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Leseprobe Dasgupta, Rana Delhi Im Rausch des Geldes Aus dem Englischen von Barbara Heller und Rudolf Hermstein © Suhrkamp Verlag suhrkamp taschenbuch 4644 978-3-518-46644-5 Suhrkamp Verlag

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Leseprobe

Dasgupta, Rana

Delhi

Im Rausch des Geldes

Aus dem Englischen von Barbara Heller und Rudolf Hermstein

© Suhrkamp Verlag

suhrkamp taschenbuch 4644

978-3-518-46644-5

Suhrkamp Verlag

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suhrkamp taschenbuch 4644

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Im Dezember 2000 zieht Rana Dasgupta nach Delhi – und landet in ei-nem Moloch, der direkt der Phantasie von Zola oder Scorsese entsprun-gen sein könnte. Die wirtschaftliche Öffnung Indiens im Jahr 1991 hat Kräfte entfesselt, die wie eine Naturkatastrophe über die Stadt hinweg-fegen: Kapitalistische Räuberbarone stecken aggressiv ihre Claims ab, Bargeld wird lastwagenweise durch die Straßen gekarrt, Premierminister Manmohan Singh, der einst die Liberalisierung des Landes angestoßen hat, lässt beim lokalen Lamborghini-Händler anrufen. Er kann nicht mehr schlafen, seit die Nouveaux Riches vor seiner Residenz ihre Luxus-karossen ausfahren. Mit dem Einfühlungsvermögen und der Sprachgewalt eines großen Erzählers schildert Dasgupta die Welt hinter den Fassaden der scheinbar endlos nach oben weisenden Wachstumsraten. Er trifft Milliardäre und Slumbewohner, Drogendealer und Gurus und stellt fest, dass in der Hei-mat seiner Vorfahren heute vor allem eines regiert: das Geld. Rana Dasgupta, 1971 im englischen Canterbury geboren, veröffent-lichte bislang die Romane »Solo« und »Die geschenkte Nacht«. »Solo« wurde 2010 mit dem Commonwealth Writers’ Prize für den besten Debütroman ausgezeichnet. Rana Dasgupta lebt in Delhi.

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Rana Dasgupta

DelhiIm Rausch des Geldes

Aus dem Englischen von Barbara Heller und Rudolf Hermstein

Suhrkamp

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Die Arbeit der Übersetzer am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds e. V. gefördert.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

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Erste Auflage 2015

suhrkamp taschenbuch 4644

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2014

© Rana Dasgupta 2014

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Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

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Covercollage: Rosa Kammermeier (unter Verwendung von Motiven von iStockphoto und

Unlisted Images/Fotosearch.com)Umschlaggestaltung: Herburg Weiland

Printed in GermanyISBN 978-3-518-46644-5

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An die Ungeborenen

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»Oh, moon of AlabamaWe now must say good-byeWe’ve lost our good old mammaAnd must have dollarsOh, you know why.«

Bertolt Brecht,Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny

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I N D I S C H E R O Z E A N

G o l f v o n

B e n g a l e n

A r a b i s c h e s

M e e r

MAHARASHTRA

GOA

GUJARAT

UTTARAKHAND

JAMMU &KASCHMIR

HIMACHALPRADESH

PUNJAB

HARYANA

KERALA

SIKKIM

WEST-BENGALEN

ASSAM

MEGHALAYA

MANIPUR

MIZORAM

NAGALAND

TRIPURA

ARUNACHALPRADESH

CHHATTISGARH

TAMILNADU

KARNATAKA

ODISHA

JHARKHAND

BIHAR

MADHYA PRADESH

UTTARPRADESH

RAJASTHAN

ANDHRAPRADESH

Islamabad

Dhaka

Karachi

Lahore Amritsar

Mumbai

Hyderabad

Bangalore

Kalkutta

Chennai

Delhi

C H I N A

N E P A L

I N D I E N

S R I L A N K A

BHUTAN

BANGLA-DESCH

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L A Y A

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MEHRAULI

BHALSWA

WAZIRABAD

KAROLBAGH

PUNJABIBAGH

SHALIMARBAGH

PRADESH

UTTAR

Rotes Fort

The DelhiGolf Club

Qutb Minar

Indira GandhiInternational Airport

IndiaGate

CivilLines

Lodhi-Gärten

Lodhi RoadNizamuddin

East

Shahjahanabad(»Old Delhi«)

