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Leseprobe Honneth, Axel Die Idee des Sozialismus Versuch einer Aktualisierung © Suhrkamp Verlag 978-3-518-58678-5 Suhrkamp Verlag

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Leseprobe

Honneth, Axel

Die Idee des Sozialismus

Versuch einer Aktualisierung

© Suhrkamp Verlag

978-3-518-58678-5

Suhrkamp Verlag

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Axel Honneth

Die Idee des SozialismusVersuch einer Aktualisierung

Suhrkamp

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Erste Auflage 2015© Suhrkamp Verlag Berlin 2015Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,vervielfältigt oder verbreitet werden.Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, WaldbüttelbrunnDruck: Druckhaus Nomos, SinzheimPrinted in GermanyISBN 978-3-518-58678-5

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

I. Die ursprüngliche Idee:Aufhebung der Revolution in sozialer Freiheit . . . . . 23

II. Das antiquierte Denkgehäuse:Bindung an Geist und Kultur des Industrialismus . . 51

III. Wege der Erneuerung (1):Sozialismus als historischer Experimentalismus . . . . 85

IV. Wege der Erneuerung (2):Die Idee einer demokratischen Lebensform . . . . . . 121

Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

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Meinen Söhnen Johannes und Robert,die von Anfang an alles leichter gemacht haben.

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»COURAGE yet, my brother and sister!Keep on – Liberty is to be subserv’d whatever occurs;That is nothing that is quell’d by one or two failures, or by any

number of failures,Or by the indifference or ingratitude of the people, or by any

unfaithfulness,Or the show of the tushes of power, soldiers, cannon, penal statuses.

What we believe in waits latent forever through all the continents,Invites no one, promises nothing, sits in calmness and light, is

positive and composed, knows no discouragement,Waiting patiently, waiting its time.«

Walt Whitman, »To a Foil’d European Revolutionaire« [1856], aus:Leaves of Grass

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Vorwort

Vor nicht einmal hundert Jahren war der Sozialismus eine somächtige Bewegung innerhalb der modernen Gesellschaft,daß kaum einer der großen Sozialtheoretiker der Zeit es nichtfür nötig erachtete, ihm eine ausführliche, mal eher kritische,mal stärker sympathisierende, stets aber von Achtung getra-gene Abhandlung zu widmen. Den Anfang hatte noch im19. Jahrhundert John Stuart Mill gemacht, ihm folgten EmileDurkheim, Max Weber und Joseph Schumpeter, um nur diewichtigsten zu nennen; all diese Denker stimmten trotz er-heblicher Differenzen in persönlicher Gesinnung und theo-retischer Programmatik darin überein, im Sozialismus eineintellektuelle Herausforderung zu sehen, die den Kapitalis-mus wohl auf Dauer würde begleiten müssen. Heute hat sichdas grundsätzlich gewandelt. Findet der Sozialismus über-haupt noch einmal in sozialtheoretischen ZusammenhängenErwähnung, so scheint es als ausgemacht zu gelten, daß er sei-ne Zeit inzwischen überlebt hat; weder traut man ihm zu, dieBegeisterung der Massen jemals wieder entfachen zu kön-nen, noch hält man ihn für tauglich, wegweisende Alternati-ven zum gegenwärtigen Kapitalismus aufzuzeigen. Wie überNacht – Max Weber würde sich erstaunt die Augen reiben –haben sich die Rollen zweier großer Widersacher des 19. Jahr-hunderts vertauscht: Der Religion scheint als ethische Kraftdie Zukunft zu gehören, der Sozialismus hingegen wird alsgeistiges Geschöpf der Vergangenheit wahrgenommen. DieÜberzeugung, daß diese Verkehrung zu schnell erfolgt istund daher nicht die ganze Wahrheit sein kann, ist eines derbeiden Motive, die mich vorliegendes Buch zu schreiben be-wogen haben: Im folgenden will ich nachzuweisen versu-

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chen, daß im Sozialismus durchaus noch ein lebendiger Fun-ke steckt, wenn seine leitende Idee nur entschieden genug ausseinem im frühen Industrialismus wurzelnden Denkgehäuseherausgeschält und in einen neuen gesellschaftstheoretischenRahmen hineinversetzt wird.

