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Leseprobe
Hobbes, Thomas
Leviathan
oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates
Teil I und II Kommentar von Lothar R. Waas
© Suhrkamp Verlag
Suhrkamp Studienbibliothek 18
978-3-518-27018-9
Suhrkamp Verlag
Dieser Band der Reihe Suhrkamp Studienbibliothek (stb) bietetTeil I und Teil II von Thomas Hobbes’ Leviathan in einer sorgf�ltigedierten, detailliert kommentierten und kompetent interpretiertenNeuausgabe. In hçchst lesbarer und informativer Weise erschließtder Kommentar von Lothar Waas den historischen wie theoreti-schen Horizont des Werkes. Alle erforderlichen Informationen wer-den in kompakter und �bersichtlicher Weise geb�ndelt. Der Bandeignet sich daher nicht nur als erste Orientierung f�r Theorieeinstei-ger, sondern stellt auch eine ideale Grundlage f�r Lekt�rekurse anSchule und Universit�t dar.
Lothar R. Waas ist Professor f�r Politikwissenschaft an der Ruhr-Universit�t Bochum.
Thomas HobbesLeviathan
oder Stoff, Form und Gewalteines kirchlichen
und b�rgerlichen Staates
Teil I und II
Aus dem Englischenvon Walter Euchner
Kommentar vonLothar R. Waas
Suhrkamp
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet �ber
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Suhrkamp Studienbibliothek 18� Suhrkamp Verlag Berlin 2011
Erste Auflage 2011Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der �bersetzung,
des çffentlichen Vortrags sowie der �bertragung durch Rundfunkund Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in
irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andereVerfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,vervielf�ltigt oder verbreitet werden.
Satz: H�mmer GmbH, Waldb�ttelbrunnDruck: Druckhaus Nomos, Sinzheim
Printed in GermanyUmschlag: Werner Zegarzewski
ISBN 978-3-518-27018-9www.suhrkamp.de
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Inhalt
I. Thomas Hobbes: Leviathan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17Teil I: Vom Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20Teil II: Vom Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162R�ckblick und Schluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350
II. Lothar R. Waas: Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3631. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3692. Historische Einf�hrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3783. Systematische Einf�hrung . . . . . . . . . . . . . . . . . 4214. Pr�sentation des Textes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4355. Rezeptionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5986. Stellenkommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6307. Biographischer Abriß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6508. Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6609. Verzeichnis zentraler Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . 682
10. Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 694
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Beim vorliegenden Text handelt es sich um einen Neudruck derdeutschen, von Iring Fetscher in der �bersetzung von Walter Euch-ner erstmals 1966 herausgegebenen und eingeleiteten Ausgabe desLeviathan, die seit 1984 im Suhrkamp Verlag (stw 462) erscheint.Der �bersetzung, die hier ohne die Teile III und IV nahezu unver�n-dert �bernommen wurde, lag die Ausgabe des Leviathan von A. D.Lindsay von 1914 zugrunde, die in der Reihe Everyman’s Librarybis 1962 erschien und im Rahmen der �bersetzung sowohl mitder englischen Erstausgabe von 1651 als auch der lateinischen Aus-gabe von 1668 verglichen worden war. Aus technischen Gr�ndenmuß der vorliegende Neudruck allerdings wiederum ohne den Ab-druck bzw. die �bersetzung der Marginalien erscheinen, die f�rdie Erstausgabe des Leviathan von 1651 charakteristisch sind (insge-samt mehr als 800) und sich auch in den meisten sp�teren engli-schen Ausgaben finden.
Um einen Vergleich mit dem Originalwortlaut des Textes zuerleichtern, sind am inneren Seitenrand in fettgedruckten Zifferndie Seitenangaben der Leviathan-Ausgabe von Richard Tuck von1996 (s. dazu auch die Angaben in der Auswahlbibliographie) hin-zugef�gt. Die Senkrechtstriche im Text beziehen sich auf die ent-sprechenden Seiten- bzw. Zeilenumbr�che. Die Pfeile am �ußerenSeitenrand verweisen auf den Stellenkommentar (siehe unten,S. 630-649).
