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Leseprobe Benhabib, Seyla Die Rechte der Anderen Ausländer, Migranten, Bürger Aus dem Amerikanischen von Frank Jakubzik © Suhrkamp Verlag 978-3-518-41998-4 Suhrkamp Verlag

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Leseprobe

Benhabib, Seyla

Die Rechte der Anderen

Ausländer, Migranten, Bürger

Aus dem Amerikanischen von Frank Jakubzik

© Suhrkamp Verlag

978-3-518-41998-4

Suhrkamp Verlag

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Seyla BenhabibDie Rechte der Anderen

Ausl�nder, Migranten, BÅrger

Aus dem Englischen vonFrank Jakubzik

Suhrkamp

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Edition Zweite ModerneHerausgegeben von Ulrich Beck

Die Originalausgabe The Rights of Others. Aliens, Residents and Citizenserschien 2004 bei Cambridge University Press, New York

Erste Auflage 2008

� Seyla Benhabib 2004

� der deutschen �bersetzung Suhrkamp VerlagFrankfurt am Main 2008

Deutsche ErstausgabeAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das

des Çffentlichen Vortrags sowie der �bertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.

Satz: Jouve Germany, KriftelDruck: Memminger MedienCentrum AG

Printed in GermanyISBN 978-3-518-41998-4

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Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

1 Das Recht auf Gastfreundschaft:Kants WeltbÅrgerrecht aus heutiger Sicht . . . . . . . . . . 36

2 »Das Recht, Rechte zu haben«: Hannah Arendt unddie WidersprÅche des Nationalstaats . . . . . . . . . . . . . . 56

3 VÇlkerrecht, Verteilungsgerechtigkeit und Migration . . 75

4 Neue Formen der StaatsbÅrgerschaft in derEurop�ischen Union. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

5 Demokratische Iterationen auf lokaler, nationalerund globaler Ebene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168

Schlußbemerkung: Kosmopolitischer FÇderalismus . . . . 206

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214

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»Kein Mensch ist illegal.«Immigrant Workers’ Freedom Ride 2003, Queens, New York

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Vorwort zur deutschen Ausgabe1

Seit Beginn des neuen Jahrhunderts ist Migration zu einem derwichtigsten Themen unserer Zeit geworden. Ob es sich bei ih-ren Protagonisten um Wirtschaftsmigranten handelt, die aus�rmeren Weltregionen in die reichen Demokratien des Nordensund Westens streben, um Asylsuchende und FlÅchtlinge, dieSchutz vor Verfolgung, Kriegen oder Naturkatastrophen su-chen, oder um Vertriebene, die Opfer von BÅrgerkriegen, eth-nischen Konflikten oder staatlicher Gewalt wurden – sie stellendie Staaten der Welt vor vÇllig neue Herausforderungen. Ange-sichts ihrer Bedeutung ist es verwunderlich, daß grenz-Åberschreitende Wanderungsbewegungen und die von ihnenaufgeworfenen philosophischen und politischen Fragen in dergegenw�rtigen theoretischen Debatte kaum eine Rolle spielen.Das vorliegende Buch versucht dies durch eine Auseinander-setzung mit der Theorie und Praxis des Umgangs mit Men-schen, die von außerhalb ins Land kommen, zu �ndern.

Mit EinbÅrgerungs- und Migrationspolitik, den Rechten vonAsylsuchenden und FlÅchtlingen haben sich zumeist Rechts-wissenschaftler und Juristen befaßt, allenfalls noch Soziologen,die Åber Immigration und Integration forschen. Die politischePhilosophie und die normative Theorie der Politik hingegenhaben zu diesen Themen reichlich wenig beigetragen. So istzwar der Begriff der »StaatsbÅrgerschaft« (citizenship) seit dergriechischen Antike einer der Grundpfeiler der abendl�ndi-schen Philosophie, doch ist die Frage, wer eigentlich »Staats-angehÇriger«, also Mitglied des Gemeinwesens sein soll undwarum, bis vor kurzem kaum untersucht worden.