Das zweite Motiv, von dem ich mich bei der Abfassung derfolgenden Überlegungen habe leiten lassen, hängt stark mitder Rezeption zusammen, die meine letzte, umfangreicheStudie Das Recht der Freiheit erfahren hat.1 Nicht seltenmuß-te ich während der zahlreich darüber geführten Diskussionenhören, daß meinmethodischer Ausgang vomnormativen Ho-rizont der Moderne doch deutlich die Absicht verrate, michauf die kritische Perspektive einer Transformation der gege-benen Gesellschaftsordnung nicht mehr einlassen zu wol-len.2 Wo es nötig und möglich war, habe ich mich mit diesemEinwand schon schriftlich auseinandergesetzt, um zu zeigen,daß er auf einem Mißverständnis der mir selbst bewußt aufer-legten methodischen Beschränkungen beruht.3 Aber ich hatteweiterhin das Gefühl, erst noch vorführen zu müssen, daß esnur einer kleinen Drehung der in Das Recht der Freiheit ein-genommenen Perspektive bedürfte, um diese nach vorne zueiner institutionell gänzlich anders verfaßten Gesellschafts-ordnung hin öffnen zu können. Ganz gegen meine ursprüng-liche Absicht sah ich mich daher veranlaßt, der größeren Stu-die eine kleinere hinterherzuschicken, in der deutlich werdensoll, auf welche Vision die Fortschrittslinien eigentlich zulau-fen müßten, die ich zuvor nur aus einer internen Perspektiverekonstruiert hatte.

Beide Motive zusammengenommen haben mich dazu be-

1 Axel Honneth, Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischenSittlichkeit, Berlin 2011.

2 Vgl. etwa die Beiträge in: Special Issue on Axel Honneth’s Freedom’sRight, Critical Horizons, 16/2 (2015).

3 Axel Honneth, »Rejoinder«, ebd., S. 204-226.

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wogen, die an mich ergangene Einladung zu den Hannovera-ner Leibniz-Vorlesungen im Jahr 2014 für den ersten Versucheiner Aktualisierung der Grundideen des Sozialismus zunutzen. Ich bin den Kollegen und Kolleginnen des dortigenInstituts für Philosophie, allen voran Paul Hoyningen-Hue-ne, sehr dankbar, daß sie mir ihre jährliche Vorlesungsreihezur Behandlung des ihnen sicherlich eher fremden Themaseingeräumt haben; von den Diskussionen, die an den drei auf-einanderfolgenden Abenden jeweils im Anschluß an meineVorlesungen stattfanden, habe ich in so umfangreichem Maßeprofitiert, daß ich deutliche Vorstellungen von notwendigenÜberarbeitungen und Erweiterungen gewinnen konnte. Die-se habe ich anschließend in eine zweite Fassung meiner Vor-lesungen eingearbeitet, die vor allem in den Ausblicken aufeinen revidierten Sozialismus wesentlich umfangreicher aus-gefallenist.Eine freundlicheEinladungvonRüdigerSchmidt-Grépály, in diesem Jahr das Distinguished Fellowship desvon ihm geleiteten Kolleg Friedrich Nietzsche in Weimar zuübernehmen, gab mir im Juni schließlich die Chance, die über-arbeitete Fassung meines Textes ein weiteres Mal dem kriti-schen Urteil eines größeren Publikums auszusetzen; paralleldazu fand im Wielandgut Oßmannstedt nahe Weimar einsich über mehrere Tage erstreckendes Seminar mit Stipendia-ten der Studienstiftung des deutschen Volkes statt, aus demich dank der äußerst fruchtbaren Diskussionen noch einmalHinweise für letzte Korrekturen gewinnen konnte. Den Teil-nehmerinnen und Teilnehmern dieses Seminars wie natürlichauch dem Direktor und den Mitarbeitern des Kollegs bin ichfür das Interesse, das sie meiner Arbeit entgegengebracht ha-ben, sehr dankbar.

Dank gebührt darüber hinaus all den Freunden, Kollegin-nen und Kollegen, die mir durch Ratschläge und Verbesse-rungsvorschläge bei der Verfassung des Manuskripts gehol-fen haben. An erster Stelle möchte ich hier Fred Neuhouser

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nennen, zugleich enger Freund und vertrauter Kollege amDepartment of Philosophy der Columbia University in NewYork, der mich während der Arbeit am vorliegenden Textvon Anfang an stark ermutigt und zudem eine Reihe vonwertvollen Hinweisen beigesteuert hat. Vieles gelernt habeich zudem von den kritischen Kommentaren, mit denen EvaGilmer, Philipp Hölzing, Christine Pries-Honneth und Ti-tus Stahl die erste Fassung meiner Vorlesungen versehen ha-ben; ihnen allen bin ich, wie nun schon seit Jahren, für die mirentgegengebrachte Hilfsbereitschaft und Aufmerksamkeitsehr dankbar. Schließlich haben mir Hannah Bayer und Frau-ke Köhler in bewährter Weise bei der Literaturbeschaffungund der Manuskriptabfassung geholfen, auch ihnen gilt meinherzlicher Dank.

