Suhrkamp Verlag · Für meine Eltern, Panchita und Ramón, zwei weise Greise. Die Originalausgabe...

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Suhrkamp Verlag Leseprobe Allende, Isabel Der japanische Liebhaber Roman Aus dem Spanischen von Svenja Becker © Suhrkamp Verlag suhrkamp taschenbuch 4730 978-3-518-46730-5

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Suhrkamp VerlagLeseprobe

Allende, IsabelDer japanische Liebhaber

RomanAus dem Spanischen von Svenja Becker

© Suhrkamp Verlagsuhrkamp taschenbuch 4730

978-3-518-46730-5

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Für Irina ist der neue Job ein Glücksfall. Die junge Frau soll für die Millionärin Alma Belasco als Assistentin arbeiten. Mit einem Schlag ist sie nicht nur ihre Geldsorgen los, sondern gewinnt auch eine Freundin, wie sie noch keine hatte: extravagant, überbor-dend, mitreißend und an die achtzig. Doch bald spürt sie, dass Alma verwundet ist. Eine Wunde, die nur vergessen scheint, wenn eines der edlen Kuverts im Postfach liegt. Aber wer schreibt Wo-che um Woche diese Liebesbriefe? Und von wem stammen all die Blumen? Auch um sich von den eigenen Lebenssorgen abzulen-ken, folgt Irina den Spuren, und es beginnt eine abenteuerliche Reise bis weit in die Vergangenheit.

Isabel Allende, 1942 geboren, arbeitete in ihrer Jugend als Jour-nalistin in Chile. Nach Pinochets Militärputsch ging sie 1973 ins Exil, wo sie ihren Weltbestseller Das Geisterhaus schrieb. Isabel Allende lebt mit ihrer Familie in Kalifornien. Ihr gesamtes Werk erscheint auf Deutsch im Suhrkamp Verlag.

Svenja Becker lebt als Übersetzerin (u. a. Juan Carlos Onetti, Carla Guelfenbein, Hernán Rivera Letelier) in Saarbrücken.

Zuletzt sind von Isabel Allende erschienen: Mayas Tagebuch. Ro-man. Geschenkausgabe (st 4703), Amandas Suche. Roman (st 4600) sowie Aphrodite. Eine Feier der Sinne (it 4266).

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ISABEL ALLENDEDer japanische Liebhaber

RomanAus dem Spanischen von

Svenja Becker

Suhrkamp

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Für meine Eltern, Panchita und Ramón,zwei weise Greise.

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem TitelEl amante japonés

bei Plaza & Janés, Barcelona.

Erste Au6age 2016suhrkamp taschenbuch 4730

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2015© Isabel Allende, 2015

Suhrkamp Taschenbuch VerlagAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das

des ö9entlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotogra;e, Mikro;lm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel GmbH, UlmUmschlag: cornelia niere, münchen

Umschlagfoto: Jerry Schatzberg / Trunk ArchivePrinted in Germany

ISBN 978-3-518-46730-5

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Bleib stehen, Schatten meines scheuen Glücks,Zauberbild du, das ich zärtlichst umwerbe,schöner Wahn, für den ich mit Freuden sterbe,mit Qualen lebe, Traum süßen Geschicks.

Sor Juana Inés de la Cruz

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Lark House

Als sie mit der Arbeit in Lark House am Stadtrand vonBerkeley begann, war Irina Bazili gerade dreiundzwan-

