Studien Arbeit

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1 1. Einleitung Geiselnahmen, insbesondere von Kindern oder Personen, die in der Öffentlichkeit stehen, erregen in besonderem Maße die Gesellschaft. Sie fokussieren das öffentliche Interesse auf sich und sind Fixpunkt medialer Arbeit; durchgeführt von Tätern, die nicht nach bloßer Aufmerksamkeit streben, sondern durch ihre Tat bestimmte Ziele verfolgen, sei es Geld, politisches Gehör oder Amnestie. Geiselnahmen stellen die betroffenen Opfer vor große Probleme. Ihre Existenz wird von fremden Menschen bedroht, die sich ihrem Dasein bemächtigen, um es als Nötigungsmittel einzusetzen. Abgeschottet von der Außenwelt, auf die Gutmütigkeit der Täter angewiesen, unwissend, was im nächsten Augenblick passieren wird, durchleiden sie Todesängste. Viele ehemalige Geiseln versuchen, sofern es ihnen möglich ist, das Trauma Geiselnahme zu verarbeiten, indem sie Bücher über die Zeit während und nach der Geiselnahme verfassen. Inhalt dieser Traumabewältigung ist nicht nur lediglich eine chronologische Nacherzählung der Ereignisse. Die Opfer beschäftigen sich meist ausführlich mit vielen Komponenten, die die Geiselnahmen ausmachten. Sie berichten über angebliche Solidarisierungen mit ihren Peinigern. Sie hinterfragen kritisch ihr eigenes Verhalten während der Geiselnahme. Mitunter tadeln sie die mediale Berichterstattung während und nach der Geiselnahme, sprechen von Diffamierungen in der Gesellschaft durch die falsche Berichterstattung. Diese Hausarbeit wird nach einem kurzen geschichtlichen Abriss über die Entwicklung von Geiselnahmen aus strafrechtlicher Sicht den Schwerpunkt auf die Täter-Opfer Beziehungen legen, die bei Geiselnahmen vermehrt auftreten. Es werden unter Berücksichtigung des Stockholm-Syndroms die möglichen Ursachen für Solidarisie- rungseffekte, emotionale Hinwendungen und die mitunter auftretende Ablehnung der Polizei durch die Geiseln erörtert. Es folgt eine Abhandlung über die Verarbeitung traumatischer Ereignisse der Geiseln. Dabei wird untersucht, welchen Einfluss die mediale Berichterstattung auf die Viktimisierung der Geiseln und die Verarbeitung der Erfahrungen durch die Geiseln hat. Darauf aufbauend wird dargestellt, inwieweit Pressearbeit auf den Ablauf der Geschehnisse Einfluss haben kann. Als Illustration dafür werden die Erlebnisberichte von ehemaligen Geiseln herangezogen.

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1. Einleitung

Geiselnahmen, insbesondere von Kindern oder Personen, die in der Öffentlichkeit

stehen, erregen in besonderem Maße die Gesellschaft. Sie fokussieren das öffentliche

Interesse auf sich und sind Fixpunkt medialer Arbeit; durchgeführt von Tätern, die

nicht nach bloßer Aufmerksamkeit streben, sondern durch ihre Tat bestimmte Ziele

verfolgen, sei es Geld, politisches Gehör oder Amnestie.

Geiselnahmen stellen die betroffenen Opfer vor große Probleme. Ihre Existenz wird

von fremden Menschen bedroht, die sich ihrem Dasein bemächtigen, um es als

Nötigungsmittel einzusetzen. Abgeschottet von der Außenwelt, auf die Gutmütigkeit

der Täter angewiesen, unwissend, was im nächsten Augenblick passieren wird,

durchleiden sie Todesängste.

Viele ehemalige Geiseln versuchen, sofern es ihnen möglich ist, das Trauma

Geiselnahme zu verarbeiten, indem sie Bücher über die Zeit während und nach der

Geiselnahme verfassen.

Inhalt dieser Traumabewältigung ist nicht nur lediglich eine chronologische

Nacherzählung der Ereignisse. Die Opfer beschäftigen sich meist ausführlich mit vielen

Komponenten, die die Geiselnahmen ausmachten. Sie berichten über angebliche

Solidarisierungen mit ihren Peinigern. Sie hinterfragen kritisch ihr eigenes Verhalten

während der Geiselnahme. Mitunter tadeln sie die mediale Berichterstattung während

und nach der Geiselnahme, sprechen von Diffamierungen in der Gesellschaft durch die

falsche Berichterstattung.

Diese Hausarbeit wird nach einem kurzen geschichtlichen Abriss über die Entwicklung

von Geiselnahmen aus strafrechtlicher Sicht den Schwerpunkt auf die Täter-Opfer

Beziehungen legen, die bei Geiselnahmen vermehrt auftreten. Es werden unter

Berücksichtigung des Stockholm-Syndroms die möglichen Ursachen für Solidarisie-

rungseffekte, emotionale Hinwendungen und die mitunter auftretende Ablehnung der

Polizei durch die Geiseln erörtert. Es folgt eine Abhandlung über die Verarbeitung

traumatischer Ereignisse der Geiseln. Dabei wird untersucht, welchen Einfluss die

mediale Berichterstattung auf die Viktimisierung der Geiseln und die Verarbeitung der

Erfahrungen durch die Geiseln hat. Darauf aufbauend wird dargestellt, inwieweit

Pressearbeit auf den Ablauf der Geschehnisse Einfluss haben kann.

Als Illustration dafür werden die Erlebnisberichte von ehemaligen Geiseln

herangezogen.

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2. Entwicklung der Geiselnahme aus strafrechtlicher und sozialwissen-

schaftlicher Sicht

Die Geiselnahme zählt zu den Archetypen des Rechts und reicht bis in die

Frühgeschichte zurück.

In der früheren Privatrechtsgeschichte wurden die Geiseln als Pfand angesehen, die mit

ihrem Leib und ihrem Leben für Verbindlichkeiten hafteten. Grundlage der

Vergeiselung waren meist freiwillige Verträge zwischen den betreffenden Personen.

Die Folge eines Nichteinhalten von vertraglichen Verbindlichkeiten war, dass die

Geisel dem Gläubiger verfiel. Hierbei spielte es keine Rolle, ob die Geisel für ein

eigenes oder für ein drittes Rechtsgut bürgte.

Diese Garantie mit dem Leib oder Leben für eine Forderung verlor im Mittelalter an

Bedeutung. Die sich dort entwickelte Bürgschaft könnte Folge der freiwilligen

Vergeiselung gewesen sein.

Im Kriegs- und Völkerrecht hingegen behielt die Geiselnahme ihre Rolle noch bis zum

18. Jahrhundert bei. Hier dienten die Geiseln als Sicherheit, die für die Einhaltung von

politischen Vereinbarungen bürgen sollten. Letztmals wurden politische Geiseln beim

Friedensvertrag von Aachen im Jahre 1748 zwischen Frankreich und Großbritannien

gestellt.

Ab Mitte des 18. Jahrhunderts verdrängten die einseitigen Geiselnahmen die

vertraglichen zunehmend. Besonders exzessiv vollzogen dies die deutschen

Besatzungstruppen im zweiten Weltkrieg in der Balkanregion, geduldet von der

herrschenden Meinung im Völkerrecht.

In der heutigen Zeit spielt die Geiselnahme im internationalen Terrorismus, auf den

gewissen kriegerischen Charakter reflektiert, eine bedeutende Rolle. Auf die

exemplarisch ausgewählten Fallbeispiele wie unter anderen die Entführung des

Arbeitgeber-Präsidenten Hanns Martin Schleyer im Jahre 1977 durch die R.A.F. und

die Geiselnahme von mehreren Europäern in Jolo werde ich im Verlaufe meiner

Ausführungen näher eingehen.

