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Leseprobe Miller, Alice Abbruch der Schweigemauer Die Wahrheit der Fakten Revidierte Neuausgabe © Suhrkamp Verlag suhrkamp taschenbuch 3497 978-3-518-39997-2 Suhrkamp Verlag

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Leseprobe

Miller, Alice

Abbruch der Schweigemauer

Die Wahrheit der Fakten

Revidierte Neuausgabe

© Suhrkamp Verlag

suhrkamp taschenbuch 3497

978-3-518-39997-2

Suhrkamp Verlag

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Die Abhängigkeit des kleinen Kindes von seinen Eltern, sein Vertrauenzu ihnen, seine Sehnsucht danach, geliebt zu werden und lieben zudürfen, kennen keine Grenzen. Diese Abhängigkeit auszubeuten, dasVertrauen zu mißbrauchen, die Sehnsüchte zu betrügen und zu ver-wirren – diese Wesenszüge landläufiger »Erziehung« verurteilt AliceMiller als verbrecherisches Tun, das tagtäglich aus Ignoranz und derWeigerung, diese aufzugeben, begangen wird. Welche schrecklichenFolgen eine solche Heuchelei für ganze Völker haben kann, demon-striert die Autorin des Welterfolgs Das Drama des begabten Kindesexemplarisch am Beispiel des Tyrannen Nicolae Ceausescu, der dasverdrängte Elend seiner Kindheit Millionen von Menschen aufge-zwungen und als Heil für Rumänien ausgegeben hat. Hoffnung fürerwachsene Menschen, die unter ihren verdrängten Kindheitserfah-rungen leiden oder neues Leiden verursachen, sieht sie nur dann, wennihre Notsignale von ihnen selbst und der Gesellschaft endlich gehörtwerden, wenn die Mauer des Schweigens über die Leiden der Kindheitendgültig abgebrochen wird.

Alice Miller studierte in Basel Philosophie, Psychologie und Sozio-logie. Nach der Promotion machte sie in Zürich ihre Ausbildung zurPsychoanalyse und übte 20 Jahre lang diesen Beruf aus. 1980 gab sieihre Praxis und Lehrtätigkeit auf, um zu schreiben. Seitdem veröffent-lichte sie elf Bücher, in denen sie die breite Öffentlichkeit mit den Er-gebnissen ihrer Kindheitsforschungen bekannt machte.

Im Suhrkamp Verlag sind u.a., zum Teil in veränderten Neuaufla-gen, folgende Bücher erschienen: Evas Erwachen (2001); Wege desLebens. Sieben Geschichten (1998); Das Drama des begabten Kindesund die Suche nach dem wahren Selbst. Eine Um- und Fortschreibung.Neufassung 1996 (1997); Das verbannte Wissen (1988); Der gemie-dene Schlüssel. Erweiterte und revidierte Auflage (1988); Du sollstnicht merken. Variationen über das Paradies-Thema (1981); Am An-fang war Erziehung (1980).

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Alice MillerAbbruch der Schweigemauer

Die Wahrheit der FaktenRevidierte Neuausgabe

Suhrkamp

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Abbruch der Schweigemauer erschien erstmals 1990im Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg.

Es wird hier in einer revidierten Neuausgabe vorgelegt.

suhrkamp taschenbuch 3497Erste Auflage 2003

, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2003Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere dasder Übersetzung, des öffentlichen Vortrags

sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,

vervielfältigt oder verbreitet werden.Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-BadenUmschlag nach Entwürfen von

Willy Fleckhaus und Rolf StaudtPrinted in Germany

ISBN 3-518-39997-2

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Inhalt

Vorwort 9

I. Öffnungen und Durchblicke

Evas Initiative 21Aus dem Gefängnis der Verwirrung 27Der Kampf mit dem Gedächtnis in der Psychiatrie 34Das Blinde-Kuh-Spiel und die Flucht vor den Faktenin der Psychotherapie 51

II. Fakten

Kindesopfer als »Tradition« 63Die zerstörerischen »Erlöser« und Baumeistertotalitärer Regime

Adolf Hitler – Von Seelenmorden an Kindernzur Vernichtung ganzer Völker 69Nicolae Ceausescu – Monströse Folgen derVerleugnung elender Kindheit 92

Das mißhandelte Kind in den KlageliedernJeremias 113

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III. Der Verzicht auf Heuchelei

Die befreiende Erfahrung der schmerzhaftenWahrheit 129Für den Schutz des geborenen und gelebtenLebens 139

Nachwort 147

Literaturverzeichnis 149

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»Stehe des Nachts auf und schreie, schüttedein Herz aus in der ersten Wache gegenden Herrn wie Wasser; hebe deine Händegegen ihn auf um der Seelen willen dei-ner jungen Kinder.«

