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Leseprobe Bakker, Gerbrand Oben ist es still Roman Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke © Suhrkamp Verlag 978-3-518-42013-3 Suhrkamp Verlag

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Leseprobe

Bakker, Gerbrand

Oben ist es still

Roman

Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke

© Suhrkamp Verlag

978-3-518-42013-3

Suhrkamp Verlag

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Gerbrand BakkerOben ist es still

Roman

Aus dem Niederl�ndischenvon Andreas Ecke

Suhrkamp Verlag

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Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem TitelBoven is het stil bei Uitgeverij Cossee BV, Amsterdam.

Die �bersetzung des Buches wurde gefÇrdert vomNederlands Literair Produktie- en Vertalingenfonds.

� Gerbrand Bakker 2008

� der deutschen AusgabeSuhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere dasdes Çffentlichen Vortrags sowie der �bertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.

Satz: Libro, KriftelDruck: Friedrich Pustet, Regensburg

Erste Auflage 2008

Printed in GermanyISBN 978-3-518-42013-3

1 2 3 4 5 – 13 12 11 10 09 08

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1

Ich habe Vater nach oben geschafft. Nachdem ich ihnauf einen Stuhl gesetzt hatte, habe ich das Bett zerlegt.Wie er auf dem Stuhl saß, erinnerte er an ein wenigeMinuten altes Kalb, noch bevor es saubergeleckt ist; mitunkontrolliert wackelndem Kopf und einem Blick, dernichts festh�lt. Ich habe die Wolldecken, BettÅcher unddie Moltondecke von der Matratze gezerrt, die Matrat-ze und die Bodenbretter hochkant an die Wand gelehntund Kopf- und Fußteil von den Seitenteilen abge-schraubt. Dabei versuchte ich mÇglichst durch denMund zu atmen. Das Zimmer oben – mein Zimmer –hatte ich schon leerger�umt.

»Was machst du?« fragte er.»Du ziehst um«, sagte ich.»Ich will hierbleiben.«»Nein.«Er durfte sein Bett behalten. Die eine H�lfte ist schon

seit Åber zehn Jahren kalt, aber immer noch krÇnt einKissen den unbeschlafenen Teil. Im Zimmer obenschraubte ich das Bett wieder zusammen, mit dem Fuß-ende zum Fenster hin. Unter den Beinen brachte ichKlÇtze an. Ich bezog das Bett mit sauberen Laken undDecken und steckte beide Kissen in frische BezÅge.Dann trug ich Vater die Treppe hinauf. Als ich ihnvom Stuhl hob, sah er auf und schaute mich dann unun-terbrochen an, bis ich ihn ins Bett legte, wobei unsereGesichter sich fast berÅhrten.

»Ich kann selbst gehen«, sagte er, erst dann.»Nein, das kannst du nicht«, sagte ich.Durchs Fenster sah er Dinge, die er nicht zu sehen

erwartete. »Ich liege hoch«, stellte er fest.»Ja. So siehst du draußen mehr als bloß den Himmel.«

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Auch in dem neuen Raum roch es muffig, roch ermuffig und schimmelig, trotz der frischen Bettw�sche.Ich stieß einen der beiden FensterflÅgel auf und hakteihn fest. Draußen war es eisig frisch und windstill, nuran den hÇchsten Zweigen der krummen Esche im Vor-garten hingen noch ein paar verschrumpelte Bl�tter. Ingroßer Entfernung sah ich drei Radfahrer auf demDeich. Wenn ich einen Schritt zur Seite gegangen w�re,h�tte er die drei Radfahrer auch sehen kÇnnen. Ich rÅhr-te mich nicht von der Stelle.

