vier oben genannten Methoden kommen zur Anwendung. Sprachliche Beschreibung, mathematisch-logi-sche Formulierung, Analyse gebauter Beispiele sowie Übersetzung der vorgefundenen Phäno-mene in diagrammatische Grafiken finden gleichermaßen Anwendung und ergänzen sich, das mit ihnen Gemeinte letztlich von vier Seiten her einkreisend.

Vorwort

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Auch die Auswahl der herangezogenen Beispiele erfolgte pragmatisch. Eigene Vorträge, deren Themen sich zum Teil aus Tagungsprogrammen entwickelten, Lehrveranstaltungen, Reisen und bereits vorliegende Analysen zu bestimmten Bauten, auf denen aufgebaut werden konnte, bilden den Ausgangspunkt. Die Konzentration erfolgt auf Bauten, mit denen ein bestimmter Sachver-halt möglichst plakativ und eindeutig gezeigt werden kann. Einige Bauten, wie der Umbau der Prager Burg durch Josef Plečnik, bestimmte Architekten, wie Filippo Brunelleschi, Karl Friedrich Schinkel, Ludwig Mies van der Rohe oder Oswald Mathias Ungers und spezi-fische Beschreibungen, wie jene der Architektur der sizilianischen Stadt Noto durch Paul Hofer, sind an verschiedenen Stellen des Textes eingewoben und bilden je eigene Erzählstränge, die sich mit der eigentlichen Inhaltsstruktur vielfältig verflechten.

Insofern gibt es verschiedene mögliche Lesarten des vorliegenden Buches. Die Rei-henfolge der Kapitel folgt weitestgehend einem verständnisorientierten Blick, die inhaltlichen Bezüge zwischen den verschiedenen Themen rechtfertigen aber gleichermaßen andere mögliche Abfolgen. Die lineare Erzählstruktur ist dem Medium des Schreibens und des Buches geschuldet, für den hier dargelegten Inhalt aber oft eher hinderlich – die zahlreichen Verweise in Fußnoten auf andere Textstellen sind Ausdruck dieses Dilemmas. Auch entspricht die hier vorgenommene Gliederung nicht der chronologischen Reihenfolge der – inhaltlichen wie textlichen – Entstehung der einzelnen Abschnitte.

Erst im fortgeschrittenen Stadium der Bearbeitung stieß ich in einer abschließenden Über-prüfung der relevanten Literatur auf Paul Frankls noologische Sinnstruktur, die er in seinem System der Kunstwissenschaft (Brünn/Leipzig 1938) entwickelt. Die dort dargelegte viergliedrige Struktur gleicht formal nicht nur zahlreichen Gliederungssystemen, die Frankl und seine Schü-ler für verschiedene Themenbereiche verwenden, sondern kann als universelle Gliederungsstruk-tur begriffen werden, die in allen Wissensbereichen immer wieder – wenn auch oft unbewusst – zur Anwendung kommt.

Für meine eigenen Forschungen erwies sich die noologische Gliederungsmethode als hilfreich, um für die verschiedenen Teilbereiche ganzheitliche Phänomene vollständig und hinlänglich genau abbilden zu können. Die Anwendung der Methode erfolgte wiederum prag-matisch im Hinblick auf das Potenzial, verschiedene Analysegegenstände in eine nicht-kausale Beziehung zueinander setzen zu können im Sinne des von C. G. Jung definierten synchronisti-schen Prinzips.1

Damit erhielt die Arbeit eine weitere, formal-logische Ebene, die – unabhängig vom eigentlichen Untersuchungsgegenstand der raumbildenden Form – über hohe Relevanz verfügt und prinzipiell verallgemeinerbar zu sein scheint für die Beschreibung räumlicher Phänomene auch in anderen Wissenschaftsbereichen.

Dies ist eines von mehreren in dieser Arbeit angerissenen Problemfeldern, deren gründliche Erforschung hier nicht geleistet werden kann, die aber durch dieses Buch, so hoffe ich, angestoßen werden kann.

1 C. G. Jung nennt das synchronistische Prinzip erstmals in einem Nachruf auf Richard Wil- helm: Neue Zürcher Zeitung, CLI/1 vom 6. März 1930, in: C. G. Jung, Gesammelte Werke, Bd. 15, Düsseldorf 1971, S. 63, 66. Siehe auch: C. G. Jung: „Synchronizität als ein Prinzip akausaler Zusammenhänge“, in: C. G. Jung, Wolfgang Pauli, Naturerklärung und Psyche, Zürich 1952.

Vorwort