zig geworden und wenig zuversichtlich, denn seit acht Jah-ren stolperte sie von Job zu Job und von einer Stadt in dienächste. Sie hätte sich nicht träumen lassen, dass sie hier indieser Seniorenresidenz den perfekten Ort für sich findenwürde und in den kommenden drei Jahren so glücklich wer-den sollte,wie sie es zuletzt in Kindertagen gewesenwar. LarkHouse war in den Fünfzigern als würdigeWohnstatt für alte,nicht sehr begüterte Menschen eröffnet worden und hatteaus ungeklärten Gründen schon zu Beginn vor allem linkeIntellektuelle, entschlossene Esoteriker und wenig erfolgrei-che Künstler angezogen. Mit der Zeit war vieles hier andersgeworden, die Kosten für den Aufenthalt richteten sich aberwie eh und je nach denEinkommensverhältnissen derBewoh-ner, was theoretisch für ein breiteres Spektrum an Hautfar-ben und Herkunftsmilieus hätte sorgen sollen. Tatsächlichlebten in Lark House durchweg Weiße aus der Mittelschicht,und die Vielfalt beschränkte sich auf feineUnterschiede zwi-schen Freidenkern, Suchenden auf spirituellen Pfaden, So-zial- undÖkoaktivisten, Nihilisten und einigen wenigenHip-pies, die in der Bay Area von San Francisco noch am Lebenwaren.In ihrem ersten Gespräch wies Hans Voigt, der Leiter der

Einrichtung, Irina darauf hin, sie sei zu jung für eine derartverantwortungsvolle Tätigkeit, da jedoch für die offene Stel-

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le inderVerwaltung undbei der Betreuung dringend jemandgebraucht werde, könne sie übergangsweise bleiben, bis diegeeignete Person gefunden wäre. Irina dachte, dasselbe ließesich von ihm sagen, schließlich sah er aus wie ein vorzeitigkahl gewordener, pausbäckiger Junge, für den die Leitungeiner solchen Einrichtung bestimmt eine Nummer zu großwar. Mit der Zeit sollte sie allerdings feststellen, dass VoigtsErscheinung aus der Entfernung und bei schlechter Beleuch-tung trog, tatsächlich war er vierundfünfzig Jahre alt und einausgezeichneterGeschäftsführer. Irina versicherte ihm, auchwenn sie keine Ausbildung in demBereich vorweisen könne,habe sie in ihrerHeimatMoldawien doch eineMenge Erfah-rung im Umgang mit alten Leuten gesammelt.Vom schüchternen Lächeln der Bewerberin milde ge-

stimmt, vergaß der Geschäftsführer seine Frage nach einemEmpfehlungsschreiben und begann, ihr die Pflichten aufzu-zählen, die mit der Stelle einhergingen und die kurz gesagtdarin bestanden, den Bewohnern von Haus zwei und Hausdrei das Leben zu erleichtern.Die inHaus einsmussten Irinanicht kümmern, sie lebten als selbständige Mieter in einemGebäude mit kleinen Apartments, und auch für Haus vier,treffend »Paradies« genannt, weil man dort auf seinen Ein-tritt ins Himmelreich wartete, würde Irina nicht zuständigsein, denn dessen Bewohner verbrachten die meiste Zeitin einem Dämmerzustand und brauchten fachkundige Be-treuung. Irinas Aufgabe würde es sein, ihre Schützlinge zumArzt zu begleiten, zum Anwalt oder Steuerberater, ihnen mitden Formularen für Krankenversicherung und Steuer zu hel-fen, mit ihnen einkaufen zu gehen und sie auch sonst im All-tag zu unterstützen.Mit den Bewohnern des Paradieses wür-de sie nur insofern zu tun haben, als sie ihre Beisetzung zuorganisieren hätte, aber dazu werde sie jeweils detaillierte In-formationen bekommen, versicherte ihr Hans Voigt, denn

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die Wünsche der Sterbenden deckten sich nicht immer mitdenen der Angehörigen. Die Menschen in Lark House hin-gen den unterschiedlichsten Glaubensvorstellungen an,wes-halb sich die Beisetzungen öfter zu komplizierten ökume-nischen Zeremonien auswuchsen.Nur dieAngestellten in derHauswirtschaft, das Pflegeper-

