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Studium und Arbeitstechniken
der Politikwissenschaft
Autoren: Georg Simonis Helmut Elbers
Stand: 15.07.2010
3 Was sind politikwissenschaftliche Probleme? 50
3 Was sind politikwissenschaftliche Probleme?
Nachdem zunächst das Umfeld und die Ressourcen von Studierenden allgemein
dargestellt wurden, erreichen wir nun das Fach, das Sie studieren. In diesem Ka-
pitel wollen wir Ihnen die Disziplin „Politikwissenschaft“ vorstellen. Das ge-
schieht einmal durch eine nähere Betrachtung, was Politik, Wissenschaft und Po-
litikwissenschaft überhaupt sind. Zum Zweiten werden wir erläutern, worin sich
die Politikwissenschaft von anderen Disziplinen unterscheidet. Daraufhin werden
wir auf das „Erkenntnisinteresse“ von Studierenden und WissenschaftlerInnen
eingehen, d. h. mit welcher Absicht und mit welchen Leitlinien sie dem Studium,
der Forschung und der Lehre nachgehen.
3.1 Was ist Politikwissenschaft?
Im Alltagsverständnis erscheint es recht klar, was Politik ist. Diejenigen, die
abends in der Tagesschau erscheinen, der Bundeskanzler, die Bundestagsabgeord-
neten, ausländische Regierungsangehörige usw., sind Politiker, und was sie ma-
chen, ist Politik. Eine solche Alltagsdefinition wird zwar „Otto Normalverbrau-
cher“ ausreichen, aber andererseits wird dadurch vieles nicht erfasst. Um einige
Beispiele zu geben: Kommunalpolitik taucht in den Hauptfernsehnachrichten eher
selten auf, ebenso botswanische Innenpolitik oder die Programme der Welternäh-
rungsorganisation FAO. Was also umfasst der Begriff „Politik“, wenn wir ihn in
der Bezeichnung unserer Disziplin verwenden?
Hierbei ist ein Blick in die gesellschaftliche Arbeitsteilung sinnvoll. Die Wirt-
schaft z. B. versorgt die Konsumenten mit Waren, oder die Justiz spricht Recht,
oder das Schulsystem sorgt für die Erziehung. Aber welch einen Bereich deckt die
Politik ab? Gehen wir zurück auf die Lehre von der Gewaltenteilung. Montes-
quieu unterscheidet die drei Gewalten Legislative (gesetzgebende Gewalt), Exe-
kutive (ausführende Gewalt) und Judikative (rechtsprechende Gewalt). Als ge-
setzgebende Gewalt fungieren in Deutschland die Landesparlamente und der
Bundestag, wobei seit einiger Zeit die EU die Gesetzgebung stark mitbestimmt:
Sie werden auch im allgemeinen Sprachgebrauch eindeutig dem Bereich „Politik“
zugeordnet. Zur ausführenden Gewalt gehören die Bundes- und Landesregierun-
gen, aber auch die Kommunalverwaltungen. Diese geben u. a. Bescheide, Erlasse
und Verordnungen heraus, die die Gesetze ergänzen und anwendbar machen. In
diesen beiden – in Deutschland miteinander verschränkten – Gewalten wird aber
auch bestimmt, welchen Weg die Politik in Zukunft nehmen soll. Sollen Atom-
kraftwerke abgeschaltet werden, und wenn ja, wann? Bevor hierzu Gesetze verab-
schiedet oder Erlasse verfügt werden, gibt es Diskussionen, an denen nicht nur die
Parlamentarier und die Regierungsmitglieder beteiligt sind, sondern auch weitere
Interessierte, wie Umweltschutzorganisationen, Parteien, Industrieunternehmen
und -verbände oder Gewerkschaften. Es wird darum gestritten, welcher Weg der
Alltagsverständnis von Politik
Aufgabe von Politik in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung
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beste sei. Die Vor- und Nachteile verschiedener Varianten werden erwogen, und
anschließend, sei es früher oder später, wird dann eine Entscheidung getroffen.
Deren wesentliches Merkmal ist, dass sie für alle im Geltungsbereich (z. B. alle
Mitgliedsstaaten der UNO, Deutschland oder das Saarland) lebenden und agieren-
den Subjekte verbindlich ist. Zusammenfassend ergibt sich dann eine sehr kurze
und prägnante Politikdefinition, die von dem ehemaligen Bundesminister Erhard
Eppler (1998: 66) stammt:
„Politik ist wertendes Streiten vor verbindlichem Entscheiden.“
Jetzt mag der erste Passus, das wertende Streiten, auf offene, pluralistische, de-
mokratische Gesellschaften wie in der EU und Nordamerika zutreffen. Hier gibt
es einen offenen Diskurs über verschiedene Handlungsmöglichkeiten, unter denen
die Agierenden auswählen können. Politisch wirksam ist aber auch die Entschei-
dung, die ein autokratischer Herrscher, ein Monarch oder Diktator, allein im stil-
len Kämmerlein trifft und der Allgemeinheit oktroyiert. Und die Vertagung, das
Sich-nicht-einigen-Können, bei dem alles beim Alten bleibt, ist ebenso eine Ent-
scheidung. Diese Erweiterung hat der Politikwissenschaftler Werner J. Patzelt in
seiner Politikdefinition berücksichtigt:
„Politik ist jenes menschliche Handeln, das auf die Herstellung allgemeiner
Verbindlichkeit, v. a. von allgemein verbindlichen Regelungen und Entschei-
dungen, in und zwischen Gruppen von Menschen abzielt“ (Patzelt 1997: 16).
Dies sind zwei Möglichkeiten, Politik zu definieren. Die erste ist diskursorientiert,
die zweite handlungsorientiert: Eppler stellt das wertende Streiten als pluralisti-
schen Diskurs in den Mittelpunkt, Patzelt formuliert mit dem Blick auf die Hand-
lungen. Beide sind ergebnisorientiert: Politik stellt allgemeine Verbindlichkeit in
Form von Regeln, Entscheidungen und Gesetzen her. Es gibt aber eine Menge an-
derer Möglichkeiten der Politikdefinition (s. Abbildung 7). Einige davon möchten
wir Ihnen hier zusätzlich vorstellen, nicht, um Sie zu verwirren, sondern um zu
zeigen, dass es auch und gerade unter PolitikwissenschaftlerInnen eine Vielzahl
von Meinungen gibt, was sich auch in den Fragestellungen von Haus- oder
Magisterarbeiten widerspiegelt, die sich unterschiedlichen Politikbereichen von
verschiedenen Seiten her nähern können.
Politikdefinition in einer offenen Gesellschaft
Allgemeine Politikdefinition
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Abbildung 7: Politikdefinitionen
Definition von Politik Erläuterungen
„Politik ist die in der Regel staatlich vollzogene ver-bindliche Entscheidung von Konflikten zwischen ge-sellschaftlichen Interessen sowie die darauf bezoge-nen Handlungen, Regeln und Ideen; sie beruht auf Macht, d. h. der Fähigkeit, bei allen Adressaten ihren Willen durchzusetzen.“ (Hartmann 1995: 10)
Ähnlich den oben vorgestellten Definitio-nen mit der Betonung auf Staat als Haupt-handlungsrahmen (institutionelles Element in der Definition) und auf Macht als Mittel zur Durchsetzung der getroffenen Ent-scheidungen.
Politik ist „Streben nach Machtanteil oder nach Be-einflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt“ (Weber 1980: 822).
Max Webers politische Zentralbegriffe sind Macht und Staat, wobei der eine auf die Struktur, der andere auf die Institution fokussiert.
„Die spezifisch politische Unterscheidung, auf wel-che sich die politischen Handlungen und Motive zu-rückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind“ (Schmitt 1963: 26; im Original kursiv).