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| Meinem verehrtesten FreundeHerrn Francis Godolphin
von Godolphin
Verehrter Herr,Als Ihr wertester Bruder, Herr Sidney Godolphin, noch lebte,
nahm er gerne an meinen Studien Anteil und verpf lichtetemich auch sonst, wie Sie wissen, mit wirklichen Zeugnissenseines Wohlwollens, die schon an sich groß waren und in Anbe-tracht der W�rdigkeit seiner Person um so grçßer. Denn alleTugenden, die einen Mann zum Dienst an Gott oder an sei-nem Vaterland, zum gesellschaftlichen Leben oder zur privatenFreundschaft vorherbestimmen, traten in seinen Gespr�chenoffen hervor, und man konnte erkennen, daß sie nicht etwanur angelernt waren oder bei passender Gelegenheit zur Schaugestellt wurden, sondern daß sie seiner reichen Natur angebo-ren waren. Deshalb widme ich Ihnen bescheiden meine vorlie-gende Abhandlung �ber den Staat, aus Ehrerbietung undDankbarkeit gegen den Verstorbenen und in Ergebenheit ge-gen Sie. Ich weiß nicht, wie die Welt sie aufnehmen, noch,wie sie wohl �ber diejenigen denken wird, die diese Abhand-lung g�nstig beurteilen. Denn es ist schwierig, auf einemWeg, der von Leuten umlagert ist, die auf der einen Seite f�rzu große Freiheit und auf der anderen f�r zuviel Autorit�tk�mpfen, zwischen beiden Standpunkten ungeschoren hin-durchzukommen. Aber ich glaube dennoch, daß das Bem�-hen, die b�rgerliche Gewalt zu fçrdern, von der b�rgerlichenGewalt nicht verurteilt werden sollte, und daß Privatleute inihrer Kritik nicht erkl�ren sollten, sie hielten diese Gewalt f�rzu stark. Außerdem spreche ich nicht von den Menschen, son-dern abstrakt von dem Sitz der Gewalt (�hnlich jenen einfa-chen und unparteiischen Wesen auf dem rçmischen Kapitol,die mit ihrem L�rm seine Insassen nicht deshalb sch�tzten,
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weil es gerade sie, sondern weil sie dort waren). Dabei, meineich, errege ich bei niemandem Anstoß, außer bei Ausl�ndernoder bei solchen Leuten im Innern, die jene beg�nstigen – fallses solche Leute gibt. Was vielleicht am meisten Anstoß erregenwird, sind gewisse Stellen der Heiligen Schrift, die von mir zueinem anderen Zweck zitiert wurden, als dies gewçhnlich vonanderen getan wird. Aber ich habe dies mit der schuldigen Er-gebenheit getan und im Hinblick auf meinen Gegenstandauch tun m�ssen, denn sie sind die Angriffst�rme der Feinde,von denen aus sie die b�rgerliche Gewalt bek�mpfen. WennSie trotzdem bemerken werden, daß meine Arbeit allgemeinverrufen wird, so mçgen Sie zu Ihrer Rechtfertigung sagen,ich sei ein Mann, der seine eigenen Meinungen liebt und alles,was er sagt, f�r wahr h�lt, daß ich Ihren | Bruder verehrte undSie verehre und mir auf Grund dessen erlaubt habe, ohne IhrWissen mich als das zu bezeichnen, was ich bin, n�mlich
Sir,Ihr bescheidensterund gehorsamster Diener,
Paris, den 15:25: April 1651. THO. HOBBES
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Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
Teil I Vom Menschen
1. Kapitel Von der Empfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . 202. Kapitel Von der Einbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223. Kapitel Von der Reihenfolge der Einbildungen . . . . 294. Kapitel Von der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355. Kapitel Von Vernunft und Wissenschaft . . . . . . . . . 456. Kapitel Von den inneren Anf�ngen der willentlichen
Bewegungen, die man gewçhnlich Leiden-schaften nennt, und den Ausdr�cken, womitsie bezeichnet werden . . . . . . . . . . . . . . . . 54