sonal und die Krankenschwestern trügen einheitliche Arbeits-kleidung, erklärte derGeschäftsführer, dieübrigenBeschäftig-ten hielten sich aber stillschweigend an die Kleiderordnung;Anstand und Geschmack seien oberstes Gebot. Ein T-Shirtmit dem Porträt von Malcom X, wie es Irina gerade trage,sei in der Einrichtung beispielsweise fehl am Platz, sagte ermit Nachdruck. Irina verzichtete auf den Hinweis, dass essich nicht um Malcom X, sondern um Che Guevara han-delte, den Hans Voigt offenbar nicht kannte, obwohl er au-ßer in Kuba auch noch ein paar Anhänger in dem Teil vonBerkeley hatte, wo sie wohnte. Für das T-Shirt hatte sie ineinemSecondhandladen zweiDollar bezahlt, und es war fastneu.»Wir sind eine Nichtrauchereinrichtung«, sagte Hans

Voigt.»Ich rauche nicht und trinke nicht.«»Sind Sie gesund?Das ist wichtig,wenn Sie mit alten Leu-

ten arbeiten.«»Ja.«»Irgendetwas, das ich wissen sollte?«»Ich bin süchtig nachComputerspielen und Fantasyroma-

nen. Sie wissen schon,Tolkien, Neil Gaiman, Philip Pullman.Außerdem arbeite ich alsHundewäscherin, aber nur ein paarStunden in der Woche.«»Was Sie in Ihrer Freizeit tun, ist Ihre Sache, aber Ihre Ar-

beit müssen Sie gewissenhaft erledigen.«»Aber natürlich. Hören Sie, wenn Sie mir eine Chance ge-

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ben,werden Sie sehen, dass ich sehr gutmit alten Leuten um-gehen kann. Sie werden es nicht bereuen«, sagte Irinamit ge-spieltem Selbstbewusstsein.Nach dem offiziellen Einstellungsgespräch in seinem Bü-

ro zeigte der Geschäftsführer Irina die Einrichtung, das Zu-hause für zweihundertfünfzig Bewohner, die im Schnitt fünf-undachtzig Jahre alt waren. Ursprünglich war Lark Housedas prächtige Anwesen eines Schokoladenmagnaten gewesen,der es der Stadt vermacht und ein hübsches Vermögen gestif-tet hatte, um den laufenden Betrieb zu sichern. Im Haupt-gebäude, einem pompösen kleinen Palast, waren die Bürosund die Gemeinschaftsräume untergebracht, eine Bibliothek,der Speisesaal und mehrere Werkstätten, und daneben gabes eine Reihe einladender Gebäude, die sich mit ihren Holz-schindelfassaden harmonisch in den sie umgebenden Parkeinfügten, in den scheinbaren Wildwuchs, der sich tatsäch-lich der sorgfältigen Pflege eines kleinen Gärtnertrupps ver-dankte. Zwischen den Gebäudenmit den Einzelapartmentsund den Häusern zwei und drei verliefen überdachte Korri-dore, breit genug für Rollstühle und mit Panoramafensternzu beiden Seiten, so dass man geschützt vor Wind undWet-ter von einemHaus ins andere wechseln und dabei den Blickin die Natur genießen konnte, die von jeher am besten gegendie Leiden jeden Alters geholfen hat. Das Paradies, ein ein-zeln stehender Betonbau, hätte die Harmonie gestört, wäreer nicht vollständig von Efeu überwuchert gewesen. Biblio-thek und Spielsaal standen den Bewohnern rund umdieUhroffen; der Schönheitssalon vergab Termine nach Vereinba-rung, und in den Werkstätten wurden verschiedene Kurseangeboten, von Malerei bis hin zu Astrologie, für diejenigen,die sich von der Zukunft noch immer Überraschendes er-hofften. Der »Laden der vergessenen Dinge« – so stand esauf dem Schild über der Tür – wurde ehrenamtlich von ei-

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nigen Damen geführt und bot Kleidung, Möbel, Schmuckund allerlei andere Schätze an, die von den Bewohnern aus-sortiert oder von den Verstorbenen hinterlassen worden wa-ren.»Wir haben hier einen hervorragenden Filmklub.Dreimal

in derWoche werden Filme in der Bibliothek gezeigt«, sagteHans Voigt.»Was für Filme denn?«, fragte Irina in der Hoffnung auf