»Ruf den Arzt«, sagte Vater.»Nein«, antwortete ich. Ich drehte mich um und ging

aus dem Zimmer.Kurz bevor die TÅr zufiel, rief er: »Schafe!«

In seinem ehemaligen Schlafzimmer lag ein RechteckStaub auf dem Boden, etwas kleiner als die Abmessun-gen des Betts. Ich r�umte das Zimmer aus. Die beidenStÅhle, die Nachttische und Mutters Frisiertisch stellteich ins Wohnzimmer. In einer Ecke des SchlafzimmerswÅrgte ich zwei Finger unter den Teppichboden. »Nichtfestkleben«, hÇrte ich Mutter sagen, vor einer Ewigkeit,als Vater sich gerade hinknien wollte, einen Topf Leimin der linken und einen Leimpinsel in der rechten Hand,und wir fast schon etwas benommen waren von denscharfen AusdÅnstungen. »Nicht festkleben, in zehnJahren mÇchte ich neue TeppichbÇden.« Die RÅckseitedes Teppichs zerbrÇselte unter meinen Fingern. Ich roll-te ihn auf und trug ihn durch die Milchkammer insFreie. Mitten auf dem Hof wußte ich plÇtzlich nichtmehr, wohin damit. Ich ließ ihn fallen, wo ich geradestand. Ein paar Dohlen erschraken bei dem unerwartetlauten Knall und flogen aus den B�umen auf, die denHof begrenzen.

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Auf dem Boden des Schlafzimmers liegen Hartfaserplat-ten, mit der rauhen Seite nach oben. Ich ging schnell mitdem Staubsauger durchs Zimmer, nahm einen breiten,eckigen Pinsel und strich die Platten, ohne sie vorher ab-geschmirgelt zu haben, mit grauer Grundfarbe. Als ichbei der letzten Bahn war, vor der TÅr, sah ich die Schafe.

Jetzt sitze ich in der KÅche und warte darauf, daß dieFarbe trocknet. Erst wenn sie trocken ist, kann ich dasdÅstere Gem�lde von der Wand nehmen, das eine Grup-pe von schwarzen Schafen zeigt. Er will seine Schafeanschauen kÇnnen, also werde ich einen Nagel in dieWand neben dem Fenster schlagen und das Bild auf-h�ngen. Die KÅchentÅr und die ZimmertÅren stehenoffen, ich kann das Bild von meinem Platz aus Åberden Frisiertisch und die beiden Nachttische hinweg se-hen, aber es ist so dunkel und matt, daß ich keine Schafedarauf erkennen kann, so lange ich es auch anstarre.

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Es regnet, und der starke Wind hat die letzten Bl�ttervon der Esche geweht. Der November ist nicht mehreisig frisch und windstill. Das Elternschlafzimmer istjetzt mein Schlafzimmer. Ich habe die W�nde und dieDecke weiß gestrichen und den Hartfaserplatten einezweite Schicht Grundfarbe verpaßt. Die StÅhle, MuttersFrisiertisch und die beiden Nachttische habe ich nachoben gebracht. Ich habe einen Nachttisch neben VatersBett gestellt und die Åbrigen Sachen in das leere Zimmerneben seinem Schlafzimmer ger�umt. Henks Zimmer.

Die KÅhe stehen schon seit zwei Tagen im Stall. BeimMelken herrscht Unruhe.

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Wenn der runde Deckel oben auf dem Milchwagenoffengestanden h�tte, w�re heute morgen die H�lfte derMilch aus dem Tank gespritzt, wie bei einem Geysir, soscharf hatte der Milchfahrer vor dem aufgerollten Tep-pichboden gebremst, der immer noch mitten auf demHof liegt. Er schimpfte leise vor sich hin, als ich in dieMilchkammer kam. Es gibt zwei Milchfahrer, und dieswar der �ltere, der mÅrrische. Ich glaube, er ist ungef�hrin meinem Alter. Noch ein paar Jahre fahren und dannin Rente.

Mein neues Schlafzimmer ist bis auf mein Bett vÇlligleer. Das Holz – die Fußleisten, die Fensterrahmenund die TÅr – werde ich auch noch streichen. Vielleichtin der gleichen Farbe, in der ich den Boden gestrichenhabe, aber so genau weiß ich es noch nicht. Blaugrauschwebt mir vor; die Farbe des IJsselmeers an einemSommertag, wenn in der Ferne graue Gewitterwolkendrohen.