Axel Honneth, im Juni 2015

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Einleitung

Die Gesellschaften, in denen wir leben, sind durch einenhöchst irritierenden, schwer zu erklärenden Zwiespalt ge-prägt. Einerseits ist das Unbehagen über den sozioökonomi-schen Zustand,über die wirtschaftlichen Verhältnisse und dieArbeitsbedingungen, in den letzten Jahrzehnten enorm ange-wachsen; wahrscheinlich haben sich seit dem Ende des Zwei-ten Weltkriegs niemals soviele Menschen gleichzeitig über diesozialen und politischen Folgen empört, die mit der globalentfesselten Marktökonomie des Kapitalismus einhergehen.Andererseits aber scheint dieser massenhaften Empörung je-der normative Richtungssinn, jedes geschichtliche Gespürfür ein Ziel der vorgebrachten Kritik zu fehlen, so daß sie ei-gentümlich stumm und nach innen gekehrt bleibt; es ist, alsmangele es dem grassierenden Unbehagen an dem Vermögen,über das Bestehende hinauszudenken und einen gesellschaft-lichen Zustand jenseits des Kapitalismus zu imaginieren. DieEntkoppelung der Entrüstung von jeglicher Zukunftsorien-tierung, des Protests von allen Visionen eines Besseren, istin der Geschichte moderner Gesellschaften tatsächlich etwasNeues; seit der Französischen Revolution waren die großenBewegungen der Auflehnung gegen die kapitalistischen Ver-hältnisse stets von Utopien beflügelt, die Bilder davon ent-warfen, wie die zukünftige Gesellschaft einmal verfaßt seinsollte – man denke nur an die Maschinenstürmer, an die Ko-operativen Robert Owens, an die Rätebewegung oder an diekommunistischen Ideale einer klassenlosen Gesellschaft.Der Zufluß solcher Ströme des utopischen Denkens, wieErnst Bloch gesagt hätte, scheint heute unterbrochen zu sein;manweiß zwar ziemlich genau,was man nicht willund was an

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den gegenwärtigen Sozialverhältnissen empörend ist, hat je-doch keine auchnur halbwegsklare Vorstellung davon,wohineine gezielte Veränderung des Bestehenden sollte führen kön-nen.

Eine Erklärung für dieses plötzliche Versiegen utopischerEnergien zu finden, ist schwerer, als es auf den ersten Blickerscheinen mag. Der Zusammenbruch der kommunistischenRegime im Jahr 1989, auf den intellektuelle Beobachter gerneverweisen, um daraus ein Zerrinnen aller Hoffnungen aufeinen Zustand jenseits des Kapitalismus abzuleiten, kannwohl kaum als Ursache herangezogen werden; denn die em-pörten Massen, die heute zu Recht die wachsende Kluft zwi-schen öffentlicher Armut und privatem Reichtum beklagen,ohne indes über eine konkrete Vorstellung einer besseren Ge-sellschaft zu verfügen, mußten gewiß nicht erst durch denFall der Mauer davon überzeugt werden, daß der Staatssozia-lismus sowjetischer Prägung soziale Wohltaten nur um denPreis der Unfreiheit spendete. Zudem hatte die Tatsache,daß bis zur Russischen Revolution eine reale Alternativezum Kapitalismus nicht existierte, die Menschen im 19. Jahr-hundert keinesfalls daran gehindert, sich ein gewaltloses Zu-sammenleben in Solidarität und Gerechtigkeit auszumalen;warum also sollte der Bankrott des kommunistischen Macht-blocks mit einem Mal dazu geführt haben, daß diese anschei-nend tiefsitzende Fähigkeit zur utopischen Überschreitungdes jeweils Bestehenden heute verkümmert ist? Eine andereUrsache, die häufig angeführt wird,um die eigentümliche Zu-kunfts- und Bilderlosigkeit der gegenwärtigen Empörung zuerklären, wird im jähen Wandel unseres kollektiven Zeitbe-wußtseins vermutet: Mit dem Eintritt in die »Postmoderne«,wie er sich zunächst in der Kunst und der Architektur, dannaberauch in der Kulturals Ganze vollzogen habe, seien die fürdie Moderne charakteristischen Vorstellungen eines gerichte-ten Fortschritts so nachhaltig entwertet worden, daß heute

