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OLMS Leibniz in Philosophie und Literatur um 1800 Herausgegeben von Wenchao Li und Monika Meier STUDIEN UND MATERIALIEN ZUR GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE

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ISBN 978-3-487-15467-1

OLMS

Leibniz in Philosophie und Literatur um 1800Herausgegeben von Wenchao Li und Monika Meier

S T U D I E N U N D M A T E R I A L I E N

ZUR GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE

Am Ausgang des europäischen 18. Jahrhunderts zeichnet sich eine signifikante Leibniz-Re-naissance ab. Während die Kritische Philosophie Immanuel Kants an den philosophischen Fakultäten Einzug hielt, wurde Leibniz für deren Kritiker interessant. Die in diesem Band gesammelten Beiträge behandeln die philosophische Leibniz-Rezeption bei Johann Gottfried Herder, Friedrich Heinrich Jacobi und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Weitere Schwer-punkte bilden die monadologischen Natur- und Kulturphilosophien um 1800, die Bedeu-tung der Leibniz-Rezeption an der Schwelle vom philosophischen zum literarischen Diskurs sowie die nachhaltige Weiterwirkung der Leibniz’schen Ideen in Ästhetik und Literatur seit Baumgarten. Mit den vorliegenden Beiträgen wollen die Autoren und Herausgeber der For-schung neue Impulse geben.

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STUDIEN UND MATERIALIEN ZUR GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE

Begründet von Heinz Heimsoeth, Giorgio Tonelli und Yvon Belaval Herausgegeben von Bernd Dörflinger und Heiner F. Klemme

Band 91

WENCHAO LI / MONIKA MEIER (HG.)

LEIBNIZ IN PHILOSOPHIE UND LITERATUR UM 1800

2016

GEORG OLMS VERLAG HILDESHEIM · ZÜRICH · NEW YORK

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LEIBNIZ IN PHILOSOPHIE UND LITERATUR UM 1800

HERAUSGEGEBEN VON WENCHAO LI UND MONIKA MEIER

2016

GEORG OLMS VERLAG HILDESHEIM · ZÜRICH · NEW YORK

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Georg Olms Verlag AG, Hildesheim 2016 www.olms.de E-Book Umschlaggestaltung: Inga Günther, Hildesheim Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-487-42185-8

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort ............................................................................................................................ 7

GÜNTER ARNOLD (Weimar) Funktionen der Leibniz-Rezeption in Herders Spätwerk ................................... 9

CORNELIA ORTLIEB (Erlangen) Philosophie als Kritik und Kommentar: Jacobi und Leibniz ........................... 37

HANNS-PETER NEUMANN (Halle) ‚Das Ich ist eine Monade‘: Schellings Leibniz-Rezeption und der centre de perspective des philosophiehistorischen Interesses ........................... 69

MARTIN HENSE (Berlin) „Jede Monade von Wahrheit wandert aus einem ungestalteten Körper von Meinungen in den andern“ – Monadologische Natur- und Kulturphilosophien um 1800 .............................................................................. 131

MONIKA MEIER (Hannover) Die „Leibnizsche Philosophie im kernichtsten Auszug“ – die „Philosophischen Aphorismen“ Ernst Platners und ihre Resonanz in der Leibniz-Rezeption Jean Pauls ................................................................... 145

MONIKA SCHMITZ-EMANS (Bochum) Metaphorologie avant la lettre? Sprachreflexion bei Leibniz und Jean Paul ......................................................................................................... 173

RALF SIMON (Basel) Petites perceptions und ästhetische Form ............................................................... 203

Personenregister .......................................................................................................... 231

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Vorwort Leibniz und die Leibniz’sche Philosophie wurden um 1800 lebhaft rezipiert. Man griff dabei auf die im Laufe des 18. Jahrhunderts publizierten Schriften des Universalgelehrten zurück: von der noch zu Leibniz’ Lebzeiten erschienenen Théodicée (1710, deutsche Übersetzungen ab 1720), der Monadologie (dt. 1720, lateinische Übersetzung 1721) und den Principes de la nature et de la grâce fondés en raison (1718, dt. 1744) über die von Christian Kortholt zusammengetragenen Epistolae ad diversos (4 Bde., 1734–42) bis hin zu Rudolf Erich Raspes Œuvres philosophiques latines et fronçoises de feu Mr. de Leibnitz (1765 – mit den wirkungsvollen Nouveaux essais sur l’entendement humain) oder den von Louis Dutens besorgten sechsbändigen Opera Omnia (1768). Erwähnt seien noch der von Jacques-André Émery zusammengestellte und 1772 in Lyon gedruckte Esprit de Leibnitz, dessen vierbändige deutsche Übersetzung von Leopold Ludwig Wilhelm Brunn Der Geist des Herrn von Leibnitz (Wittenberg und Zerbst 1775–1777), und die 1803 erschienenen zweibändigen Pensées de Leibniz, sur la religion et la morale. Der Blick auf das Leibniz’sche Werk erweitert sich so gegenüber der Rezeption über die „Leibniz-Wolff’sche“ und deutsche Schulphilosophie. Die Hinwendung zu Leibniz selbst gewinnt eine besondere Dynamik in der Auseinandersetzung mit der kritischen Philosophie Immanuel Kants.

Während diese an den philosophischen Fakultäten Einzug hielt, wurde Leibniz für deren Kritiker interessant. Die Frage nach der „besten aller mögli-chen Welten“, wie Leibniz sie in seiner Théodicée thematisiert hatte, rückte Ende des Jahrhunderts in den Hintergrund. Nun waren es besonders die Monadologie und die Nouveaux essais, an welche die eigenen Reflexionen anknüpften. Philo-sophisches Denken, gerade wenn es sich in kritischer Distanz zur Kantischen Philosophie verstand, suchte andere Wege des Diskurses. Es fand seinen Ort neben dem philosophischen „Systemdenken“ in einem sich ausdifferenzieren-den Feld wechselweise aufeinander bezogener philosophischer Strömungen und darüber hinaus auch in der Ästhetik und in literarischen Texten und Schreibweisen. Schelling strebte eine Synthese der unterschiedlichen Philoso-phien an. Am Ausgang des europäischen 18. Jahrhunderts zeichnet sich eine signifikante Leibniz-Renaissance ab!

Die im vorliegenden Band gesammelten Beiträge gehen auf ein von der Leibniz-Stiftungsprofessur der Leibniz Universität Hannover veranstaltetes Arbeitsgespräch am 21. Juli 2012 zurück. Sie behandeln die philosophische Leibniz-Rezeption bei Johann Gottfried Herder (Günter Arnold), Friedrich Heinrich Jacobi (Cornelia Ortlieb) und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (Hanns-Peter Neumann). Martin Hense stellt monadologische Natur- und Kul-turphilosophien um 1800 vor. Die Bedeutung der Leibniz-Rezeption an der Schwelle vom philosophischen zum literarischen Diskurs untersuchen Beiträge

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8 Vorwort

zu Ernst Platner und Jean Paul (Monika Meier), zu Sprachreflexion und Meta-phernbildung bei Leibniz und Jean Paul (Monika Schmitz-Emans) und zur nachhaltigen Adaptation und Weiterwirkung der Leibniz’schen Idee von petites perceptions in Ästhetik und Literatur seit Alexander Gottlieb Baumgarten (Ralf Simon).