Die „klassische“ Geiselnahme, die Geiselnahme im Zwei-Personen-Verhältnis, bekam

erst im letzten Jahrhundert ihre gesellschaftliche und somit auch strafrechtliche

Würdigung. Grundlage für die gesellschaftliche Ächtung waren stets spektakuläre

Bemächtigungen anderer Personen wie 1932 die Entführung des Lindbergh Kindes

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(Grundlage für die Einführung des § 239a StGB) und dessen anschließende Tötung

sowie die Einführung des § 239b StGB mit Blick auf das Münchener Geiseldrama.1

3. Täter-Opfer Beziehungen

Bei Geiselnahmen besteht zwingender Weise eine räumliche Nähe zwischen

Geiselnehmer und Opfer. Die Personen, deren Situationen unterschiedlicher nicht sein

können, treten zwangsläufig in eine Interaktion, sei es auf verbaler, kommunikativer

Ebene oder lediglich nonverbal. Diese Interaktion legt den Grundstein für das

Herausbilden von Verhaltensmustern. Schon häufig wurde bei Geiselnahmen, die über

einen längeren Zeitraum hinausgingen festgestellt, dass Täter und Opfer plötzlich

harmonieren, sich solidarisieren und sogar eine emotionale Bindung aufbauen. Eine

Verhaltensweise, die für den außenstehenden Rezipienten auf den ersten Blick nicht

nachvollziehbar ist.

Im Folgenden sollen, anhand von Berichterstattungen ehemaliger Geiseln, die Facetten

solcher Täter-Opfer-Beziehungen dargestellt und die möglichen Ursachen für die sich

entwickelnde Beziehungsdynamik erörtert werden.

Jan Philipp Reemtsma

Der Soziologe und Zigarettenerbe Jan Philipp Reemtsma wurde am 25.März 1996 vor

seinem Haus niedergeschlagen und verschleppt. Die folgende Geiselnahme dauerte 33

Tage. In dieser Zeit hielten ihn die Täter ausschließlich in einem Keller, angekettet an

einer Wand, fest. Die Entführer forderten erst 20 Millionen, später gar 30 Millionen D-

Mark Lösegeld.

Während seiner Zeit im Keller schrieb Jan Philipp Reemtsma ein kleines Tagebuch,

welches die Grundlage für sein nach der Freilassung verfasstes Buch sein sollte2. Er

schreibt in diesem Buch, dass die Geiselnehmer ihm täglich frisches Wasser brachten,

ihn mit regelmäßigen Mahlzeiten versorgten und auf sein Bitten ihm sogar Bücher zum

Lesen gaben. Die Täter bezeichneten diese Entführung immer wieder als „Deluxe-

Entführung“. Sie achteten während der Geiselnahme regelmäßig darauf, dass die

„Außenwelt“ Lebensbeweise von Reemtsma erhielt, indem sie ihn aufforderten, Briefe

an seine Frau zu verfassen.

1 Vgl. dazu Zschieschack, Geiselnahmen und erpresserischer Menschenraub. S 19ff 2 Siehe Reemtsma, Im Keller, S.206

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Reemtsma fühlte sich in seinem Keller wie aus dem Leben gefallen3. Mit jedem Tag

länger in der Isolation litt seine Psyche. Da die Entführer bei den ersten drei Versuchen

der Geldübergabe vermuteten, dass die Polizei, deren Mitwirken sie ausdrücklich

untersagt hatten, sich in der Nähe des Ortes der Geldübergabe befand, scheiterten diese.

Reemtsma glaubte, dass der vierte Versuch der letzte sein könnte und wies seine

Ehefrau in einem weiteren Brief an, die Polizei aus deren Wohnhaus zu schicken und

Bekannte mit der Geldübergabe zu beauftragen. Er begann sogar damit, eigene Pläne

für die Geldübergabe zu entwickeln4. Doch die Geldübergabe glückte und Reemtsma

wurde zwei Tage später aus seiner Gefangenschaft entlassen und kehrte zu seiner Frau

zurück.

Während der Gefangenschaft stellte sich bei ihm ein merkwürdiges Phänomen ein.

Obwohl er tiefsten Hass und Abneigung nach der Freilassung gegenüber seinen

Peinigern empfand und auch während der Gefangenschaft hätte empfinden müssen gab

es Momente während der Zeit in der Gefangenschaft, in denen er sich nichts

Sehnlicheres gewünscht hatte, als die Stimmen seiner Peiniger zu hören. Es ging sogar

so weit, dass er insgeheim danach verlangte, dass der Brite (so nennt Reemtsma einen

seiner Entführer in seinem Buch) zu ihm komme, um dessen Hand auf seine Schulter zu

legen und ihn zu trösten. Zu dem Briten hatte Reemtsma eine besondere „Beziehung

aufgebaut“. Er war der Einzige, der sich mit Reemtsma unterhielt. Ein Gespräch

empfand Reemtsma sogar als das Angenehmste, was er in dem Keller erfahren hatte5.

Susanne Siegfried und Nicola Fleuchaus

Die Entführung der beiden Frauen fand am 1. Januar 1996 auf Costa Rica statt.

Zusammen mit Freunden feierten sie Sylvester, als mehrere Befreiungskämpfer

auftauchten und sie entführten. Es folgte eine Odyssee von 72 Tagen. Die beiden

Frauen zogen mit ihren Geiselnehmern in dieser Zeit durch den Urwald, von Camp zu

Camp, immer auf der Flucht vor der Armee, die die Frauen befreien sollte. In dieser

Zeit, geprägt von vielen Gesprächen entwickelte sich eine Art „Beziehung“ zwischen

Nicola Fleuchaus und einem der Entführer (Talamanca). Kurz nach deren Freilassung

tauchte ein Foto in der Presse auf, das um die Welt ging. Nicola Fleuchaus küsste einen

ihren Entführer6.

3 Hierzu Reemtsma, Im Keller S.73ff 4 Vgl. Reemtsma, Im Keller S. 139 ff 5 Siehe Reemtsma, Im Keller, S.170 6 Siehe Siegfried/Siegfried, Entführung in Costa Rica, S 210

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Susanne Siegfried beschreibt in ihrem Buch chronologisch und detailliert deren

Entführung. Wie sie von Camp zu Camp zogen, mithalfen, die Lagerplätze zu säubern,

um keine Spuren zu hinterlassen. „Wir waren über jede Handreichung dankbar“7, so

Siegfried. Nach einiger Zeit begannen beide zu Talamanca Vertrauen aufzubauen, sie

betrachteten ihn als Beschützer, fühlten sich bei ihm sicher. Immer wenn Talamanca

eines der Camps verlassen musste, um Nahrung zu besorgen, hofften sie, dass er

zurückkommen würde. Talamanca selbst fühlte sich zu Nicola Fleuchaus ebenfalls

hingezogen. Er machte ihr Komplimente und bezirzte sie. Es entwickelte sich eine

Romanze zwischen den beiden.

Auch nach der Festnahme ihrer Entführer empfinden beide Opfer keinen Hass und

schwelgen auch nicht in Rachegedanken gegenüber ihren Peinigern.

Paradoxe Phänomene

In beiden Berichterstattungen werden Phänomene geschildert, die auf den ersten Blick

paradox erscheinen. Reemtsma fühlt sich plötzlich zu seinem Peiniger hingezogen,

möchte Zuneigung von ihm erhalten. Auch Fleuchaus, bei der dieses Phänomen noch

weitaus stärker auftritt, entwickelt eine emotionale Bindung zu ihrem Entführer.