Vampire und Science-Fiction.»EinKomitee wählt sie aus, bevorzugt Thriller,undTaran-

tino ist sehr beliebt. Hier herrscht eine gewisse Faszinationfür Gewalt, aber keine Angst, allen ist klar, dass es sich umFiktion handelt und die Schauspieler im nächsten Film ge-sund und geläutert wieder auftauchen. Sagen wir, es ist einVentil. Etliche unserer Bewohner träumen davon, jemandenumzubringen, in aller Regel jemanden aus der eigenen Fa-milie.«»Ich auch«, rutschte es Irina heraus.ImGlauben, die junge Frau scherze, lachteHans Voigt zu-

frieden; Sinn für Humor schätzte er bei seinen Angestelltenfast so hoch wie Geduld.Im Park sah man Eichhörnchen zwischen den alten Bäu-

men herumhuschen, und Irina staunte über die vielen Rehe.Hans Voigt erklärte ihr, die trächtigen Muttertiere würdenhier ihre Kitze zurWelt bringen und den Park als Kinderstu-be nutzen, außerdem sei er ein Paradies für Vögel, vor allemfür Lerchen, von denen das Anwesen ja auch seinen Namenhatte. An einigen strategischen Punkten im Park waren Ka-meras angebracht, so dass man die Tiere beobachten undnebenbei ein Auge auf die Bewohner haben konnte, falls je-mand sich verirrte oder stürzte, aber ansonsten gab es aufdem Anwesen keine Sicherheitsvorkehrungen. Die Türen wa-ren tagsüber unverschlossen, und zwei unbewaffnete Wach-

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leute gingen ihre Runden. Die beiden waren Polizisten imRuhestand, der eine siebzig, der andere vierundsiebzig; mehrwar nicht nötig, schließlich würde niemand seine Zeit damitverschwenden, alte Leute ohne Einkommen zu überfallen.Irina und Hans Voigt begegneten zwei Frauen im Rollstuhl,einer Gruppe von Bewohnern mit Staffeleien und Farbkäs-ten auf demWeg zumMalkurs im Freien und ein paar ande-renmit Hunden an der Leine, die ähnlich gebrechlich warenwie ihre Besitzer. Das Grundstück hatte Zugang zur Bucht,und bei ansteigender Flut konnte man mit dem Kajak hin-ausfahren, was einige der rüstigeren Bewohner auch taten.Hier ließe sich leben, dachte Irina nicht ohne Wehmut, sogdie von Pinien und Lorbeer würzige Luft ein und verglichdie freundlichenGebäude imStillenmit den versifftenBruch-buden, in denen sie seit ihrem sechzehnten Lebensjahr ge-wohnt hatte.»Ich sollte wohl noch die beiden Gespenster erwähnen,

Frau Bazili, denn das wird das Erste sein, wovor unsere An-gestellten aus Haiti Sie warnen.«»Ich glaube nicht an Gespenster, Herr Voigt.«»Freut mich. Ich auch nicht. Bei den beiden hier in Lark

House handelt es sich um eine junge Frau in einemKleidmitrosa Schleiern und um ein Kind von drei Jahren. Die Frauist Emily, die Tochter des Schokoladenmagnaten. Die armeEmily ist vor Kummer gestorben, als ihr Sohn Ende der vier-ziger Jahre im Pool ertrank. Danach hat der Magnat das An-wesen verlassen und die Lark-House-Stiftung gegründet.«»Der Junge ist in dem Pool ertrunken, den Sie mir gerade

gezeigt haben?«»Genau. Aber soviel ich weiß, ist dort niemand sonst ge-

storben.«Irina sollte ihre Meinung über Gespenster bald ändern,

weil sie feststellte, dass viele der alten Leute in ständiger Be-

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gleitung ihrer Toten lebten; Emily und ihr Sohn waren nichtdie einzigen hier wohnhaften Geister.