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statt dessen kollektiv das Bewußtsein einer historischen Wie-derkehr des Immergleichen vorherrsche. Auf dem Boden die-ser neuen, postmodernen Geschichtsauffassung, so lautet diezweite Erklärung, könnten Visionen eines besseren Lebensschon deswegennicht mehr gedeihen,weil jede Idee davonab-handen gekommen sei, daß die Gegenwart durch die ihr inne-wohnenden Potentiale stets schon über sich hinaustreibe undin eine offene Zukunft ständiger Vervollkommnungen weise;viel eher werde inzwischen die kommende Zeit nur noch alsetwas vorgestellt, das nichts anderes mehr zu bieten habe alsein bloßes Durchspielen von aus der Vergangenheit bereitsvertrauten Lebensformenoder Sozialmodellen. Allein jedochschon der Umstand,daß wir inanderen Funktionszusammen-hängen durchaus noch mit begrüßenswerten Fortschrittenrechnen, nämlich zum Beispiel in der Medizin oder bei derDurchsetzung der Menschenrechte, läßt Zweifel aufkom-men, ob eine derartige Erklärung wirklich überzeugend ist:Warum sollte nur in diesem einen Bereich, dem der Refomier-barkeit der Gesellschaft, ein Mangel an transzendierendemVorstellungsvermögen vorliegen, wenn dieses doch auf an-deren Feldern noch weitgehend intakt zu sein scheint? DieThese von einem grundsätzlich gewandelten Geschichtsbe-wußtsein unterstellt, daß jegliche Antizipation eines gesell-schaftlich Neuen heute verlorengegangen sei, ohne dabei zuberücksichtigen, welche starken, gewiß übertriebenen Hoff-nungen sich gegenwärtigetwa aneine weltweite Implementie-rung der Menschenrechte heften.4 Eine weitere, dritte Erklä-rung könnte sich daher auf den Unterschied beziehen, derzwischen den beiden genannten Feldern besteht, also zwi-schen einer strukturneutralen Überstülpung internationalsanktionierter Rechte und einem Umbau in den gesellschaft-lichen Basisinstitutionen, um daraus den Schluß zu ziehen,

4 Samuel Moyn, The Last Utopia. Human Rights in History, Cambridge/Mass. 2010.

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daß nur mit Bezug auf den zweiten Bereich die utopischenKräfte mittlerweile erlahmt sind. Nach meinem Eindruckkommt diese These der Wahrheit amnächsten,bedarfaber na-türlich einer Ergänzung; denn es muß ja zusätzlich erläutertwerden, warum es die gesellschaftspolitische Materie seinsoll, die heute nicht mehr mit utopischen Erwartungen aufge-laden werden kann.

Es mag hier der Hinweis darauf weiterhelfen, daß sich diewirtschaftlich-sozialen Vorgänge dem öffentlichen Bewußt-sein heute als viel zu komplex und daher undurchschaubardarstellen, um noch als gezielten Eingriffen zugänglich geltenzu können; vor allem durch die Prozesse der ökonomischenGlobalisierung mit ihren in ihrer Schnelligkeit kaum mehrüberblickbaren Transaktionen scheint sich eine Art von Pa-thologie zweiter Ordnung herausgebildet zu haben, die da-rin besteht, daß die Bevölkerung die institutionellen Be-dingungen des Zusammenlebens nur noch als »dingliche«Verhältnisse, als jedem menschlichen Eingriff entzogene Ge-gebenheiten ansieht.5 Erst heute käme dann die berühmte Fe-tischismusanalyse, die Marx im ersten Band von Das Kapitalentwickelt hat, zu ihrem historischen Recht; nicht schon inder Vergangenheit des Kapitalismus, als die Arbeiterbewe-gung in ihren Träumen und Visionen die existierenden Zu-stände noch für veränderbar gehalten hat,6 sondern erst inder Gegenwart hätte sich die allgemeine Überzeugung breit-gemacht, daß die sozialen Beziehungen in eigentümlicher Wei-se »gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen« sind.7 Wenndem so wäre, wofür Alltagsbeobachtungen ebenso wie empi-