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Vorwort

Die Wahrheit über die Kindheit, wie viele von uns sieerleiden mußten, ist unfaßbar, empörend, schmerzhaft,nicht selten monströs und immer verdrängt. Diese Wahr-heit auf einmal zu erfahren und dieses Wissen zu inte-grieren ist schlicht und einfach unmöglich, auch wennwir uns das sehnlichst wünschen. Die Fähigkeit desmenschlichen Organismus, Schmerzen zu ertragen, ist zuseinem Schutze begrenzt, und alle Versuche, die dieseGrenze mißachten und die Verdrängung gewaltsam auf-heben, haben nur negative und oft gefährliche Wirkun-gen, wie jede andere Form von Vergewaltigung auch.

Die Folgen eines traumatischen Erlebnisses wie etwaeiner Mißhandlung können nur aufgelöst werden, wennalle traumatischen Facetten dieses Erlebnisses in einerbehutsam begleitenden Therapie erlebt, artikuliert undverurteilt werden konnten.

In den letzten Jahrzehnten gab es verschiedene gefähr-liche Versuche, die Folgen von Kindheitstraumatisie-rungen auf gewaltsame Art zu beheben, die alle geschei-tert sind und scheitern mußten. Die Behandlungen mitLSD, Hypnose und isolierten Geburtserlebnissen führ-ten nicht nur nicht zur Integration der persönlichenWahrheit, sondern sehr häufig zur verstärkten Fluchtvor ihr in neue Formen der Abwehr wie Ideologien,Süchte und andere Arten der Verleugnung.

Viele junge Menschen, die mit psychedelischen Dro-gen experimentierten, aus Neugier und aus Not, habeneine extrem beängstigende, zugleich entmutigende und

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höchst irreführende Erfahrung gemacht, die ihnen spä-ter den Zugang zu einer wirksamen, aufdeckenden The-rapie verbaut hat. Sie sahen sich in bestimmten Situatio-nen plötzlich, unvorbereitet, dem Grauen ihrer Kindheitschutzlos ausgeliefert, dies auch noch in symbolischenBildern, ohne Bezug zur Realität, und auf keinen Fallwollten sie sich später diesen Erfahrungen erneut ausset-zen. Eigentlich mit Recht. Aber sie wissen nicht, daß das,was sie erlebt hatten und was ihnen zuweilen als Thera-pie verkauft worden war, eigentlich das Gegenteil einerTherapie war: eine Traumatisierung, die die Verwirrungder Kindheit mit Hilfe von symbolischen Inhalten ze-mentierte und eine starre, schwer auflösbare Versionihrer Kindheit zurückließ.

Die Konsequenzen solcher Erfahrungen sind sehr be-dauerlich, denn die Betroffenen vertrauen nun lieberder Lüge der Sucht, der Medikamente oder der falschenTheorien als der Wahrheit. Sie ahnen nicht, daß sie ineinem langsamen Prozeß durchaus die Wahrheit ertra-gen könnten und daß nur diese ihnen auf Dauer helfenkann.

Wir bauen hohe Mauern, um uns vor den schmerz-haften Fakten abzuschirmen, weil wir nie gelernt ha-ben, daß und wie wir mit diesem Wissen leben können.»Warum sollten wir?«, könnte man fragen. »Was ver-gangen ist, ist vergangen. Warum sollten wir uns damitbefassen?« Die Antwort auf diese Frage ist sehr kom-plex. Ich versuche in diesem Buch anhand verschiedenerBeispiele zu zeigen, weshalb wir sowohl als Individuenals auch als Gesellschaft nicht auf die Wahrheit über dieeigene Kindheit verzichten können noch dürfen.

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Hinter der Mauer, die uns vor der Geschichte dieserKindheit schützen soll, steht nämlich immer noch dasmißachtete Kind, das wir waren und das einst verlas-sen und verraten wurde. Es wartet darauf, daß wir denMut finden, es anzuhören. Es möchte von uns geschützt,verstanden und aus seiner Isolierung, Einsamkeit undSprachlosigkeit befreit werden. Aber dieses Kind, das solange auf unser Verständnis, auf Achtung und Zuwen-dung wartet, hat nicht nur Bedürfnisse, auf deren Erfül-lung es angewiesen ist. Es hält auch ein Geschenk für unsbereit, das wir dringend brauchen, um wirklich zu leben,das wir nirgends kaufen können und das uns nur die-ses einzige Kind in uns geben kann. Es ist das Geschenkder Wahrheit, die eine Befreiung aus dem Gefängnis derdestruktiven Meinungen und etablierten Lügen bedeu-tet, und schließlich das Geschenk der Sicherheit, die unsdie wiedergewonnene Integrität gibt. Das Kind wartetnur darauf, daß wir bereit sind, uns ihm zu nähern, ummit seiner Hilfe die Mauern abzureißen.