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1 Dieses Vorwort ist eine revidierte und erweiterte Fassung des Vorworts zurzweiten englischen Ausgabe von The Rights of Others (Cambridge: Cam-bridge University Press 2005).

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Daß Themen wie StaatsangehÇrigkeit, Migration, Asyl undFlÅchtlingsstatus heute neu diskutiert werden, liegt zweifellosan dem enormen Ausmaß, das die Migration angenommen hat.Einer Sch�tzung der Vereinten Nationen zufolge wird die Zahlder Migranten, sollte die gegenw�rtige Entwicklung anhalten,in den n�chsten 40 Jahren um 40 Prozent steigen.2 Dennochgeht die politische Philosophie von der Pr�misse aus, daß die»Immigration«, wie John Rawls formuliert hat, ein Problem der»nicht-idealen«, also einer normativen BegrÅndung entzoge-nen, politischen Theorie sei.3 In diesem Buch geht es mir inerster Linie darum, solche Pr�missen zu hinterfragen und An-s�tze zu einer normativen Theorie der ZugehÇrigkeitsgerech-tigkeit (just membership) zu entwickeln.

Zu meiner Freude haben diese �berlegungen einen gewissenWiderhall gefunden. So wurde The Rights of Others 2005 mitdem Ralph Bunche-Award der American Political Science As-sociation ausgezeichnet und erhielt 2004 den Best Book inSocial Philosophy-Award der North American Society forSocial Philosophy. Das Buch wurde ins Spanische, Italienische,TÅrkische, Niederl�ndische und Chinesische Åbersetzt; diedeutsche �bersetzung liegt hiermit vor.

Bei zwei Symposien hatte ich Gelegenheit, mit den Kritikernder hier vertretenen Thesen zu diskutieren. Die Sitzungsberich-te des Symposiums der North American Society for Social Phi-losophy sind in Science, Technology and Social Justice, Hg. vonJohn Rowan (Social Philosophy Today Book Series, Bd. 22, Phi-losophy Documentation Center, 2007) nachzulesen; zudem hatdas European Journal of Political Theory in Band 6, Nr. 4 (Herbst2007), den Rechten der Anderen eine ganze Sektion gewidmet(siehe Benhabib 2007b).

8 Vorwort zur deutschen Ausgabe

2 United Nations: »Trends in total Migration Stock: The 2005 revision«,2006.

3 Eine ausfÅhrliche Diskussion des Rawlsschen Ansatzes findet sich imdritten Kapitel.

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Einen großen Platz in diesem Buch nehmen jene Entwicklun-gen in der Europ�ischen Union ein, die ich im Modell derdiversifizierten StaatsbÅrgerschaft (disaggregated citizenship)zusammenzufassen suche. Ich bin nach wie vor Åberzeugt,daß die in Europa zu beobachtenden gesellschaftlichen, wirt-schaftlichen und rechtlichen Trends auch in anderen Weltregio-nen anzutreffen sind (vgl. Benhabib 2007c). Dennoch habe ichmich bei der Untersuchung der Entwicklung individuellerRechte, insbesondere der Menschen- und BÅrgerrechte, aufdie EU und deren Politik im Umgang mit UnionsbÅrgern,DrittstaatsangehÇrigen, Asylanten und FlÅchtlingen konzen-triert. Um den jÅngsten Entwicklungen Rechnung zu tragen,vor allem der Ablehnung des Entwurfs zu einer Europ�ischenVerfassung im Sommer 2005 sowie der Nichtzustimmung derIren zum nachfolgenden Vertrag von Lissabon im Jahr 2008,habe ich Teile des vierten Kapitels Åberarbeitet. Jeder Wissen-schaftler, der sich mit der EU befaßt, weiß, daß er es mit einemhochgradig ver�nderlichen Untersuchungsgegenstand zu tunhat, dessen Entwicklung auch bei grÇßter Sorgfalt kaum vor-hersagbar ist.