5 Titus Stahl, Immanente Kritik. Elementeeiner Theorie sozialer Praktiken,Frankfurt/M. 2013.

6 Vgl. Jacques Rancière, Die Nacht der Proletarier. Archive des Arbeiter-traums, Wien 2013.

7 Karl Marx, Das Kapital, in: ders./Friedrich Engels,Werke (MEW), Bd. 23,Berlin 1971, S. 87.

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rische Analysen sprechen,8 würde sich unser Vermögen zurVorwegnahme sozialer Verbesserungen an der Grundstruk-tur der gegenwärtigen Gesellschaften deswegen nicht mehrentfalten können, weil diese genauso wie Dinge in ihrer Sub-stanz als kaum mehr veränderbar gilt; es wäre nicht der Weg-fall einer real existierenden Alternative zum Kapitalismus,nicht eine grundlegende Wandlung in unserem Verständnisder Geschichte, sondern die Vorherrschaft einer fetischisie-renden Auffassung gesellschaftlicher Verhältnisse, die dafürverantwortlich gemacht werden müßte, daß die massenhafteEmpörung über die skandalöse Verteilung von ReichtumundMacht jeden Sinn für ein in Reichweite stehendes Ziel heuteso offensichtlich verloren hat.

Allerdings bleibt auch diese dritte Erklärung noch unvoll-ständig, weil sie keine Angaben darüber macht, warum denndie überkommenen Utopien nicht mehr die Kraft zur Auflö-sung oder zumindest Durchlöcherung des verdinglichendenAlltagsbewußtseins besitzen; über mehr als ein ganzes Jahr-hundert lang kam doch den sozialistischen und kommunisti-schen Utopien die Fähigkeit zu, die Gemüter der Betroffenenimmer wieder so stark mit Visionen eines besseren Zusam-menlebens zu elektrisieren, daß sie vor den sicherlich auchschon damals bestehenden Tendenzen zur resignativen Hy-postasierungsozialerVorgänge gefeit waren.DerUmfangdes-sen, was die Menschen jeweils für »unvermeidlich« und da-mit für sachnotwendig an ihrer Gesellschaftsordnung halten,ist in hohem Maße von kulturellen Faktoren abhängig undhier vor allem vom Einfluß politischer Deutungsmuster,die das scheinbar Notwendige als kollektiv veränderbar dar-zustellen vermögen. In seiner historischen Studie Ungerech-tigkeit hat Barrington Moore überzeugend gezeigt, inwieferndas Gefühl hoffnungsloser Unvermeidbarkeit unter deut-

8 Vgl. exemplarisch: Pierre Bourdieu u.a., Das Elend der Welt. Zeugnisseund Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz 2002.

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schen Arbeitern stets in dem Augenblick zu schwinden be-gann, in dem ihnen kraftvolle Neuinterpretationen das bloßArrangierte, den Aushandlungscharakter des institutionellGegebenen aufzeigen konnten.9 Um so stärker stellt sichim Lichte solcher Überlegungen dann aber die Frage, wasdie Ursachen dafür sind, daß heute alle klassischen, einst ein-flußreichen Ideale ihrer entschleiernden, die Verdinglichungzerstörenden Wirkung verlustig gegangen sein sollen; war-um, so müßte noch konkreter gefragt werden, verfügen dieVisionen des Sozialismus schon seit geraumer Zeit nicht mehrüber die Kraft, die Betroffenen davon zu überzeugen, daß dasscheinbar »Unvermeidbare« mit kollektiven Anstrengungendoch zugunsten eines Besseren zu verändern wäre. Damit binich bei dem Thema der Überlegungen angelangt, die ich inden vier Kapiteln dieser kurzen Studie entwickeln möchte.Mich interessieren im folgenden zwei miteinander zusam-menhängende Fragen, die mir weiterhin ideenpolitisch vongrößter Aktualität zu sein scheinen: Erstens will ich den ent-weder internen oder externen Gründen nachgehen, die dazugeführt haben, daß die Ideen des Sozialismus ihr einstigesAnregungspotential scheinbar so unwiderruflich verlorenhaben; und zweitens will ich mich im Lichte dieser offenge-legten Gründe dann fragen, welche konzeptuellen Verände-rungen an den sozialistischen Ideen vorgenommen werdenmüßten, damit sie ihre verlorengegangene Virulenz noch ein-mal zurückgewinnen könnten. Meine Absichten zwingenmich allerdings dazu, die ursprüngliche Idee des Sozialismuszunächst noch einmal so klar wie möglich zu rekonstruieren(I.); erst im zweiten Schritt werde ich mich dann den Grün-den zuwenden, die diese Ideen inzwischen haben veralten las-sen (II.). In den beiden abschließenden Kapiteln soll dannschließlich der Versuch unternommen werden, den veralteten

9 Barrington Moore,Ungerechtigkeit. Die sozialen Ursachen von Unterord-nung und Widerstand, Frankfurt/M. 1982, v. a. Kap. 14.

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