Talamanca fragt sogar, ob Nicola es sich vorstellen könne auf Costa Rica zu leben8. Es

besteht somit seitens des Entführers eine emotionale Bindung seinem Opfer. Aber auch

Susanne Siegfriede wendet sich von den Tätern nicht ab, entwickelt Verständnis für

deren Handlungen und fühlt sich bei ihnen sicher, wenn die Armee wieder anrückt um

zu versuchen sie zu befreien9.

In der Wissenschaft nennt man dieses Phänomen, wenn Täter und Opfer eine

emotionale Beziehung aufbauen, das Stockholm-Syndrom.

Nachdem dieses Syndrom dargestellt worden ist, werden die psychologischen

Mechanismen erläutert, die für die Verhaltensweisen, die das Syndrom beschreibt,

verantwortlich sein können.

7 Zitat aus: Siegfried/Siegfried, Entführung in Costa Rica, S 84 8 Vgl. Siegfried/Siegfried, Entführung in Costa Rica, S.121 9 Vgl. Siegfried/Siegfried, Entführung in Costa Rica, S. 142

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3.1 Stockholm-Syndrom

Hintergrund:

Am 23. August 1973 überfielen zwei Geiselgangster eine Bankfiliale in der

Stockholmer Innenstadt und nahmen vier Angestellte als Geiseln. Die Geiselnahme

dauerte fast sechs Tage an. Die Geiseln, festgehalten in einem Tresorraum, hatten

lediglich über die Presse Kontakt mit der Außenwelt. In den gegebenen Interviews

berichteten die Geiseln zur Verwunderung vieler, dass es sie bedrücke, dass die Polizei

vielleicht angreifen würde und dabei nicht nur die Geiselnehmer, sondern auch sie

selbst töten könnte. Die mitgelieferte Beruhigung stieß auf noch weniger Verständnis.

So gab eine Geisel an, dass sie dennoch kaum Angst hätten, denn einer der

Geiselnehmer würde sie vor der Polizei beschützen. Im Verlauf der Geiselnahme

unterhielten sich die Geiseln mit den Tätern mehrfach. Sie duzten sich und bauten eine

persönliche Beziehung zu ihnen auf. Im Nachhinein berichteten die befreiten Geiseln,

dass sie keine Angst gegenüber ihren Peinigern empfunden hätten, sondern vielmehr

Dankbarkeit darüber, dass die Täter sich als sehr großzügig erwiesen und ihnen das

Leben geschenkt hätten. Diese emotionale Bindung an die Täter ging soweit, dass sie

jene noch lange Zeit nach der Befreiung im Gefängnis besuchten. Eine Geisel verlobte

sich gar mit einem der Täter10.

Da dieses Verhalten von Geiseln bis dahin unbekannt war, erhielt es den Begriff

Stockholm-Syndrom.

Das wohl extremste Beispiel für das Vorliegen eines Stockholm-Syndroms liefert die

Entführung von Patricia Hearst aus dem Jahre 1974 Sie wurde von einer politisch

revolutionären Gruppe entführt und zwei Monate lang mit verbundenen Augen in

einem kleinen Keller festgehalten. In dieser Zeit, in der sie nach ihren Angaben die Zeit

gehabt hatte, sich der Gruppe anzuschließen oder exekutiert zu werden, avancierte sie

von dem Geiselopfer zur Terroristin. Erst nach mehreren Anschlägen und Attentaten

wurde sie im Jahr 1975 festgenommen.11

Merkmale des Stockholm-Syndroms

Dem Wortlaut nach, handelt es sich bei dem Stockholm-Syndrom um ein

Psychopathologisches Phänomen. Dieser Begriff drückt aus, dass die Personen, die

darunter leiden, in ihrem Verhalten und Agieren sowie in ihrem Wahrnehmen und

Denken soweit von der Norm abweichen, dass eine krankhafte Störung vorliegt. Es 10 Vgl. Wieczorek, Das sog. Stockholm-Syndrom; Kriminalistik 7/03 S.429 11 Dazu http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/11/0,18722042091,00.html Autor unbekannt

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handelt sich bei den Geiseln um ein Verhalten, „dass sie unter normalen Bedingungen

mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit nie zeigen würden“ so der Dipl.-Psych.

Wieczorek.12 Kennzeichnend für das Stockholm-Syndrom sind folgende Merkmale:

- Die Geiseln entwickeln positive Gefühle gegenüber den Tätern und nehmen sie

vor der Polizei in Schutz.

- Geiseln entwickeln negative Gefühle gegenüber der Polizei, sodass sie die

Täterforderungen gegenüber der Polizei vertreten und auch wie die Täter

gegenüber der Polizei agieren.

- Aber ebenfalls die Täter können positive Merkmale gegenüber den Geiseln

entwickeln.

Die Symptome stellen dar, dass die kognitive Wahrnehmung des Opfers verzerrt ist.

Dies äußert sich darin, dass die Geiseln ihr eigenes Werte- und Normensystem gänzlich

verlassen und sich mit der Täterseite identifizieren, eine Art des Wir-Gefühls wird

herausgebildet. Es kommt zu einer tatsächlichen emotionalen Verbindung seitens der

Geiseln zum Täter. Wie im Falle der Stockholmer Geiselnahme kann die Annahme der

Werte des Entführers bis hin zu Heiratswünschen reichen.13

3.2 Ursachen für die Entwicklung emotionaler Beziehungen; Erklärungsansätze

3.2.1 Traumatisierung der Opfer

Für die Opfer stellt sich eine Geiselnahme häufig als ein traumatisches Ereignis dar.

Ein Trauma ist ein Ereignis von außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophalem

Ausmaß, das bei nahezu jedem tief greifende Verzweiflung auslösen würde.14 Eine

Geiselnahme stellt zweifellos ein derartiges Ereignis dar. Ursache für die Trauma-

tisierung ist das Vorliegen von immensem Stress.

Stress entsteht, wenn der Organismus die auf ihn einströmenden äußeren Einflüsse

nicht mehr mit seinen eigenen Bedürfnissen vereinbaren kann.15Im Falle einer

Geiselnahme hat der Organismus meist gar keine Kontrolle mehr über die Regulierung

der eigenen Bedürfnisse. Diese Regulierung hat nun der Täter übernommen.

Reemtsma bekam sein Essen regelmäßig in den Keller gebracht. Dennoch war es

möglich, dass seine Entführer die Versorgung stoppten, dass sie ihn verhungern ließen.

12 Vgl. Wieczorek, Das sog. Stockholm-Syndrom; Kriminalistik 7/03 S.429 13 Vgl. Wieczorek, Das sog. Stockholm-Syndrom; Kriminalistik 7/03 S.430 f 14 Vgl. Litzcke, Ausarbeitung über Angststörungen f.d. St.-Jahrgang 46/II/03, S.1ff 15 Siehe Zimbardo/Gerrig, Psychologie, S.562

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Fleuchaus und Siegfried waren immer darauf angewiesen, dass sie etwas Nahrung von

ihren Entführern erhielten. Wurde die Nahrung im Camp knapp, waren sie die ersten,

die weniger erhielten16. Sowohl Reemtsma als auch Fleuchaus und Siegfried waren sich

darüber im Klaren. In ihren Aufzeichnungen waren diese Überlegungen ein

bedeutender Bestandteil. Sie stellen diese Ängste als eine ihrer größten Bedrohungen

dar. Immer wieder haben sie sich darüber Gedanken gemacht, dass sie nichts mehr zu

essen zu trinken haben könnten. Es machten sich Ängste breit, dass die Geiselnehmer

sie nicht mehr versorgen würden. Es führte soweit, dass Reemtsma Wasser versteckte

und Rechnungen anstellte, wie lange er ohne Wasser und Trinken auskommen könnte17.