Die Initiative der Tagung geht auf Dr. Monika Meier zurück; dafür, für die vielen inspirienden Gespräche und für den immer offenen Gedankenaustausch sei ihr gedankt; für die Organisation der Veranstaltung ist dem kleinen Team der Leibniz-Stiftungsprofessur Dank zu sagen. Die redaktionelle Betreuung lag, wie so oft, wieder in den bewährten Händen von Simona Noreik. Wenchao Li Hannover/Berlin-Waidmannslust im Mai 2016

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Funktionen der Leibniz-Rezeption in Herders Spätwerk Günter Arnold (Weimar) Einleitung 1. Nachdem Herder seinem alten Freund Gleim seine polemische Schrift Ver-stand und Erfahrung/Vernunft und Sprache. Eine Metakritik zur Kritik der reinen Ver-nunft (1799) übersandt hatte, klagte dieser, dass der Kampf gegen den Kantia-nismus Herder den Musen entfremden würde. Herder antwortete am 3. Juni 1799: „Auch hier sind die Musen!“1 Er glaubte, negative Auswirkungen der neuen philosophischen Terminologie auf die Entwicklung der Sprache und schädliche Folgen der transzendentalen Philosophie, sowohl der Erkenntnis-theorie als auch der Ethik, auf Bildung und Moral der studierenden Jugend, besonders an der Jenaer Universität, feststellen zu müssen, und hielt es für sei-ne amtliche Pflicht, als Ephorus aller Schulen des Herzogtums Sachsen-Weimar dagegen vorzugehen. Die Verdienste der Repräsentanten der älteren Aufklä-rung, deren Bildnisse in Gleims „Freundschaftstempel“ einen Ehrenplatz hat-ten, würden verachtet: „Leibnitz, Baumgarten, Leßing u. so viele die in Ihrem Musentempel hangen […] sie werden angeschneutzt u. angeschnallt, betäubt, gelästert – “2 Herder bezog sich mit dieser Bemerkung auf die ihm unangemes-sen erscheinende Rezeption Lessings durch Friedrich Schlegels Aufsatz „Ueber Lessing“ in Johann Friedrich Reichardts Lyceum der schönen Künste (Berlin 1797) und auf anonyme „Fragmente“ im 2. Stück des Athenaeums der Brüder Schlegel (Berlin 1798), u. a. über Leibniz. Der unbekannte Verfasser dieser Aphorismen war der Berliner Prediger Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher, in dessen Wohnung Friedrich Schlegel von Dezember 1797 bis August 1799 lebte. Der Theologe wurde durch Schlegel in die Projekte der Frühromantiker eingebun-den. Sie studierten gemeinsam Werke von Spinoza und Leibniz und planten eine polemische Schrift gegen letzteren. Daraus wurde nichts, überliefert sind nur spöttisch absprechende „Fragmente“ wie die folgenden:

1 Johann Gottfried Herder: Briefe. Gesamtausgabe 1763–1803. Bd. 8: Januar 1799–November 1803.

Unter Leitung von Karl-Heinz Hahn hrsg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstät-ten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv)/Klassik Stiftung Weimar. Bearbeitet von Wilhelm Dobbek † und Günter Arnold (im Folgenden: DA), Weimar 1984, S. 63.

2 Ebd., S. 64.

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10 Günter Arnold

Nr. 270: Leibniz ließ sich bekanntlich Augengläser von Spinoza machen; und das ist der einzige Ver-kehr, den er mit ihm oder mit seiner Philosophie gehabt hat. Hätte er sich doch auch Augen von ihm machen lassen, um in die ihm unbekannte Weltgegend der Philosophie, wo Spino-za seine Heimat hat, wenigstens aus der Ferne hinüberschauen zu können!3 (Leibniz wird offenbar die philosophische Sicht abgesprochen.)

Nr. 276:

Leibniz war so sehr Moderantist, daß er auch das Ich und Nicht-Ich, wie Katholizismus und Protestantismus, verschmelzen wollte und Tun und Leiden nur dem Grade nach ver-schieden hielt. Das heißt die Harmonie chargieren, und die Billigkeit bis zur Karikatur trei-ben.4 (Mit Begriffen der Wissenschaftslehre Fichtes und Allusionen auf Leibniz’ Reunionsbe-strebungen und seine Lehre von der prästabilierten Harmonie wird ihm eine übertrieben versöhnlerische Gesinnung vorgeworfen.)

Nr. 279:

[…] Die Theodicee ist […] eine Advokatenschrift in Sachen Gottes contra Bayle und Kon-sorten.5 (Vorher Bemerkungen über Leibniz’ Betätigung in juristischen Funktionen.)

Nr. 333:

Gott ist nach Leibniz wirklich, weil nichts seine Möglichkeit verhindert. In dieser Rücksicht ist Leibnizens Philosophie recht gottähnlich.6 (Nach Leibniz tendiert die Möglichkeit zur Wirklichkeit. Der Vergleich scheint seine Philosophie abzuwerten als bloß möglich, aber nicht wirklich.)

Nr. 361:

Leibniz sieht die Existenz an wie eine Hofcharge, die man zu Lehn haben muß. Sein Gott ist nicht nur Lehnsherr der Existenz, sondern er besitzt auch als Regale allein Freiheit, Harmonie, synthetisches Vermögen. Ein fruchtbarer Beischlaf ist die Expedition eines Adelsdiploms für eine schlummernde Monade aus der göttlichen geheimen Kanzlei.7 (An-spielung auf Leibniz’ Existenz als fürstlicher Diener und Höfling und Kritik seiner monar-chistisch erscheinenden Gottesvorstellung.)

Spinoza dagegen wurde in verklärtem Licht gesehen: Fragment Nr. 234 (wahr-scheinlich von Friedrich Schlegel):

Es ist sehr einseitig und anmaßend, daß es grade nur Einen Mittler geben soll. Für den voll-kommnen Christen, dem sich in dieser Rücksicht der einzige Spinoza am meisten nähern

3 Athenäum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm und Friedrich Schlegel. Auswahl, hrsg. von

Gerda Heinrich, Leipzig 21984, S. 106. 4 Ebd., S. 107. 5 Ebd. 6 Ebd., S. 119. 7 Ebd., S. 127–128.

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Funktionen der Leibniz-Rezeption in Herders Spätwerk 11

dürfte, müßte wohl alles Mittler sein.8 (Pantheistisches Christentum Friedrich Schlegels und Schleiermachers.)