Carl Schmitt geht es um ein Kriterium, das die Struktur der Politik kennzeichnet. Seine umstrittene und seit dem 11. September 2001 häufig zitierte Ansicht ist, dass das Freund-Feind-Schema das Politische begründet.
„Die wissenschaftliche Analyse der internationalen Beziehungen muß verankert sein in einer politöko-nomischen Gesellschaftsanalyse, die ihren Ausgangs- und ständigen Beziehungspunkt in jenen Gesetzmä-ßigkeiten hat, die den Prozess von Produktion und Reproduktion in unserer Epoche, der historischen Epoche der Kapitalistischen Revolution, bestimmen“ (Krippendorff 1986: 79; im Original kursiv), und dies ist so aufgrund der Tatsache, „daß Politik in der Industriegesellschaft notwendigerweise Politik der Ökonomie bzw. politische Ökonomie ist: Schaffung oder Erhalt von Arbeitsplätzen, Sicherung eines re-gelmäßigen und ausreichenden Einkommens, Schaf-fung, Sicherung und Erweiterung eines Marktes oder von Märkten, um ein ständig wachsendes Quantum von produzierten Gütern abzusetzen“ (ebd., 81; im Original kursiv).
Dieser Politikbegriff sieht sein Subjekt als Teilsystem eingebettet in ein – hier als Kapitalismus bezeichnetes – Gesamtsys-tem.
„Politik (ist) die Verwirklichung von Politik – policy – mit Hilfe von Politik – politics – auf der Grundlage von Politik – polity ...“ (Rohe 1994: 67).
Ein additiver Politikbegriff, der die inhalt-liche (policy), prozesshafte (politics) und institutionelle (polity) Dimension ver-knüpft.
„Politik ist öffentlicher Konflikt von Interessen unter den Bedingungen von öffentlichem Machtgebrauch und Konsensbedarf“ (Alemann 1994: 148).
Hier wird Politik mit fünf Zentralbegriffen definiert, die häufig von Politikwissen-schaftlern genutzt werden (Macht, Kon-flikt, Konsens, Interessen, Öffentlichkeit).
Quelle: Eigene Zusammenstellung
Was ist jetzt Wissenschaft? Gehen wir zurück auf den Anfang dieses Absatzes,
auf das Alltagsverständnis bzw. die Alltagstheorien. Hierunter fassen wir die
Meinungen zusammen, die man alltäglich hören kann, z. B. wenn über ein be-
stimmtes Thema in der Familie, an Stammtischen oder beim Mittagessen in der
Mensa diskutiert wird, ohne dass die Teilnehmer über vertiefte Kenntnisse in dem
Bereich verfügen. Der „gesunde Menschenverstand“ – was immer das ist – genügt
hierfür völlig. Aber um schwierige, tief greifende und mit anderen Problemen zu-
Weitere Politikbegriffe
Wissenschaft
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sammenhängende Fragen zu beantworten, reicht das Alltagswissen nicht aus. Hier
setzt jetzt die Wissenschaft in dem Verständnis ein, das Ekkehart Krippendorff
(1986: 25) formuliert hat:
„Unter Wissenschaft ... ist zu verstehen die systematische Verknüpfung von
empirisch erfahrbaren Sachverhalten, deren Zusammenhang selbst jedoch
dem ungeübten Auge nicht unmittelbar ersichtlich ist.“
Schon die ersten Hausarbeiten, die Sie im Grundstudium schreiben werden, die-
nen der Übung, den Blick tiefer und genauer auf das Thema zu richten. Die Arbeit
sollte dann schon Aussagen enthalten, die in ihrer Folgerichtigkeit und im Heran-
ziehen von Erfahrungen (im Sinne von Sachverhalten, über die man mehr erfahren
hat, z. B. durch Interviews, Literaturstudium, Umfragen oder Sekundärdatenana-
lysen, d. h. empirisch) darüber hinausgehen, was für das Abitur gelernt, im Fern-
sehen gesehen und in Zeitungen13 gelesen wurde. Das wissenschaftliche Studium
ist also learning by doing; indem Sie sich darin üben, betreiben Sie schon Wissen-
schaft. Die vorgestellte Definition ist wiederum handlungsbezogen und blendet
dabei den institutionellen Rahmen aus, in dem Wissenschaft stattfindet. Hierauf
konzentriert sich der Politikwissenschaftler Frank R. Pfetsch bei seiner Definition:
„Wissenschaft läßt sich definieren als ein ausdifferenzierter gesellschaftli-
cher Bereich, in dem arbeitsteilig und systematisch Wissen erzeugt wird. Al-
len fachlich spezialisierten Wissenschaften gemeinsam ist das abstrahierende
Vorgehen, das im Endprodukt zu Theorien über einen bestimmten Objektbe-
reich führt“ (Pfetsch 1995: 19).
Da heutzutage niemand mehr als „Universalgelehrte(r)“ das Wissen aus allen
Fachbereichen aufnehmen und schon gar nicht allein erzeugen kann, sind die Ein-
zeldisziplinen entstanden. Von diesen ist die Politikwissenschaft eine, und zwar
diejenige, die sich mit dem Objektbereich Politik beschäftigt. Hier kommen die
beiden bisher getrennten Definitionsstränge zusammen. Je nachdem, wie Politik
und Wissenschaft verstanden und verknüpft werden, ergeben sich dann unter-
schiedliche Ansichten, was Politikwissenschaft sein und leisten soll. Das kann
z. B. die Erforschung der Freund-Feind-Beziehungen oder die Gesamtanalyse von
politischen Systemen sein, detaillierte Untersuchungen von Institutionen oder in-
nergesellschaftlichen Diskursen zur Konfliktregelung umfassen.
Durch ihren spezifischen Themenbereich ist die Politikwissenschaft von anderen
Disziplinen abgegrenzt. So erforscht z. B. die Soziologie (nach einer von vielen
möglichen Definitionen)
13 Um nicht missverstanden zu werden: Zeitungen und Fernsehen sind für Politikwissenschaft-lerInnen wichtige Informationsquellen. Allein jedoch reichen sie nicht aus.
Wissenschaft als Handlung
Wissenschaft als systematische Erzeugung von Wissen
Politikwissenschaft
Definition Soziologie
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„die verschiedenen Formen und Bedingungen der Vergemeinschaftung (z. B.
Familie, soziale Gruppe, soziales Umfeld) und der Vergesellschaftung (z. B.
Vereinigungen, Organisationen, Gesellschaften)“ und untersucht „dabei Re-
gelmäßigkeiten, Strukturen und Abweichungen sozialen Handelns und sozia-
len Wandels“ (Schubert/Klein 2006: 273).
Jede Wissenschaftsdisziplin hat also ihren eigenen Fokus, was nicht heißt, dass es
nicht auch starke Überschneidungen gibt, die sich dann auch in Bezeichnungen
wie „Politische Soziologie“ ausdrücken. Denn insbesondere in und durch Vereini-
gungen und Organisationen – man denke nur an Parteien, Gewerkschaften oder
Bürgerinitiativen – wird Politik gestaltet und gemacht, und ihre Bildung und die
in ihnen ablaufenden Willensbildungsprozesse sind sowohl unter politikwissen-
schaftlichen wie soziologischen Aspekten von Interesse. In der Abgrenzung zu
anderen Disziplinen sieht es ähnlich aus.14 Die Philosophie hat ihr eigenes
Thema, aber in der Schnittmenge mit der Politikwissenschaft gibt es die
„Politische Philosophie“; die Wirtschaftswissenschaft hat mit der
Politikwissenschaft die „Politische Ökonomie“ gemeinsam etc. Jede Abgrenzung
führt auch zur wichtigen Grenzüberschreitung und zur gegenseitigen Inspiration
durch andere Denk- und Forschungsweisen. Daher umfasst jedes
politikwissenschaftliche Studium Elemente anderer Disziplinen, sei es als
Nebenfächer, zweite Hauptfächer oder in Bachelor- bzw. Master-Studiengänge
integriert.