Mit der Analyse der »Kopftuchaff�ren« in Frankreich undDeutschland im fÅnften Kapitel verh�lt es sich anders. Wennsich hier Åberhaupt etwas ge�ndert hat, dann nur insofern, alsdie Problematik des Islam in Europa und insbesondere die Fra-ge der Rechte muslimischer Frauen inzwischen noch wichtigergeworden sind als zur Zeit der Niederschrift dieses Buches.Neue politische Entwicklungen in der TÅrkei und die wieder-holte Weigerung des Europ�ischen Gerichtshofs fÅr Menschen-rechte, das Verbot des Tragens von KopftÅchern fÅr menschen-rechtswidrig zu erkl�ren, haben fÅr eine anhaltende Diskussiondieser Themen in der �ffentlichkeit gesorgt.

Es freut mich besonders, daß neben Die Rechte der Anderenim selben Jahr auch Kosmopolitismus und Demokratie (Benha-bib 2008b) auf deutsch erscheint. Dieser Band enth�lt unteranderem zwei Vorlesungen, in denen ich 2004 im Rahmender Tanner Lectures an der University of California meine hier

9Vorwort zur deutschen Ausgabe

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versammelten Analysen der Rechte der Anderen aufgegriffenund in mancherlei Hinsicht weiterentwickelt habe. Von beson-derem Interesse fÅr die Leser des vorliegenden Buchs dÅrfteauch meine dort dokumentierte Debatte mit Jeremy Waldron,Bonnie Honig und Will Kymlicka sein, die um die Fragen derRechte der Anderen, des Kosmopolitismus, der Demokratieund StaatsbÅrgerschaft kreist und zeigt, wie intensiv und lei-denschaftlich diese Themen heute diskutiert werden.

Ich bedanke mich bei Frank Jakubzik fÅr die pr�zise �ber-setzung von Die Rechte der Anderen und bei Nils Paul fÅr diesorgf�ltige Lektoratsarbeit.

Berkshires, Massachusettsim Juni 2008

10 Vorwort zur deutschen Ausgabe

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Danksagung

Dieses Buch enth�lt die Åberarbeitete und erweiterte Fassungder John Robert Seeley-Vorlesungen, die ich vom 27. April bis2. Mai 2002 auf Einladung der University of Cambridge imKing’s College hielt. Ich danke Gareth Stedman Jones und MiriRubin fÅr ihre großzÅgige Gastfreundschaft w�hrend dieserTage. Die Einladung zu diesen Vorlesungen habe ich QuentinSkinner zu verdanken. Susan James, Istvan Hont, OnoraO’Neill, John Dunn, Richard Tuck, Emma Rothschild, AmartyaSen und Andrew Kuper haben meinen Aufenthalt in Cambridgemit ihren Fragen und Hinweisen enorm bereichert.

Ich habe die Ideen, mit denen sich dieses Buch befaßt, beivielen Veranstaltungen vorgestellt, eine der denkwÅrdigsten wardie Diskussion, die im Februar 2002 im Legal Theory Colloqui-um der Yale Law School stattfand. Ich danke dem Dekan An-thony Kronman, der die Diskussion leitete, und meinen Kolle-gen Bruce Ackerman, Owen Fiss, Paul Kahn, Judith Resnik undReva Siegel fÅr die anschließenden Gespr�che und Hinweise.Besonderen Dank schulde ich Judith Resnik, die mich mit In-formationen zum internationalen Recht versorgte.

Im Oktober 2003 trug ich Teile des Buches im Rahmen derPriestley-Vorlesungen an der University of Toronto vor. Ichdanke meinen Kollegen Joseph Carens, Melissa Williams, Au-drey Macklin und Jennifer Nedelsky fÅr ihre pr�gnanten Kom-mentare.