Nr. 274:

Jede Philosophie der Philosophie, nach der Spinoza kein Philosoph ist, muß verdächtig scheinen.9 (Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie: „Spinoza ist der Hauptpunkt der modernen Philosophie: entweder Spinozismus oder keine Philosophie.10)

Friedrich Schlegel, „Rede über die Mythologie“ (im 1. Stück von 1800):

In der Tat, ich begreife kaum, wie man ein Dichter sein kann, ohne den Spinoza zu vereh-ren, zu lieben und ganz der seinige zu werden.11 (Dichter und Spinozisten sehen gleicher-maßen Göttliches im Menschen und in der Natur.)

In der Vorrede zu der stark veränderten 2. Fassung seiner Schrift Gott (1800) wandte Herder sich entschieden gegen den Missbrauch Spinozas für die Trans-zendentalphilosophie und gegen die Verspottung Leibnizens:

Der Name Spinoza, den man vorher gewöhnlich mit Schauder und Abscheu nannte, war seitdem bei Einigen so hoch gestiegen, daß sie ihn nicht anders als zur Verunglimpfung Leibnitzens und andrer trefflicher Geister zu nennen wußten.12

Die 2. Fassung der Gespräche erweiterte er u. a. durch Spinoza-Zitate, denn es sei Ehrensache, „einen Schriftsteller aus sich selbst zu erklären“,13 und er mach-te die schon in der ersten Ausgabe 1787 vorhandenen polemischen Allusionen auf Kant etwas deutlicher. Aktuell kamen jetzt Anspielungen auf Kants unge-nannte Nachfolger Fichte und Schelling hinzu, so z. B. auf Fichtes Wissenschafts-lehre und auf Schellings Schrift Vom Ich als Prinzip der Philosophie, wenn es heißt, dass „man den Kegel auf den Kopf stellte, und aus einem eingebildeten engen Ich das gesammte Weltall, seinem ganzen Inhalt nach, auszuspinnen sich er-kühnte.“14

8 Ebd., S. 99. 9 Ebd., S. 106. 10 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. 3, Leipzig

1971, S. 297. 11 Athenäum, S. 297. 12 Herders Sämmtliche Werke (im Folgenden: SWS), Bd. 16, hrsg. von Bernhard Suphan, Berlin

1887, S. 405. 13 Ebd., S. 406. 14 Ebd., S. 405.

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12 Günter Arnold

2. Im August 1800 verbreitete sich die Fama von der Konversion des Grafen Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg zum Katholizismus in Windeseile durch Deutschland und die Schweiz. Es war ein Skandal. Herder reagierte darauf in seinen Briefen adressatenbezogen differenziert. Der in Weimar lebende Satiri-ker (spätere verdienstvolle Sozialpädagoge) Johannes Daniel Falk, mit Herder und Wieland befreundet, hatte vermutlich für sein Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satyre eine Persiflage auf das Ereignis verfasst und im Manu-skript Herder vorgelegt. Dieser ermahnte ihn zur Toleranz gegen den „Eifer-geist im Protestantismus“. „Stolberg wollen wir ruhen lassen […] Auch Leib-nitz war erwiesenermaßen ein Katholik.“15 Dazu steht im Kommentar der Her-der-Briefausgabe:

Leibniz geriet durch seine langjährigen Bemühungen um die Kirchenreunion (Wiederher-stellung der Einheit der christlichen Kirche) in den Verdacht des Kryptokatholizismus. Er hielt aber an seinem evangelisch-lutherischen Bekenntnis (Augsburger Konfession) fest und widerstand allen Versuchen von Proselytenmacherei, selbst als man ihm unter der Bedin-gung der Konversion die Stelle des Kustos der Biblioteca Vaticana versprach. Er vertrat persönlich ein ökumenisches, latitudinarisches Christentum und konnte die katholischen Dogmen und die römische Zensur nicht annehmen, weil sie ihm keine Denkfreiheit ge-währleisteten. Mit den – an der großen Politik gescheiterten – Reunionsplänen wollte er To-leranz und Frieden befördern.16

3. Am 23. Januar 1802 schrieb Karoline Herder an Karl Ludwig v. Knebel in Ilmenau, der mit der Herder-Familie befreundet war, Herder wolle den 2. Jahr-gang seiner Zeitschrift Adrastea (5. Stück) anfangen. Nach einem ursprünglichen Entwurf war ein Aufsatz über Leibniz erst für das 6. Stück geplant, wurde aber in das 5. vorgezogen.

Sie haben ihm den Geist von Leibnitz versprochen. [Knebel war Ende Juni/Anfang Juli in Weimar zu Besuch gewesen und hatte wahrscheinlich mit Herder über das Buch gespro-chen.] Täglich habe er bisher auf die Erscheinung des Geistes von Leibnitz gehofft – nun könne er nicht mehr länger warten, er bedürfe ihn unaufhaltsam – Senden Sie ihn also ja mit kommendem Boten, wir bitten!!!17

Knebel antwortete am 25. Januar unverzüglich: „Hier ist der Geist von Leib-nitz, der in der That viel Geistiges enthält.“ 18 Im 61. „Humanitätsbrief“ (5. Sammlung, 1795) schreibt Herder: 15 DA, Bd. 8, S. 182. 16 DA, Bd. 15, S. 242. 17 DA, Bd. 8, S. 270. 18 Von und an Herder. Ungedruckte Briefe aus Herders Nachlaß, Bd. 3, hrsg. von Heinrich Düntzer

und Ferdinand Gottfried von Herder, Leipzig 1862, S. 204.

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Funktionen der Leibniz-Rezeption in Herders Spätwerk 13

Vor einigen Jahren erschien, wie mich dünkt, eine Schrift, die der Geist des Herrn von Leibnitz hieß; wahrscheinlich aber ists nicht der rechte Geist gewesen, denn er ist ohne Wirkung bald verschwunden.19

Die Ausgaben der Briefe zu Beförderung der Humanität von Düntzer, Suphan, Stol-pe und Irmscher kommentieren diese Stelle nicht. Es handelte sich um die heu-te vergessene Anthologie Der Geist des Herrn von Leibnitz, oder auserlesene Gedanken über die Religion, Moral, Sprachen und Geschichte, aus allen seinen Werken zusammenge-tragen; aus dem Französischen, 4 Bände, Wittenberg und Zerbst 1775–1777. Der Übersetzer war ein reformierter Theologe, der 1778 Pastor in Stettin wurde, Leopold Ludwig Wilhelm Brunn. Die Originalausgabe, Esprit de Leibnitz, ou recueil de pensées choisies sur la religion, la morale, l’histoire, la philosophie etc. Extraites de toutes ses Oeuvres latines et françoises, Lyon 1772, hatte ein Ordensgeistlicher von Saint-Sulpice, Jacques André Émery (1732–1811) zusammengestellt. 1803 er-schien eine erweiterte zweibändige Ausgabe unter dem Titel Pensées de Leibniz, sur la religion et la morale. Von der deutschsprachigen Anthologie konnte ich bis-her nur die ersten beiden Bände finden. Sie enthalten – wie die französischen von 1803 – nur Fontenelles Lobschrift („Éloge“) auf Leibniz und Auszüge aus den Werken zur Theologie und Moral nach den 1768 in Genf verlegten Opera omnia, nunc primum collecta, in classis distributa, praefationibus et indicibus exornata in sechs Quartanten, die der französische Schriftsteller und frühere britische Ge-sandtschaftssekretär Louis Dutens herausgegeben hat. Diese bis Mitte des 19. Jahrhunderts maßgebliche Leibniz-Ausgabe hat Herder nach den hand-schriftlichen Ausleihjournalen der Weimarer Fürstlichen Bibliothek (heute Her-zogin Anna Amalia Bibliothek) von 1791 bis 1802 sechsmal für längere Zeit ausgeliehen – das war die Entstehungszeit der Humanitätsbriefe, der Metakritik und Kalligone sowie der Adrastea. Selbst besaß Herder Rudolf Erich Raspes Aus-gabe der Oeuvres philosophiques Latines et Françoises de feu Mr. de Leibnitz, Amster-dam und Leipzig 1765, mit der für ihn wichtigsten Schrift Nouveaux essais sur l’entendement humain (BH 2985), die Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal, Amsterdam 1710 (Hannover 1744, Amsterdam 1747; BH 3351, 3352), Mantissa codicis Juris gentium diplomatici, Hannover 1700 (BH 2958), Leibnitii collectanea etymologica, herausgegeben von Johann Georg Eckhart, Hannover 1717 (BH 5146), Merkwürdige Schriften von Leibnitz und [Samuel] Clarke gewechselt, Frankfurt 1720 (BH 3354), Otium Hanoveranum Leibnitii, herausgegeben