Viele Menschen wissen das nicht. Sie leiden unterquälenden Symptomen und fragen Ärzte um Rat, dieähnlich wie sie das so notwendige Wissen abwehren. Siebefolgen diesen Rat, lassen zum Beispiel völlig unnötigschwere Operationen über sich ergehen oder lassen an-dere leiden. Oder sie konsumieren Schlaftabletten, umja nicht von Träumen beunruhigt zu werden, die sie andas hinter der Mauer wartende Kind erinnern könnten.Aber das Kind kann sich nur in der Sprache der Schlaf-losigkeit, der körperlichen Symptome und der Depres-sionen artikulieren, solange wir es zum Schweigen ver-urteilen. Tabletten und Drogen können da nicht helfen,

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sie können den Erwachsenen nur noch mehr verwir-ren.

Viele Menschen wissen auch dies nicht, aber viele wis-sen es seit langem und können sich doch nicht helfen.Einige spüren, daß die Verdrängung der Traumen ihrerKindheit ihr Leben vergiftet; sie erkennen, daß diese Ver-drängung einst für das Kind notwendig war, um ihm dasÜberleben zu sichern, weil der kleine Organismus sonstan den Schmerzen hätte sterben müssen. Einige begin-nen zu ahnen, daß die Aufrechterhaltung der Verdrän-gung im Erwachsenen zerstörerische Folgen hat. Abersie meinen, daß man sich damit abfinden müsse, weilsie keine Alternativen kennen. Sie wissen nicht, daß esdurchaus möglich ist, in einer nicht gefährlichen Weiseim Verlauf eines langen Prozesses die Verdrängung derKindheit aufzuheben und die Wahrheit ertragen zu ler-nen. Nicht plötzlich, nicht durch gewaltsame Eingriffe,sondern langsam, mit Rücksicht auf die jeweilige Ab-wehr.

Was für die Therapie des einzelnen gilt, gilt auch für dieEntwicklung des gesellschaftlichen Bewußtseins. Auchhier kann die monströse Wahrheit über die Ursachenund Folgen von Kindesmißhandlungen und über dieBrutstätten der Gewalt nicht auf einmal zugelassenwerden, sondern nur schrittweise (vgl. Alice Miller, AmAnfang war Erziehung, 1980; Das verbannte Wissenund Der gemiedene Schlüssel, 1988a+b). Ich will das aneinem Beispiel aus meiner eigenen Aufklärungsarbeitverdeutlichen: Nach dem Erscheinen meiner ersten dreiBücher Anfang der achtziger Jahre wurde ich von eini-gen Zeitschriften und Zeitungen um einen Beitrag ge-

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beten. Doch sobald ich ankündigte, daß ich über dieGewalt in der Familie schreiben würde, erlahmte dasInteresse an einer Zusammenarbeit mit mir vollständig.Die einzige Ausnahme war die Redakteurin der Zeit-schrift Brigitte, die 1982 meinen Artikel über sexuelleMißhandlungen von Kindern gegen die Widerständeeiniger Kollegen veröffentlichen konnte. Der Artikeltrug den Titel: »Die Töchter schweigen nicht mehr« undwurde später in einer Neuauflage von Du sollst nichtmerken abgedruckt. Er berichtete vom Mut einigeramerikanischer Frauen, die Geschichten der schwerenVerletzungen in ihrer Kindheit der Öffentlichkeit zu-gänglich zu machen, um nicht länger mit diesem schreck-lichen und zerstörenden Geheimnis allein zu leben, aberauch um anderen Frauen zu helfen, am Abbruch derSchweigemauer zu arbeiten, mit der sich die Gesellschaftvor dem Wissen über die Kindheit schützt. Diese Frauenhaben erkannt, daß der angebliche Schutz dieser Mauereine destruktive Wirkung auf die Überlebenden der Kin-desmißhandlungen hat und daß die Zahl dieser Überle-benden mehr als die Hälfte der gesamten Bevölkerungumfaßt.