Am nächsten Morgen erschien Irina in aller Frühe in ihrerbesten Jeans und einem unauffälligen T-Shirt bei ihrer neu-en Arbeit.Wie sich zeigte, war die Stimmung in Lark Houselässig, ohne nachlässig zu sein; man fühlte sich eher an einCollege als an ein Altenheim erinnert. Das Essen war ver-gleichbar mit dem in jedem anständigen Restaurant in Ka-lifornien: Bio im Rahmen des Möglichen. Die Angestelltenin der Hauswirtschaft waren tüchtig und die Betreuungund Pflege so freundlich, wie man es erwarten durfte. Nachwenigen Tagen kannte Irina die Namen und die Marottenihrer Kollegen und der Bewohner, für die sie zuständig war.Dass sie sich ein paar spanische und französische Sätze ein-prägte, trug ihr die Sympathie ihrer Kollegen ein, die fast aus-schließlich aus Mexiko, Guatemala und Haiti stammten.Die Bezahlung war nicht üppig für die viele Arbeit, die Lau-ne aber überwiegend gut. »Die alten Frauen muss man hät-scheln, abermit Respekt behandeln.Die altenMänner auch,aber ein bisschen Abstand halten, die benehmen sich gernschlecht«, riet ihr Lupita Farías, eine untersetzte Person mitdem Gesicht einer Olmeken-Statue, die zuständig war fürdie Reinigungskräfte im Haus. Da Lupita seit zweiunddrei-ßig Jahren in Lark House arbeitete und Zugang zu sämt-lichen Zimmern hatte, kannte sie alle Bewohner bestens,wusste Bescheid über ihr Leben, erriet ihre Wehwehchenund hatte immer ein offenes Ohr für ihre Kümmernisse.»Du musst darauf achtgeben, ob jemand depressiv wird,

Irina. Das geschieht oft.Wenn du merkst, dass sich jemandabschottet, traurig ist, ohneGrund imBett liegen bleibt oder

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nicht essen will, dann sagst du mir sofort Bescheid, verstan-den?«»Und was machst du dann?«»Kommt drauf an. Ich streichle sie, dafür sind die alten

Leute immer dankbar, weil sie niemanden mehr haben, dersie anfasst, und ich mache ihnen eine Fernsehserie schmack-haft; niemand will sterben, bevor er die letzte Folge gesehenhat. Manchen hilft es, zu beten, aber hier gibt es viele Atheis-ten, und die beten nicht. Am wichtigsten ist, dass man sienicht allein lässt. Sollte ich nicht da sein, dann gehst du zuCathy, die weiß, was zu tun ist.«Dr. Catherine Hope wohnte in Haus zwei und war die

Erste gewesen, die Irina im Namen der Gemeinschaft will-kommen geheißen hatte. Mit ihren achtundsechzig Jahrenwar sie die jüngste Bewohnerin hier. Seit zwei Jahren saß sieim Rollstuhl und hatte sich deshalb für die Betreuung unddie Gesellschaft in Lark House entschieden. Mittlerweilewar sie zum guten Geist der Einrichtung geworden.»Die Alten sind die lustigsten Leute überhaupt. Sie ha-

ben viel erlebt, reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist,und scheren sich nicht darum, was andere von ihnen halten.Du wirst dich hier nicht langweilen«, sagte sie zu Irina. »DieKlientel in Lark House ist gebildet, und sofern ihre Gesund-heit es ihnen erlaubt, belegen die Leute Kurse und probierenNeues aus. Die Gemeinschaft bietet jede Menge Anregun-gen, und man kann der schlimmsten Geißel des Alters ent-kommen: der Einsamkeit.«Irina hatte vom politischen Kampfgeist der Lark-House-

Bewohner gehört, weil darüber öfter in der Presse berichtetwurde. Für die Plätze in der Einrichtung gab es eine langeWarteliste, und sie wäre noch länger gewesen, wären nichtetliche Anwärter vor der Zeit gestorben. Die Alten aus LarkHouse waren der lebende Beweis dafür, dass einen die Jahre,