19 SWS, Bd. 17, S. 334.

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14 Günter Arnold

von Joachim Friedrich Feller (BH 3356) und Epistolae ad diversos, 4 Bände, Leipzig 1744, herausgegeben von Christian Kortholt (BH 2411/12).

1. Herders Leibniz-Studien chronologisch nach dem Briefwechsel –

zugleich Grundlegung seiner eigenen Philosophie Am 21. Januar 1765 sandte ihm sein Königsberger Freund Johann Georg Ha-mann als Brief seine Exzerpte neuer Literatur, an erster Stelle eine ausführliche Inhaltsangabe mit französischen und lateinischen Zitaten aus Raspes Leibniz-Edition Oeuvres philosophiques Latines et Françoises de feu Mr. de Leibnitz, explizit von den Nouveaux essais sur l’entendement humain, der Auseinandersetzung mit John Lockes Essay concerning human understanding (1690).20 Hamann monierte „ein ge-wißes marktschreyerisches und pralerisches Wesen“21 und bekannte: „[…] sein scholastisches Geschwätz ist niemals recht nach meinem Geschmack gewe-sen.“22 Er zweifelte sehr, „ob die Herausgabe dieser Schriften dem Andenken des Verf[assers] zum Nachruhm gereichen wird“.23

Unabhängig von dem abschätzigen Urteil seines Mentors exzerpierte Herder mit großem Eifer auf 25 Folioseiten fast die Hälfte des umfangreichen Buches, das er sich selbst anschaffte.24 Das Exzerpt umfasst die Vorrede, Buch I „Von den eingeborenen Ideen“ und Buch II „Von den Ideen“ bis Kapitel 27, „Was Identität und Verschiedenheit ist“. Herder hat den französischen Text in einer konzisen deutschen Übersetzung, oft wörtlich sehr genau, zusammengefasst. Das Exzerpieren hatte für ihn eine mnemonische Funktion. Herder war sein Leben lang mehr Leibnizianer als Spinozist, doch die meisten germanistischen Literaturwissenschaftler behaupten das Gegenteil, weil sie eine literaturge-schichtliche Tradition fortschreiben, anstatt die Quellen selbst zu befragen. Das Exzerpt „Wahrheiten aus Leibnitz“ ist nur zum vierten Teil gedruckt (bis Buch II, Kapitel 1, § 15).25 In den Gott-Gesprächen nannte Herder die Nouveaux essais „beinahe die lehrreichste unter Leibnitzens Schriften, von dem übrigens jede Zeile lehrreich ist.“26

20 Johann Georg Hamann: Briefwechsel, Bd. 2, hrsg. von Walther Ziesemer und Arthur Henkel,

Wiesbaden 1956, S. 298–301. 21 Ebd., S. 301. 22 Ebd., S. 299. 23 Ebd., S. 301. 24 Staatsbibliothek Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Herder-Nachlass XXV 92. 25 SWS, Bd. 32, S. 211–225. 26 SWS, Bd. 16, S. 485, Anm. a.

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Funktionen der Leibniz-Rezeption in Herders Spätwerk 15

Auf eine andere Hauptschrift Leibniz’, die Essais de Théodicée, rekurriert Her-der, ohne Leibniz zu nennen, in dem folgenreichen Entwurf zur Aeltesten Ur-kunde des Menschengeschlechts (und gleichzeitig seiner gesamten Geschichtsphilo-sophie) in einem Brief an Hamann im April 1768 über das 1. Buch Mose, Kapi-tel 1–3.27 Herder fragt: „wie wurden wir aus einem Geschöpf Gottes, das, was wir jetzt sind, ein Geschöpf der Menschen? […] wie ward das Uebel der Welt?“28 Nach Leibniz’ Théodicée ist das Übel in der Welt notwendig durch die Existenz der Welt selbst bedingt, in der Natur der endlichen (irdischen) Wesen angelegt und den Menschen als Erziehungsmittel dienlich, und Gott hat ihnen mit dem moralischen Übel die Selbstbestimmung, d. h. die Wahl zwischen Gut und Böse, ermöglicht. Leibniz war darin beeinflusst von William Kings Schrift De origine mali (1702). Herders aufklärerisch-emanzipatorische Umwertung des Sündenfalls hat die gleiche Tendenz:

der Baum der Erkenntnis Gutes u. Böses […] ist das Risquo, das der Mensch auf sich nahm, außer seinen Schranken, sich zu erweitern, Erkenntnisse zu sammlen, fremde Früch-te zu genießen, andern Geschöpfen nachzuahmen, die Vernunft zu erhöhen, um selbst ein Sammelplatz aller Instinkte, aller Fähigkeiten, aller Genußarten seyn zu wollen, zu seyn wie Gott (nicht mehr ein Thier) u. zu wißen.29

Das 1. Kapitel des 15. Buches der Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1787) hat die Überschrift: „Humanität ist der Zweck der Menschen-Natur und Gott hat unserm Geschlecht mit diesem Zweck sein eigenes Schicksal in die Hände gegeben“.30

Im April und Dezember 1769 führte Herder einen Briefdialog mit Moses Mendelssohn, dem bedeutendsten Repräsentanten der Leibniz-Wolff’schen Schulphilosophie, über dessen Schrift Phaedon oder Ueber die Unsterblichkeit der Seele, in drey Gesprächen (1767, 31769). Mendelssohn hatte darin Sokrates zum Leibnizianer gemacht. Im Briefwechsel zwischen Herder und Mendelssohn kamen die Leibniz’schen Auffassungen von Glück, von der vermischten geistig-sinnlichen Natur des Menschen, die Lehre von den organischen Kräften, die von Leibniz vertretene Präformationstheorie und seine Ablehnung der Me-tempsychose (Seelenwanderung), der unhintergehbare Begriff des Daseins, die fortgehende Entwicklung und Steigerung und der stufenweise Aufstieg der Seele über den Tod hinaus zur Vollkommenheit (welche beide Ideen Herder

27 DA, Bd. 1, S. 97–100 (Bd. 9, S. 64–67). 28 Ebd., S. 97 (Bd. 9, S. 64–65). 29 Ebd., S. 98 (Bd. 9, S. 66). 30 SWS, Bd. 14, S. 207.