N o i d a

G u r g a o n

F a r i d a b a d

D E L H I

DefenceColony

SadarBasar

ConnaughtPlace

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Vorbemerkung

Dieses Buchwürdenicht existierenohne dieGroßzügigkeit einer gan-zenReihe vonMenschenausDelhi, die bereit waren,mitmir über ihrLeben, ihreGedankenundErfahrungenzu sprechen.Viele dieserDis-kussionen berührten sehr persönliche oder gar intime Themen, wes-halb ich alle Namen (so es sich nicht um Personen des öffentlichenLebens handelt) geändert habe. Ichmöchte die LeserinnenundLeserbitten, die Offenheit dieser Menschen – die teilweise Risiken auf sichnahmen, um mit mir zu sprechen – zu respektieren, nicht zu ver-suchen, diese Personen zu identifizieren, und ihre Identität nichtpreiszugeben, falls sie der einen oder dem anderen im Einzelfall be-kannt sein sollte.Da ichmich an einemOrt befinde – undwir in einerWelt leben –,

wo die intellektuellen Fähigkeiten einesMenschen so sehr danach be-urteilt werden,wie gut sie oderermit der englischenSprache zurecht-kommt,habe ichmichentschieden, allePersonen indiesemBuchdas-selbe Standardenglisch sprechen zu lassen. Ichwollte nicht, dass ihresehr unterschiedlichenSprachkenntnisse selbst zu einemThemawer-den. In Wirklichkeit war Englisch für viele dieser Menschen nur diezweite oder dritte Sprache, und sie haben sie nicht in dieser standar-disierten Weise gebraucht. Andere waren des Englischen überhauptnichtmächtig,weshalbdie entsprechenden Interviews (mithilfe einesDolmetschers) auf Hindi geführt wurden.Im indischen Sprachgebrauch ist es üblich, große Geldbeträge in

»Lakhs« und »Crores« anzugeben. Ein Lakh entspricht 100000 Ru-pien oder etwa zweitausendUS-Dollar; hundert Lakhs sind ein Cro-re, also zehn Millionen Rupien (etwa 200000 Dollar). Da sie so vielvon der spezifischen Haltung und dem Tonfall transportieren, indem in Indien über ökonomische Fragen diskutiert wird, habe ichdiese Ausdrücke beibehalten.In einigen Teilen der Welt versteht man unter einem »Bungalow«

ein bescheidenes, vielleicht sogar mickriges eingeschossiges Gebäu-

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de. Die Engländer bezeichneten mit diesemWort jedoch die frei ste-henden, häufig großzügigen und luxuriösen Häuser, die sie in denKolonien für die Angehörigen der Verwaltungselite errichteten. Sowird das Wort bis heute in Delhi – in dessen von der Kolonialmachterrichtetem Zentrumviele solcher Gebäude stehen – und daher auchin diesem Buch verwendet.In seinemMittelpunkt stehen die Angehörigen des aufstrebenden,

wohlhabenden Teils der urbanen indischenBevölkerung;Menschen,die sich selbst als wichtigste Akteure – und Profiteure – der Globa-lisierung verstehen. Es hat sich eingebürgert, diese Gruppe als »neueindische Mittelklasse« zu bezeichnen, eine Formel, die auch ich imFolgenden gebrauche. Doch selbst wenn ihr Lebensstil mittlerweiledem der amerikanischen oder europäischenMittelklasse in gewisserWeise ähneln mag, passt der Begriff nicht so wirklich gut zur Situa-tion in Indien. Während ich diese Zeilen schreibe, macht der AnteilderHaushaltemit einem Jahreseinkommenvonüber 500000Rupien(etwa 10000 Dollar) nicht einmal zehn Prozent der indischen Bevöl-kerung aus. Wenn also im Kontext Indiens von den Ideen, der Klei-dung oder sonstigen Besitztümern derMittelklasse die Rede ist, gehtes eigentlich um die Elite des Landes. Da die Wirtschaft des Subkon-tinents entlang der Kaufkraft dieser entstehenden Klasse neu organi-siert wird – und da dies zu Konflikten um Land und Ressourcen ge-führt hat, unter denen der weit größere Bevölkerungsanteil zu leidenhat, der in Armut in den ländlichen Regionen lebt (viele dieser Men-schen verdienen im Jahr gerade einmal fünfhundert Dollar) –, ist eswichtig, im Hinterkopf zu behalten, dass die indische Mittelschichtkeine bescheidenen oder unschuldigen Interessen verfolgt. Der Be-griff »Bourgeoisie«, den ich ebenfalls gelegentlich verwende, trifft ih-re Situation besser. Gleichzeitig zählten sich jedoch gerade deshalbviele Menschen zur Mittelklasse, weil sie sich mit den Werten desHartarbeitens und des Etwasbeitragenwollens identifizierten, diemanmit diesemWort assoziiert. Undweil sie sich von einer anderen,kleineren Elite abgrenzen wollten, deren Angehörige noch wesent-licher reicher und mächtiger waren als sie selbst, nämlich von jenenMoguln aus Politik und Wirtschaft, die sie für egoistisch und rück-sichtslos hielten und denen sie eine zutiefst zerstörerische Wirkung

