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Suhrkamp Hermann Hesse China Weisheit des Ostens

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Hermann HesseChina Weisheit des Ostens

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Man wird wohl schwerlich einen deutschen Schriftsteller des20. Jahrhunderts finden, der sich so f�r China interessiert undauf vergleichbare Weise f�r die klassische Literatur dieses Landeseingesetzt hat wie Hermann Hesse. Keiner hat �hnlich beharrlich,mehr als 50 Jahre lang betont, daßwir diese Kultur »studierenm�s-sen wie einen gleichwertigen Mitbewerber, der uns je nachdemFreund oder Feind werden, jedenfalls aber unendlich n�tzen oderschaden kann«. Denn die Chinesen waren f�r ihn »ein Volk, dasnicht r�ckw�rts, sondern in eine t�tige Zukunft blickt«. Undes gibt auch keinen deutschen Dichter, der so viel chinesischesGedankengut in seine Schriften einbezogen hat. So durchziehenchinesische Motive, Einfl�sse des Taoismus, des Konfuzianismusund des chinesischen Zen sein komplettes Werk, von Gedichten�berM�rchen und Erz�hlungen, Betrachtungen und Lekt�reemp-fehlungen bis hinein in seinen großen Roman Das Glasperlen-spiel.Hermann Hesse, am 2. Juli 1877 in Calw geboren, starb am

9. August 1962 in Montagnola bei Lugano. 1946 erhielt er denNobelpreis f�r Literatur.

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Hermann HesseChina

Weisheit des OstensHerausgegeben vonVolker Michels

Suhrkamp

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suhrkamp taschenbuch 4106Erste Auflage 2009

� Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009Suhrkamp Taschenbuch Verlag

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durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.

Satz: H�mmer GmbH,Waldb�ttelbrunnDruck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

Printed in GermanyUmschlag: Gçllner, Michels, Zegarzewski

ISBN 978-3-518-46106-8

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ChinaWeisheit des Ostens

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Inhalt

Vorwort 9

Erz�hlungen, Legenden, Gedichte

Der Dichter 37Nachtfest der Chinesen in Singapore 45Flçtentraum 46An eine chinesische S�ngerin 55Der Europ�er 56Die Musik des Untergangs 65Kçnig Yu 76Der �ltere Bruder 83Chinesische Parabel 98Dsu Yung 99Der schwarze Kçnig 100Chinesische Legende 107Josef Knecht an Carlo Ferromonte 109Der erhobene Finger 117Junger Novize im Zen-Kloster 118

Reiseberichte, Betrachtungen, Aufs�tze

Begegnung 121Abend in Asien 123Spazierenfahren 128Chinesen 132Erinnerung an Asien 137Chinesische Betrachtung 141�ber mein Verh�ltnis zum geistigen Indien und China 145Vom chinesischen Geist 148Blick nach dem fernen Osten 151

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Erinnerung an Lekt�re

Die chinesische Flçte 157Confucius deutsch 157Chinesisches 160Chinesisches in M�nchen 162Weisheit des Ostens 163Chinesische Geistergeschichten 165Das wahre Buch vom s�dlichen Bl�tenland 168Chinesische Volksm�rchen 171Die zwei Pole 173Tao Teh King 174Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten 175Altchinesische Liebeskomçdien 177Chinesische Novellen 178I Ging 179»Eisherz und Edeljaspis oder Die Geschichte

einer gl�cklichen Gattenwahl« 183Richard Wilhelms China-Werke 183Richard Wilhelms letztes Werk 187»Der Traum der roten Kammer« 190Ein Mittler zwischen China und Europa 192Das Bi-Yaen-Lu 195Y�an-wus Niederschrift von der smaragdenen