3.2 Was unterscheidet Politikwissenschaft von der politischen Publizistik?
Wenn bei der Diskussion eines politikwissenschaftlichen Habilitationsvortrages
vor den Professoren des Fachbereichs ein Vertreter der Soziologen die Frage auf-
warf: „Werte Kollegen, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir erläutern
könnten, worin sich dieser Vortrag, den wir gerade gehört haben, von einem inte-
ressanten Zeitungsartikel z. B. in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder in der
Neuen Zürcher unterscheidet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass zwischen der
Politikwissenschaft und gutem politischen Journalismus kein Unterschied besteht“
– dann wussten die Politologen des Gremiums, dass es um die Sache des zukünf-
tigen Kollegen und um die Ehre des eigenen Faches nicht gut stand. Der Vorwurf,
ein potentieller Hochschullehrer im Fach Politikwissenschaft argumentiere wie
ein politischer Journalist – und sei das Blatt, für das er schreibt, auch noch so re-
nommiert und verlässlich konservativ – trifft und fordert heraus. Entweder ist die
Kritik berechtigt, dann hat der Kandidat keine Chance, oder sie wird als fachpoli-
14 Einen Überblick über die Politikwissenschaft und ihre Nachbardisziplinen gibt Alemann 1994: 44 - 51.
Abgrenzung der Politikwissenschaft von anderen Disziplinen
Fragestellung dieses Kapitels
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tisch motiviert eingestuft und entsprechend mit dem Nachweis der Wissenschaft-
lichkeit des gehörten Vortrages widerlegt. Bei diesem Vorwurf gibt es nur ein
Entweder-oder, ein Mehr oder Weniger ist nicht möglich. Der Vortrag muss wis-
senschaftlichen Kriterien standhalten. Daher stellt sich die Frage: Anhand welcher
Kriterien unterscheidet sich der Bericht eines Korrespondenten von einer politik-
wissenschaftlichen Darstellung desselben Ereignisses?
Wir möchten diese Frage mit Hilfe der Analyse eines Zeitungsartikels beantwor-
ten. Er beschäftigt sich mit zwei Vorkommnissen in der Folge des Anschlages
vom 11. September 2001 und ist überschrieben: „Inzestuöse Monologe. Was
westliche Haltungen mit islamischen verbindet“ (Noor 2002). Als Kontrast dazu
kann ein wissenschaftlicher Fachaufsatz mit ähnlicher Thematik dienen: „Globa-
ler Dschihad? Die Freund-Feind-Unterscheidung im Islam und in der Theorie des
Gesellschaftsvertrags“ (Hansen 2002).
Der Zeitungsartikel von Farish A. Noor, der Frankfurter Rundschau vom 7. Januar
2002 entnommen, schildert aktuell, lebendig, unterhaltsam, eindringlich und wer-
tend, wie der britische Schriftsteller Tariq Ali, der auf Einladung des Regierenden
Bürgermeisters Berlins in Deutschland auf Lesereise war, aufgrund seines Na-
mens und des mitgeführten Marx-Essays über den Selbstmord auf dem Berliner
Flughafen Tegel von der Polizei festgehalten und verhört wurde. Als zweiten
Ausgangspunkt benutzt Noor folgenden Vorfall:
„ ... der englische Schriftsteller Robert Fisk wurde während einer Reise
durch Nordpakistan von einem Mob wütender Flüchtlinge aus Afghanistan
angegriffen und um ein Haar zu Tode geprügelt. Ausgerechnet ihn, der seit
Jahren aufs schärfste die US-Außenpolitik kritisiert, hielt die aufgebrachte
Menge für einen jener Leute aus dem Westen, die für die Bombenangriffe auf
Afghanistan verantwortlich zeichnen, und prompt meinte man, das Gesetz in
die eigene Hand nehmen zu müssen“ (Noor 2002).
In der Folge analysiert der Autor das Verhalten sowohl der deutschen als der af-
ghanischen Akteure und zieht daraus folgende, doppelte Schlussfolgerung:
„Der Westen muss den Glauben und das Wertesystem, das Streben und die
Sehnsüchte verstehen lernen, von denen seine ältesten Kulturnachbarn, näm-
lich die Menschen der islamischen Welt, geprägt sind. Umgekehrt müssen die
Muslime begreifen, dass sich hinter der abgestandenen und monochromen
Dialektik des ‚wir gegen die‘ eine hochkomplexe und hochgradig binnendiffe-
renzierte westliche Welt verbirgt, in der es ganz und gar nicht stimmt, dass
jedermann die Muslime für blutrünstige Fanatiker hielte“ (ebd.).
Was dem Zeitungsartikel aber fehlt, ist das politikwissenschaftliche Problem, das
Hendrik Hansen in seinem Aufsatz nicht nur erkennt, sondern auch in einer theo-
retischen und empirisch überprüfbaren Fragestellung formuliert und, wichtig, zu
beantworten sucht. Nach einführenden Erläuterungen und der Vorstellung dreier
Analyse eines Zeitungsartikels
Inhalt des Artikels und Argumentationsgang
Kontrast: Fragestellung des Fachaufsatzes
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unterschiedlicher nach dem 11. September 2001 vorgenommener Deutungen der
Konfliktlinien zwischen westlichem und islamischem Denken stellt er fest:
„Der Widerspruch zwischen diesen Deutungen der gegenwärtigen Lage for-
dert dazu heraus, die Gesellschafts- und Politikkonzepte des Westens, des Is-
lam und des Islamismus zu vergleichen, um die Konfliktlinien klarer zu
bestimmen“ (Hansen 2002: 17).
Die Fragestellung ist zwar nicht explizit als Frage formuliert, was sich aber leicht
nachholen lässt: Welche Konfliktlinien gibt es zwischen islamischen und westli-
chen Gesellschafts- und Politikkonzepten? In der Folge untersucht Hansen drei
Sachverhalte: „Dschihad und Freund-Feind-Unterscheidung im Islam“ (18-20),
„Die Freund-Feind-Unterscheidung in der Vertragstheorie“ (20-22) und „Die
Freund-Feind-Unterscheidung als Grundlage ideologischen Denkens“ (22-24). Er
fasst dann die Ergebnisse zusammen, um eine weitere Frage zu stellen: „Aber ist
ein Politikverständnis jenseits des Freund-Feind-Denkens überhaupt möglich?“
(24). Als Antwort darauf, die dann auch als Ansatz zur Vermeidung weiteren is-
lamistischen Terrors gesehen wird, gibt Hansen dann die Überwindung des eige-
nen Dogmatismus bei den Islamisten an, der in einem großen Dschihad, dem inne-
ren Kampf des Einzelnen um den rechten Weg, erreicht werden soll.15 Halten wir
hier zunächst das erste Element fest, das einen politikwissenschaftlichen Text aus-
zeichnet, und schließen wir das zweite Element an, auf das wir eingehen:
Ein politikwissenschaftlicher Text setzt sich mit einem politikwissenschaftlichen
Problem auseinander und versucht auf eine theoretische oder empirische Frage-
stellung eine methodisch kontrollierte und nachprüfbare Antwort zu geben.
Von einer wissenschaftlichen Arbeit ist zu verlangen, dass der Forschungsstand
referiert und auf die aktuelle wissenschaftliche Diskussion Bezug genommen
wird.
Genau dies macht der Autor des als Beispiel herangezogenen wissenschaftlichen
Aufsatzes, wenn auch in kurzer Form. Das Wissen und die Schlussfolgerungen
von Wissenschaftlern, die vorher schon über das Thema oder seine Teilaspekte
gearbeitet haben, stellen die Basis für jede wissenschaftliche Arbeit dar. Hierbei
ist die Aktualität ein wichtiges Kriterium. Denn was nützte es Hansen, seine Frage
unabhängig von den Ereignissen im September 2001 und deren politischer und
wissenschaftlicher Erörterung zu stellen? Erst aus dem Bezug auf den aktuellen
Diskurs kann Hansen seine Fragestellung entwickeln und sie darin einordnen.