Vor einiger Zeit, Ende Juli oder Anfang August muß esgewesen sein, sind hier zwei Jungen in Kanus durchge-fahren. Das kommt nicht oft vor, die offiziellen Kanu-routen fÅhren nicht an meinem Hof vorbei. Nur wereine weitere Strecke fahren will, nimmt den Weg hierentlang. Sie hatten die OberkÇrper entblÇßt, es warwarm, die Muskeln ihrer Arme und Schultern gl�nztenim Sonnenlicht. Ich stand an der Seite des Wohnhauses,ungesehen, und beobachtete, wie sie sich gegenseitig zurammen versuchten. Ihre Paddel klatschten zwischenden Gelben Teichrosen ins Wasser. Das vordere Kanulegte sich quer und blieb mit dem Bug am Ufer h�ngen.Der Junge schaute zum Hof herÅber. »Sieh mal da«,sagte er zu dem anderen, einem rotblonden JÅngling

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mit Sommersprossen und sonnenverbrannten Schul-tern, »der Bauernhof, der ist zeitlos, der kÇnnte vonheute sein, aber genausogut von 1967 oder 1930.«

Der rotblonde Junge sah sich den Hof, die B�ume unddas StÅck Land, auf dem die Esel standen, genau an. Ichspitzte die Ohren. »Ja«, sagte er nach l�ngerer Zeit,»die Esel, die sind schon altmodisch.«

Der vordere Junge stieß sein Boot vom Ufer ab unddrehte den Bug wieder in Fahrtrichtung. Er sagte irgendetwas zu dem anderen Jungen, das ich nicht verstand,weil gerade ein Rotschenkel zu l�rmen anfing. Ein sp�-ter Rotschenkel, meistens sind sie Ende Juli alle ver-schwunden. Der Rotblonde folgte langsam und schautedabei weiter meine beiden Esel an. Ich konnte nichtweg, und es gab an der kahlen Seitenwand des Wohn-hauses nichts, womit ich mich h�tte besch�ftigen kÇn-nen. Ich stand reglos da und hielt den Atem an.

Er sah mich. Ich dachte, er wÅrde etwas zu dem an-deren Jungen sagen, seine Lippen Çffneten sich, und erdrehte den Kopf. Aber er sagte nichts. Er schaute nurund ließ mich stehen, ohne seinen Freund auf mich auf-merksam zu machen. Kurz darauf bogen sie in die Op-perwoudervaart ein, und die auseinandergetriebenenGelben Teichrosen schlossen sich wieder zusammen.Ich ging zur Straße, um den Jungen hinterherzuschauen.Nach ein paar Minuten konnte ich ihre Stimmen nichtmehr hÇren. Ich drehte mich um und versuchte meinenHof mit ihren Augen zu sehen. »1967«, sagte ich leiseund schÅttelte den Kopf. Warum gerade dieses Jahr?Der eine Junge hatte die Jahreszahl genannt, der andere,der mit den Sommersprossen und den Schultern, hattealles gesehen. Es war sehr warm an diesem Tag, derNachmittag war halb vorbei, fast schon Zeit, die KÅhezu holen. Meine Beine fÅhlten sich auf einmal schwer

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an, und der Rest des Nachmittags war unwirklich undleer.

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Eine große Standuhr eine Treppe hinaufzuschleppen istKnochenarbeit. Ich helfe mir mit langen, glatten Bret-tern, mit L�ufern und mehreren StÅcken Schaumgum-mi. Alles mÇgliche klingelt und rumpelt im Geh�use.Das Ticken hatte mich kribbelig gemacht, aber fÅr dieNacht immer die Uhr anzuhalten, war mir zu l�stig. Alsich die halbe Treppe geschafft habe, muß ich mich erstein paar Minuten ausruhen. Vielleicht macht das Tik-ken ihn da oben auch kribbelig, aber er hat ja immernoch sein Schafgem�lde zum Ruhigwerden.

»Die Uhr?« fragt er, als ich ins Zimmer komme.»Ja, die Uhr.« Ich stelle sie gleich hinter die TÅr, ziehe

die Gewichte hoch und stoße das Pendel an. Augen-blicklich fÅllt sich das Zimmer mit Zeit, mit langsamwegpochender Zeit. Wenn die TÅr zu ist, kann Vatersehen, wie sp�t es ist.

Nach einem Blick aufs Zifferblatt sagt er: »Ich habHunger.«

»Ich hab auch manchmal Hunger«, sage ich. Die Uhrtickt ruhig weiter.