Felswand 197

Quellennachweis 203

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Vorwort

Man wird wohl schwerlich einen deutschen Schriftstellerdes 20. Jahrhunderts finden, der sich so f�r China interes-siert und auf vergleichbare Weise f�r die klassische Litera-tur dieses Landes eingesetzt hat wie Hermann Hesse. Kei-ner hat �hnlich beharrlich, mehr als 50 Jahre lang betont,daß wir diese Kultur »studieren m�ssen wie einen gleich-wertigen Mitbewerber, der uns je nachdem Freund oderFeind werden, jedenfalls aber unendlich n�tzen oder scha-den kann«. Denn die Chinesen waren f�r ihn »ein Volk,das nicht r�ckw�rts, sondern in eine t�tige Zukunft blickt«.Und es gibt auch keinen deutschen Dichter, der so viel chi-nesisches Gedankengut in seine Schriften einbezogen hat,so daß er am Ende seines Lebens res�mieren konnte: »Dasalte Liederbuch (Schi-King),1 das Buch der WandlungenI Ging, die Schriften von und �ber Konfuzius und LaoTse bis Dschuang Dse gehçren ebenso wie Homer und Ari-stoteles zu meinen Erziehern, sie haben mich und meineVorstellungen vomguten,weisen,vollkommenenMenschenformen helfen.«Wie ist es zu dieser Aufgeschlossenheit ge-kommen?

Ein Volk, in dessen Sprache das Wort Krise dasselbe be-deutet wie Chance, mußte einen Autor interessieren, derweithin als Dichter der Krisis verstanden wird und der –ganz wie China im Lauf der Geschichte – aus jeder Gefah-

1 Die Schreibweise chinesischer Namen und Titel variiert in den deutschen�bersetzungen der Vergangenheit erheblich. Da Hesse sie in seinen Texten�bernimmt, wurden sie dort und in diesem Vorwort aus bibliographischenGr�nden so belassen. Die derzeit g�ltige Schreibweise im Hanyu pinyinlautet f�r Schi-King: Shijin, f�r I Ging: Yijing, f�r Konfuzius (Kung Fu Tse):Kongzi, f�r Lao Tse: Laozi, f�r Dschuang Dse (Tschuang Tse): Zhuangzi,f�r LunY�:Lunyu, f�r Taoteking (TaoTeKing):Daode jin, f�r Li�Dsi:Liezi,f�r Li Tai Po: Li Bai, f�r Thu Fu (Tu Fu):Du Fu.

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renzone ver�ndert und verj�ngt hervorgegangen ist, wes-halb er immer wieder neue Lesergenerationen zu erreichenvermag. Darauf zielt u. a. auch der Untertitel der ameri-kanischen Hesse-Biographie »Autor der Krisis« von RalphFreedman, womit auf eine Disposition f�r Wandlungenund Entwicklungen hingewiesen wird, die Hesses VerlegerPeter Suhrkamp einmal so beschrieben hat: »Es gibt kaumeinenAutor,der so oft seinen eigenen Leichnamhinter sichbegrub und jedes mal auf einer anderen Stufe wieder neuanfing. Und jedes mal geschah das aus einer wirklichenund ehrlichen Not heraus.« An Anl�ssen dazu hat es wahr-haftig nicht gefehlt im Verlauf des kriegerischen 20. Jahr-hunderts.Aufgewachsen im Zeitalter des Imperialismus, in wel-

chem sich das wilhelminische Deutschland als letzte euro-p�ischeMacht einen »Platz ander Sonne« zu sichern suchteund sich damit gleichfalls an der kolonialen Unterwerfungder außereurop�ischenWelt beteiligte, kamHermannHesseschon als Kind in Ber�hrung mit den Opfern dieses Ex-pansionsdranges. War doch auf die Besitznahme der Ge-biete in �bersee fast immer auch die weltanschaulicheund religiçse Freiheitsberaubung seitens der christlichenMissionare gefolgt. Zu ihnen gehçrten die Großeltern undEltern des Dichters, welche im englischen KolonialgebietIndiens ihre »Heidenmission« betrieben. Sein Vater Johan-nes Hesse (1847-1916) war, weil er das tropische Klimanicht mehr vertrug, 1873 von dort nach Europa zur�ckge-kehrt, um im w�rttembergischen Calw, einem Zentrumdes schw�bischen Pietismus, seine Arbeit im damals grçß-ten evangelischen Missionsverlag auf publizistische Wei-se fortzusetzen. Hier lernte er auch seine k�nftige Frau,die Missionarswitwe Marie Isenberg (1842-1902) kennen,Tochter des ber�hmten Missionars und SprachforschersDr. Hermann Gundert (1814-1893), der nach seiner R�ck-kehr aus Indien den Missionsverlag leitete. Hermann war

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der erste und begabteste Sohn aus Maries zweiter Ehe mitJohannes Hesse und dazu bestimmt, die sendungsbewuß-te Familientradition auch in Zukunft aufrechtzuerhalten.Aber es kam anders.