Aber der Zeitungsartikel blickt an keiner Stelle auf anderswo vertretene Meinun-
gen, was im journalistischen Zusammenhang auch nicht verlangt wird.
15 In diesem Fall zeichnen wir nur die Argumentation eines Wissenschaftlers nach; unsere ei-gene Meinung zu dem grundlegenden Problem bleibt außen vor.
Argumentationsgang
Elemente Nr. 1
Element Nr. 2
Bedeutung des aktuellen Forschungsstandes
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Was dagegen auch von Journalisten erwartet wird, ist die Korrektheit der Zitate.
Hier bestehen keine Unterschiede zum wissenschaftlichen Artikel. Anders verhält
es sich mit der Nachprüfbarkeit von Quellen und mit den Quellenangaben. Bei ei-
nem wissenschaftlichen Text müssen die Quellen, auf die er sich stützt, nachprüf-
bar sein, damit der Leser sich von ihrer Existenz überzeugen und sie einer erneu-
ten Interpretation unterziehen kann. Dazu ist die Vollständigkeit der
Quellenangaben erforderlich, wie Hansen dies macht. Der Journalist in unserem
Beispiel gibt Ort und Zeit des Vorfalles mit Tariq Ali nur ungenau an: „Vor ein
paar Wochen wurde der Schriftsteller Tariq Ali auf dem Flughafen Berlin Tegel
....“ Auch die Quellen expliziter Zitate fehlen: „Und wie es aussieht, ist die ganze
Welt heutzutage auf das Niveau degeneriert, das Guy Debord einst unter dem
Schlagwort der Gesellschaft des Spektakels fasste.“ Man muss als Leser selbst re-
cherchieren, woher dieses Zitat von Debord stammt.
Häufig finden sich in Zeitungsartikeln (allerdings nicht in dem obigen) zwei lite-
rarische Figuren, die wissenschaftlich sehr bedenklich sind. Erstens die Sequenz:
„Wie aus zuverlässiger Quelle/aus Regierungskreisen/etc. verlautet ...“, die in
Journalistenkreisen üblich ist und mit der auch von interessierten Personen Infor-
mationen, die eigentlich (noch) nicht die Öffentlichkeit erreichen sollen, lanciert
werden. Auch Wissenschaftler müssen Informationen aus Expertengesprächen
oftmals vertraulich handhaben. Aber sie geben zumindest Ort und Zeitpunkt des
Gespräches an, z. B. „Interview mit einem Mitarbeiter des XY-Ministeriums am
... in Berlin“. Zweitens zitieren Journalisten häufig Sekundärquellen, ohne diese
anzugeben: „Nach der jüngsten Ausgabe der XY-Zeitung sagte Minister Z: ...“,
oder, noch ungenauer: „Wie in der heimischen Presse zu lesen ist, meinte Partei-
chefin ABC dazu, dass ...“ In wissenschaftlichen Texten müsste hier die genaue
Quellenangabe stehen, z. B. „ABC: Rede auf dem Parteitag der ...-Partei am ... in
...“. In einer wissenschaftlichen Arbeit sollte man sich auf Primärquellen bezie-
hen, wo immer dies möglich ist, da diese zuverlässiger als die schwer nachvoll-
ziehbaren Sekundärquellen sind. Halten wir nun das dritte Merkmal von wissen-
schaftlichen Texten fest:
In einem wissenschaftlichen Text sind die Quellen nachprüfbar und daher die
Quellenangaben korrekt und vollständig.
Folgende Passage Noors weist den Weg zum vierten Element:
„Diese Neigung zur Kurzsichtigkeit, sprich des Unvermögens, hinter das Au-
genfällige zu blicken und die versteckten Mechanismen der Dinge zu begrei-
fen, hat sich mittlerweile zu einer weltweiten Pandemie gemausert, an der die
ganze Welt krankt. Man denke nur an den kürzlich in Malaysia verkündeten
Aufruf der Ulama Association zum Boykott aller Waren und Dienstleistungen,
die aus den USA kommen. ... Haben unsere verehrten Ulamas bedacht, was
ihr Ruf zu den Waffen langfristig gesehen mit sich brächte? Hat man an die
Not der Zehntausenden von Malaysiern gedacht, die sowohl in Malaysia als
auch in Nordamerika bei US-Firmen arbeiten? Und was würde aus den Tau-
Korrektheit der Zitate und Vollständigkeit der Quellenangaben
Zwei wissenschaftlich bedenkliche journalisti-sche Wendungen
Element Nr. 3
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senden von Studenten, Geschäftsleuten und Akademikern aus Malaysia, die
mit und in den USA leben und arbeiten?“
Noor fragt nach den Beweggründen eines Akteurs (hier: die Ulama Association
als kollektiver Akteur) und vermutet, dass diese Gruppe viele Dinge bei ihrem
Aufruf nicht bedacht hat. Wissen kann er dies nicht. Denn der Autor war weder
bei den Beratungen der Ulama dabei, noch hat er sie in einem methodisch kon-
trollierten und inhaltsanalytisch ausgewerteten Experteninterview dazu befragen
können, welche Motive ihrem Aufruf zugrunde liegen. Authentische Quellen kön-
nen oftmals nicht herangezogen werden, da sie beispielsweise Interna betreffen
oder schlicht und ergreifend nicht vorhanden sind. Statt dessen rekonstruiert der
Verfasser aus dem für den Journalisten beobachtbaren Verhalten der Ulama deren
Motive. Dem Leser bleibt überlassen, ob er diese Rückschlüsse für plausibel hält
oder nicht. Wissenschaftlich ist dieser Analyseschritt bedenklich, obwohl er im
Bereich des Journalismus gang und gäbe ist. Dem Subjekt, hier der Ulama Asso-
ciation, werden aufgrund seines Handelns bestimmte Handlungsrationalitäten zu-
geschrieben. Inwieweit diese Unterstellung zutrifft, wird nicht untersucht und
durch Quellenmaterial belegt. Also lässt sich das nächste Element wissenschaftli-
cher Texte folgendermaßen formulieren:
Die wahren Absichten des untersuchten Subjekts bzw. des Akteurs bleiben ver-
schlossen.
Vor dem Problem, Motivationen und strategische Absichten von politischen Ak-
teuren entschlüsseln zu müssen, stehen nicht nur Journalisten. Auch Politiker und
ihre Stäbe versuchen die Absichten des politischen Gegners herauszufinden. Stän-
dig sind sie damit beschäftigt, die Überlegungen hinter seinen Aktionen zu er-
gründen, um auf sie angemessen zu reagieren. Sofern sie mit ihrem Gegner kom-
munizieren und sich wechselseitig über ihre Motive verständigen, dürfte eine
angemessene Interpretation zustande kommen. Je weniger aber mit dem Gegner
das Gespräch gesucht wird, da dieser nicht aufgewertet werden soll oder als Feind
betrachtet wird, desto schwieriger ist eine realitätsgemäße Einschätzung von des-
sen Absichten und politischen Zielen und desto wahrscheinlicher wird eine so ge-
nannte „realistische“ Interpretation, die die schlechteste der möglichen Absichten
unterstellt. Auf diese Weise können Feindfixierungen und Kriege entstehen.
Für Politikwissenschaftler gibt es hier eine wichtige Aufgabe. Sie haben sich um
die tatsächlichen und nicht um die unterstellten Handlungskalküle zu bemühen.