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16 Günter Arnold

damals noch ablehnte, indem er die Entwicklung auf den irdischen Daseins-zweck beschränkte und für den Naturprozess der Lukrezischen Kreislauflehre anhing), die prästabilierte Harmonie und die beste aller Welten (beides später in Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele kritisiert), das Leibniz’sche Analogieprinzip, die unzerstörbare Identität der Gattungen und die Palingene-sie als leiblich-geistige Wiedergeburt zur Sprache.31

In einem Brief an Johann Heinrich Merck im September 1770 urteilte Her-der abschätzig über die Philosophie de la Nature des französischen Schriftstellers Delisle de Sales, eines „Kleinmeisters der Philosophie“:

Der Autor hat Funken der Leibnitzischen Philosophie gesehen; aber das Feuer, woraus die-se Funken losprasseln, ist ihm verborgen.32

Herder hatte den Eindruck, Delisle habe Leibniz, auf den er sich berufe, nicht verstanden.

Als Herder Hamanns negative Rezensionen seiner von der Königlich Preu-ßischen Akademie gekrönten Preisschrift Abhandlung über den Ursprung der Sprache gelesen hatte, entschuldigte er sich bei ihm im August 1772 für „die Denkart“ und „die Leibniz-Aesthetische Hülle“, „die Einzige Masque“, unter der er „er-scheinen konnte“;33 d. h., er habe sich der an der Akademie herrschenden Mei-nung nur scheinbar angepasst, um den Preis zu erhalten. Der Leibnizianismus konzentriert sich in der These: „Der Ursprung der Sprache wird also nur auf eine würdige Art Göttlich, so fern er Menschlich ist.“34 Der stringente Gedan-kengang und eindringliche Stil der ideenreichen Schrift beweist, dass Herder sie con amore als Ausdruck seiner Überzeugung und im Bewusstsein geistiger Überlegenheit verfasst hat. Seine Beteuerung, dass seine und Hamanns Ansichten identisch seien,35 war eine Selbsttäuschung, denn er führte darin den Diskurs der sensualistischen Aufklärung, Hamann in seinen Gegenschriften aber den biblischen Diskurs.

In Briefen, Predigten und Schriften betonte Herder seit den frühen siebziger Jahren in zunehmendem Maße den Wert der unverwechselbaren Individualität. So z. B. im Dezember 1774 an die Gräfin Maria zu Schaumburg-Lippe: „Jeder Mensch hat ein Bild in sich was er seyn u. werden soll, so lange er das noch

31 DA, Bd. 1, S. 137–143 und 177–181 (Bd. 9, S. 92–95); Kommentar DA, Bd. 11, S. 93–102

und 127–130. 32 DA, Bd. 1, S. 217. 33 DA, Bd. 2, S. 210. 34 SWS, Bd. 5, S. 146. 35 Vgl. DA, Bd. 2, S. 209–210.

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nicht ist, ist noch Unfriede in seinen Gebeinen“.36 Hier wirkten wahrscheinlich mehrere Faktoren zusammen: der durch Reformation und Pietismus aktualisier-te religiöse Individualismus (vgl. Römer 12,4–6), die Gottebenbildlichkeit des Menschen, das humanisierende Vorbild Jesu und als philosophische Grundle-gung der Individualität die „eingeborenen Ideen“ Leibniz’ als allgemeinste Best-immungen der Monade. Die bedingungslose Anerkennung des Eigentümlichen und Individuellen wurde zur Hauptmaxime der literarischen Strömung des Sturm und Drang. Als ihr theoretisches Instrument wirkten in weiteren Kreisen Johann Kaspar Lavaters Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschen-kenntniß und Menschenliebe. An seine Verlobte Karoline Flachsland schrieb Her-der im März 1772, um ihr Selbstbewusstsein zu heben: „Vergeßen Sie sich nie, daß Sie auch nur einen Augenblick den Muth verlieren, die zu seyn, die Sie sind u. seyn können u. sollen!“37 Das Individualitätsprinzip war nicht nur für Her-ders psychologischen und pädagogischen Ansichten konstitutiv, sondern auch für seine Weltanschauung und Geschichtsphilosophie allgemein. In der Bücke-burger Geschichtsphilosophie (1774) sagt er: „[…] in gewißem Betracht ist also jede Menschliche Vollkommenheit National, Säkular, und am genauesten be-trachtet, Individuell“.38 Aufgrund feinfühliger psychologischer Beobachtungen lehnt er in Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume (1778) nach Leibniz’ Vorrede zu den Nouveaux essais als „die platteste Meinung“ ab, „daß alle menschliche Seelen gleich, daß sie alle als platte leere Tafeln auf die Welt kommen“, aber

auch das Leibnitzische Gleichnis von Marmorstücken, in denen der Umriß zur künftigen Bildsäule schon da liegt, dünkt [ihm] noch zu wenig […] Keine zwei Sandkörner sind ei-nander gleich, geschweige solche reiche Keime und Abgründe von Kräften, als zwo Men-schenseelen, oder ich hätte von dem Wort Menschenseele gar keinen Gedanken.39

Als Herder im August 1776 an der 2. Fassung dieser nicht gekrönten Preis-schrift arbeitete, beschäftigte er sich unter anderem mit Problemen der Semio-tik und schrieb an einen norddeutschen Freund, den philosophisch interessier-ten Gutsbesitzer Friedrich von Hahn:

36 DA, Bd. 3, S. 141 (Bd. 9, S. 210). 37 DA, Bd. 2, S. 151; vgl. S. 122 und 157. 38 SWS, Bd. 5, S. 505. 39 SWS, Bd. 8, S. 226–227.

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18 Günter Arnold

Es muß einen Punkt geben, wo Zeichen, Wort u. Bedeutung zusammenfallen [Zitat aus Hahns vorausgehendem Brief über Herders Sprachabhandlung] O hätten Sie Herz und Lust, hierinn Leibniz zu werden.40

Leibniz gehörte zu den Lieblingsautoren Hahns wie Herders. Hier ist wohl an die Dissertatio de arte combinatoria (1666) über die „characteristica universalis“ zu denken. In Vom Erkennen und Empfinden (3. Fassung, 1778), vor allem nach den Meditationes de cognitione, veritate et ideis (1684), und im 1. Teil der Ideen zur Philoso-phie der Geschichte der Menschheit (1784) mit der auf die Monadologie gegründeten, nach Zeit, Ort, Völkern und Personen individualisierenden Geschichtsbetrach-tung gibt Herder sich dem Leser am sichtbarsten als Leibniz-Schüler zu erken-nen: Die erkenntnistheoretische Abhandlung gibt „am Leitfaden der Leibnizi-schen Gedanken eine Naturgeschichte der Seele in der Form einer Entwick-lungsgeschichte von dem Phänomen des Reizes bis zu dem der Intelligenz und Freiheit“, das Geschichtswerk mit der ins Jenseits verlängerten Kontinuitätsleh-re Leibniz’ und Bonnets zeigt

das Aufstreben der organischen Kräfte zur Anlage der Humanität, die fortschreitende Ent-wicklung der Humanität zu immer höheren, immer nach Harmonie gravitierenden Formen und Kräftemischungen.