Zu danken habe ich außerdem Veit Bader, Rainer BaubÇck,Jay Bernstein, Richard J. Bernstein, James Bohman, Nancy Fra-ser, Morris Kaplan, Riva Kastoryano, John McCormick, MaxPensky, Ulrich Preuss und Sayres Rudy fÅr Anregungen undHinweise zu Kant, Arendt und der Europ�ischen Union. Be-sonders dankbar bin ich Carolin Emcke fÅr ihre Anmerkungenzum dritten und fÅnften Kapitel sowie Nancy Kokaz fÅr ihre

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klugen Einw�nde gegen meine Kritik an Rawls. Ein großer DankgebÅhrt auch Willem Maas fÅr die zahlreichen Hinweise zumStaatsbÅrgerrecht in der Europ�ischen Union und vor allem fÅrseine Hilfe beim Verfassen des vierten Kapitels. Ich danke Mel-vin Rogers, der die Bibliographie erstellte und mir bei denNachweisen half, fÅr seine unsch�tzbare UnterstÅtzung. DavidLeslie war mir eine große Hilfe bei der Fertigstellung des Manu-skripts.

Ein besonderes Wort des Danks gebÅhrt meiner Familie,meiner Tochter Laura und meinem Mann Jim Sleeper, die michvon Boston nach Amsterdam, London, Istanbul und Connecti-cut begleitet haben, w�hrend das Buch im Laufe vieler Reisen,GrenzÅbertritte und Paßkontrollen Form annahm.

AuszÅge aus dem ersten Kapitel erschienen 2001 unter demTitel »Of Guests, Aliens and Citizens: Rereading Kant’s Cosmo-politan Right« in William Rehg und James Bohman (Hg.): Plu-ralism and the Pragmatic Turn: The Transformation of CriticalTheory. Essays in Honor of Thomas McCarthy, Cambridge,Mass.: MIT Press. Teile des zweiten Kapitels wurden unterdem Titel »Political Geographies in a Changing World: Arend-tian Reflections« in Social Research 69 (2), 2002, S. 539–556, ver-Çffentlicht; Teile des vierten Kapitels enth�lt der Aufsatz »Trans-formations of Citizenship: The Case of Contemporary Europe«,in: Government and Opposition 37 (4), 2002, S. 439–465. Zu-gleich greifen meine Seeley-Vorlesungen auf �berlegungenaus meinen unter dem Titel Transformations of Citizenship:Dilemmas of the Nation-State in the Era of Globalization, Am-sterdam: Van Gorcum 2001, erschienenen Spinoza-VorlesungenzurÅck, die sie erweitern, revidieren und fortfÅhren.

Schließlich danke ich Richard Fisher, Karen Anderson Howesund Alison Powell von der Cambridge University Press. Es warein VergnÅgen, mit ihnen zu arbeiten.

12 Danksagung

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Einleitung

In diesem Buch untersuche ich die Grenzbereiche der politi-schen Gemeinschaft, indem ich mich der Frage der politischenZugehÇrigkeit widme. Politische ZugehÇrigkeit (political mem-bership) ist nach meinem Verst�ndnis der Status, der aus eineran bestimmten Prinzipien und Praktiken orientierten Einbin-dung von Ausl�ndern und Fremden, Immigranten und Neuan-kÇmmlingen, FlÅchtlingen und Asylsuchenden in die bestehen-de politische Praxis resultiert. Politische Grenzen definieren dieeinen als Mitglieder, die anderen als Fremde. Der ZugehÇrig-keitsstatus bestimmt wiederum die Ein- und AusreisemÇglich-keiten, den gesellschaftlichen Zugang, die MitsprachemÇglich-keiten und die Rechte eines Menschen. Der moderne National-staat hat zur Regelung der ZugehÇrigkeit eine HauptkategorieeingefÅhrt: die StaatsbÅrgerschaft. Inzwischen leben wir jedochin einer Zeit, in der die Souver�nit�t dieser Staatsform brÇckeltund sich das institutionalisierte Konzept des »StaatsbÅrgers«zunehmend auflÇst. Es sind neue Formen der ZugehÇrigkeitentstanden. Infolgedessen sind die Grenzen der politischen Ge-meinschaft, wie sie vom nationalstaatlichen System etabliertwurden, keine ad�quate Basis der ZugehÇrigkeitsregelung mehr.