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allen Einschränkungen zumTrotz, nicht daran hindernmüs-sen, das Leben zu genießen und kräftig im Alltag mitzumi-schen. Als aktiveMitglieder der Bewegung »Alte für den Frie-den« verbrachten viele Bewohner die Freitagvormittage mitMahnwachen gegen die Verirrungen undUngerechtigkeitenin derWelt, insbesondere gegen die derWeltmachtUSA, fürdie sie sich verantwortlich fühlten. Die Aktivisten, daruntereine Dame von einhunderteins Jahren, trafen sich, mit ih-ren Stöcken, Rollatoren und Rollstühlen bewaffnet, auf demPlatz vor der örtlichen Polizeiwache und schwenkten dortTransparente gegen den Krieg oder die Klimaerwärmung,während die vorbeifahrenden Autos aufmunternd huptenund die Passanten die Petitionen unterschrieben, die ihnendie empörten Alten unter die Nase hielten. Mehr als einmalwar das aufmüpfige Grüppchen im Fernsehen gewesen undhatte sich die PolizeimitDrohungen blamiert, die Versamm-lungmitTränengas aufzulösen,wozu es nochnie gekommenwar. Hans Voigt hatte Irina im Park sichtlich bewegt die Ge-denktafel für einen Musiker gezeigt, der 2006 mit sieben-undneunzig Jahren im Eifer des Gefechts auf offener StraßeeinemHirnschlag erlegen war, als er gegen den Irakkrieg de-monstrierte.Irina war in einem Dorf in Moldawien aufgewachsen, in

dem es nur Alte und Kinder gab. Allen fehlten Zähne, deneinen waren sie schon ausgefallen, den anderen noch nichtgewachsen. Sie dachte an ihre Großeltern und bereute es wieso oft in den letzten Jahren, dass sie die beiden alleingelassenhatte. LarkHouse würde ihr dieMöglichkeit bieten, anderenzu geben, was sie bei ihnen versäumt hatte, und mit diesemVorsatz im Kopf begann sie, sich um ihre Schützlinge zukümmern. Sehr schnell gewann sie alle für sich, auch einigeder Bewohner von Haus eins, die keiner Betreuung bedurf-ten.

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Alma Belasco war Irina gleich zu Beginn aufgefallen. Siehob sich von den übrigen Frauen durch ihre aristokratischeHaltung und vom Rest der Menschheit durch ihre unnah-bare Ausstrahlung ab. Lupita Farías war überzeugt, sie passenicht nach Lark House und werde nicht lange bleiben, be-stimmt werde der Chauffeur, der sie im Benz hergefahrenhatte, irgendwann vor der Tür stehen und sie wieder abho-len.Doch dieMonate verstrichen,undAlmaBelascowar im-mer noch da. Irina betrachtete sie nur aus der Ferne, schließ-lich hatte Hans Voigt sie angewiesen, sich um ihre Zustän-digkeiten in Haus zwei und drei zu kümmern und nichtum diejenigen, die keine Unterstützung brauchten. Sie hattemit ihren Klienten – man nannte sie hier nicht Patienten –alle Hände voll zu tun und damit, alles zu lernen, was ihreneue Arbeit erforderte. Zur Einarbeitung sah sie sich un-ter anderem die Videos der jüngsten Beisetzungen an: einebuddhistische Jüdin und ein reumütiger Agnostiker. AlmaBelasco wäre ihrerseits wohl nicht auf Irina aufmerksam ge-worden, wäre die nicht durch gewisse Umstände für kurzeZeit im Haus in aller Munde gewesen.