»Die Vorh�nge sind zu«, bemerkt er dann.Ich gehe zum Fenster und ziehe die Vorh�nge auf. Es

regnet nicht mehr, und der Wind hat etwas nachgelas-sen. Das Wasser im Graben steht hoch und l�uft Åberden Rand des Damms. »Ich muß zur MÅhle«, sage ichzu mir selbst und zur Fensterscheibe. Vielleicht sage iches auch zu Vater.

»Was?«

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»Nichts.« Ich Çffne einen FensterflÅgel und denke,w�hrend ich ihn festhake, an die kahle Stelle im Wohn-zimmer.

In der KÅche schmiere ich mir ein paar Scheiben Brotund belege sie mit K�se. Ich schlinge die Brote hinunter,es geht mir kaum schnell genug. W�hrend der Kaffeenoch durch die Maschine l�uft, stehe ich schon imWohnzimmer. Ich bin allein, ich muß es allein machen.Das Sofa schiebe ich auf einen der L�ufer, die ich auchfÅr die Uhr benutzt habe. Ich schleife es durch den Flurin die WaschkÅche. Die beiden Sessel schleppe ich durchdie VordertÅr nach draußen und stelle sie an den Stra-ßenrand. Die Åbrigen Sachen bringe ich auch in dieWaschkÅche. Das BÅfett muß ich erst ganz leerr�umen,bevor es sich verschieben l�ßt. Dann endlich kann ichmeine Finger unter den Teppichboden zw�ngen. Derhier war teurer, nichts zerbrÇselt unter meinen H�nden.Beim Aufrollen Åberlege ich, ob ich dieses StÅck Tep-pich aufheben soll, kann ich es nicht noch fÅr irgendwasgebrauchen? Mir f�llt nichts ein. Die Rolle ist zu schwerzum Tragen, ich schleife sie Åber den Kiesweg und diekleine BrÅcke zur Straße. Als ich wieder auf die Vorder-tÅr zugehe, f�llt mein Blick auf das Telefon im Flur. Ichrufe bei der Gemeinde an und sage, daß ich SperrmÅllhabe. In der Kanne auf der Warmhalteplatte dampft derKaffee.

Auf dem Weg zur MÅhle sehe ich, was ich auch an denvergangenen Tagen schon gesehen habe, eine seltsameErscheinung,diemichbeunruhigt.EinenVogelschwarm,der nicht von Norden nach SÅden zieht, sondern in alleHimmelsrichtungen schwenkt, immer wieder. Nur dasGer�usch von schlagenden FlÅgeln ist zu hÇren. Der

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Schwarm besteht aus Rabenkr�hen, Austernfischernund SilbermÇwen. Das ist das Seltsame daran, nochnie habe ich diese drei Vogelarten zusammen fliegen se-hen. Es hat etwas von einem unheilverkÅndenden Vor-zeichen. Oder habe ich das gleiche auch frÅher schongesehen, ohne dieses unbehagliche GefÅhl? Nach l�nge-rem Hinschauen stelle ich fest, daß es sogar vier Artensind: Zwischen den großen SilbermÇwen erkenne ichauch deutlich kleinere LachmÇwen. Die VÇgel fliegenalle durcheinander, nicht in getrennten Formationen;als ob sie verwirrt w�ren.

Die WindmÅhle ist eine kleine eiserne Bosman-SchÇpf-mÅhle. »Bosman Piershil« steht auf einer Seite des ei-sernen Steerts. »N� 40832« und »Ned Oct« steht aufder anderen. Oktober, hatte ich frÅher gedacht, octrooi,weiß ich heute. Ein niederl�ndisches Patent also, beidem sich die SchÇpfmÅhle selbst in den Wind dreht,wenn der Steert rechtwinklig zu den FlÅgeln ausgerich-tet ist, und dann immer weiterschÇpft, bis man denSteert an einer FÅhrungsstange einklappt, so daß er pa-rallel zu den FlÅgeln steht. Aber jetzt klappe ich denSteert mit Hilfe einer daran befestigten Stange aus. EinewunderschÇne, schlanke kleine MÅhle, sie wirkt ir-gendwie amerikanisch. Eben deswegen, und wegendes Betonfundaments im Graben, und weil wir den Ge-ruch von SchmierÇl so gern mochten, waren Henk undich oft hier, im Sommer. Hier war es anders. Jedes Jahrkam ein Bosman-Mann, um die MÅhle zu warten, undauch jetzt funktioniert sie noch einwandfrei, obwohlschon seit Jahren kein Bosman-Mann mehr dagewesenist. Ich bleibe einen Moment stehen und sehe zu, wie dasWasser im Kanal anschwillt.