Bislang findet die Frage der politischen ZugehÇrigkeit kaumBeachtung im nationalen und internationalen Recht. Wie dienationalstaatlichen Grenzlinien waren auch die In- und Exklu-sionsmechanismen zur Regelung der politischen ZugehÇrigkeitunsichtbar und entzogen sich somit einer theoretischen �ber-prÅfung und Analyse. Meiner Ansicht nach sind aber grenz-Åberschreitende Migration und die von ihr aufgeworfenenkonstitutionellen und politischen Probleme von nicht zu Åber-sch�tzender Bedeutung fÅr die zwischenstaatlichen Beziehun-gen – und damit auch fÅr eine normative Theorie der globalenGerechtigkeit.

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Gleichwohl haben sich die jÅngeren EntwÅrfe zu einer Theo-rie der internationalen und globalen Gerechtigkeit zum ThemaMigration merkwÅrdig bedeckt gehalten (vgl. Pogge 1992,Buchanan 2000, Beitz [1979] 1999 und 2000). Obwohl viele Au-toren staatszentrische Sichtweisen kritisieren, haben sie das Fun-dament des Staatszentrismus, also das Recht der Staaten, ihreGrenzen zu Åberwachen und Ausl�nder und Eindringlinge,FlÅchtlinge und Asylsuchende fernzuhalten, nicht in Frage ge-stellt. Die �berwachung der Ein- und Ausreise ist ein zentralesElement staatlicher Souver�nit�t. Jedes Bestreben um ein »post-westf�lisches« Souver�nit�tsmodell (Buchanan 2000 und 2001)ist daher sinnlos, solange es nicht auch die normative Regulie-rung territorialer GrenzÅberschreitungen miteinbezieht. Ausphilosophischer Sicht wird an der transnationalen Migrationaußerdem das konstitutive Dilemma freiheitlicher Demokratiensichtbar: der Widerspruch zwischen souver�ner Selbstbestim-mung einerseits und der Einhaltung universeller Menschenrech-te andererseits. Wie ich zeigen werde, lassen sich die Praktiken,mit denen die ZugehÇrigkeit zu staatlichen Gebilden bestimmtwird, am besten anhand dieser beiden Perspektiven verstehen.

H�ufig besteht nicht nur ein Spannungsverh�ltnis, sondernein offener Widerspruch zwischen dem Bekenntnis zu denMenschenrechten und der Wahrung staatlicher Souver�nit�t,zu der die Kontrolle der Grenzen und die quantitative undqualitative �berwachung des Zustroms von EinreisewilligengehÇren. FÅr die daraus erwachsenden Dilemmata gibt es keineeinfachen LÇsungen. Ich werde weder das Ende des National-staats noch ein WeltstaatsbÅrgertum ausrufen. Vielmehr werdeich anhand der auf Kant zurÅckgehenden Idee des kosmopoli-tischen FÇderalismus zeigen, daß die Zuerkennung der BÅrger-rechte eine Voraussetzung fÅr die Loyalit�t gegenÅber einerDemokratie und ihren Institutionen ist, wobei letztere jedochnicht unbedingt solche des Nationalstaats sein mÅssen. Eher imGegenteil: denn w�hrend die Institution der StaatsbÅrgerschaftin AuflÇsung begriffen ist (vgl. das 4. Kapitel) und die national-staatliche Souver�nit�t zunehmend unter Druck ger�t, entste-

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hen sub- und supranationale R�ume mit demokratischen Or-ganen und PartizipationsmÇglichkeiten. Sie sollten nicht an-stelle der bestehenden Regierungsformen treten, sondern nebenihnen ausgebaut werden. Es ist wichtig, die Forderungen derdort entstehenden demokratischen Gruppierungen einschließ-lich ihres unterschiedlichen kulturellen, rechtlichen und kon-stitutionellen Selbstverst�ndnisses ernst zu nehmen; zugleichsollten aber auch ihre Bindung an die aufkommenden kosmo-politischen Rechtsnormen gefestigt werden.