In beiden Fällen „handelt es sich um eine empirische, wenigstens der Grundla-ge nach naturwissenschaftliche Anwendung der Leibnizischen Metaphysik“, und immer ist „die letzte Erklärung […] Offenbarung Gottes“ (Haym).41

Seit 1777 korrespondierte Herder mit dem Statthalter des Kurfürsten von Mainz in Erfurt, Karl Theodor von Dalberg. In diesem Jahr antwortete er auf einen nicht überlieferten Entwurf zu dessen Betrachtungen über das Universum (1777) mit dem Aufsatz „Über die dem Menschen angeborne Lüge“, worin seine auf Luthers Sündenverständnis beruhende universale Gegensatzlehre (die „lex contrariorum“, d. h. die – von Dalberg nur auf den Menschen bezogene – Kontrarietät gehe durch das ganze Universum) und die neuplatonisch-mystische Auffassung von Frans Hemsterhuis von der Einheit der Welt eine dialektische Synthese eingehen, also Einheit und Kampf der Gegensätze theoretisch be-gründen (so schon der altgriechische Naturphilosoph Empedokles mit der Po-larität der Weltprinzipien Hass und Liebe; nach Herders Aufsatz „Liebe und Selbstheit“, 1781). In seinem tiefgründigen Kommentar hat Wolfgang Proß diesen kurzen Text („Lüge“) zu Recht als einen Vorläufer des 15. Buches der

40 DA, Bd. 3, S. 296 (Bd. 13, S. 386). 41 Rudolf Haym: Herder, Bd. 2, Berlin 1954, S. 298.

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Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit und beider Fassungen der Gott-Gespräche gewürdigt.42 Jedenfalls war darin schon – wie nachher im Großen in den Ideen ausgeführt – eine Art Theodizee als Entwicklungskonzeption angelegt:

Eben die Kontrarietät im Menschen ist das Siegel Gottes in unsrer Natur, der Baum der Erkenntnis Guts und Böses in einen ewigen Baum des Lebens verwandelt.43

Zu Gedanken von Leibniz und Spinoza kamen Einflüsse der Schriften Johann Heinrich Lamberts, Giordano Brunos, vielleicht auch Jakob Böhmes hinzu. Wilhelm Dobbek schloss 1960 für diesen Aufsatz auch einen Bezug auf die „coincidentia oppositorum“ des Nikolaus Cusanus nicht aus,44 obwohl es kei-nen Beleg für eine Cusanus-Rezeption im 18. Jahrhundert gibt. Das Prinzip eines universalen Gegensatzes spielte auch eine wichtige Rolle in Herders und Friedrich Heinrich Jacobis Korrespondenz 1784/85 über Lessings Gespräche mit Letzterem über Spinoza, konkret eine Äußerung von Leibniz, dass Gott sich „in einer immerwährenden Expansion und Contraction“ befinde; „dieses wäre die Schöpfung und das Bestehen der Welt“.45

Johann Georg Müller nannte in einem Brief an Herder im Juni 1787 die Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, besonders im Hinblick auf das 15. Buch mit den „Naturgesetzen“ der Geschichte „eine fortgehende auf That und Geschichte gegründete Theodicee oder besser allgemeine Theologie“. 46 Seit 1777 trug Herder sich mit dem Plan einer Schrift über eine „Parallele der Dreimänner Spinoza, Shaftesburi, Leibniz“.47 Diese entstand Anfang 1787 und erschien gleichzeitig mit dem dritten Teil der Ideen als deren speziell naturphilo-sophisches Nebenwerk, Gott. Einige Gespräche. Erst die 2. stark veränderte Aus-gabe 1800 mit dem ausführlichen Untertitel Einige Gespräche über Spinoza’s System; nebst Shaftesburi’s Naturhymnus führte den ursprünglichen Plan vollständig aus, nachdem in der Erstfassung der englische Deist und Platoniker nur sporadisch erwähnt worden war. Herders Nachdichtung des „Song of Nature“ des Theok- 42 Johann Gottfried Herder: Werke, Bd. 2, hrsg. von Wolfgang Proß, München/Wien 1987,

S. 1026–1032. 43 SWS, Bd. 9, S. 540; vgl. Haym: Herder, Bd. 2, S. 76. 44 Wilhelm Dobbek: „Die coincidentia oppositorum als Prinzip der Weltdeutung bei Johann

Gottfried Herder wie in seiner Zeit“, in: Herder-Studien (= Marburger Ostforschungen 10), hrsg. von Walter Wiora unter Mitwirkung von Hans Dietrich Irmscher, Würzburg 1960, S. 24–25.

45 Friedrich Heinrich Jacobi an Moses Mendelssohn, 4.11.1783, in: Ders.: Briefwechsel. Gesamtaus-gabe, Reihe I, Bd. 3: Briefwechsel 1782–1784, hrsg. von Peter Bachmeier, Michael Brüggen, Heinz Gockel, Reinhard Lauth und Peter Paul Schneider, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, S. 233.

46 DA, Bd. 12, S. 499–500. 47 DA, Bd. 5, S. 28; Bd. 12, S. 298.

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les aus The Moralists, a Philosophical Rhapsody (1709) war eine bis dahin unge-druckte Freundesgabe in das handschriftliche Gedichtbuch der langsam ster-benden Gräfin Maria zu Schaumburg-Lippe im März 1775. 48 Das englische Original empfahl Herder seinem Sohn August im Februar 1798 als geeignete Lektüre; es enthalte „die Spinosisch-Leibnitzische Philosophie im schönsten u. erlesensten Auszuge. […] das reinste System der Moralphilosophie“.49 An Merck hatte er im September 1770 geschrieben, daß der angebliche Atheist Shaftesbury

Ordnung, Uebereinstimmung, höchste Weisheit im Bau der ganzen Welt predigt, [und] den Optimism zu erst vortrug, daß er ans Herz drang, da Leibniz ihn [in der Theodicée] nur dem Verstande sagte.50

Ebenso fand Herder in Popes An Essay on Man (1733/34) „die Spinosisch-Leibnitzische Philosophie“ wieder.51 Diese Urteile zeigen Herders dominieren-de Neigung zur geistesgeschichtliche Synthese, zur Betonung des Gemeinsa-men, während seinerzeit Lessing und Moses Mendelssohn in ihrer nicht einge-reichten Berliner Preisschrift Pope ein Metaphysiker! (1755) dieses deistische Lehr-gedicht als eklektizistisches Konglomerat von größtenteils anders oder gar nicht verstandenen Ideen von Leibniz, Shaftesbury, Spinoza, Platon, Nicolas Male-branche und William King kritisierten und die Differenzen betonten.