Schon im Alter von 14 Jahren floh er aus dem theolo-gischen Seminar, das ihn auf diese Laufbahn vorbereitensollte. Und lebenslang galt seine Sympathie besonders je-nen, welchen wie ihm die Selbstbestimmung verweigertwurde, darunter auch den »bekehrten Heiden« aus allerHerren L�nder, die in seinem Elternhaus ein- und ausgin-gen.

Kein Wunder also, daß es zun�chst die Inder waren, de-renWeltbild den jungenHermannHesse besch�ftigte, nach-dem ihm der Erfolg seiner ersten Romane Peter Camen-zind und Unterm Rad so viel Unabh�ngigkeit verschaffthatte, daß er schließlich doch noch seinen Traum ver-wirklichen und ein Leben als freier Schriftsteller beginnenkonnte. Im Alter von etwa 27 Jahren, so berichtet Hessein seinem R�ckblick »�ber mein Verh�ltnis zum geistigenIndien und China«, als er begann, sich mit Schopenhauerzu besch�ftigen, sei er auf das indische Nationalepos Bha-gavadgita gestoßen.Mit der Lekt�re dieses philosophischenLehrgedichtes habe sein Studium der Quellenwerke indi-scher �berlieferung eingesetzt.

Doch schon kurz darauf erwachte auch sein Interesse f�rchinesische Kultur und Dichtung. Ab 1910 gab der VerlagEugen Diederichs in seiner Reihe »Religion und Philoso-phie Chinas« deutsche �bertragungen chinesischer Klas-siker aus der Originalsprache heraus. �bersetzt waren sievon Richard Wilhelm (1873-1930), einem schw�bischenTheologen, der als Missionar ins deutsche »SchutzgebietKiautschou« entsandt worden war und in der »Musterko-lonie« Tsingtau lebte. Er interessierte sich bald mehr f�rdas Weltbild der Chinesen als f�r deren Bekehrung undreligiçse Vereinnahmung durch das evangelische Christen-

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tum.Gleich auf sein erstes bei Diederichs vorgelegtesWerkmit den Gespr�chen des Konfuzius (552-479 v. Chr.) hatHesse hingewiesen in einer seiner mehr als dreitausend Re-zensionen, in welchen er sich seit der Jahrhundertwendef�r die wichtigsten Neuerscheinungen auf dem deutschenBuchmarkt engagierte.

In einer Zeit, als hierzulande noch das Feindbild von der»gelben Gefahr« an der Tagesordnung war, womit mansich gegen dasUnbekannte und deshalb bedrohlich Erschei-nende abzuschotten suchte, pl�dierte Hesse daf�r, das unsBefremdliche an der konfuzianischen P�dagogik und Sy-stematik nicht zu ignorieren, sondern es eher als Berei-cherung unserer westlichen Denkgewohnheiten wahrzu-nehmen. Denn abendl�ndisches und fernçstliches Denkenwaren f�r ihn Pole einer Einheit, die sich nicht ausschlie-ßen, sondern erg�nzen. »Das nçtigt uns«, schrieb er 1910in seiner Empfehlung des Lun Y� (Gespr�che des Konfu-zius), »unsere eigene individualistische Kultur auch ein-mal nicht als selbstverst�ndlich, sondern im Vergleich mitihrem Widerspiel zu betrachten.«

Noch im selben Jahr kam das andere Hauptwerk der chi-nesischen Klassik auf den deutschenMarkt, das Taotekingdes Lao Tse (ca. 600 v. Chr.), �bersetzt durch den T�bin-ger Altteststamentler und Orientalisten Julius Grill. Ihmfolgte 1911 die �bertragung von Richard Wilhelm, beideaus der Ursprache verdeutscht in sprachlich unterschied-lichen Versionen. Auch sie hat Hesse (in der »M�nchnerZeitung« vom24. 5. 1911) empfohlen undmiteinander ver-glichen, wobei er als Dichter die sprachlich originellerebevorzugte: »Beide sind gr�ndliche und schçne Arbeiten.Mag die Grill’sche Ausgabe mit ihrem reichen Kommen-tar die wissenschaftlich brauchbarere sein, so zeichnet sichdaf�r die von Wilhelm durch eine kr�ftigere, bestimmtere,persçnlichere Sprache und damit auch durch eine leich-