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auf die Gesellschaft als ganze zuschrieben. Diese Unterscheidung istebenfalls bedeutsam,weshalb ich die gängige Terminologie von »Mit-telklasse« und »Elite« weitgehend beibehalte, auch wenn die Mittel-klasse mit der Mitte nicht das Geringste zu tun hat.

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Landschaft

Der März ist der schönste Monat, er schüttet makellose Blüten überdie abweisenden Frangipanis aus – die kunstvoll über das Grund-stück verteilt sind, in anmutigem Gegensatz zu den Wachmännern,die mich durchwinken, als ich auf das Haus zufahre.DerTag geht zuEnde.DieAbendblumenkommenzu ihremRecht,

die Luft wogt von Düften. Vor mir, unter einem samtenen Himmel,leuchtet das gläserne Haus wie ein riesiges gelbes Aquarium.Ich parke meinen Wagen weisungsgemäß und gehe über die mit

niedrigen Lampen beleuchteten Gartenwege. An jeder Ecke warteteinWachmannund zeigtmir denWeg zur nächsten. Sie reichenmichweiter, die Wachmänner, einer an den anderen, und melden mitkrächzenden Walkie-Talkies mein Fortkommen an diejenigen ihrerKollegen, die ich schon passiert habe. Ich komme vor demHaus an.Das Gebäude gleicht zwei einander überkreuzenden Raumstatio-

nen, eine aus Glas, die andere aus Stein. Die eine schwebt losgelöstvon der Erde, eine glänzende Brücke ins Nirgendwo, an ihrer Unter-seite leuchtende Landescheinwerfer.Alles ist unglaublich gepflegt. Die Ecken sind gerade und scharf

begrenzt. Kein Steinchen entkommt den mit Kies bestreuten Zier-streifen, die den Pfad säumen.DieWachmänner weisenmich an, durch das Haus hindurch zum

Swimmingpool zu gehen. Sie zeigen auf einenvon Spots erleuchtetenGang. Die Schiebetüren sind halb zugezogen, versperren eine Seitedes Eingangs: Ich steuere auf die andere, offene Seite zu und – höreich dieWarnrufe der Wächter vor- oder nachher? – marschiere gera-dewegs in eine Glasscheibe, die so sauber und reflexfrei ist, dass ich,obwohl ich eben davon abgeprallt bin, mich eben vor Schmerz ge-krümmt habe, dennoch nicht überzeugt bin, dass sie tatsächlichda ist.Die Wachmänner lachen. Einer läuft herbei, um dem dämlichen

Besucher zu helfen. Er rät mir, doch lieber nicht durch die Scheibe,

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sondern durch die Tür hineinzugehen – eine normale Tür, von Schie-ben keine Rede. Er demonstriert mir, wie eine Tür funktioniert, da-mit ich mich nicht noch einmal verletze.Ich gehe durch das Haus. Eine Halle dehnt sich vor mir, durch-

gestylt wie ein Designerhotel. Samtene Lampenschirme in hochfre-quenten Farben hängen von der Decke. Designersofas gruppierensich hier und da um Kristalltische. An denWänden riesige Leinwän-de, bemalt mit der Art kraftvollem Softporno, wie man ihn von Pla-katen für DJ-Tanzabende kennt. Lounge-Musik ertönt aus Lautspre-chern, die überall im Gebäude versteckt angebracht sind.Ich komme auf der anderen Seite heraus, und dort ist alles in dem

geheimnisvollen, erotischen Blau beleuchtet, das bei Nacht aus pri-vaten Pools emporsteigt. Ich werde zu einem Sessel am Beckenrandgeführt. Ein Glas mit einer versiegeltenWasserflasche wird vor michhingestellt.»Sir ist in einer Minute bei Ihnen.«