Es wird deutlich, dass die Täter nicht nur die Versorgung der Bedürfnisse übernommen

hatten, sondern auch diese nach Belieben hätten einstellen können.

„Dieses höchste Stressniveau, in Zusammenhang mit der akuten Lebensgefahr“, so

Dipl.-Psych. Arnold Wieczorek, „kann zu besonderen Formen der Anpassung an

bestimmte Situationen führen“.18 Die von Wieczorek genannte Situationsanpassung

stellt eine psychische „Rückentwicklung“ der betroffenen Person auf eine frühe

kindliche Stufe dar. Auslöser dieser Rückentwicklung ist das so genannte „Coping“. Es

handelt sich hierbei um einen Prozess des Organismus, mit den inneren und äußeren

Anforderungen umzugehen, die die eigenen Kräfte übersteigen. Nach der kognitiven

Bewertung, dass keine Alternativen vorhanden sind verfällt der Organismus in eine

solche Rückentwicklung.19 Es stellt eine Art Schutzmechanismus dar. Das Opfer

leugnet die Gewalttätigkeit seiner Peiniger, um so die existenzielle Abhängigkeit von

diesen ertragen zu können. Indem das Opfer sich mit dem Peiniger gut stellt, hoffe es,

dass er sie auch gut behandle. Laut Wieczorek „schützt das Opfer somit auf psychischer

Ebene das eigene Ich vor dem Zusammenbruch während auf physischer Ebene das

eigene Überleben gesichert wird“20.

Diese Überlegungen spielen in der Erklärung und im Verständnis des Stockholm-

Syndroms eine zentrale Rolle. Die Rückentwicklung auf eine frühe kindliche Stufe

aufgrund des immensen Stress, der ein Trauma nach sich zieht, ist bisweilen ein

16 Vgl. Siegfried/Siegfreid, Entführung in Costa Rica, S.134 17 Siehe Reemtsma, Im Keller, S. 156 ff 18 Vgl. Wieczorek, Das sog. Stockholm-Syndrom; Kriminalistik 7/03 S.431 19 Siehe Zimbardo/Gerrig, Psychologie, S.574 f 20 Vgl. Wieczorek, Das sog. Stockholm-Syndrom; Kriminalistik 7/03 S.431

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Erklärungsansatz für die mit dem Stockholm-Syndrom beschriebene Identifikation mit

den Werten des Täters21.

Mit diesem Erklärungsansatz ist eine emotionale Hinwendung der Opfer zu den Tätern

verständlich.

3.2.2 Weiterführende Erklärungsansätze

Der Dipl.-Psych. Arnold Wieczorek sieht die Rückentwicklung auf eine frühe kindliche

Stufe nicht als alleinige Ursache für das Vorliegen einer emotionalen Hinwendung der

Opfer zu den Tätern. Unter der Berücksichtigung der folgend erläuterten Punkte

plädiert er darauf, die emotionalen Beziehungen zwischen Tätern und Opfern als ein

dynamisches Beziehungsgeflecht anzusehen, das psychologischen Prozessen und

Merkmalen, die für sich genommen nichts Pathologisches darstellen, unterliegt.22

Des Weiteren wird an dem Beispiel der Aggressionsverschiebung eine, von

emotionalen Beweggründen unabhängige, Möglichkeit dargestellt, warum die Opfer die

Polizei als Gegenspieler ansehen könnten.

Annäherung durch Kommunikation

Nicola Fleuchaus (F) und Susanne Siegfried (S) unterhielten sich oft mit ihren

Entführern. Auch Reemtsma wünschte sich, mit seinen Peinigern zu kommunizieren.

Die Kommunikation spielt bei Geiselnahmen und der Entwicklung von emotionalen

Hinwendungen eine bedeutende Rolle. Ursache für das Herbeiführen von Gesprächen

kann der noch immer andauernde hohe Stresspegel sein. Durch Kommunikation

erfahren die Opfer eine Form der sozioemotionalen Unterstützung. Diese Unterstützung

führt den Abbau von Stress herbei. Folglich liegt nahe, dass die Opfer derartige

Gespräche aufrecht halten wollen23.

Folge des kommunikativen Austausches ist es, dass die Opfer Einblicke in die

Motivlage der Täter bekommen. Einer der Entführer von F. und S. erzählte, er würde

das nur machen, weil das Militär sein Dorf überfallen hätte und die Armen auf Costa

Rica ausbeuten würden. Aufgrund der hohen Belastungen kann es nun dazu führen,

dass die Opfer die Sichtweisen der Täter annehmen und verstehen24.

21 Vgl. Wieczorek, Das sog. Stockholm-Syndrom; Kriminalistik 7/03 S.429ff 22 Vgl. Wieczorek, Das sog. Stockholm-Syndrom; Kriminalistik 7/03 S.432 23 Siehe Zimbardo/Gerrig, Psychologie, S.579 24 Vgl. Wieczorek, Das sog. Stockholm-Syndrom; Kriminalistik 7/03 S.433

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Gruppendynamische Prozesse

Im Falle der Stockholmer Geiselnahme und auch bei der Entführung auf Costa Rica

waren die Geiseln mit den Geiselnehmern häufig auf engsten Raum beieinander. Wie

eingangs erläutert traten auch hier die Personen untereinander in Kommunikation und

Interaktion. Logische Konsequenz hieraus ist, dass sich soziale Geflechte herausbilden.

Desto länger eine Geiselnahme andauert, desto stärker prägt sich das Rollengeflecht

aus25.

Beleg für Rollenverteilung stellt die Geiselnahme mehrerer Europäer auf der

philippinischen Halbinsel Jolo26 dar. Die Geiselnahme dauert fast ein halbes Jahr. Nach

seiner Befreiung gab eine der Geiseln, Marc Wallert, dem Spiegel ein Interview.

„Wir haben denen Essen gekauft, Rohre repariert, ihr Leben organisiert“, berichtete

Marc Wallert. „Wir haben mit ihnen Frisbee gespielt und ihnen von Deutschland

erklärt, dass es dort die DM als Währung gäbe und nicht den Dollar. Ich stellte eine Art

Bindeglied zwischen uns und den Tätern dar, 27“ so Marc Wallert weiter.

Hier wird deutlich, dass eine Rollenverteilung stattgefunden hat. Durch diese

„Unterstützung“ machten sich die Geiseln nützlich. Dass Rohre verlegt worden sind

diente auch den Geiseln, denn die Wasserversorgung war in ihrer Gegend dürftig. Es

stellte sich für die Geiseln die Situation, dass sie in diesen Momenten „in einem Boot

mit den Entführern saßen“28. Des Weiteren diente das Frisbee spielen auch als

Entspannung der stressigen Situation.

So macht es nach Außen den Anschein, dass die Geiseln ihre Entführer unterstützen,

aber vielmehr ist es ein Handeln der Geiseln im eigenen Sinne gewesen.

Dissonanzreduktion

Ein weiterer Erklärungsansatz, der die emotionale Zuwendung an den Täter erklären

könnte, ist die Dissonanzreduzierung. Ein Dissonanzgefühl, ein unangenehmes Gefühl,

tritt dann auf, wenn ein eigenes Verhalten im ständigen Gegensatz zu den eigenen

Einstellungen steht.29

An dem Beispiel von Jan Philipp Reemtsma wird dieses Phänomen deutlich. Der Hass

gegenüber seinen Peinigern war immens. Dennoch kam es zu Situationen, in denen er

25 Vgl. Wieczorek, Das sog. Stockholm-Syndrom; Kriminalistik 7/03 S.433 26 Philippinische Glaubenskrieger entführen im Jahr 2000 mehrere europäische Urlauber. Sie fordern die Errichtung eines muslimischen Gottesstaates. Erst nach der Zahlung von Lösegeld kommen die Geiseln wieder frei. 27 Zitat aus: Brinkbäuer, die ewigen Geiseln, Der Spiegel vom 22.12.2000 28 Siehe 24 29 Vgl. Wieczorek, Das sog. Stockholm-Syndrom; Kriminalistik 7/03 S.434

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Selbstekel empfand. Erregt durch das Verlangen, die Stimme seiner Peiniger zu hören.