Dazu müssen sie empirisch forschen, indem sie mit den Akteuren in Interviews
kommunizieren, indem sie Reden, Aufsätze und andere schriftliche Äußerungen
interpretieren, indem sie die empirischen Untersuchungen anderer Wissenschaftler
sorgfältig analysieren. Aber selbst methodisch überlegtes Vorgehen wird die wah-
ren Motive nicht oder nur unzulänglich erschließen können. Daher sollten Poli-
tikwissenschaftler bei der Deutung von Motiven, Kalkülen, Situationsdefinitionen,
von Stimmungen und Wertungen politischer Akteure immer äußerst sorgfältig
vorgehen. Eng hiermit verknüpft ist das fünfte Merkmal:
Beweggründe des Akteurs?
Element Nr. 4
Politische Brisanz des verschlossenen Subjekts
Aufgabe von Politikwissenschaftlern
3 Was sind politikwissenschaftliche Probleme? 59
Von wissenschaftlichen Arbeiten wird erwartet, dass zwischen Zielen, Normen
und Werten auf der einen und nachprüfbaren Fakten auf der anderen Seite unter-
schieden wird.
Für Journalisten wie für Politologen ist der Umgang mit wertenden Aussagen ein
vielfach erörtertes16 heikles Problem. Unser Journalist ist mit seinen Wertungen
nicht gerade zurückhaltend. Er schreibt vom „hochnotpeinlichen Verhör von Tariq
Ali“ und nennt alle beschriebenen Vorfälle „hirnlose Aktionen“. Durch die wer-
tenden Adjektive wird der Artikel farbig und damit gut lesbar; auch wird die von
dem Autor vertretene Meinung über das politische Agieren dreier Akteure plas-
tisch. Als wissenschaftlich lässt sich diese Form der Darstellung jedoch nicht be-
zeichnen. Es handelt sich um eine journalistische Aufbereitung der Ereignisse, die
nicht davor zurückzuschrecken braucht, subjektive Charakterisierungen und die
eigene politische Meinung einfließen zu lassen.
Der Verweis auf Wertungen in unseres Autors Interpretation von Handlungsstra-
tegien, Einschätzung von Personen und Darstellung von Ereignissen sollte nicht
als Aufforderung verstanden werden, auf Wertungen (normative Aussagen) in
wissenschaftlichen Arbeiten zu verzichten und nur die „objektiven“ Fakten spre-
chen zu lassen. Dies ist nicht möglich und sollte daher auch gar nicht erst versucht
werden. Entscheidend ist, wie mit Werturteilen umgegangen wird. Ohne in dieser
Einführung auf die wissenschaftstheoretischen Probleme normativer Aussagen in
wissenschaftlichen Texten eingehen zu können, möchten wir auf drei einfache
Regeln verweisen, die auch für Anfänger gelten sollten:
• In jede wissenschaftliche Arbeit fließt bei der Themenwahl, der Wahl des
theoretischen Bezugsrahmens sowie der Untersuchungsmethoden das subjek-
tive Erkenntnisinteresse des Verfassers ein. Da politikwissenschaftliche Ar-
beiten immer auch in einen politischen Zusammenhang gestellt werden
können, ist es erforderlich, das Erkenntnisinteresse, das sehr unterschiedlich
sein kann – Neugier, Orientierungsbedürfnis, Aufklärung der Öffentlichkeit,
Beratung etc. – darzustellen sowie die Themen-, Theorie- und Methodenwahl
im Lichte des Erkenntnisinteresses zu begründen.
• Im Untersuchungsteil einer wissenschaftlichen Arbeit sollte mit wertenden
Aussagen sparsam und vorsichtig umgegangen werden. Charakterisierungen
von Personen oder wertende Stellungnahmen über Handlungsstrategien kol-
lektiver Akteure dürfen nur auf der Grundlage nachprüfbarer empirischer
Fakten formuliert werden.
16 Seit der Soziologe Max Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts in mehreren Aufsätzen die „Wertfreiheit“ (z. B. Weber 1973: 489 - 540) der Wissenschaften postulierte, ist ein langwieriger und intensiv geführter akademischer „Werturteilsstreit“ (gesammelt in Albert/Topitsch 1971) ausgefochten worden. Patzelt (1997: 170 - 176) fasst die Ergebnisse, auf die Politikwissenschaft fokussiert, zusammen.
Element Nr. 5
Journalistische Wertungen
Entscheidend: Wie geht man mit Werturteilen um?
3 Was sind politikwissenschaftliche Probleme? 60
• Die politischen und normativen Konsequenzen vorgeschlagener politisch-
strategischer Handlungskonzepte sind darzulegen.
Die Beachtung dieser drei Regeln soll davor bewahren, die persönliche Meinung
vorschnell als wissenschaftlich begründete Analyse auszugeben. Soweit Wertun-
gen vorgenommen werden, sind sie als solche zu kennzeichnen und zu begründen.
Da der Zeitungsbericht politisches Handeln wertend charakterisiert und durch den
Bezug auf allgemeine Wertvorstellungen legitimiert, ohne die eigene Wertbasis
darzustellen und ohne empirische Aussagen durch den Verweis auf Fakten zu un-
termauern, verkündet er die Meinung seines Verfassers, nicht aber Ergebnisse, die
wissenschaftlichen Kriterien standhalten. Eine Studienarbeit kann sich mit dem
Prädikat wissenschaftlich nur dann schmücken, wenn Werturteile auf Quellen-
material beruhen oder durch den Verweis auf übergeordnete Normen unter Be-
rücksichtigung möglicher Folgen nachvollziehbar sind, also plausibel begründet
werden.
In einem engen Zusammenhang mit der wertenden Sprache steht auch das letzte
zu untersuchende Element, dessen Formulierung sich zunächst tautologisch an-
hört:
Politikwissenschaftliche Texte zeichnen sich durch die Verwendung der wissen-
schaftlichen Sprache aus.
In einem Text, der wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, müsste die zentrale
These sorgfältiger formuliert, besser begründet und belegt werden, als dies in dem
Artikel von Noor geschehen ist. Er argumentiert:
„Solange wir nicht lernen, unsere stereotypen Klischees sowohl über die is-
lamische Welt als auch über den Westen über Bord zu werfen, wird es uns nie
gelingen, die Bedingungen zu schaffen, in denen sinnvoller Dialog und Ko-
existenz ihren Platz haben. Und solange das nicht passiert, werden wir da
stecken bleiben, wo wir sind, nämlich in einem Ghetto eingemauert, das wir
mit eigener Hand erschaffen haben, und auf ewig im Krieg mit den Dämonen,
die von niemand anderem als nur uns selbst auf den Plan gerufen wurden.“
Diese These ist nicht eindeutig formuliert, da sie mehrere Aussagen miteinander
verbindet. Die Und-Koppelung im zweiten Satz ist mehrdeutig. Besteht zwischen
dem „Ghetto“ und den „Dämonen“ ein kausaler Zusammenhang, wird eine histo-
rische Ereigniskette angenommen, oder handelt es sich um zwei völlig unabhän-
gige, einzeln zu bearbeitende Phänomene? Welche „Klischees“ meint der Autor?
Denn ohne Klischees, ohne Vor-Urteile können Menschen nicht leben; sie müss-
ten jedes Phänomen einzeln betrachten, ohne auf ihre – selbst gemachten oder
vermittelten – Erfahrungen zurückgreifen zu dürfen. Es sind also bestimmte Kli-
schees, die hier gemeint, aber nicht explizit formuliert werden. Außerdem wird
sehr bildhaft („über Bord zu werfen“, „in einem Ghetto eingemauert“, „Krieg mit
den Dämonen“) geschrieben. Dadurch spricht der Autor eher die Emotionen des
Element Nr. 6
3 Was sind politikwissenschaftliche Probleme? 61
Lesers als die rationalen Folgen und deren mögliche Bearbeitung der untersuchten
Vorfälle an.