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tere Zug�nglichkeit aus.« Aber wichtiger als das Formalewaren ihm die lyrische Aussage und der Humor diesesWer-kes, dessen scheinbar schlichte Verse und paradox an-mutende Parabeln Lebenswahrheiten enthalten, die sichweniger dem kausalen Denken als dem intuitiven Gef�hlerschließen. F�r Hesse hob es sich wohltuend ab gegen diekalte Logik und die Spitzfindigkeiten westlicher Philoso-phie.Verglichen mit »den Seitenspr�ngen abendl�ndischerDenkakrobatik«, schrieb er in seiner ersten Empfehlungdes Lao Tse, dieses naturverbunden-lebensfrohen Weisenaus Chinas S�den, »kann man den Eindruck gewinnen,dieser uralte Chinese habe die elementaren Werte bessererkannt und habe grçßer und zweckm�ßiger an der Ent-wicklung der Menschheit gearbeitet, als so viele instinkt-verlassene Abendl�nder in ihrer anarchischen Spezialisten-philosophie.«

Noch im selben Jahr unternahm er die weiteste Reise sei-nes Lebens in den damals als »Hinterindien« bezeichnetenArchipel im s�dlichen Golf von Bengalen. Hans Sturzeneg-ger, ein Schweizer Malerfreund aus Schaffhausen, der sei-nen Bruder in Singapur besuchen wollte, hatte Hesse ein-geladen, ihn auf seiner Fahrt zu begleiten. Da dieser immerschon mit dem Gedanken an solch eine Morgenlandfahrtgespielt hatte, um das Missionsgebiet seiner Eltern undGroßeltern kennenzulernen und die indische Westk�ste zubereisen, wo seine Mutter geboren worden war, fiel ihmder Entschluß nicht schwer. Zwar mußte er seinen Plan,auf der R�ckfahrt auch den indischen Subkontinent zubesuchen, wegen gesundheitlicher Beschwerden aufgeben.Doch sah er im Verlauf dieser dreimonatigen Exkursion(mit l�ngeren Aufenthalten in Sri Lanka, Sumatra undMa-laysia),was ihn vor allem interessierte: in welchen Formendie hinduistischenundbuddhistischenTraditionendas dor-tige Leben bestimmten und ob sie sich gegen die Einfl�sseder westlichen Kolonialm�chte zu behaupten vermochten.

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Das Ergebnis war eher ern�chternd. Die Mehrheit der Ein-heimischen erlebteHessemitZorn auf die kurzsichtigeAus-beutung durch die holl�ndischen Kolonialherren als »armeReste einer alten Paradies-Menschheit, die vom Westenkorrumpiert und gefressen wird, liebe, gutartige, geschick-te und begabte Naturvçlker, denen unsre Kultur den Gar-ausmacht . . . Ich sah und sprach auch vieleKaufleute,Tech-niker etc. aus aller Welt und sah viel vom großen Handel.Es wird eineMenge guter wertvoller hiesiger Produkte aus-gef�hrt, eingef�hrt wird aus Europa und Amerika vorwie-gend Schund. Die Malaien und Inder fallen darauf herein,die Chinesen nicht.« Und kaum anders als bei uns im soge-nannten christlichen Abendland schien ihm das Eigentlicheder dortigen Spiritualit�t nur noch in Spurenelementenvorhanden. Sowohl in den Heiligt�mern der Brahmanen,den hinduistischen Gçttertempeln wie auch in den buddhi-stischen Wallfahrtsorten Ceylons blieb ihm die »scheuß-liche Erfahrung« nicht erspart, »daß der seelenvolle Beter-blick der meisten Inder gar nicht Ruf nach Gçttern undErlçsung ist, sondern einfach der Ruf nach money.«