Selbst die mit einem seiner Peinigern geführten Gespräche hat er genossen 30.

Es lag folglich eine innere Ablehnung gegenüber den Tätern vor, dennoch hat er sich

ihnen emotional verbunden gefühlt. Es kam somit zu einer Dissonanz zwischen dem

positiven Verhalten gegenüber den Tätern und seiner inneren Ablehnung ihnen

gegenüber. Dieser Zustand drängt darauf, beseitigt zu werden. Die daraus resultierende

Dissonanzreduktion bedeutet, dass die negative Einstellung weitestgehend aufgegeben

wird und dem Verhalten angepasst wird. Dies kann laut Wieczorek soweit gehen, dass

diese „Kooperation mit den Tätern um des Überlebenswillen bis zur totalen

Unterwerfung und völligen Aufgabe der eigenen Autonomie und Kontrolle geht“31

Operante Konditionierung

Viele Verhaltensweisen der Geiseln können auch anhand der operanten

Konditionierung erläutert werden. Versucht eine Geisel z.B. die Flucht, so kann es zu

Bestrafungen kommen. Die Bestrafungen können sich in Form der Bestrafung 1. Art

und in der Bestrafung der 2. Art handeln. Nach Ergreifen der flüchtigen Geisel wird sie

körperlich misshandelt oder gar getötet (Bestrafung erster Art). Weitere Sanktionen

können z.B. sein, dass die Versorgung der Geisel unterlassen wird oder sie wieder

angekettet wird. (Bestrafung 2. Art)32.

Es besteht nicht die Notwendigkeit, dass die Geiseln ein derartiges Verhalten zeigen

und sie als Folge dessen bestraft werden. Vielmehr das Wissen um die Bestrafungen

kann zu einem Unterlassen von Fluchtversuchen und dem Fügen des Willens der Täter

führen.

Ebenso kann auf ein Verhalten ein positiver Reiz folgen (positive Verstärkung). Verhält

sich eine Geisel gegenüber dem Täter loyal und nach dessen Vorstellungen, so kann es

dazu führen, dass der Täter in seinem Verhalten bestärkt wird. In dem Wissen darüber,

dass dies Sympathieeffekte seitens des Täters zum Opfer auslösen kann, wird sich das

Opfer auch so verhalten, um diese Position aufrecht zu halten.

Jan Philipp Reemtsma kniete sich jeden Tag, wie von seinen Entführern befohlen, mit

dem Rücken zur Tür auf sein Bett. Dies führte dazu, dass die Entführer häufig in den

Keller kamen und sich mit ihrem Opfer unterhielten. Es führte sogar so weit, dass die

Täter sich nicht mehr vermummten, wenn sie zu Reemtsma in den Keller gegangen

30 Siehe Reemtsma, Im Keller, S.177f 31 Zit. aus: Wieczorek, Das sog. Stockholm-Syndrom; Kriminalistik 7/03 S. 434 32 Vgl. Zimbardo/Gerrig, Psychologie S.265 ff

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sind. Durch sein loyales Verhalten hat Reemtsma folglich Situationen geschaffen, in

denen die Spannungen abgebaut worden sind. Ihm wurden in Folge seine Lesewünsche

erfüllt und auch sein Essen wurde mehr an seine Wünsche angepasst. Nicht umsonst

bezeichnete ein Entführer diese Entführung als „Deluxe-Entführung“.33

Aggressionsverschiebung

Die Stockholmer Geiseln sahen im Verlaufe der Geiselnahme plötzlich nicht mehr die

Geiselnehmer als Feind an, sondern wandten sich sogar von der Polizei, ihren

vermeintlichen Rettern ab. Sie sahen in den Einsatzkräften ihre Gegenspieler34. Hierfür

kann es mehrere Erklärungsansätze geben. Wie schon dargestellt können die Opfer sich

mit den Tätern emotional verbunden haben und wechselten dadurch sozusagen die

„Fronten“. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass es sich hierbei um den

Mechanismus der Aggressionsverschiebung handelte.

Aggression ist ein Verhalten, das einem anderen Individuum psychischen oder

physischen Schaden zufügt. Geht man von der Theorie der „Aggression als provozierte

Bereitschaft35“ aus, versucht das provozierte Individuum, hier die Geisel, dessen

Aggressionen gegen den Provokateur, in diesem Falle der Geiselnehmer, zu richten. Im

Falle einer Geiselnahme kann eine Geisel unter den gegebenen Umständen ihre

Aggression nicht gegen den Täter richten. Ihr stehen nicht die Mittel zur Verfügung.

Ein aggressives Verhalten gegenüber den Tätern zu zeigen, könnte schlimme Folgen

haben. Da sich die Geisel dieser Situation bewusst ist, kommt es zu einer Verschiebung

der Zielperson für die Aggression. Es folgt somit eine Verschiebung der Aggression in

Richtung der Polizei, obwohl sie kein Provokateur darstellt. Sie stellt sich nur als

geeignetes Objekt dar.

3.2.3 Reflektion und kritische Auseinandersetzung mit dem Stockholm-Syndrom

Die Beteiligten in den exemplarisch dargestellten Geiselnahmen von Reemtsma und

Fleuchaus & Siegfried weisen Verhaltensweisen auf, die häufig mit dem Stockholm-

Syndrom erklärt worden sind. Nimmt man Abstand von der eigentlichen Bedeutung des

Wort Syndroms und geht man davon aus, dass das Stockholm-Syndrom eine Vielzahl

der oben genannten psychologischen Prozesse und Mechanismen umfasst, kann man

bei dieser Bezeichnung für die beschriebenen Verhaltensweisen bleiben.

33 Siehe Reemtsma, Im Keller, S.86ff 34 Vgl. Wieczorek, Das sog. Stockholm-Syndrom; Kriminalistik 7/03 S.429 35 Siehe hierzu Litzcke, Ausarbeitung über Aggressionen f.d. St.-Jahrgang 46/II/03, S.1ff

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Bleibt man aber bei dem Wortlaut, dass es sich hier um eine Krankheit handelt, kann

man nicht davon ausgehen, dass dieses Syndrom bei den dargestellten Geiselnahmen

herausgebildet worden ist. Es sind zwar Ansätze vorhanden, wie die Romanze zwischen

Fleuchaus und Talamanca, oder der Wunsch Reemtsmas, von seinem Peiniger getröstet

zu werden. Aber eine echte Identifikation mit den Werten und eine emotionale

Verbundenheit auf Dauer mit den Tätern sind nicht zu erkennen. Vielmehr liegen kurze

Erscheinungsformen von psychologischen Prozessen und Mechanismen vor.

Hier möchte ich mich dem Plädoyer Wieczoreks anschließen und bemerken, dass ein

voll ausgeprägtes Syndrom wie in Stockholm die Ausnahme ist und die

Solidarisierungen vielmehr auf rationale Denkweisen der Opfer oder durch einzelne, für

sich genommene nicht pathologische, psychologische Mechanismen zu begründen sind.