Im Rahmen dieses Einführungstextes ist es nicht erforderlich, die logischen
Probleme des zitierten Aussagesystems umfassend darzustellen. In einem publi-
zistischen Text mögen solche plakativen, bildhaften und mit ungeklärten Begrif-
fen operierenden Thesen akzeptabel sein. In einer wissenschaftlichen Arbeit je-
doch sollten die Begriffe eindeutig und die Wirkungszusammenhänge
unmissverständlich bestimmt sein. Dadurch stellen wissenschaftliche Texte be-
sondere Anforderungen nicht nur an ihre Autoren, sondern auch an ihre Leser.
Wie man sich politologische Texte erschließen kann, beschreiben wir daher im
Kapitel 4.
In diesem Teil wurde in der kritischen Auseinandersetzung mit einem Zeitungsbe-
richt dargestellt, dass zwischen Politikwissenschaft und politischem Journalismus
große Unterschiede bestehen. Gleichzeitig wurden Kriterien entwickelt, die in po-
litikwissenschaftlichen Arbeiten erfüllt werden sollten. Eine politikwissenschaftli-
che Arbeit, auch schon die erste Hausarbeit, hat sich an den folgenden Standards,
die als Kriterien der Wissenschaftlichkeit gelten können, zu orientieren:
Abbildung 8: Kriterien der Wissenschaftlichkeit bei Hausarbeiten
Kriterien der Wissenschaftlichkeit
• Die Wissenschaft bearbeitet ungeklärte empirische oder theoretische Probleme. Eine wissenschaftliche Abhandlung verlangt daher eine genaue Problemdefinition und begründete Lösungsstrategien.
• Der Stand der Wissenschaft, das zu einem Problemkreis existierende gesicherte wissenschaftliche Wissen ist ebenso zu berücksichtigen, wie die aktuelle wissenschaftliche Diskussion.
• Ohne Quellenangaben darf weder wörtlich noch sinngemäß zitiert werden. Es ist darauf zu achten, dass die Quellenangaben vollständig und nachprüfbar sind. Empirische Aussagen sind zu belegen.
• Aussagen über die Handlungskalküle und die Situationsdefinitionen von Menschen (politischen Akteuren) sind nur indirekt erschließbar; sie bedürfen der methodischen Absicherung (Verweis auf Quellen und deren Interpretation).
• Politikwissenschaft ist nicht wertfrei. Doch ist mit Werturteilen sorgsam umzugehen; sie sind zu begründen. Die Bewertungsmaßstäbe sind darzulegen.
• Die Regeln der formalen Logik, d. h. vor allem die Sätze der Identität (A bleibt in allen Sachlagen und Zusammenhängen A; A = A), des Widerspruchs (des ausschließenden Gegensatzes zweier Urteile oder Begriffe), des ausgeschlossenen Dritten (von zwei entgegengesetzten Behauptungen über einen Gegenstand kann nur eine richtig sein und
Zusammenfassung
3 Was sind politikwissenschaftliche Probleme? 62
keine dritte) und des zureichenden Grundes (für jede Behauptung muss
ein ausreichender Grund vorliegen)17, gelten ebenso wie die der allgemeinen Methodologie (u. a. der Definition, der Distinktion, der Division, hierzu grundlegend: Menne 1984) und der fachspezifischen Methodologie (z. B. Methoden der Textinterpretation).
Quelle: Eigene Darstellung
Übungsaufgabe 4:
Suchen Sie sich aus einer Zeitung oder einem Wochenmagazin einen ausführli-
chen Korrespondentenbericht (Hintergrundartikel) heraus, analysieren und ver-
gleichen Sie diesen mit einem Aufsatz aus einer politikwissenschaftlichen Zeit-
schrift anhand der oben zusammen gestellten Kriterien zur Beurteilung
politikwissenschaftlicher Texte.
3.3 Grundlegende Wissenschaftstheorie
Nachdem wir im Vergleich einer journalistischen mit einer wissenschaftlichen
Arbeit wesentliche Merkmale von Wissenschaftlichkeit herausgearbeitet haben,
möchten wir dieses jetzt wissenschaftstheoretisch unterfüttern. Wenn wir
Wissenschaft, wie schon oben geschehen, „... als ein ausdifferenzierter
gesellschaftlicher Bereich, in dem arbeitsteilig und systematisch Wissen erzeugt
wird“ (Pfetsch 1995: 19) definieren, fehlt noch der zweite Teil, die Theorie:
„Eine Theorie bietet einen logifizierten Blick auf einen Ausschnitt der Welt.
Sie kommt durch Reflexion zu Stande, ist also distanziert und ausgearbeitet.
Sie besteht aus einem Bündel von Aussagen, die aufeinander abgestimmt sind
und eine stimmige Gesamtsicht bieten.“ (Schülein/Reitze 2005: 266)
Wissenschaftstheorie hat also die Aufgabe, systematisch über das
wissenschaftliche Wissen im allgemeinen und über das der Fachwissenschaften
wie der Politikwissenschaft im Besonderen nachzudenken (vgl. Ritsert 2003: 12)
und deren Erkenntnisse und Theorien metatheoretisch abzusichern
(Schülein/Reitze 2005: 9). Metatheorie bedeutet, es werden Theorien über eine
oder mehrere Theorien gebildet. In unserem Fall werden also in der
Wissenschaftstheorie Forschungen betrieben und Aussagen erstellt, wie
politikwissenschaftlich geforscht werden soll.
Als Referenzpunkt dient der Wissenschaftstheorie dabei häufig das – vermeintlich
– exakte Vorgehen der Naturwissenschaften. Ein komplexes Phänomen wird in
seine einzelnen Bestandteile zerlegt, und diese Bestandteile werden separat und
unabhängig voneinander untersucht. Das Ziel dabei ist, die grundlegenden
Einheiten und Prozesse zu analysieren und zu verstehen und die Gesetze zu
17 S. Schischkoff 1991: 323, 437 f., 781.
3 Was sind politikwissenschaftliche Probleme? 63
ergründen, die diese leiten. Newton beobachtete, wie der Apfel fällt, dies führte zu
einem grundlegenden Verständnis der Erdanziehungskraft und später zu
allgemeinerem Verständnis, wie sich die Erde um die Sonne bewegt (vgl. Steinmo
2008: 120), an dem wir uns auch im folgenden orientieren).
Hiervon ausgehend gab es dann seit der Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem in
der US-amerikanischen Politikwissenschaft die Forderung, „wissenschaftlicher“
zu werden. Bis dahin stützte sich die Politikwissenschaft hauptsächlich auf die
historische Analyse, die von der neuen Denkschule zwar als interessant eingestuft
wurde, aber wenn sie nicht zu leicht abprüfbaren und falsifizierbaren
(= widerlegbaren) Ergebnissen führte, nicht als Wissenschaft angesehen wurde.
Messbare Verhaltensweisen sollten untersucht werden. Die untersuchten Fälle
wurden als Gruppen von Variablen behandelt, die messbar, quantifizierbar,
vergleichbar und analysierbar waren. Diese Position wird auch heute noch
vertreten:
„Grundsätzlich gilt für den Empiriker die Annahme: Jede tatsächlich
vorhandene Qualität der Wirklichkeit lässt sich zumindest im Prinzip durch
geeignete Messverfahren abbilden, d. h. erfassen. Dabei spielt es keine Rolle,
dass diese Messverfahren möglicherweise gar nicht existieren, oder (noch)
nicht existieren, wichtig ist nur, dass sie zur Messung der betreffenden
Eigenschaften eingesetzt werden könnten, wenn es sie gäbe.“ (Behnke,
Joachim/Nathalie Behnke 2008: 7)
So wie Chemiker komplexe Phänomene so lange zerlegten, bis sie ein
Periodensystem der Elemente erhielten, versuchte diese Richtung der
Politikwissenschaft – die Behavioristen –, die politischen Probleme so zu
dekonstruieren, dass schließlich ein „Periodensystem der Politik“ dabei
herauskommen sollte. Dem entgegen standen die „Großtheoretiker“ wie
Marxisten, Systemtheoretiker oder Modernisierungstheoretiker, deren
Hauptanliegen es war, die grundlegenden Prozesse und Mechaniken zu verstehen,
aus der sich die Politik zwischen Nationen, Kulturen oder historischen
Abschnitten motiviert. Sie waren die „Physiker der Politik“ – sie suchten nach der
„Theorie für alles“.