7. Kapitel Vom Abschluß oder Ergebnis des Denkens 668. Kapitel Von den sogenannten Verstandestugenden
und ihren entgegengesetzten M�ngeln . . . . 709. Kapitel Von den verschiedenen Wissensgebieten . . 84
10. Kapitel Von Macht, Wert, W�rde, Ehre undW�rdigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
11. Kapitel Von der Verschiedenheit der Sitten . . . . . . . 9612. Kapitel Von der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10513. Kapitel Von der nat�rlichen Bedingung der
Menschheit im Hinblick auf ihr Gl�ck undUngl�ck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
14. Kapitel Vom ersten und zweiten nat�rlichen Gesetzund von Vertr�gen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
15. Kapitel Von anderen nat�rlichen Gesetzen . . . . . . . 13916. Kapitel Von Personen, Autoren und der Vertretung
von Dingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
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|Teil II Vom Staat
17. Kapitel Von den Ursachen, der Erzeugung und derDefinition eines Staates . . . . . . . . . . . . . . . 162
18. Kapitel Von den Rechten der Souver�ne durchEinsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
19. Kapitel Von den verschiedenen Arten der Staatendurch Einsetzung und der Nachfolge in diesouver�ne Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
20. Kapitel Von elterlicher und despotischerHerrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
21. Kapitel Von der Freiheit der Untertanen . . . . . . . . . 20222. Kapitel Von den politischen und privaten Vereini-
gungen der Untertanen . . . . . . . . . . . . . . . 21423. Kapitel Von den çffentlichen Beamten der
souver�nen Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22924. Kapitel Von der Ern�hrung und Nachkommenschaft
eines Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23525. Kapitel Vom Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24226. Kapitel Von den b�rgerlichen Gesetzen . . . . . . . . . 25027. Kapitel Von Verbrechen, Entschuldigungs- und
Milderungsgr�nden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27528. Kapitel Von Strafen und Belohnungen . . . . . . . . . . 29329. Kapitel Von Dingen, die einen Staat schw�chen
oder zu seiner Auflçsung f�hren . . . . . . . . 30230. Kapitel Von der Aufgabe der souver�nen Vertretung 31531. Kapitel Vom nat�rlichen Reich Gottes . . . . . . . . . . 335
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Teil III Vom christlichen Staat*
32. Kapitel Von den Grunds�tzen christlicher Politik33. Kapitel Von Anzahl, Alter, Ziel, Autorit�t und
Interpreten der B�cher der Heiligen Schrift34. Kapitel Von der Bedeutung von Geist, Engel und
Inspiration in den B�chern der HeiligenSchrift
35. Kapitel Von der Bedeutung von Reich Gottes, heilig,geheiligt und Sakrament in der Schrift
36. Kapitel Vom Wort Gottes und von den Propheten37. Kapitel Von Wundern, und wozu sie bewirkt werden38. Kapitel Von der Bedeutung von ewigem Leben,
Hçlle, Seligkeit, k�nftiger Welt und Erlçsungin der Schrift
39. Kapitel Von der Bedeutung des Wortes Kirche in derSchrift|
40. Kapitel Von den Rechten des Gottesreiches, dieAbraham, Mose, die Hohenpriester und dieKçnige von Juda innehatten
41. Kapitel Vom Amt unseres auserw�hlten Heilands42. Kapitel Von der kirchlichen Gewalt43. Kapitel Von den notwendigen Voraussetzungen f�r die
Aufnahme eines Menschen in das himmlischeReich
* Die Teile III und IV konnten in der vorliegenden Ausgabe aus Um-fangsgr�nden nicht abgedruckt werden. Die Aufz�hlung der Kapiteldient hier lediglich der vollst�ndigen Inhalts�bersicht.