Im Verlaufe des Studiums der Erlebnisberichte von Geiselnahmen (Reemtsma/

Siegfried/Bennefeld-Kersten/Rosskamp/Lorenz/Wallert) habe ich festgestellt, dass alle

ihr Verhalten mit einer rationalen Denkweise erklärt haben. Mitunter waren sie sich

sogar bewusst, insbesondere Reemtsma, welche psychologischen Prozesse sich in ihnen

abspielten. Aber eine wirkliche Identifikation mit ihren Peinigern, wie es das

Stockholm-Syndrom nun mehrfach dargestellt, beschreibt, lag nach meiner Ansicht, bei

keinen vor.

4. Folgen für Opfer von Geiselnahmen

4.1 Primäre Viktimisierung und Posttraumatische Belastungsstörungen

Wie dargestellt, handelt es sich bei Geiselnahmen meist um traumatische Ereignisse.

Einige Menschen reagieren darauf emotional mit einer Posttraumatischen

Belastungsstörung (PTBS)36. Die posttraumatische Belastungsstörung ist eine

Stressreaktion, bei der Menschen unter ständigem Wiedererleben des traumatischen

Ereignisses in Form von Schlafstörungen, Flash-Backs und Träumen leiden. Es folgt

eine emotionale Abgestumpftheit und das Opfer einer Geiselnahme kann nicht mehr

uneingeschränkt an dem alltäglichen Leben teilnehmen. Mitunter führt dieses Syndrom

sogar dazu, dass die eigentlichen Opfer sich die Schuld für die eingetretenen Ereignisse

geben37.

Ein besonders eklatantes Beispiel liefert die Geiselnahme an Renate Wallert. Sie war

wie ihr Sohn Marc Wallert ebenfalls unter der Gruppe Europäer, die von

philippinischen Glaubenskriegern entführt worden ist. 36 Vgl. Zimbardo/Gerrig, Psychologie, S.671 37 Langkafel, Die Posttraumatische Belastungsstörung, S.5

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Während der Geiselnahme erlitt sie drei Nervenzusammenbrüche. Häufige

Verlegungen der Camps zehrten an ihren Nerven. Sie sollte eins der schwächsten

Glieder in der Gruppe der Entführten darstellen. Sie musste bei Märschen getragen

werden, konnte sich nicht an den Arbeiten für die Geiselnehmer beteiligen. Sie wurde

sogar eine Belastung für die anderen Geiseln. Aufgrund ihres physisch und psychisch

labilen Zustandes ließen die Entführer sie vorzeitig frei. In einem Bericht der Zeitschrift

„Spiegel“ berichtete sie über ihre Lebensumstände in der neu gewonnenen Freiheit.

„Renate Wallert ist schreckhaft geworden. Neulich stand sie mit ihren Büchern vor dem

Audi-Kombi, und da hat sie jemand von hinten angesprochen - sie ließ die Bücher

fallen. Sie kann nicht alleine einkaufen, und im Ratskeller (Restaurant) schafft sie es

nicht, etwas von der Speisekarte zu wählen, “ heißt es in dem Spiegel Bericht. Weiter

heißt es „dackele sie nur noch ihrem Mann hinterher. Sie habe all ihre Freunde

weggeschickt. Am meisten Angst habe sie vor dem Geräusch der Schüsse.“38 Sie

erzählt in diesem Bericht, dass sie immer wieder von diesem Ereignis Träume, an ihn

denke.

Dieser Bericht zeigt, wie intensiv Renate Wallert unter dem PTBS leidet. Bei ihr sind

die unter dem Syndrom gefassten Symptome voll ausgeprägt.

Es besteht die Gefahr, dass sich, besonders im Fall Renate Wallert, dieses Syndrom zu

einem residualen Belastungssyndrom entwickeltet. Bei dieser Ausprägung des PTBS

handelt es sich um eine chronische Ausprägung dessen. Die betroffene Person könnte

noch eine lange Zeit unter den Syndromen des PTBS leiden39.

4.2 Sekundäre Viktimisierung

Bisweilen findet eine sekundäre Viktimisierung, der Opfer statt. Bei der sekundären

Viktimisierung geht es um Schäden, die erst nach der Straftat durch Reaktionen von

Unbeteiligten verursacht werden.40

Verantwortlich hierfür ist in einem bedeutenden Umfang die Berichterstattung der

Medien über die Geiselnahmen. Häufig kommt es vor, dass Medien verzerrt über den

Ablauf der Geiselnahmen berichten. Insbesondere die ausführlich erläuterten

Solidarisierungseffekte stoßen bei Unbeteiligten auf Unverständnis. Meist werden die

Verhaltensweisen der Geiseln akribisch erläutert. Es scheint mitunter so, dass die

38 aus: Brinkbäuer, die ewigen Geiseln, Der Spiegel vom 22.12.2000 39 Vgl. Zimbardo/Gerrig, Psychologie, S.571 40 Aebersold, Kriminologie, S.3

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Schuld für die Situation auch bei dem Opfer gesucht wird. Dieses Phänomen in der

Gesellschaft lässt sich anhand der Vergewaltigung von Frauen illustrieren.

Kommt es zu einer Vergewaltigung von Frauen ist im strafrechtlichen Sinne die Frau

als Opfer zu bezeichnen und der (meist) Mann als Täter zu klassifizieren. Doch häufig

wandelt sich ein wenig die Sichtweise der Gesellschaft. Es werden mitunter auch der

Frau Schuldzuweisungen gemacht. „Sie hätte ihn ja nicht so angucken müssen, warum

hat sie auch so ein kurzes Kleid getragen“, oder „selbst Schuld, sie wollte das ja auch“

sind Auszüge von möglichen Reaktionen41.

Reflektiert man diese Haltung auf die Geiselnahme, so besteht für die Geiseln ein

immenses Problem, wenn sie sich wieder in die Gemeinschaft integrieren wollen. Die

Anstaltsleiterin Katharina Bennefeld-Kersten wurde über drei Stunden von einem

Inhaftierten festgehalten. Während der Geiselnahme kam es auch zur Vergewaltigung

durch den Geiselnehmer42. Jahre später verfasste sie ein Buch über das Ereignis. Darin

berichtet sie unter anderem über diese sekundäre Viktimisierung.

Ihr Gesicht war durch die Presse gegangen, jeder kannte sie. Sie war „die“

Anstaltsleiterin. Sie merkte, wie andere, ihr vorher völlig unbekannte Personen, ihr

Schuldzuweisungen machten. „Ich sollte in eine Schublade gesteckt werden, in die ich

nicht hineinwollte“, so Bennefeld-Kersten.43

Bennefeld-Kersten konnte sich eine zweiten Viktimisierung erwehren, mag es daran

gelegen haben, dass sie sich diese Phänomene erklären und darauf vorbereiten konnte,

da sie als Psychologin solche Prozesse kannte. Renate Wallert hatte weitaus mehr mit

solchen Vorwürfen zu kämpfen. Dass sie früher aus der Gefangenschaft freigelassen

worden ist, dass sie mehr Aufwand und Mühen als alle anderen gekostet hat, nahm ihr

so mancher Übel. Sie wurde sogar schon in der Geiselhaft von den anderen Geiseln als

Simulantin bezeichnet. Hier kommt es zu einer Viktimiserung, die die eigentliche durch

die Geiselnahme verursachte verstärkt. Renate Wallert wurde folglich zweimal mit

einem traumatischen Ereignis belastet.