Zur damaligen Zeit war das Thema der sexuellen Kin-desmißhandlungen in Deutschland ein absolutes Tabu,und die Wirkung des Artikels glich einem Dammbruch.Hunderte von Frauen aus allen sozialen Schichten schrie-ben an die Redaktion und an mich. Sie erzählten vonbrutalen Mißhandlungen in der Kindheit und von derSchweigemauer, die sie von diesen Erlebnissen und da-mit von einem großen Teil ihrer Persönlichkeiten trennte.Durch all diese Briefe zog sich wie ein Refrain der gleiche

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Satz: »Es ist das erste Mal, daß ich darüber berichte.«Ergänzend dazu schrieben die meisten: »Sie könnenmeine Geschichte veröffentlichen, damit andere Frauen,die das erlebten, erfahren, daß sie nicht alleine damitsind, denn bis zu Ihrem Artikel habe ich immer gemeint,nur mir sei das widerfahren. Aber bitte, erwähnen Sieauf keinen Fall meinen Namen.« Die meisten dieserFrauen waren verheiratet, Mütter von mehreren Kin-dern, viele von ihnen hatten »Therapien« hinter sich,aber weder mit dem Ehemann noch mit den Therapeu-ten wagten sie über das Trauma ihrer Kindheit zu spre-chen. Das, was ihr ganzes Leben prägte, sie in der Phan-tasie weiter bedrohte, vergiftete, mußte so lange und sogründlich verschwiegen werden, weil sie in ihrer ganzenUmgebung offenbar keinen »wissenden Zeugen«1 fan-den, der ihnen zumindest eine teilweise Befreiung vondiesem isolierenden Geheimnis ermöglicht hätte – undsei es zunächst nur durch das bloße Sprechen über erlit-tene Qualen. Jede dieser Frauen kam mir damals vor wieein kleines Mädchen vor einer riesigen Mauer, in derauch nicht die kleinste Öffnung zu finden war, die die-sem Mädchen in seiner Einsamkeit ein Stück Hoffnunggeboten hätte.

Seitdem hat sich vieles geändert. Zuerst wurde in Ber-

1 Eine ähnliche Rolle wie der »helfende Zeuge« in der Kindheit kann imLeben eines Erwachsenen der »wissende Zeuge« spielen. Darunter ver-stehe ich einen Menschen, der um die Folgen von Verwahrlosungen undMißhandlungen von Kindern weiß. Er kann daher diesen geschädigtenMenschen beistehen, ihnen Empathie bekunden und ihnen helfen, ihreihnen selbst unverständlichen Gefühle von Angst und Ohnmacht aus ih-rer Geschichte heraus besser zu verstehen, um die Optionen des heuteErwachsenen freier wahrnehmen zu können (vgl. auch Das verbannteWissen, S. 214 ff.).

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lin die Selbsthilfegruppe »Wildwasser« gegründet, derenBeispiel viele ähnliche Gruppen im ganzen Land folgten.Die Schweigemauer steht nicht mehr so unerschütterlichwie vor zwanzig Jahren – zumindest, was die sexuelleAusbeutung der Mädchen betrifft.

Ohne die Hilfe der Frauenbewegung wäre dieseschnelle Entwicklung kaum denkbar gewesen. Ihr vorallem ist es zu verdanken, daß die Gerichte und dieÖffentlichkeit auf die Einsamkeit der Opfer aufmerk-sam gemacht werden. Grausamkeiten, die bisher als völ-lig selbstverständlich erschienen, werden entlarvt. Dochauch die Frauenbewegung konnte nicht sofort auf alleAugenbinden verzichten – was ja eigentlich kaum andersdenkbar ist.

Um eine monströse Wahrheit aus unserer kollektivenVergangenheit zu erkennen und zu integrieren, brauchenwir viel Zeit, wie in der Therapie. Sonst besteht die Ge-fahr, daß die Verdrängung noch verstärkt wird. Wirbrauchen noch lange Illusionen, Stützen, Krücken, umuns immer wieder einem neuen schmerzhaften Aspektder Wahrheit auszusetzen, bis wir das ganze Ausmaß derSituation des Kindes wahr-nehmen können.

Daher konnte die Frauenbewegung auf einige Illu-sionen nicht verzichten, als sie die Tatsache der sexuel-len Mißhandlungen von Mädchen zur Sprache brachte;sie brauchte vor allem die Illusion, die Mütter seien un-schuldig an diesen Verbrechen. Es fiel mir auf, daß femi-nistische Zeitschriften sich mit meinen Büchern schwer-taten, weil ich nicht gewillt war, für Mißhandlungen anKindern nur Männer verantwortlich zu machen, son-dern darauf bestand, daß beide Eltern dem mißhandel-

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ten Kind Schutz und Liebe schuldig geblieben waren unddaß eine beschützende Mutter Mißhandlungen nichtzugelassen hätte (vgl. Alice Miller, 1988a+b).