Ganz anders dagegen war der Eindruck, den er bei sei-nen Aufenthalten in Penang und Singapur von den Chine-sen gewann. Er sei in die Tropen gereist, berichtet er weni-ge Wochen nach seiner R�ckkehr in einem launigen Briefdem Schriftstellerfreund Ludwig Thoma, »um den Urwaldanzusehen, Krokodile zu streicheln und Schmetterlinge zufangen, und fand ganz nebenbei und ungesucht etwas vielSchçneres: die Chinesenst�dte von Hinterindien und daschinesische Volk, das erste wirkliche Kulturvolk, das ichsah.« Kein Wunder, denn hier begegnete er einer Zivilisa-tion, in der seit jeher die schriftliche �berlieferung domi-niert hatte, wo schon 400 Jahre vor Johannes Gutenbergder Buchdruck mit beweglichen Lettern erfunden wurde,einer Kultur, in welcher die Philosophie, die Malerei undin der Literatur die Poesie das hçchste Ansehen genossen

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und Zivilisation (chinesisch: Wenhua) zu �bersetzen istmit »der ver�ndernde Einfluß durch die Schrift.«

Obwohl Singapur, das bedeutendste Verkehrs- und Han-delszentrum Ostasiens, nicht zu China, sondern von 1867bis 1941 zur britischen Kronkolonie Straits Settlementsgehçrte (und heute ein autonomer Stadtstaat ist), bestanddamals wie heute der grçßte Teil seiner Bewohner aus ein-gewanderten Chinesen. Hier also erlebte Hesse zum erstenMal, was deren St�rke ausmacht. Er sah »die Einheit einesVolkswesens so absolut herrschen, daß alle Einzelerschei-nungen darin ganz und gar untergehen«, und sah »wie sicheine Vielzahl vonMenschen durchRasse,Glaube, seelischeVerwandtschaft und Gleichheit der Lebensideale zu einemKçrper zusammenballt, in dem der Einzelne nur bedingtund als Zelle mitlebt, wie die einzelne Biene in einem Bie-nenstaat.« Das zeigte sich ihm auch »in der Einheitlichkeitund Abgestimmtheit ihrer Architektur« und ihrem fami-li�ren Zusammenhalt, einer Lebensweise nach der kon-fuzianischen Vorstellung, daß der Staat eine Familie imGroßen darstellen m�sse. Denn f�r Konfuzius, den praxis-orientierten Philosophen aus Chinas Norden, ist sozialeHarmonie nur durch eine hierarchische Ordnung mensch-licher Beziehungen denkbar, in der jeder seinen Platz inder Gesellschaft akzeptiert und die Verhaltensformen zwi-schen Herrschenden undUntertanen,Vorgesetzten und Un-tergebenen, aber auch zwischen V�tern und Sçhnen, M�n-nern und Frauen geregelt sind und gleichwohl Treue gegensich selbst und G�te gegen andere als oberstes Gebot gel-ten.

Mit erstaunlichem unternehmerischem Geschick hattendiese Auslandschinesen Singapur zum drittgrçßten Hafender Welt ausgebaut, zu einem Umschlagplatz, wo mittler-weile fast 80 Prozent des malayischen und indonesischenIm- und Exporthandels abgewickelt werden. F�r Hesse wa-

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ren es ihr »stiller und z�her Fleiß« und ihr ungewçhnlichesOrganisationstalent,was sie imGegensatz zu denMalaien,Tamilen und anderen Ethnien resistenter gegen die Einfl�s-se der Kolonialherren machte. Hinzu kam ihre F�higkeit,nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im religiçsenBereich alles Fremde zu assimilieren. Das zeigte sich inder friedlichen Koexistenz des von Indien nach China ge-langten Buddhismus mit dem einheimischen Konfuzianis-mus, der bekanntlich keine Religion, sondern eine s�ku-lare Ethiklehre ist. In den Volksreligionen verschmolzentaoistische und buddhistische Elemente mit �lteren animi-stischen und schamanistischenGlaubensformen. Diese To-leranz gegen�ber den unterschiedlichstenGlaubensrichtun-gen erlaubte es, daß im Verlauf der Geschichte manche derchinesischen Kaiser Buddhisten waren, obwohl der Kon-fuzianismus seit zweitausend Jahren fast ununterbrochenals offizielle Staatsdoktrin galt.