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15Inhalt
Teil IV Vom Reich der Finsternis
44. Kapitel Von geistiger Finsternis aus Fehldeutung derSchrift
45. Kapitel Von der Geisterlehre und anderen �berrestender heidnischen Religion
46. Kapitel Von der Finsternis auf Grund von After-philosophie und �berlieferungen, die insReich der Fabel gehçren
47. Kapitel Von dem Vorteil aus dieser Finsternis, undwem er zugute kommt
R�ckblick und Schluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350
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| Einleitung
Die Natur (das ist die Kunst, mit der Gott die Welt gemachthat und lenkt) wird durch die Kunst des Menschen wie in vie-len anderen Dingen so auch darin nachgeahmt, daß sie eink�nstliches Tier herstellen kann. Denn da das Leben nur eineBewegung der Glieder ist, die innerhalb eines besonders wich-tigen Teils beginnt – warum sollten wir dann nicht sagen, alleAutomaten (Maschinen, die sich selbst durch Federn und R�-der bewegen, wie eine Uhr) h�tten ein k�nstliches Leben?Denn was ist das Herz, wenn nicht eine Feder, was sind dieNerven, wenn nicht viele Str�nge, und was die Gelenke, wennnicht viele R�der, die den ganzen Kçrper so in Bewegung set-zen, wie es vom K�nstler beabsichtigt wurde? Die Kunst gehtnoch weiter, indem sie auch jenes vern�nftige, hervorragendsteWerk der Natur nachahmt, den Menschen. Denn durch Kunstwird jener große Leviathan geschaffen, genannt Gemeinwesenoder Staat, auf lateinisch civitas, der nichts anderes ist als eink�nstlicher Mensch, wenn auch von grçßerer Gestalt undSt�rke als der nat�rliche, zu dessen Schutz und Verteidigunger ersonnen wurde. Die Souver�nit�t stellt darin eine k�nst-liche Seele dar, die dem ganzen Kçrper Leben und Bewegunggibt, die Beamten und anderen Bediensteten der Jurisdiktionund Exekutive k�nstliche Gelenke, Belohnung und Strafe, diemit dem Sitz der Souver�nit�t verkn�pft sind und durch die je-des Gelenk und Glied zur Verrichtung seines Dienstes veran-laßt wird, sind die Nerven, die in dem nat�rlichen Kçrper diegleiche Aufgabe erf�llen. Wohlstand und Reichtum aller einzel-nen Glieder stellen die St�rke dar, salus populi (die Sicherheitdes Volkes) seine Aufgabe; die Ratgeber, die ihm alle Dinge vor-tragen, die er unbedingt wissen muß, sind das Ged�chtnis, Bil-ligkeit und Gesetze, k�nstliche Vernunft und k�nstlicher Wille;
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Eintracht ist Gesundheit, Aufruhr, Krankheit und B�rgerkriegTod. Endlich aber gleichen die Vertr�ge und �bereinkommen,durch welche die Teile dieses politischen Kçrpers zuerst ge-schaffen, zusammengesetzt und vereint | wurden, jenem ›Fiat‹oder ›Laßt uns Menschen machen‹, das Gott bei der Schçp-fung aussprach.
Um die Natur dieses k�nstlichen Menschen zu beschreiben,mçchte ich untersuchen:
Erstens, Werkstoff und Konstrukteur; beides ist der Mensch.Zweitens, wie und durch welche Vertr�ge er entsteht, was die
Rechte und die gerechte Macht oder Autorit�t eines Souver�nssind, und was ihn erh�lt und auf lçst.1
Drittens, was ein christlicher Staat, undletztlich, was das Reich der Finsternis ist.Was den ersten Punkt betrifft, so gibt es ein neuerdings h�u-
fig mißbrauchtes Sprichwort, n�mlich, Weisheit erwerbe mannicht durch Lesen von B�chern, sondern von Menschen. Dem-zufolge bereitet es solchen Leuten, die grçßtenteils keinen an-deren Beweis ihrer Weisheit erbringen kçnnen, großes Vergn�-gen, zu zeigen, was sie vermeintlich in den Menschen gelesenhaben – indem sie hinter deren R�cken unbarmherzig �ber-einander herziehen. Aber es gibt noch ein anderes, nicht erstneuerdings aufgekommenes Sprichwort, aus dem sie wirklichlernen kçnnten, in einander zu lesen, wenn sie sich die M�hemachen wollten, n�mlich Nosce te ipsum, Lies in dir selbst. Dieswar nicht dazu bestimmt, wie es heute gebraucht wird, diebarbarische Haltung der Machthaber gegen ihre Untergebe-nen zu unterst�tzen, oder die niederen St�nde zu einem un-versch�mten Betragen gegen die �ber ihnen Stehenden zu er-mutigen. Es sollte uns vielmehr lehren, daß jedermann, derin sich selbst blickt und dar�ber nachdenkt, aus seinem Den-ken, Meinen, Schließen, Hoffen, F�rchten, usw., und deren Gr�n-den lesen und erkennen wird, welches die Gedanken und Lei-