Inzwischen hat offenbar auch die Frauenbewegungeine Stufe erreicht, auf der die Illusion, nur Männer seiengewalttätig gegen Kinder, abgebaut werden kann.

Eine Feministin schickte mir die Ergebnisse ihrer so-ziologischen Untersuchung über junge Männer, die inGefängnissen ihre Strafen absitzen, weil sie auf der StraßeFrauen überfallen und vergewaltigt haben. Die Verge-waltigung und Erniedrigung anonymer Frauen hatteüberhaupt nichts mit Sexualität zu tun, obwohl mandiese Männer Triebverbrecher nennt. Sie handelten ausRache für die eigene, einst erlittene, total verdrängteWehr- und Hilflosigkeit, die sie, auf Kosten anderer, wei-terhin verdrängten.

Es stellte sich heraus, daß all diese Männer in ihrerfrühen Kindheit von ihren Müttern vergewaltigt wur-den, entweder mit Hilfe von offen sexuellen Praktikenoder durch Einläufe oder beides. Allerlei perverse Prakti-ken hielten das Kind ständig in Schach, ohne daß es diemindeste Chance gehabt hätte, sich dagegen zu wehren.

Noch vor 30 Jahren galten Einläufe als medizinischeMaßnahme, obwohl sie im Grunde eine Vergewaltigungsind, eine Maßnahme, die die natürliche Darmtätigkeitdes Kindes unter der Kontrolle des Erwachsenen haltensollte. Dies klar zu sehen und diese Form destruktivenVerhaltens entlarven zu können, setzt ein offenes Be-wußtsein der Soziologin voraus. Augenscheinlich mußtediese Frau die Mütter nicht schonen, brauchte die Wahr-heit also nicht zu verschleiern.

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Ich bin weit davon entfernt, mit diesem Hinweis aufdie Vergangenheit des Täters seine Tat entschuldigen zuwollen. Denn das destruktive Ausagieren ist keine Not-wendigkeit. Es könnte vermieden werden, wenn dieseMänner bereit wären, ihre Verdrängung aufzugeben. Siesind nicht dazu bereit, und sobald sie Väter gewordensind, können sie die Rache an ihren Müttern sogar unbe-helligt ausüben: in ihren vier Wänden, an Frau und Kind,nun ohne daß die Polizei in jedem Fall einschreitet.

Ihre Taten müssen daher beim Namen genannt wer-den, genauso wie die Taten ihrer Eltern, Großeltern undder Millionen Ausbeuter von Kindern in früheren Gene-rationen, deren Produkt diese Vergewaltiger sind. Auchihre perversen Mütter waren schon ein Produkt dieserverhängnisvollen Ereigniskette.

Damit die jahrtausendealte Praxis der Kindesmiß-handlung nicht länger ihr Unwesen treiben kann unterverharmlosenden Etiketten wie: Tradition, Normalität,Erziehung zu »deinem Besten«, muß, zumindest aufder kognitiven Ebene, der Zugang zur ganzen Wahrheitgewährleistet werden. Diesen Zugang versuchen diefolgenden Kapitel dem Leser zu vermitteln, immer ausanderem Blickwinkel, um ein bestimmtes Thema krei-send, damit einzelne Öffnungen in der Mauer gefun-den werden, durch die sich ein freier Blick bietet. Wasist schon ein Blick, könnte man fragen, das kann dochkaum genügen? Gewiß, ein Blick kann die eigene Thera-pie nicht ersetzen. Aber er kann den Sinn dafür wecken,wie es diesseits der Mauer aussieht, und er kann vorallem die gesunde Neugier aufs Leben wecken.

Menschen, die nur die Schweigemauer kennen, klam-

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mern sich an diese Mauer, verhalten sich so, als bötesie ihnen die Rettung vor allen Ängsten. Aber Menschen,die einmal durch eine Öffnung geschaut haben, könnendie Existenz dieser sinnlosen Mauer nicht länger ertra-gen. Sie können sich nicht vorstellen, jemals wieder sozu leben wie zuvor, ohne das jetzt erlangte Bewußtsein,weil sie realisiert haben, daß das, was sie früher ihr Le-ben nannten, gar kein Leben war. Zu ihrer Tragik und zuihrem Schicksal gehörte, dies so lange nicht gemerkt zuhaben. Diese Tragik möchten sie den anderen ersparen,soweit dies möglich ist. Sie möchten die anderen wissenlassen, daß das Leben, jedes Leben, viel zu kostbar ist,um versäumt, vergeudet oder weggeworfen zu werden.Und daß es sich lohnt, die alten Schmerzen zu fühlen, umfrei von ihnen zu werden – für das Leben.

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I.Öffnungen und Durchblicke

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