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Der Franzose

In Lark House, wo ein bedrückender Frauenüberschussherrschte, galt Jacques Devine als Star, als der einzige

Gentleman unter den achtundzwanzig männlichen Bewoh-nern. Er wurde »der Franzose« genannt, nicht weil er in Frank-reich geboren war, sondern wegen seiner ausgesucht gutenManieren – er hielt den Damen die Tür auf, rückte ihnenden Stuhl vom Tisch und lief nie mit offenem Hosenstalldurchs Haus – und weil er trotz seines versteiften Rückenstanzen konnte. Dank der Stäbe, Schrauben und Mutternin seiner Wirbelsäule hielt er sich auch mit seinen neunzigJahren noch gerade, etwas von seiner wilden Haarprachtwar ihm geblieben, und er konnte nonchalant schummelndKarten spielen.Körperlichwar er,von der üblichenArthrose,demBluthochdruck und der unvermeidlichen Altersschwer-hörigkeit abgesehen, gut beieinander und geistig ebenfalls,wenn auch nicht gut genug,um sich zu erinnern, ob er schonzu Mittag gegessen hatte; deshalb wohnte er in Haus zwei,wo er die nötige Unterstützung bekam. Ursprünglich war ermit seiner dritten Frau nach Lark House gekommen, dochdie war nach drei Wochen von einem unvorsichtigen Rad-fahrer auf der Straße umgefahren worden und gestorben.Der Franzose begann seinen Tag früh, duschte, kleidete

sich an und rasierte sich mit Hilfe von Jean Daniel, einemPfleger aus Haiti, dann überquerte er, auf seinen Stock ge-stützt und mit scharfem Auge auf den Radverkehr achtend,den Parkplatz und trank im Starbucks an der Ecke die erste

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von täglich fünf Tassen Kaffee. Er war einmal geschiedenund zweifach verwitwet und dank seiner Verführungskunstnie ohne Affären gewesen. Neulich hatte er im Kopf über-schlagen, dass er siebenundsechzigMal in seinem Leben ver-liebt gewesen war, und er hatte die Zahl in sein Notizbuchgeschrieben, um wenigstens sie nicht zu vergessen, wo ihmschon die Namen undGesichter der Glücklichen abhanden-kamen. Bei etlichen Kindern stand seine Vaterschaft außerFrage, und dann gab es noch eins, die Frucht eines heim-lichen Ausrutschers, bei dem er sich nicht mehr an den Na-men der Mutter erinnerte, außerdem Nichten und Neffen,und alle waren sie undankbar und zählten die Tage, bis erendlich abtrat und sie ihn beerben konnten. Man raunte voneinem kleinen, mit großer Kühnheit und geringen Skrupelnerworbenen Vermögen. Er selbst erzählte ohne einen Anflugvon Reue, er habe eine Zeitlang im Gefängnis gesessen, wo-von ein paar durch Magerkeit, Altersflecken und Runzelnunkenntlich gewordene Freibeutertattoos an seinen Armenzeugten, habe dort mit den Ersparnissen der Wachleute spe-kuliert und nicht unerhebliche Summen eingestrichen.Trotz der Aufmerksamkeit, die ihm von Seiten etlicher Da-

men in Lark House zuteilwurde und wenig Raum für eige-ne Initiativen ließ, verlor Jacque Devine sein Herz sofortan Irina Bazili, als er sie zum ersten Mal die Runde machensahmit ihrem Klemmbrett und ihrem kecken Po. Das Mäd-chen besaß nicht einen Tropfen karibischen Bluts, folglichmusste man diesen Mulattinnenhintern als ein Wunder derNatur betrachten, versicherte der Franzose nach seinem ers-ten Martini und konnte kaum glauben, dass das noch kei-nem sonst aufgefallen war. In seinen besten Jahren hatte erGeschäftemit Puerto Rico undVenezuela gemacht und dorteine Leidenschaft dafür entwickelt, Frauen von hinten anzu-schauen. Die erhabenen Hinterteile hatten sich ihm für im-