1 Der letzte Satzteil der lat. Fassung weicht ab: . . . und wem die hçch-35 ste Gewalt zukomme.
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denschaften aller anderen Menschen bei den gleichen Anl�ssensind; dies wegen der �hnlichkeit von Gedanken und Leiden-schaften eines Menschen mit denen eines anderen. Ich sage,die �hnlichkeit von Leidenschaften, welche in allen Menschendieselben sind – Verlangen, Furcht, Hoffnung, usw. – nicht die�hnlichkeit der Objekte der Leidenschaften, also die verlang-ten, gef�rchteten, erhofften, usw., Dinge. Denn diese weichendurch die individuelle Veranlagung und verschiedene Erzie-hung soweit voneinander ab und kçnnen so leicht unserer Er-kenntnis entzogen werden, daß die Inschriften des mensch-lichen Herzens, bef leckt und durcheinander wie sie durchHeucheln, L�gen, Nachahmen und Irrlehren sind, nur vondemjenigen gelesen werden kçnnen, der die Herzen erforscht.Und obwohl wir an den Handlungen der Menschen bisweilenihre Absicht entdecken, so heißt das ohne Schl�ssel entziffern,wenn wir ihre Absicht nicht mit unserer eigenen vergleichenund alle Umst�nde unterscheiden, durch die der Fall in einemanderen Licht erscheinen kçnnte, und wird meistens durch zuviel Vertrauen oder Mißtrauen in die Irre gehen, je nachdemder Leser selbst ein guter oder schlechter Mensch ist.|
Aber mag jemand in einem anderen auf Grund seiner Hand-lungen noch so perfekt lesen kçnnen, so n�tzt ihm das nur beiseinen Bekannten, und das sind nur wenige. Wer eine ganzeNation zu regieren hat, muß in sich selbst lesen – nicht in die-sen oder jenen einzelnen Menschen, sondern in der mensch-lichen Gattung. Obwohl das schwierig ist, schwieriger als dasErlernen jeder Sprache oder Wissenschaft, so wird doch dieM�he, die einem anderen bleibt, wenn ich meine eigenen Lese-fr�chte geordnet und klar dargelegt habe, nur in der �berle-gung bestehen, ob er in sich nicht auch das gleiche findet.Denn diese Art von Lehre l�ßt keine andere Beweisf�hrung zu.
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19Einleitung
Teil IVom Menschen
| 1. KapitelVon der Empfindung
Was die Gedanken der Menschen betrifft, so mçchte ich sie zu-erst einzeln und danach in ihrer Abfolge oder Abh�ngigkeitvoneinander betrachten. Einzeln ist jeder eine Darstellungoder Erscheinung einer Qualit�t oder eines anderen Akzidenzeseines Kçrpers außerhalb von uns, den man gewçhnlich ein Ob-jekt nennt. Dieses Objekt wirkt auf Augen, Ohren und andereTeile des menschlichen Kçrpers ein und bringt durch die Ver-schiedenheit der Einwirkungen Verschiedenheit der Erschei-nungen hervor.
Ihr aller Ursprung ist das, was wir Empfindung nennen, dennes gibt keine Vorstellung im menschlichen Verstand, die nichtzuerst ganz oder teilweise in den Sinnesorganen erzeugt wor-den war. Die �brigen werden von diesem Ursprung abgeleitet.
Die Kenntnis der nat�rlichen Ursache der Empfindung istin diesem Zusammenhang nicht unbedingt erforderlich, undich habe dar�ber an anderer Stelle in aller Breite geschrieben.Trotzdem mçchte ich sie an diesem Ort kurz darlegen, um je-den Teil meiner vorliegenden Lehre auszuf�hren.
Ursache der Empfindung ist der �ußere Kçrper oder Objekt,der auf das jeder Empfindung entsprechende Organ dr�ckt,entweder unmittelbar wie beim Schmecken und F�hlen, odermittelbar wie beim Sehen, Hçren und Riechen. Dieser Drucksetzt sich durch die Vermittlung der Nerven und andererStr�nge und Membranen des Kçrpers nach innen bis zu demGehirn und Herzen fort und verursacht dort einen Wider-stand oder Gegendruck oder ein Bestreben des Herzens, sich
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