Meines Erachtens stellen auch Herders Gott-Gespräche ein philosophisches Konglomerat dar. Für die Literarhistoriker ist es vor allem eine Schrift über Spinoza. Dessen Namen haftete im 18. Jahrhundert bis in die achtziger Jahre das Brandmal des Atheismus und der Ketzerei an, wie Mendelssohns und ande-rer Zeitgenossen empörte Reaktion auf Jacobis Enthüllungen über Lessings Spinozismus beweist. Erst durch den von Friedrich Heinrich Jacobi ausgelösten Spinoza- oder Pantheismusstreit wurde sein Name unter den Philosophen sa-lonfähig, und man konnte in der literarischen Öffentlichkeit (katholische Län-der ausgenommen) über seine Theorien schreiben und sprechen. Herder und Goethe wiesen Jacobis Atheismusvorwurf gegen Spinoza zurück.52 Das Studi-um seiner Werke wurde immer eifriger betrieben, wie wir an den Frühromanti-kern in Jena um 1800 gesehen haben, für die er fast ein Heiliger war. Sein Na-me wurde repräsentativ für aufgeklärte und emanzipierte Philosophie. Die Re-sonanz auf Herders Gott war, von seinen engsten Freunden abgesehen, über-

48 DA, Bd. 11, S. 552. 49 DA, Bd. 7, S. 362. 50 DA, Bd. 1, S. 217. 51 DA, Bd. 7, S. 362. 52 Vgl. DA, Bd. 12, S. 417, 508, 514.

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wiegend negativ. Jacobi erklärte in der 2. Ausgabe von Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, Herder habe damit gezeigt, dass er überhaupt kein Philosoph sei.53 Kant nannte Herder einen „großen Künstler von Blendwerken“ und bezeichnete Herders Gott als „Syncretism des Spino-zismus mit dem Deism“;54 sein Schüler Christian Jakob Kraus empfand tiefen Widerwillen gegen die „Hypermetaphysik des Pantheismus“.55 Der radikalauf-klärerische Schriftsteller Wilhelm Ludwig Wekhrlin bezeichnete Herders Philo-sophie in Gott als „Superintendenten-Spinozism“.56 Christian Gottlob Heyne war, wie Friedrich Ludwig Wilhelm Meyer am 1. August 1787 an Herder schrieb, „gänzlich“ seiner (Herders) „Meinung, nur kann er sich nicht überre-den, daß es Spinozas Meinung sei“.57 Herders Verdienst war neben der „Ret-tung“ Spinozas die Verbindung der Leibnizschen Lehre von den organischen Kräften mit seinem System, wodurch ein dynamischen Pantheismus entstand, dessen wesentlichste Merkmale Monismus und Entwicklung sind.

Wenn man die 10 „Naturgesetze der heiligen Nothwendigkeit“ im 5. Gott-Gespräch auf ihre wahrscheinlichen Quellen hin untersucht, kommt man zu dem Resultat einer überwältigenden Priorität Leibniz’scher Theoreme. Diese blieben bis in Herders letzte Schriften und Predigten für ihn grundlegend. Im Folgenden gebe ich dazu Belege an, die man im Einzelnen auf ihre Stichhaltig-keit hin prüfen kann.

1. „Das höchste Daseyn hat seinen Geschöpfen nichts Höheres zu geben

gewußt, als Daseyn.“58 Zusatz am Schluss der 2. Ausgabe: „Das höchste Daseyn hat seinen Hervorbringungen das Höchste gegeben, Wirklichkeit, Daseyn.“ „Weisen der Exsistenz […] nennen wir Individualitäten.“59 Her-der versucht hier (gegen die herrschende Auffassung), Spinoza das „Prin-zipium der Individuation“ zu vindizieren (anzueignen).60 Dieses aus dem mittelalterlichen Universalienstreit tradierte nominalistische Prinzip hat aber nicht Spinoza, sondern Leibniz weiterentwickelt: „Was ist, ist durch

53 Vgl. DA, Bd. 14, S. 565. 54 Immanuel Kant an Friedrich Heinrich Jacobi, 30.8.1789, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 11

(= Briefwechsel, Bd. 2), hrsg. von der Königl. Preuß. Akademie der Wissenschaften, Ber-lin/Leipzig 1922, S. 76.

55 DA, Bd. 13, S. 265. 56 DA, Bd. 14, S. 565. 57 Von und an Herder, Bd. 2, S. 245. 58 SWS, Bd. 16, S. 541. 59 Ebd., S. 573. 60 Ebd., S. 574.

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sein Dasein selbst Individuum“ (Disputatio metaphysica de principio individui, 1663)61. Jede Monade (Substanz) ist ein Individuum. Herder an Jacobi, 6. Februar 1784: „Liebe ist höchstes Daseyn u. Gott ist die Liebe.“62 2. August 1792: „Das Daseyn ist nicht Gedanke, nicht Mei-nung; es ist Daseyn.“63 – Gott: „Das Daseyn ist vortrefflicher als jede seiner Wirkungen“.64 „Was konnte sie [die Gottheit …] Höheres geben, als was in ihr selbst das Höchste ist, Daseyn“.65 „Jedes Wesen ist, was es ist.“66 – Goethe an Jacobi, 9. Juni 1785: „das Daseyn ist Gott“.67 – Spinoza, Ethica I, 7. Lehrsatz: „Zur Natur der Substanz gehört es, daß sie existiert.“68

2. „Die Gottheit, in der nur Eine wesentliche Kraft ist, die wir Macht, Weis-heit und Güte nennen, konnte nichts hervorbringen als was ein lebendiger Abdruck derselben, mithin selbst Kraft, Weisheit und Güte sei, die eben so untrennbar das Wesen jedes in der Welt erscheinenden Daseyns bilden.“69 – Monadologie, § 48: „In Gott ist die Macht, welche die Quelle von Allem ist; sodann die Erkenntnis, welche die Mannigfaltigkeit der Ideen enthält; schließlich der Wille, welcher die Veränderungen oder Erzeugungen gemäß dem Prinzip des Besten ins Werk setzt.“70 § 55: „Das ist die Ursache für die Existenz des Besten, welches Gott die Weisheit erkennen, seine Güte ihn wählen und seine Macht ihn hervorbringen läßt.“71 Vgl. Vernunftprinzi-pien der Natur und Gnade, §§ 9 und 10.72

61 Vgl. G. W. Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, hrsg. von der Preußischen (später: Berlin-

Brandenburgischen und Göttinger) Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Darmstadt (spä-ter: Leipzig, zuletzt: Berlin) 1923 ff. Reihe VI, Bd. 1, S. 11 (im Folgenden zitiert als A, nach Reihe, Band, Seite).