Auch Jan Philipp Reemtsma musste sich dem Medieninteresse stellen. Obwohl das von

den Entführern gefertigte Foto zur Veröffentlichung nicht freigegeben worden ist,

41 Vgl. hierzu Baurmann/Schädler, Das Opfer nach der Straftat-seine Erwartungen und Perspektiven S. 199 42 Vgl. Bennefeld-Kersten, Die Geisel, S.53 43 Vgl. Bennefeld-Kersten, Die Geisel, S.143 ff

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wurde es dennoch von einem Verlag erworben und auf der Titelseite einer großen

Tagespresse veröffentlicht. Reemtsma empfand die Zurschaustellung als schmerzhaft

abstoßend. Als es zu einer Einladung dieses Verlages zur Verleihung eines, von der

Geiselnahme unabhängigen, Preises kam, war das Gefühl wieder da, er fühlte sich

wieder im Keller. All die Erfahrungen der Hilflosigkeit, Angst und Furcht stiegen in

ihm wieder hoch.44

4.3 Bewältigung der Erlebnisse von Geiselnahmen

Traumatische Ereignisse bedürfen der Verarbeitung. In den von mir exemplarisch

aufgeführten Geiselnahmen stellte das Schreiben eines Buches mit Sicherheit einen Teil

der Bewältigung der Ereignisse dar. Doch nicht alle Geiselnahmen fanden solch

nachhaltige Betrachtung in der Presse, so dass es sich auch aus wirtschaftlichen

Gründen gelohnt hätte, ein Buch zu schreiben. Demnach muss es auch andere

Möglichkeiten der Traumabewältigung geben.

Wie dargestellt, stehen Personen, die unter einem PTBS leiden unter permanentem

Stress. Die Mechanismen, diesem entgegenzuwirken (coping) wurden ebenfalls

dargestellt.

Tritt nun der Stress auch nach dem eigentlichen Ereignis in Form von Flash-Backs oder

Träumen wieder auf, so tritt das in der Literatur genannte „coping-behaviour“ ein. Es

handelt sich hierbei um ein „assimilatives“ Bewältigungsverfahren in der eine Person

bewusst handelt. Dieses Verhalten stellt sich so dar, dass das Opfer versucht, jegliche

Reize, die in Verbindung mit der Geiselnahme stehen, zu vermeiden. Desto weniger

Reize vorliegen umso eher kann es zu einer Extinktion (Löschung) der mit dem Reiz

verbunden Verhaltensweise, hier z.B. Flash-Backs kommen45.

Dieses coping-behaviour äußert sich z.B. darin, dass die Opfer die Orte meiden, an

denen sich das Verbrechen ereignet hat oder sie ihr Sozialverhalten ändern. Beispielhaft

ist hier das Verhalten von Renate Wallert aufzuführen. Das Wegschicken der Freunde

stellt einen Abwehrmechanismus dar, der bezweckt, dass ihr eine mittelbare

Konfrontation mit dem Ereignis erspart bleibt.

Ein weiteres Beispiel der Bewältigung der Opfererfahrungen beschreibt Bennefeld-

Kersten in ihrem Buch. So habe es ihr sehr geholfen, dass sie Unterstützung aus ihrem

sozialen Umfeld erhalten habe.46

44 Vgl. Reemtsma, Im Keller, S.211 45 Siehe hierzu Steller/Volbert, Psychologie im Strafverfahren,ein Handbuch, S.217 46 Siehe Bennefeld-Kersten, Die Geisel, S.146f

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Eine Studie hat ergeben, dass die Reaktionen der nächsten Angehörigen eine wichtige

Rolle für die meisten Opfer spielt. In vielen Delikten, insbesondere bei schweren

Delikten wie Vergewaltigungen, Raub oder Geiselnahmen besteht das Bedürfnis,

vorrangig mit Menschen aus dem sozialen Nahraum über das Erlebnis zu sprechen. 47

5. Auswirkungen der medialen Berichterstattungen auf die Geiselnahme

Wie schon unter dem Punkt der sekundären Viktimisierung angesprochen, wurden

nahezu alle Geiseln durch die Qualität und Quantität der Berichterstattung in der

Bewältigung der Erfahrungen durch die Geiselnahme beeinträchtigt.

Aber auch während der Geiselnahme kann das Verhalten der Pressemitarbeiter für die

Geiseln zu Problemen und neuen Gefahren führen.

Geiselnahmen sind von besonderem Interesse für die Öffentlichkeit. Der Informations-

anspruch jener ist immens. Die Informationsplattformen Radio, Fernsehen und Internet

lassen einen Informationsaustausch just in time zu. Längst dient die Presse nicht nur

dem regen Austausch von Informationen in der Bevölkerung, es ist auch ein

bedeutender Wirtschaftsmarkt aus ihr erwachsen. Der Konkurrenzdruck ist immens und

es bedarf Sensationen um ihm entgegenzustehen. Die Gier nach Sensationen

überschreitet bisweilen auch die Grenze des moralisch vertretbaren. Klaus Bresser,

ehem. Chefredakteur des ZDF, schreibt in einer Stellungnahme über die Live-

Übertragung einer Hinrichtung, dass das Recht der Öffentlichkeit an der Information

mitunter höher angesiedelt werde als die Würde des einzelnen. Der Voyeurismus wäre

ein „Rückschritt in die Barbarei des Mittelalters“, so Bresser.48

Wird diese Sensationslust auf die stattgefundenen Geiselnahmen reflektiert wird

folgend eine Problematik dargestellt die vermieden werden kann.

5.1 Pressekodex

Unter Ziffer eins des Pressekodex49 heißt es, dass die Wahrung der Menschenwürde

und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit das oberste Gebot der Presse sind.

Weiter unter Ziffer elf lautet es, dass die Presse auf unangemessen sensationelle

Darstellung von Gewalt und Brutalität verzichtet.

47 Vgl. hierzu Baurmann/Schädler, Das Opfer nach der Straftat-seine Erwartungen und Perspektiven S. 173 48Vgl. Bresser, Schauder und Schaulust, unter http://www.message-online.com/arch3_01/31_bresser.html 49 Vom deutschen Presserat in Zusammenarbeit mit den Presseverbänden 1973 erstellt und dem Bundespräsidenten Gustav W. Heinemann übergeben.

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In seinem Einleitungssatz zur Stellungnahme gibt Klaus Bresser an, dass „die Presse

von einem Kodex weiter denn je entfernt“ sei. 50

5.2 Medienshow bei Geiselnahmen

5.2.1 Gladbeck

Am 16. August 1988 wurde die Filiale der Deutschen Bank in Gladbeck von zwei

Männern überfallen. Die Folge der daraus resultierenden Verfolgungsjagd waren zwei

durch die Geiselnehmer getötete Menschen sowie ein tödlich verunglückter Polizist, der

bei der Verfolgungsfahrt verunfallte. Die Verfolgung der Geiselnehmer wurde nicht

durch die Polizei vollzogen, sondern Journalisten setzten den Entführern in

Hubschraubern und in PKW nach. Die Entführer machten die Presse zu ihrem

Sprachrohr. Sie teilten ihre Forderungen über ein Radiointerview mit51. Die aus

polizeitaktischer Sicht kontraproduktive eigenmächtige Involvierung der Journalisten

gipfelte darin, dass ein Journalist sich in das Fluchtfahrzeug zu den Geiselnehmern

setzte und sie durch die Kölner Innenstadt lotste.

Das Geiseldrama von Gladbeck avancierte somit zu einem nicht kontrollierbaren

Medienereignis in dem die Sicherheit der gefährdeten Personen gegenüber der

Sensationslust der Journalisten zurücktreten musste. Nebeneffekt dieser Medialisierung

der Geiselnahme war, dass es bei den Rezipienten jener aus Hubschraubern,

Fahrzeugen sowie Live-Interviews gefertigten Bildern ein Realitätsverlust eintrat. „Die

Wirklichkeit wurde zum Krimi“52

Die Folgen für die Geiseln und unbeteiligten Personen waren rückblickend gravierend.