In einer Stadt der Euphemismen wird ein solches Anwesen »Farm-haus« genannt.Natürlich betreibt hier niemand Landwirtschaft. Doch als in den

siebziger Jahren Delhis Elite anfing, südlich der Stadt große Grund-stücke zu erwerben, um dort private Anwesen zu errichten, wurdeder gesamte Landstrich den Vorschriften entsprechend agrarischerNutzung gewidmet, und mit einem Anflug von Schicklichkeitsge-fühl, das sich auf die Namen der Dinge erstreckte, wenn auch nichtauf die Dinge selbst, nanntendie reichen Leute ihre neuen herrschaft-lichenWohnsitze »Farmhäuser«. Das war vor allem deshalb wichtig,weil viele der ersten Farmhäuser von denselben Bürokratenund Poli-tikerngebautwurden, diedieseVorschriftenerlassenhatten– äußerstkorrektenMenschen, fürdieUnregelmäßigkeiten inderBezeichnungder Dinge ein Verstoß gegen die Würde ihres Amtes waren.In den seither vergangenen Jahrzehnten haben die Farmhäuser

südlich von Delhi nicht nur an Zahl zugenommen, wiederholt denBesitzer gewechselt und schließlich die Legitimität erlangt, die jederLandnahme zuwächst,wennerst einmal genugZeit vergangen ist. Siesind auch zum Inbegriff des Lebens der Reichen und gut Vernetzten

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in der Stadt geworden, deren staunenswerte Partys, Autosammlun-gen, Skulpturengärten und springfreudige australischeWildtiere au-ßerhalb solch fantastischer Besitzungen unvorstellbar wären. In kei-ner anderen indischenMetropole sonnt sich die urbane Elite in solchpastoraler Beschaulichkeit: Das ist eineBesonderheit derHauptstadt.Es ist nachgerade frappant,wiedieReichenDelhis, eine exemplarischgroßstädtische Gruppe von Menschen, die zu ihrem Geld kommen,indem sie sich unermüdlich in den vielen Clubs und Korridoren derStadt vernetzen, das Urbane meiden. Im Gegensatz zu den Reichenin Mumbai oder New York träumen sie nicht von Wohnungen mitAussicht auf die glitzernde Stadt, der sie ihr Vermögen verdanken.Sie fühlen sich nicht zur Dynamik der Straßen, der Gehsteige unddes Gewühls hingezogen, die ein so kühner Teil der großen Städtedes neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts war. Nein: WennDelhis Reiche morgens aufwachen, blicken sie gern auf leere, mani-kürte Rasenflächen, die sich bis zu den von Stacheldraht gekröntenMauern erstrecken.Das moderne Delhi entstand aus der Katastrophe der Teilung In-

diens, deren verheerende Auswirkungen seine Kultur in Richtung Si-cherheit und Autarkie lenkten. Die Besitzungen, auf denen Delhisreichste Bürger Zuflucht vor der Gesellschaft suchen, sind nur dieaufwändigsten Erscheinungsformen eines verbreiteteren isolationis-tischen Ethos. Immerhin ist ja Delhi der Vorreiter der privaten»townships« Indiens, in denen das von Großunternehmen verwalte-te Leben eingezäunt ist, so dass ihre Bewohner von den breiten Strö-mungen des Landes unberührt bleiben. Delhis Satellitenstadt Gur-gaon, in den neunziger Jahren von dem Immobilien-Giganten DLF

gegründet, ist die größte dieser townships in Asien und hat inzwi-schen überall im LandNachahmer gefunden.Wo bis vor dreißig Jah-ren nur Ackerlandwar, ragen heuteWohnblocks undWolkenkratzerin den Himmel, die so aussehen, als entstammten sie einem in einerübersaturierten Zukunft angesiedelten Computerspiel. Gurgaon er-weckt nicht den Anschein, allgemein zugänglich zu sein: Die zahllo-sen Armen beispielsweise, die seine Häuser und Büros reinigen undbewachen, dürfen dort nicht wohnen. Wer in Gurgaon lebt, lebt ineiner Wohnanlage, die von Überwachungskameras und bewaffneten