Ich gehe auf einem Umweg zurÅck und z�hle die

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Schafe. Sie sind alle noch da. Alle dreiundzwanzig, undder Schafbock. Die Hinterteile der Mutterschafe sindrot, ich werde den Bock bald fortbringen. Erst laufensie vor mir weg; dann, als ich mich dem Zaun auf demDamm n�here, kommen sie allm�hlich hinter mir her.Am Zaun bleibe ich stehen. In etwa zehn Meter Entfer-nung machen die Schafe halt. Sie haben sich aufgereiht,und alle schauen mich an, in der Mitte der Bock mitseinem Quadratsch�del. Der Anblick bereitet mir Un-behagen.

Als ich wieder auf dem Hof bin, sehe ich den durch-weichten Teppichboden und beschließe, auch den andie Straße zu legen.

Bevor ich melken gehe, harke ich noch kurz den Kies imVorgarten. Es wird schon leicht d�mmrig. Die beidenkleinen Jungen von nebenan, Teun und Ronald, sitzenunter dem Teppich – dem teureren Teppich –, den siehalb ausgerollt Åber die beiden Sessel geworfen haben.Vor ein paar Tagen hatten sie abends gegen sieben ander VordertÅr gestanden, ihre ausgehÇhlten roten Zuk-kerrÅben hochgehalten und sehr falsch ein Lied gesun-gen. Das sanfte Licht aus den RÅben hatte ihre erhitztenGesichter noch rÇter gemacht. Ich hatte sie mit einemMars belohnt. Jetzt haben beide eine Taschenlampe.»Hallo, Helmer!« rufen sie mir durch eine �ffnungzu, die sie – mit einem Messer? – in den Teppichbodengeschnitten haben. »Das ist unser Haus!«

»Ein wunderschÇnes Haus«, rufe ich, auf meine Har-ke gestÅtzt.

»Und wir haben auch Licht!«»Das sehe ich.«»Und hier gibt’s ’ne �berschwemmung!«»Das Wasser f�llt schon wieder«, versichere ich.

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»Wir schlafen heut nacht hier.«»Das glaube ich nicht«, sage ich.»Ich glaube doch«, meint Ronald, der JÅngere.»Nein, sicher nicht.«»Wir gehn gleich nach Hause«, hÇre ich Teun leise zu

seinem Bruder sagen. »Hier haben wir nichts zu essen.«Ich schaue zum Fenster von Vaters Zimmer hinauf.

Es ist dunkel.

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»Ich mÇchte Nikolaus feiern«, sagt er.»Nikolaus?« In diesem Haus ist seit Mutters Tod

nicht mehr Nikolaus gefeiert worden. »Warum?«»Das ist gemÅtlich.«»Und wie stellst du dir das vor?«»Na ja«, sagt er, »wie Åblich.«»Wie Åblich? Wenn du Nikolaus feiern willst, mußt

du Geschenke kaufen.«»Ja.«»Ja. Wie willst du Geschenke kaufen?«»Du mußt sie kaufen.«»Auch fÅr mich?«»Ja.«»Dann weiß ich schon, was ich bekomme.« Ich will

nicht so lange mit ihm reden. Ich will nur kurz nach ihmsehen und schnell wieder verschwinden. Das Ticken derStanduhr fÅllt das Zimmer. Sonnenlicht f�llt auf dieGlasscheiben des Schranks, ein fensterfÇrmiges Vier-eck, und die Scheiben werfen das Licht auf das Schaf-gem�lde, das jetzt gar nicht mehr so dÅster wirkt. EinmerkwÅrdiges Bild. Manchmal scheint darauf Winterzu sein, manchmal ist es Sommer oder Herbst.

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Als ich gerade die TÅr schließen will, ruft er: »Durst.«»Ich hab auch manchmal Durst.« Ich ziehe die TÅr

fest hinter mir zu und gehe die Treppe hinunter.