62 DA, Bd. 5, S. 29. 63 DA, Bd. 6, S. 279. 64 SWS, Bd. 16, S. 502. 65 Ebd., S. 536. 66 Ebd., S. 552. 67 Goethes Werke, Abtlg. IV, Bd. 7, hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen

(Weimarer Ausgabe), Weimar 1891, S. 62. 68 Baruch Spinoza: Ethik, übersetzt von Jakob Stern, Leipzig 1972, S. 28. 69 SWS, Bd. 16, S. 543–544. 70 Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie, übersetzt und erläutert von Hermann Glockner,

Stuttgart 1979, S. 24. 71 Ebd., S. 26. 72 Gottfried Wilhelm Leibniz: Philosophische Werke in vier Bänden. In der Zusammenstellung von

Ernst Cassirer, Bd. 2: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie II (= Philosophische Biblio-thek 497), übersetzt von Ernst Cassirer, Hamburg 1996, S. 597–598.

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3. „Alle Kräfte der Natur wirken organisch. Jede Organisation ist nichts als ein System lebendiger Kräfte, die nach ewigen Regeln der Weisheit, Güte und Schönheit einer Hauptkraft dienen.“73 – Monadologie, § 63: „Jede Mo-nade ist nach ihrer Weise ein Spiegel der Welt, und die Welt ist nach einer vollkommenen Ordnung geregelt.“ § 64: „Jeder organische Körper eines Lebendigen ist eine Art von göttlicher Maschine oder natürlichem Auto-maten“.74 Vernunftprinzipien der Natur und Gnade, § 1: „Die Substanz [Mona-de] ist ein der Tätigkeit fähiges Wesen.“75 Vgl. Neues System der Natur und der Gemeinschaft der Substanzen, wie der Vereinigung zwischen Körper und Seele (1695).76

4. „Die Gesetze, nach denen diese herrscht, jene dienen, sind: innerer Bestand eines jeglichen Wesens [Beharrung], Vereinigung mit Gleichartigem und vom Entgegengesetzten Scheidung, endlich Verähnlichung mit sich selbst und Abdruck seines Wesens in einem andern. Sie sind Wirkungen, dadurch sich die Gottheit selbst offenbart hat und keine andre, keine höhere sind denkbar.“77 – 1) Beharrung: Spinoza, Ethica III, 6. Lehrsatz: „Jedes Ding strebt, soweit es in sich ist, in seinem Sein zu verharren.“ 7. Lehrsatz: „Das Bestreben, womit jedes Ding in seinem Sein zu verharren strebt, ist nichts als das wirkliche Wesen des Dinges selbst.“78 I, 24. Lehrsatz, Zusatz: „Gott ist nicht bloß die Ursache, daß die Dinge zu existieren anfangen, sondern auch, daß sie im Existieren verharren.“79 – Der „Leibnitz unsrer Zeit“, Jo-hann Heinrich Lambert, Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrthum und Schein (1764), Anlage zur Architectonic, oder Theorie des Einfachen und des Ersten in der philosophi-schen und mathematischen Erkenntniß (1771), erklärt: „Der Beharrungsstand, mithin das Wesen jedes eingeschränkten Dinges, beruht allenthalben auf einem Maximum, […] auf einer Art innerer Nothwendigkeit“ (Gott, 3. Ge-spräch).80 – Satz der Identität: „Quidquid est, illud est“ (Nouveaux essais, 1. Buch, Kapitel 1, § 4).81 – 2) Vereinigung bzw. Scheidung: nach dem mi-neralogischen Magnetismus, der Elektrizität und chemischen Prozessen

73 SWS, Bd. 16, S. 569. 74 Leibniz: Monadologie, S. 28. 75 Ders.: Philosophische Werke, Bd. 2, S. 592. 76 Ebd., Bd. 3, S. 447–458. 77 SWS, Bd. 16, S. 569. 78 Spinoza: Ethik, S. 167. 79 Ebd., S. 55. 80 SWS, Bd. 16, S. 469–470. 81 Leibniz: Philosophische Werke, Bd. 3, S. 36; A VI, 6, 75.

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(„Wahl-Anziehung“ nach Torbern Olof Bergman (Gott, 5. Gespräch).82 – Spinoza, Ethica IV, 18. Lehrsatz, Anmerkung: „Das denkbar Vorzüglichste ist das, was ganz und gar mit unserer Natur übereinstimmt.“83 Vgl. ferner dazu Hass und Liebe nach Empedokles und Frans Hemsterhuis (vgl. Her-der „Liebe und Selbstheit“, 1781). – 3) „Verähnlichung“: Assimilation vgl. Karl Theodor Anton Maria von Dalberg, Betrachtungen über das Universum (1777).84 Gottähnlichkeit nach Platon, Theaitetos 176 b: „Verähnlichung mit Gott soweit möglich; und diese Verähnlichung besteht darin, daß man ge-recht und fromm sei mit Einsicht.“ Christusähnlichkeit nach Lavater, Phy-siognomische Fragmente (1775–1778). Im Hinblick auf die Fortpflanzung: Rei-hentheorie85 nach Lambert, Anlage zur Architectonic.

5. „Kein Tod ist in der Schöpfung, sondern Verwandlung; Verwandlung nach dem weisesten besten Gesetz der Nothwendigkeit, nach welchem jede Kraft im Reich der Veränderungen sich immer neu, immer wirkend erhal-ten will und also durch Anziehen und Abstoßen, durch Freundschaft und Feindschaft ihr organisches Gewand unaufhörlich ändert.“86 – Nouveaux essais, Vorrede: Die unmerklichen kleinen Perzeptionen „bewirken auch, daß der Tod nichts anderes ist als ein Schlaf, ja daß er ein solcher nicht bleiben kann“.87 Monadologie, § 4: „Es ist undenkbar, daß eine einfache Substanz [Monade] auf irgendeine natürliche Weise zugrundegehen könnte.“88 § 76: Es gibt nicht nur „keine völlige Neuerzeugung, sondern auch weder gänz-liche Zerstörung noch Tod im strengen Sinne“. § 77: „Nicht allein die See-le ist unzerstörbar, sondern auch das Tier selbst“.89 Vgl. Theodicée, § 89.90 – Rigaer Predigt Herders „Über das künftige Leben“, 1768: Im Tod hört nur das Zusammengesetzte auf. „Alles bleibt […] in der Natur, und so muß auch der einfache, denkende Theil [unsterbliche menschliche Seele] in der Natur bleiben“.91

82 SWS, Bd. 16, S. 555–559. 83 Spinoza: Ethik, S. 278. 84 SWS, Bd. 16, S. 562, Anm. a. 85 Vgl. SWS, Bd. 16, S. 560. 86 SWS, Bd. 16, S. 569–570. 87 Leibniz: Philosophische Werke, Bd. 3, S. 12; A VI, 6, 55. 88 Leibniz: Monadologie, S. 13. 89 Ebd., S. 31–32. 90 Leibniz: Philosophische Werke, Bd. 4, S. 146–147. 91 SWS, Bd. 32, S. 341.