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Wachleuten gegen die Außenwelt abgeschirmt ist und deren Bewoh-ner Großunternehmen dafür bezahlen, dass sie sich um ihre Grund-bedürfnisse kümmern:Müllabfuhr,Wasserversorgungundsogar, fürden häufigen Fall, dass die staatliche Stromversorgung zusammen-bricht, die Erzeugung von Elektrizität. Die Stadt spricht daher vor al-lemMenschen an, denen dasWirtschaftsunternehmen inzwischen alseine weitaus fruchtbarere Form der sozialen Organisation erscheintals der Staat und die sich zu Enklaven effizienten, postöffentlichenLebens hingezogen fühlen.Es ist ein altehrwürdigerOrt, andem ich jetztmeinMineralwasser

trinke. Seit weit über tausend Jahren habenMänner und Frauen aufdem Boden, auf dem meine Füße ruhen, ihren Lebensunterhalt ver-dient. Von meinem Platz am Pool aus kann ich zu dem hoch auf-ragenden Qutb Minar aufschauen, dem Siegesturm, der in alten Zei-ten nach der Eroberung Delhis durch zentralasiatische Invasorenerbaut wurde: Wuchtig und gerieft, akzentuiert er seit acht Jahrhun-derten Abende wie diesen, auch heute noch das einzige Gebilde vonMenschenhand, das den fahlen Himmel für sich beansprucht.Auf diesem Besitz haben die Landschaftsgärtner keine Gelegen-

heit ausgelassen, das Land mit einem Teppich zu überziehen, dochin denWäldernunddemBrachland derUmgebung, an allen Straßenringsum, drängen reich verzierte Grabmäler, Paläste und Moscheenaus der hartnäckigenVergangenheit ans Licht – undwährend ich hierinder einbrechendenNachtwarte, spüre ich,wie selbst durch die har-te Betonkruste des einundzwanzigsten Jahrhunderts Gespenster ausder Erde steigen, die Geister derer, die über Jahrhunderte Vieh gewei-det, Feldfrüchte angebaut, Götter verehrt, Siedlungen errichtet, Lie-der gesungen, Petitionen an Herrscher gerichtet und ihre Toten be-stattet haben. Just hier, wo diese stummen Pfade jetzt vollkommeneben verlaufen, auf diesem Boden, der jetzt mit smaragdgrünem Ra-sen versiegelt ist.Aus den gechlorten Tiefen des Pools steigt noch etwas anderes auf:

die Erinnerung an einen Traum. Vor acht Jahrhunderten lag einmalnur wenige Schritte vonhier der Sultan Iltutmish imSchlaf. Plötzlichflogen die Tore seines Schlummers auf – und vor sich erblickte er denProphetenMohammed auf Buraq, seinemgeflügeltenReittier. Buraq

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betrachtete den Sultanmit einemGesicht, das bald das einesMannes,bald das einer Frau, bald das eines Pferdeswar, undmit seinenmäch-tigen Schwingen entfachte er einen unbezähmbaren Sturm. Der Sul-tan spürte, dass er gerufen wurde, und als Ross und Reiter sich zu-rückzogen, folgte er ihnen. Als sie einen bestimmten Ort erreichten,schlug der Hengst mit dem Huf auf die Erde, und ein Wasserstrahlsprang daraus hervor.Dann schloss sich die Kammer des Traums wieder.AmMorgenbegab sich der Sultan zu demOrt, andener imTraum

geführt worden war. Als er dort ankam, sah er in der Erde ein Zei-chen – den Abdruck von Buraqs mächtigem Huf –, und er befahl,an dieser Stelle einen Brunnen zu bohren. Nicht lange, und es ent-stand ein prachtvoller See mit einer Moschee in der Mitte, die nurper Boot zu erreichenwar; das Ufer säumten herrschaftliche Villen so-wie ein ausgedehntes Lager für all die Musiker, die zur Unterhaltungeiner solchen Versammlung benötigt wurden – und die Menschendankten ihremHerrscher für seine weisen und ruhmreichen Taten.Iltutmish ließ in der Nähe auch einen fünf Etagen tiefen, von Säu-