Nur das Sofa ist ins Wohnzimmer zurÅckgekehrt. Aufdem untersten Brett des eingebauten W�scheschranksin meinem Schlafzimmer habe ich ein großes StÅck Stoffgefunden. Vielleicht hatte Mutter sich noch ein Kleiddaraus n�hen wollen, allerdings kommt es mir fÅr denZweck reichlich groß vor. Es macht sich sehr gut als�berzug fÅr das Sofa. Der Boden ist grundfarbengrau;wenn die TÅr zum Schlafzimmer offensteht, schließensich die ebenfalls neu gestrichene Schwelle und der Bo-den dahinter nahtlos an. Auch alle Fußleisten, Fenster-pfosten und TÅren sind in der Grundfarbe gestrichen.Das BÅfett steht in einem anderen Raum, das niedrigeBÅcherschr�nkchen oben. Alle Pflanzen, die blÅhenkÇnnen, habe ich auf den Misthaufen geworfen. Es sindnicht viele Åbriggeblieben. Wenn ich Farbe kaufe, mußich auch mal nach Lamellenjalousien oder Rollosschauen; die schweren, dunkelgrÅnen Vorh�nge imSchlaf- und Wohnzimmer geben mir das GefÅhl, keineLuft zu bekommen, und ich habe die unbestimmte Vor-stellung, daß das nicht nur so ist, weil sie seit Jahrennicht mehr ausgeklopft worden sind. Den restlichen In-halt des Einbauschranks im Schlafzimmer habe ichnach oben gebracht und meine eigenen Kleider herun-tergeholt.

Es gibt Katzen hier. Scheue Wegrennkatzen. Manchmalsind es zwei oder drei, ein paar Monate sp�ter sind esauf einmal neun oder zehn. Einige hinken oder habenkeinen Schwanz mehr, andere (die meisten eigentlich)sind ewig verschleimt. Man hat nie einen �berblick

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Åber sie, deshalb wundert man sich nicht, wenn es zehnsind, und auch nicht, wenn es nur zwei sind. Vater lÇstedas Katzenproblem, indem er jeden neuen Wurf in einenJutesack steckte, einen Stein dazulegte und den Sack inden Graben schmiß. Vor vielen Jahren hatte er auchnoch einen alten Lappen in den Sack gestopft, den ermit einer FlÅssigkeit aus dem Giftschr�nkchen tr�nkte.Ich weiß nicht, was das fÅr eine FlÅssigkeit war. Chloro-form? Aber wie hatte er sich eine Flasche Chloroformbeschafft? War das Zeug vor dreißig Jahren frei ver-k�uflich? Das silbergraue Schr�nkchen mit dem Toten-kopf und den gekreuzten Knochen h�ngt in der Scheuneund enth�lt schon seit Jahren kein Gift mehr, Gift ist ausder Mode. Ich bewahre die Farbe darin auf.

Im vergangenen FrÅhjahr sah ich Vater mit Sch�l-chen voll Milch durch die Scheune schlurfen. Ich stelltekeine Fragen, seufzte aber tief, so tief, daß er es hÇrenkonnte. Nach ein paar Tagen hatte er die jungen Katzenso weit, daß sie sich alle auf einmal um ein Milchsch�l-chen dr�ngten. Er packte sie und steckte sie in einenSack. Keinen Jutesack, Jutes�cke haben wir nicht mehr.Es war ein Papiersack, der Beifutter enthalten hatte.Den Sack band er an der hinteren Stoßstange des OpelKadett fest, mit einer Schnur von etwa einem MeterL�nge.

Vor sieben Jahren hatte er einen Test machen mÅssen,um seinen FÅhrerschein verl�ngert zu bekommen. Erhatte fast alles falsch gemacht, was man falsch machenkann, und war durchgefallen. Seitdem darf er nichtmehr fahren. Trotzdem kroch er jetzt in den Wagen.Ein zarter grÅner Schleier lag auf den B�umen am Randdes Hofs, rund um die St�mme blÅhten Narzissen. Ichstand im Scheunentor und sah zu. Er ließ den Motor an,und sofort machte das Auto einen Satz nach vorn, wo-

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