1928 in seinem ber�hmt gewordenen Essay »Eine Bi-bliothek der Weltliteratur« hat Hesse die indische mit derchinesischen Spiritualit�t verglichen und auf ihre gleich-berechtigte Bedeutung f�r die unterschiedlichen Lebensal-ter hingewiesen: »Was den Indern gefehlt hatte, die Lebens-n�he, die Harmonie einer edlen, zu den hçchsten sittlichenForderungen entschlossenenGeistigkeit mit dem Spiel undReiz des sinnlichen und allt�glichen Lebens – das weiteHin undHer zwischen hoher Vergeistigung und naivemLe-bensbehagen, das alles war hier in F�lle vorhanden.WennIndien in der Askese und im mçnchischen WeltentsagenHohes und R�hrendes erreicht hatte, so hatte das alte Chi-na nicht minder Wunderbares erreicht in der Zucht einerGeistigkeit, f�r welche Natur und Geist, Religion und All-tag nicht feindliche, sondern freundlicheGegens�tze bedeu-ten und beide zu ihrem Recht kommen. War die indisch-asketische Weisheit jugendlich-puritanisch in der Radika-lit�t ihres Forderns, so war die Weisheit Chinas die eines

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erfahrenen, klug gewordenen, des Humors nicht unkundi-gen Mannes, den die Erfahrung nicht entt�uscht, den dieKlugheit nicht frivol gemacht hat.«

Den Weg von indischer zu chinesischer Lebenspraxis,von jugendlichemAufbegehren zumAugenmaß taoistischerBesonnenheit, zeigt auch die Entwicklungsgeschichte inHesses Buddhalegende Siddhartha. Sie freilich war vor al-lem eine seiner Antworten auf den Aktionismus der west-lichen Industrienationen, deren technische Errungenschaf-ten sich von 1914 bis 1918 in einem Krieg entluden, demmehr als 17 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Zu-n�chst hatte Hesse auf dieses Debakel mit praktischerSozialarbeit reagiert, gab es doch noch nie zuvor in derMenschheitsgeschichte so viele in Gefangenschaft gerate-ne Soldaten wie damals. Um deren Not zu lindern, bauteer 1915 in Bern eine Zentrale f�r deutsche Kriegsgefan-genenf�rsorge auf, welche bis 1919 Hunderttausende sei-ner Landsleute, die in feindlichen Lagern interniert waren,mitHilfsmitteln jeder Art und guter Lekt�re versorgte, eineAufkl�rungsarbeit, die er nach Kriegsende auf journalisti-sche Weise mit seiner Zeitschrift »Vivos voco« fortsetzte.Als langfristiger wirksam jedoch erwies sich sein Siddhar-tha,weil er demVertrauensverlust der christlichenKirchen,die sich durch ihren Waffensegen kompromittiert hatten,eine humanere Alternative entgegenzusetzen vermochte.Denn in dieser Erz�hlung fand man gestaltet, was Hesse1919 in der »Neuen Z�rcher Zeitung« geschrieben hatte:»Die Weisheit, die uns nottut, steht bei Lao Tse und sieins Europ�ische zu �bersetzen, ist die einzige geistige Auf-gabe, die wir zur Zeit haben.«

Erkenntnisse des Li� Dsi (350 n.Chr.) wie: »Ehe nichtdas �ußerste erreicht ist, kehrt sich nichts ins Gegenteil«,finden wir im Werdegang von Hesses Siddhartha in unver-geßliche Bilder gebracht, sei es in der Darstellung seinerEmanzipation aus der Bevormundung des Vaters, seiner