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mer eingeprägt, er träumte von ihnen, spürte sie überall auf,selbst an einem so wenig erwartbarenOrt wie in LarkHouseund bei einer so schmalen Frau wie Irina. Sein Greisenlebenohne Pläne und Ambitionen füllte sich jäh mit dieser spätenund allumfassenden Liebe, und der Frieden seines Alltagswar dahin. Bald nach ihrer ersten Begegnung schenkte erIrina zumZeichen seiner Ergebenheit einenKäfer aus Topasund Brillanten, eins der wenigen Schmuckstücke aus demBesitz seiner verstorbenen Frauen, die er vor der Raffgierihrer Sprösslinge hatte retten können. Irina wollte das Ge-schenk nicht annehmen, aber ihre Zurückweisung jagte denBlutdruck des Verliebten in schwindelerregende Höhen, sodass sie die ganze Nacht bei ihm in der Notaufnahme sitzenmusste. Angeschlossen an einen Tropf, sprach ihr JacquesDevine unter Seufzern und Vorhaltungen von seinen unei-gennützigen und platonischen Gefühlen. Er wünsche nurihre Gesellschaft, wolle sich am Anblick ihrer Jugend undSchönheit weiden, ihrer glockenhellen Stimme lauschen, da-von träumen, dass sie ebenfalls zärtliche Gefühle für ihn he-ge, und seien es auch nur die einer Tochter. Oder einer Ur-enkelin.Als sie amnächsten Tag zurück in Lark House waren und

Jacques Devine bei seinem rituellen Nachmittagsmartini saß,ging Irina mit von der durchwachten Nacht geröteten, dun-kel umrandeten Augen zu Lupita Farías und erzählte ihr vondem Durcheinander.»Das ist nichts Neues, Kindchen.Wir finden die Bewoh-

ner ständig in fremden Betten, nicht nur die Herren, auchdie Damen.Wegen der wenigenMänner müssen die Armensich mit dem begnügen, was da ist. Jeder Mensch brauchtGesellschaft.«»Die Liebe von Herrn Devine ist platonisch, Lupita.«»Keine Ahnung, was das heißen soll, aber falls es das ist,

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was ich meine, glaub ihm kein Wort. Der Franzose hat einImplantat im Schniedel, eine Plastikwurst, die er über einenin den Hoden versteckten Kolben aufpumpt.«»Was redest du da!« Irina lachte.»Im Ernst. Ehrenwort. Ich habe das selbst nicht gesehen,

aber der Franzose hat es Jean Daniel vorgeführt. Der warschwer beeindruckt.«Lupita erzählte außerdem, und davon sollte Irina profitie-

ren, dass sie in den vielen Jahren, die sie jetzt in Lark Housearbeitete, feststellen konnte, dass das Alter allein keinen zueinem besseren oder weiseren Menschen macht, sondernbloß betont, was einer immer schon gewesen ist.»Ein Geizhals wird mit den Jahren nicht großzügig, Irina,

sondern bloß noch geiziger. Devine war bestimmt schon im-mer ein Lüstling, und jetzt ist er eben ein alter Lüstling.«Da sie ihrem Verehrer die Käferbrosche unmöglich zu-

rückgeben konnte, trug Irina sie zu Hans Voigt, der daraufhinwies, es sei streng verboten, Trinkgelder oder Geschenkeanzunehmen.Das betraf nicht die Schenkungen, die der Ein-richtung von Sterbenden gemacht wurden, und die Spendenunter der Hand, mit denen Angehörige ihren Lieben einenSpitzenplatz auf derWarteliste sicherten,worüber aber nichtgesprochen wurde. Der Geschäftsführer nahm das scheuß-liche Topasgeziefer entgegen, um es, wie er sagte, seinem le-gitimen Besitzer zurückzugeben, und verstaute es fürs Erstein einer Schublade seines Schreibtischs.In der Woche darauf steckte Jacques Devine Irina hun-

dertsechzig Dollar in Zwanzigerscheinen zu, und diesmalging sie damit gleich zuLupita Farías, die eineBefürworterineinfacher Lösungen war: Sie legte die Scheine zurück in dieZigarrenkiste, in der der Gigolo sein Bargeld verwahrte, inderGewissheit, dass der sich weder erinnerte, etwas entnom-men zu haben, noch wie viel er besessen hatte. Damit hatte

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