Durch das Mitwirken der Presse wurden einsatztaktische Grundsätze der Polizei

unterlaufen (siehe Verfolgungsfahrt). Die Ausführung der Geiselnahme wurde im

Nachhinein von den Journalisten gefördert und zu diesem Ende geleitet.

Folge dieser Eskalation der Geiselnahme war ein Übereinkommen zwischen Polizei

und Presse, die ein Stillhalteabkommen beinhaltete.53 Gegenstand dessen war, dass die

Presse zwar informiert wird, die Polizei somit ihrer Pflicht der Information der

Öffentlichkeit nachkam, aber die gelieferten Informationen Seitens der Presse

zurückgehalten werden und nicht veröffentlicht wurden, solange dadurch Einfluss auf

die laufende Geiselnahme genommen werden könnte.

50 Bresser, Schauder und Schaulust, unter http://www.message-online.com/arch3_01/31_bresser.html abgerufen am 22.07.2005 51 Vgl. Weischenberg: Neues vom Tage. Die Schreinemakerisierung unserer Medienwelt , S.78 52 Zit. nach Bresser: Was nun? Über Fernsehen, Moral und Journalisten. S.99 53 Vgl. Bresser Was nun? Über Fernsehen, Moral und Journalisten, S.100 f

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5.2.2 Jolo

Ein weiteres Beispiel des Übereifers der Presse bei solch kritischen Situationen stellt

die bereits dargestellte Geiselnahme auf Jolo dar. Die intensive Medienpräsenz nahe

dem Geschehen nahm nicht nur Einfluss auf das Geschehen, sondern war direkter

Bestandteil der Geiselkrise.

Öffentliche Stellen befassten sich mit dem Problem der Journalisten vor Ort. In einem

Appell mahnte das französische Außenministerium die Medien, mit Rückblick auf das

Gladbecker Geiseldrama, zu mehr Zurückhaltung und Verantwortungssinn. Rudolf

Balmer, Korrespondent diverser Zeitungen in Paris, kritisierte den französischen

Fernsehsender TF1 „einigen „Rebellen“ ein Plattform für ihre Forderungen zu stellen

Der damalige französische Außenminister Hubert Védrine rief sichtlich verärgert die

Redaktionsverantwortlichen zur Ordnung, dass bei allem Verständnis für den Wunsch

zu informieren, es nicht zulässig sei den Entführern eine Tribüne zu gewähren, damit

sie ihre Thesen verbreiten können54.

Paradoxe Konsequenz des Wunsches der Journalisten so nah wie möglich am

Geschehen zu sein, war, dass der deutsche Spiegel Reporter Andreas Lorenz die

Torturen einer Geiselnahme am eigenen Leib spüren sollte. Er recherchierte über

Unterhändler zeitnah über die laufende Geiselnahme der europäischen Touristen. Als er

sich direkt mit dem Entführer, Robot, treffen wollte, „schnappte die Falle zu“ so Lorenz

in seinem Tagebuch. Weiter schrieb er, dass „er Pech hatte“ und, dass das jedem

passieren könne, der „nicht darauf verzichten will, aus Krisengebieten zu berichten“.55

Dass die Geiselnahme für ihn am 2.07.2000 ohne Blutvergießen endete, hatte er dem

couragierten Intervenieren zweier Kollegen desselben Verlages zu verdanken. Hilfe

von der dortigen Regierung konnte nicht erwartet werden, da sie keine Informationen

über die Entführung besaßen.

Dieses Beispiel veranschaulicht, dass auch hier die Presse als Sprachrohr missbraucht

wurde und diese als Gegenleistung eine „hautnahe“ Story liefern konnte.

In einer infolge des Geiseldramas von Jolo geführten Diskussion des Deutschen

Journalisten Verbandes (DJV) erklärte der Vorsitzende, Siegfried Weischenberg, dass

„Journalisten nicht in die erste Reihe gehören“ und forderte Journalisten bei

Geiselnahme zur Zurückhaltung auf. Er mahnte, dass seit der Gladbecker Geiselnahme

54 Vgl. Balmer,: Medienshow mit echten Geiseln. http://perso.wanadoo.fr/balmer/archiv.html 55 Vgl. Lorenz: Spiegel Interview vom 31.07.2000

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der Pressekodex verschärft worden sei. Insbesondere Interviews mit Tätern wurden

darin sanktioniert.

Andreas Lorenz rechtfertigte sein Verhalten mit der Äußerung: „Eine vergessene Geisel

ist eine tote Geisel“. Er habe lediglich versucht „direkt vor Ort zu berichten, um den

Standpunkt der Geiseln zu vermitteln und damit sie nicht vergessen wurde“.56

56 Vgl. Hansen: taz Bericht vom 22.03.2001 S. 16 unter http://www.taz.de/pt/2001/03/22/a0143.nf/textdruck

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6. Fazit

Im Verlaufe des Studiums der Erlebnisberichte ehemaliger Geiseln musste ich

feststellen, dass je länger eine Geiselnahme dauerte desto intensiver entwickelten sich

die oben genannten psychologischen Prozesse und Mechanismen. Selbst Jan Philipp

Reemtsma, ein Soziologe, der sich über solche Prozesse bewusst war und auch immer

wieder gegen sie ankämpfte, musste am Ende unter Selbstekel resümieren, dass er

während der Geiselnahme manches Mal Sympathien für die Entführer empfand.

Alle Opfer der exemplarisch aufgeführten Geiselnahmen berichten über diese emo-

tionalen Hinwendungen. Häufig wird dies mit dem Begriff des Stockholm-Syndroms in

Verbindung gebracht. Ob es sich bei den beschriebenen Prozessen im Täter-Opfer-

Verhalten jedoch um diese Krankheit handelte, ist fraglich. Vielmehr hat meine

Recherche ergeben, dass die Geiseln sich den Wünschen und Interessen der Entführer

unterordnen um so für sich eine bessere Position zu erlangen. Dieses Verhalten ist

meist gewollt und somit auch rational erklärbar. Ein wirklich voll ausgeprägtes

Stockholm-Syndrom konnte ich bei den dargestellten Geiselnahmen nicht erkennen. Es

treten vielmehr nur vereinzelt die Symptome des Stockholm-Syndroms auf.

Aber nicht das Trauma „Geiselnahme“ und dessen Bewältigung, auch die

Berichterstattung nach der Freilassung stellt die Geiseln vor vergleichbare Probleme.

Bemerkenswerter Weise ist zu beobachten, dass sich alle Geiseln in ihren Büchern mit

diesem Aspekt beschäftigten. In allen Berichten ist eine deutliche Kritik an der

Berichterstattung zu erkennen. Die Opfer fühlen sich bloßgestellt, diffamiert und in

eine Schublade gesteckt.

Dem ist das treffende Argument von Andreas Lorenz entgegenzuhalten, dass eine

vergessene Geisel eine verlorene Geisel sei.

Gerade die Berichterstattung durch die Medien leistet einen wichtigen Beitrag dazu, das

Interesse der Gesellschaft an dem Leben der Geiseln aufrecht zu halten. Es bleibt somit

die Frage, ob der ständige Informationsaustausch überhaupt notwendig ist. Nach

bisherigen Erfahrungen wäre es sinnvoll, eine Geiselnahme nicht derart Publik zu

machen, denn die Geiseln sind der Gefahr ausgesetzt, durch Medien und Umfeld ein

zweites Mal zum Opfer werden.

Geiselnahmen führen zu außergewöhnlichen psychischen Verletzungen bei den Opfern.

Sie durchleiden Todesängste, fühlen sich als Mensch verachtet. Nur um zu überleben

kommt es bisweilen zur totalen Unterwerfung. Ihnen wird Ehre und Achtung geraubt.

Wenn das eigentliche Ereignis vorbei ist, dauert diese Tortour für die Menschen an.