Die beiden hier vorgestellten Ansätze haben durchaus ihre Berechtigung. Die
Wahlforschung erzielt z. B. mit den auf dem ersteren Ansatz basierenden,
elaborierten quantitativen Methoden (s. später Kap. 5.3) vorzeigbare Ergebnisse,
und auch Großtheorien können auf bestimmte Phänomene wie die krisenhafte
Entwicklung des Kapitalismus (Marxismus) weiterhin angewandt werden. Aber
beide verfehlen ihre eigentlichen Ziele: Weder ist alles messbar, noch gibt es eine
einzige Motivation für die politische Entwicklung.
Der US-Politologe Sven Steinmo (2008) vertritt daher eine Sicht auf die
Politikwissenschaft, die als „Historischer Institutionalismus“ benannt wird.
Institutionalisten sind dabei Wissenschaftler, die ein besonderes Augenmerk auf
3 Was sind politikwissenschaftliche Probleme? 64
die Rolle von Institutionen legen. Geschichte wird dabei als ein analytisches
Instrument verstanden.
Institutionen sind Einrichtungen, die dem politischen Leben und Verhalten
Struktur geben: Normen, Gesetze und völkerrechtliche Vereinbarungen gehören
dazu, aber auch Organisationen wie Staaten, Parteien oder die EU und die UNO
können daraus erwachsen. So konnte sich nach dem Zweiten Weltkrieg nach den
Grundsätzen der Atlantik-Charta, die US-Präsident Roosevelt und der britische
Premierminister Churchill 1941 beschlossen hatten, Westeuropa friedlich
entwickeln. Zur Festigung der freundschaftlichen Zusammenarbeit wurden ab
1951 verschiedene Organisationen gegründet (Montanunion, Europäische
Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft,
Europäische Atomgemeinschaft). Aber Institutionen sind nicht statisch – sie
wandeln sich oder werden von den inner- und außerhalb betroffenen Akteuren
(Personen, kollektive Akteure wie Staaten) verändert. Wurden die Römischen
Verträge 1957 noch von sechs Staaten unterzeichnet, wuchs die EG/EU bis 2007
auf 27 Staaten an, und die zu Beginn sehr begrenzte, vorwiegend wirtschaftliche
Zusammenarbeit wurde unter anderem in die Bereiche Innere Sicherheit (z. B.
Schengener Abkommen 1985) und Finanzen (gemeinsame Währung Euro) aus.
Nun kann man innerhalb der riesigen, komplexen und schwer überschaubaren
Organisation EU auch Einzelteile wie das Schengener Abkommen als Institution
betrachten. Dieses reicht weit in das Leben der EU- wie auch der Nicht-EU-
Bürger hinein und strukturiert staatliches Handeln.
Eine Institution und das Verhalten der Akteure in ihr zu untersuchen, kann dann je
nach Fragestellung auf vielfältiger Weise geschehen. Die zu Grunde liegenden
Theorien sind weder auf der Mikro-Ebene wie bei den Behavioristen noch auf der
Makro-Ebene wie bei den Großtheoretikern zu verorten, sondern auf der Meso-
Ebene zu finden, d. h. sie haben eine mittlere Reichweite. Historische
Institutionalisten, so Steinmo, werden weder durch den Wunsch motiviert, ein
Argument oder eine Methodologie durchzudrücken, sondern dadurch, die in der
realen politischen Welt auftretenden Probleme und Fragen zu beantworten. Er
vergleicht diesen Ansatz mit dem von Umweltbiologen: Um das Verhalten und
die Gestalt von bestimmten Organismen zu verstehen, müssen sie sowohl den
Organismus selbst als auch die Umweltbedingungen, in der er lebt, untersuchen.
Dies impliziert, dass die angewendeten wissenschaftliche Methoden dem
studierten Subjekt entsprechen sollen. Es wird also für einen
Methodenpluralismus plädiert – sowohl die historische Analyse als auch die
quantitativen (z. B. Statistik) und qualitativen (z. B. hermeneutische Verfahren der
Textanalyse) Analysemethoden sollen je nach Fragestellung genutzt werden.
Dabei muss die Wissenschaft, und das ist ein Hauptfeld der Wissenschaftstheorie,
immer auch die Folgen ihres Tuns im Blick haben. Nicht umsonst werden in
Deutschland am Wahltag erst nach Schließung der Wahllokale die Ergebnisse der
Wählerbefragungen vor den Wahllokalen veröffentlich. Zwischenergebnisse, z. B.
Definition: Institutionen Beispiel: Europäische Integration
3 Was sind politikwissenschaftliche Probleme? 65
gegen Mitte des Wahltages, könnten Wähler abschrecken oder motivieren,
entgegen der ursprünglichen Absicht doch noch zur Wahl zu gehen und so das
Ergebnis verändern. Besonders deutlich wurde die Verantwortlichkeit den
Physikern und Naturwissenschaftlern, die an der Kernspaltung arbeiteten und
damit die Atombombe entwickelten. In der Göttinger Erklärung von 1957, die von
achtzehn prominenten Atomwissenschaftlern unterzeichnet wurden, heißt es,
nachdem sie ihre Sorge über die Verbreitung von Atomwaffen zum Ausdruck
gebracht haben:
„... unsere Tätigkeit, die der reinen Wissenschaft und ihrer Anwendung gilt
und bei der wir viele junge Menschen unserem Gebiet zuführen, belädt uns
aber mit einer Verantwortung für die möglichen Folgen dieser Tätigkeit.
Deshalb können wir nicht zu allen politischen Fragen schweigen.“
(abgedruckt in: Koppe 2001: 334 - 335)
Politikwissenschaft ist immer auch eine politische Wissenschaft. Wenn wir
beispielsweise über autokratische Herrschaftssysteme forschen und deren
Entwicklungsleistungen positiv betrachten, gleichzeitig aber auch die Defizite in
den Bereichen Menschenrechte und Pluralität ansprechen (wie in Elbers 2008),
dann kann es durchaus sein, dass die positiven Ergebnisse von den dort
Herrschenden zur Legitimation, die negativen aber verschwiegen werden. Aber
um Verbesserungen einzufordern, insbesondere auch in der eigenen Gesellschaft,
ist es notwendig, wissenschaftlich sowohl die Defizite aufzuarbeiten und auf diese
hinzuweisen, als auch positive Ansätze zu loben und zum Weitermachen auf
diesem Wege anzuregen. Solche normativ begründeten Vorgehensweisen finden
sich in vielen Bereichen der Politikwissenschaft. So lehnt ein
Demokratietheoretiker wie Karl R. Popper zuallererst die Diktatur ab und stellt
sich auf dieser normativen Basis die Frage:
„Wie können wir politische Institutionen so organisieren, daß es schlechten
oder inkompetenten Herrschern unmöglich ist, allzugroßen Schaden
anzurichten?“ (Popper 1992: 145)
Die Sicherung von Freiheit und Gerechtigkeit und die Kontrolle der Herrschenden
spielen somit in der Demokratietheorie eine große Rolle. Ähnlich ist es in den
Internationalen Beziehungen: Theoretikern unterschiedlicher Ausrichtung geht es
als Gemeinsamkeit um die Sicherung des Friedens; ob dies am besten durch
internationale Kooperation, militärische Absicherung des eigenen Territoriums
oder Abbau von Feindbildern geschehen soll, darüber streiten die Gelehrten.