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Sinnsuche durch asketische Selbstkasteiung, seiner Lçsungvon der bewunderten Idealgestalt des Gotama, seiner biszur �bers�ttigung ausgelebten Kaufmannskarriere undHin-gabe an die Sinnenfreuden und zuletzt der vergeblichen An-strengung, seinem Sohn eben jene R�ckschl�ge ersparenzu wollen, denen er seine eigene Entwicklung verdankte,bis er endlich bei einem an Lao Tse erinnernden F�hrmanndurch ein bescheidenes Leben im Einklang mit der Naturund im Dienst an den Mitmenschen sein Gl�ck findet.Nach leidvoll eigener Erfahrung ist es Hesse hier tats�ch-lich gegl�ckt, abendl�ndischen Lesern den 36. Spruch desTao Te King nachvollziehbar zu machen: »Was man zusam-menziehen will, muß man erst sich richtig ausdehnen las-sen. / Was man schw�chen will, das muß man erst rich-tig stark werden lassen. / Was man beseitigen will, dasmuß man erst sich richtig ausleben lassen.« Und auch den78. Spruch des Lao Tse: »Das Schwache besiegt das Starke,das Weiche das Harte. Jeder weiß es und keiner vermagdanach zu handeln.«MitHessesWorten in poetischer Ana-logie: »Weich ist st�rker als hart,Wasser st�rker als Fels,Liebe st�rker als Gewalt.«

Siddhartha ist nicht die einzige Erz�hlung, in welcherHesse Asiatisches aufgegriffen und f�r westliche Leser zumLeben erweckt hat. Das Spektrum chinesischer Motivebei ihm ist vielf�ltig und reicht von seinen fr�hen M�r-chenwie »DerDichter« und »Flçtentraum« (1913) zu Para-beln wie »Der Europ�er« (1917) und »Kçnig Yu«(1929),von der Wahlverwandtschaft mit den Dichtern DschuangDse, Li Tai Po und Thu Fu in der »Klingsor«-Novelle zuden I Ging- Studien Josef Knechts im Glasperlenspiel, vonden chan-(zen-)buddhistischen Gedichten und Betrachtun-gen aus Hesses letzten Lebensjahren schließlich zu der un-ter chinesischem Pseudonym (Meng Hsi� = Traum-Schrei-ber) verçffentlichten »Chinesischen Legende« (1959).Auch eine der eindrucksvollsten Passagen in Hesses auto-

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biographischen Schriften geht auf chinesische Quellen zu-r�ck. Sie findet sich in seinem 1921-1924 entstandenen»Kurzgefaßten Lebenslauf«, einem hintergr�ndigen Selbst-portrait des 45j�hrigen, das mit einer sublimen Vision sei-nes Lebensendes ausklingt: »Im Alter von mehr als siebzigJahren wurde ich, nachdem eben erst zwei Universit�tenmich durch die Verleihung der W�rde eines Ehrendoktorsausgezeichnet hatten,wegen Verf�hrung eines jungenM�d-chens durch Zauberei vor die Gerichte gebracht. Im Ge-f�ngnis bat ich um die Erlaubnis, mich mit Malerei zu be-sch�ftigen. Es wurde mir bewilligt. Freunde brachten mirFarben und Malzeug, und ich malte an die Wand einekleine Landschaft . . . Sie enthielt fast alles, woran ich imLeben Freude gehabt hatte, Fl�sse und Gebirge, Meer undWolken . . . In der Mitte des Bildes aber fuhr eine ganzkleine Eisenbahn. Sie fuhr auf einen Berg los und stak mitdem Kopf schon im Berge drin wie ein Wurm im Apfel, dieLokomotive war schon in einen kleinen Tunnel eingefah-ren, aus dessen dunkler Rundung flockiger Rauch heraus-kam . . . Indessen gab die sogenannte Wirklichkeit, mit wel-cher ich in der Tat nun ganz zerfallen war, sich alle M�he,meinen Traum zu hçhnen und immer wieder zu zerstçren.Fast jeden Tag holte man mich, f�hrte mich unter Bewa-chung in �ußerst unsympathische R�umlichkeiten, wo in-mitten von vielem Papier unsympathische Menschen sa-ßen, die mich ausfragten, mir nicht glauben wollten, michanschnauzten, mich bald wie ein dreij�hriges Kind, baldwie einen abgefeimten Verbrecher behandelten . . . Manbraucht nicht Angeklagter zu sein, um diese merkw�rdigeund wahrhaft hçllische Welt der Kanzleien, des Papiersund der Akten kennenzulernen. Du brauchst nur umziehenoder heiraten wollen, einen Paß oder Heimatschein begeh-ren, so stehst du schon mitten in dieser Hçlle . . . wirst vongelangweilten und dennoch hastigen, unfrohen Menschenausgefragt, angeschnauzt, findest f�r die einfachsten und

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