lenterrassen umgebenen Stufenbrunnen anlegen, an dem sich dieMenschen aus der Stadt am Wasser treffen und miteinander plau-dern konnten. Ein zweiter, noch üppiger gestalteter Stufenbrunnenwurde zwei Jahrhunderte später nahebei gebaut, so dass dieser Ortder glühendheißen Sommer unter Reisenden ob seines Wasserreich-tums gerühmt wurde.Dass diese Speicher so ergiebig waren, hattemit ihrer Lage zu tun.

Sie befanden sich am Fuß des langen, felsigen Abhangs, über den dasWasser vom Aravelligebirge herabgeleitet wurde, das sich vom Bun-desstaat Gujarat bis fast vor die Tore Delhis hinzieht. In dieser stau-bigen,mit Sträuchern bewachsenen Landschaft wurden die Brunnenzudem in einemWald angelegt, dessen dicht durchwurzelter Bodennicht weggeweht wurde oder das System verlanden ließ, sondern dasWasser wie ein Schwamm festhielt und es dabei sogar noch filterte.Aus diesem Grund waren die kommunalen Speicher mehr als sechsJahrhunderte lang mit Wasser gefüllt. Noch in den sechziger Jahrenboten sie den einheimischen Jungen Gelegenheit zu sportlicher Betä-tigung: Sie vollbrachten das erstaunliche Kunststück, bis auf den

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Grund hinabzutauchen, um hineingeworfene Münzen heraufzuho-len.Heute sind es nur noch trockene Krater in der Erde, deren Boden

mit Plastiktüten und toten Tauben übersät ist.Nicht nur der Grundwasserspiegel sank in diesen Jahrhunderten

immer intensiverer Entnahme, indenen sichdieZahlderer, die indie-sem knochentrockenen Gebiet zusammengedrängt leben, den zwan-zig Millionen angenähert hat. Die Brunnen waren auch auf ein aus-gedehntes, empfindliches System kapillarer Vorgänge angewiesen,das seither durch den Überbau des modernen Lebens zerstört wor-den ist. Die vielen zubetonierten Flächen verhindern, dass das Was-ser in die Kapillaren eindringen kann, die durch das Verschwindender Wälder ohnehin schon weitgehend ausgetrocknet sind. Indus-trielle Entwässerungsanlagen entziehen den uralten Flussläufen dasWasser, Asphaltstraßen hindern es am Einsickern in den Boden.

Das Knistern solcher Brüche und Risse ist für das moderne Ohrkaum vernehmbar. Diese neuzeitlichen Zumutungen sind so sehrTeil unseres Daseins, dass es uns schwerfällt, die Größe jener ande-ren, fremden Systeme zu würdigen, die ihnen zum Opfer gefallensind. Wir sind darauf programmiert, das prämoderne Ingenieurs-wesen als infantil anzusehen und die phantasmagorischen Träumemittelalterlicher Kaiser mit Skepsis zu betrachten. Doch wennman sieht, wie Frauen in der heutigen StadtWasser für ihre Familienaus tröpfelnden Rohrleitungen oder vollgelaufenen Schlaglöchernholen, können sich die Majestät des Traums und die in seinem Na-men vollbrachten großen Werke wieder ins Bewusstsein drängen.Liegt es an dieser Geschichte, dass es sich so passend anfühlt, an

diesem Swimmingpool zu sitzen? Immerhin sind Pools seit Jahrhun-dertenDelhis Rettung gewesen.Und inunserer abergläubischenEpo-che, da Wasser Glaube ist, nicht Wissenschaft, da die alten Speicherausgetrocknet sindund ihre Technik vergessen ist, daHausbewohnerkaum eine Ahnung haben, woher ihr Wasser kommt, da alle wie be-sessen aus der Erde pumpen, was sie nur können, solange sie es nochkönnen – hat dieser ruhige, sinnträchtige Pool etwas exquisit Deka-dentes.

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