Diese müssen sich aber darüber im Klaren sein, dass ihre Konzeptionen von
Politikern aufgegriffen und umgesetzt werden. So gab es im Kalten Krieg sowohl
Politiker, die militärische Abschreckung für die geeignete Konzeption zur
Kriegsvermeidung hielten wie auch Politikwissenschaftler, die ihnen eben diese
Konzeption lieferten und damit die nukleare Hochrüstung mit zu verantworten
haben.
3 Was sind politikwissenschaftliche Probleme? 66
Als letztes Beispiel in diesem Feld mag die Umweltpolitologie, deren Vertreter
das Interesse an der Sicherung der für Menschen erträglichen
Umweltbedingungen teilen, aber unterschiedliche Wege dorthin vorschlagen.
Auch hier werden Expertisen, wie z. B. dem Klimawandel effektiv zu begegnen
sei, von Politikern aufgegriffen und in Politik umgewandelt. Erst in einigen
Dekaden werden wir sehen, ob die CO2-Reduktion ausreicht oder große
Investitionen in die Speicherung von CO2 sinnvoll waren und insgesamt das Ziel
einer nachhaltigen Politik erreicht wurde (s. Simonis 2009).
An den vorgebrachten Beispielen zeigt sich auch, dass Politikwissenschaftler
unterschiedliche Forschungsinteressen haben, nicht nur thematisch, sondern auch
damit, was sie mit ihrer Forschung erreichen möchten. Das Erklären und
Verstehen von Politik, also das akademische Interesse, die wissenschaftliche
Neugier, schreiben wir den Politikwissenschaftlern als Grundlage zu. Aber:
Reicht das, oder gibt es nicht weitere Interessen? Dies kann, wie bei der
Gründergeneration der bundesdeutschen Politikwissenschaft in den 1950er Jahren,
die kritisch-wissenschaftliche18 Begleitung und Unterstützung eines gewünschten
Politikprozesses, einer politischen Organisation wie dem Staat oder einer Partei
oder politischer Programme sein (hier: der Durchsetzung demokratischer
Strukturen in Deutschland). Eine zweite Möglichkeit ist, herrschende politische
Verhältnisse zu kritisieren und eine veränderte Politik oder sogar ein anderes
politisches System zu fordern, wie dies Wissenschaftlern aus der Dritten Welt
während der Unabhängigkeitsbestrebungen taten. Sie wurden zum größten Teil in
den Kolonialstaaten geschult, und ihnen wurde dabei die Unausweichlichkeit
dieser Situation beigebracht. Davon emanzipierten sie sich, und sie entwickelten
eigene Modelle, die auch politisch wirksam wurden und zur Unabhängigkeit ihrer
Länder führten.
Diese bedeutsame Frage stellt sich schon Studierenden: Was wollen Sie als
Politikwissenschaftler erreichen? Ist es für Sie ein Brotberuf wie jeder andere?
Reicht es Ihnen, Politik verstehen und erklären zu können? Oder möchten Sie
mitgestalten oder verändern? Es ist eine Aufgabe der Studierenden der
Politikwissenschaft zu lernen, sich in dem Geflecht von theoretischen Positionen,
den untersuchten Interessenlagen der Politik sowie deren Einwirkung auf die
Entwicklung der Politikwissenschaft orientieren zu können. Voraussetzung dafür
ist, dass die Studierenden sich ihrer eigenen politischen und politik-
wissenschaftlichen Interessen bewusst werden. Das Studium der Politikwissen-
schaft ist ohne Selbstaufklärung kaum möglich und verlangt die Entwicklung
einer eigenen politikwissenschaftlichen Position, die ihrerseits ohne eine reflek-
tierte politische Position nicht zu gewinnen ist. Sie dürfen sich nicht der Illusion
hingeben, dass das von der Politikwissenschaft erarbeitete Wissen, das Ihnen von
den Lehrenden didaktisch aufbereitet und versachlicht dargeboten wird, objektiver
18 Die Begriffswahl orientiert sich an Habermas 1978: 155 ff.
Ziele der Forschung
3 Was sind politikwissenschaftliche Probleme? 67
Natur sei. Immer steht dieses Wissen auf den Krücken von Interessen, Wertent-
scheidungen und Wahlprozessen, auch wenn diese nicht mehr erkennbar sind.
Wenn Sie sich für eine Theorie und eine bestimmte theoretisch-methodische He-
rangehensweise entscheiden, dann beziehen Sie sich immer auch auf bestimmte
Interessen und Wertentscheidungen, zu denen Sie bewusst oder unbewusst Stel-
lung beziehen.
Sie beschäftigen sich mit der Frage, welche Rolle die NATO bei der Errichtung eines europäischen Sicherheitssystems nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes übernommen hat und welche das atlantische Bündnis spielen könnte. Zur Beantwortung dieser Frage müssen Sie sich u. a. mit der Geschichte der NATO, ihrer Institutionen und strategischen Konzeptionen sowie mit ihrer institutionellen Lernfähigkeit und den unterschiedlichen Interessen und Positionen zur Reform der NATO befassen. Sie werden sich mit dem Begriff der Sicherheit, auf den sich die NATO geeinigt hat, und mit unterschiedlichen Sicherheitskonzeptionen und mit den ihnen zugrunde liegenden Interessen, Wertentscheidungen und Annahmen über politisches Handeln zu beschäftigen haben. Diese Auseinandersetzung kann nicht unabhängig von Ihrer Einstellung gegenüber dem möglichen Einsatz von Kernwaffen und anderen Massenver-nichtungswaffen erfolgen. Sie kommen nicht darum herum, Stellung zu der wertgeladenen Frage zu beziehen: Welche Rolle können und sollen Massenvernichtungswaffen in einem europäischen Sicherheitssystem nach dem Ende des Kalten Krieges noch spielen?
Zur Beantwortung dieser Frage müssen Sie sich Ihre eigene Meinung über den angedrohten und daher möglichen Einsatz von Massenvernichtungswaffen bilden. Mit der Konkretisierung und gleichzeitigen Rationalisierung (Begründung) Ihrer eigenen Position nehmen Sie einen Standpunkt gegenüber politischen und politikwissenschaftlichen Debatten ein. Ihre Position – gewonnen in der Auseinandersetzung mit einem politischen Problem sowie den politischen und poli-tikwissenschaftlichen Debatten – wird für Sie zum Maßstab der Kritik und zum Wegbereiter des Interesses an Politik und der politikwissenschaftlichen Reflexion. Die Politikwissenschaft zwingt zum Nachdenken über die eigene Rolle im Geflecht von Politik und Wissenschaft. Für eine wissenschaftliche Arbeit ist es dabei unerlässlich, den Weg von der politischen Position über die wissenschaftliche Reflexion schließlich zu einer politikwissenschaftlich begründeten Position zu gehen.
Nicht nur die Wissenschaft, sondern auch der individuelle Lebensweg wird von ir-
reversiblen Entscheidungen geprägt. Die Entscheidung für ein bestimmtes Thema,
für eine bestimmte theoretische Position und für eine bestimmte Wertkonzeption
strukturiert den Rahmen zukünftiger Entscheidungen und reduziert die Wahlmög-
lichkeiten. Daher will es wohl bedacht sein, auf welche Probleme Sie sich einlas-
sen und worauf Sie Ihr persönliches Erkenntnisinteresse während des Studiums
richten. Die Erwartung, der angebotene Lernstoff und die Hochschule könnten Ih-
nen dieses Entscheidungsproblem abnehmen, ist trügerisch. Wir machen Ange-
bote und verlangen manches verbindlich; Sie jedoch haben auszuwählen und Ihr
selbständiges Urteilsvermögen zu entwickeln.
Beispiel
Selbständiges Urteilsvermögen
3 Was sind politikwissenschaftliche Probleme? 68
Übungsaufgabe 5:
Definieren Sie Ihre erkenntnisleitenden Interessen (Warum studiere ich Politik-
wissenschaft?) und geben Sie einen oder mehrere Themenbereiche an, die Sie
untersuchen möchten. Begründen Sie Ihre Themenwahl.