Meine �berlegungen unterscheiden sich damit von den jÅn-geren neokantianischen Theorien der internationalen Gerech-tigkeit, die sich mehr mit der Verteilung von Ressourcen undRechten als mit der Frage der StaatsbÅrgerschaft befassen. Mei-nes Erachtens l�ßt sich eine kosmopolitische Gerechtigkeits-theorie nicht auf Fragen der globalen Verteilungsgerechtigkeitbeschr�nken, sie muß sich darÅber hinaus mit der ZugehÇrig-keitsgerechtigkeit befassen. Zu diesem Konzept gehÇrt, daßFlÅchtlingen und Asylsuchenden die Einreise aus moralischenGrÅnden nicht verwehrt werden darf; daß Grenzen grunds�tz-lich fÅr Immigranten durchl�ssig sein mÅssen; daß die Entzie-hung der StaatsangehÇrigkeit und der bÅrgerlichen Rechte un-zul�ssig ist und daß jedem Menschen »das Recht, Rechte zuhaben«, zuerkannt wird, das heißt, eine legale Person zu sein,die ungeachtet ihrer StaatsangehÇrigkeit unver�ußerlicheRechte besitzt. Niemand darf aufgrund seiner (ausl�ndischen)StaatsangehÇrigkeit seiner grundlegenden Rechte beraubt wer-den. ZugehÇrigkeitsgerechtigkeit verlangt außerdem, daß jederAusl�nder Anspruch auf EinbÅrgerung hat, sofern er bestimmteVoraussetzungen erfÅllt. Ein dauerhafter Ausl�nderstatus istnicht nur mit einem freiheitlich-demokratischen Gemein-schaftsverst�ndnis unvereinbar, er stellt Åberdies auch eine Ver-letzung grundlegender Menschenrechte dar. Das Recht auf Zu-gehÇrigkeit zu einem staatlichen Gebilde muß dabei durchPraktiken institutionalisiert werden, die niemanden diskrimi-nieren oder ausschließen, deren Regeln und DurchfÅhrungtransparent sind, und deren Verletzung durch Staaten oder

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staats�hnliche Organe vor Gericht angefochten werden kann.Die bisherige Doktrin der staatlichen Souver�nit�t, bei der Zu-erkennung bzw. Verlust der StaatsangehÇrigkeit und der BÅrger-rechte allein Sache des Souver�ns und damit der �berprÅfungdurch internationale Gerichte und Verfassungsgerichtsbarkeitentzogen war, muß einer �berprÅfung unterzogen werden.

Die Krise der staatlichen Territorialit�t

Die Frage staatlicher Grenzen und ZugehÇrigkeit hat vor allemdeshalb an Bedeutung gewonnen, weil das »westf�lische Mo-dell« staatlicher Souver�nit�t aus vielen GrÅnden in der Krisesteckt.4 Das westf�lische Modell geht davon aus, daß eine ein-heitliche staatliche Autorit�t unangefochtene Jurisdiktion Åberein definiertes Territorium ausÅbt. Die praktische und norma-tive Relevanz dieses Modells wird durch die aufkommende glo-bale �konomie in Frage gestellt, durch freie Kapital-, Finanz-und Arbeitsm�rkte, durch die Internationalisierung im Zusam-menhang mit RÅstungs-, Kommunikations- und Informations-technologien, die inter- und transnationalen kulturellen Netz-werke und elektronischen Foren sowie durch die wachsendeBedeutung sub- und transnationaler politischer Akteure. Infol-ge der Globalisierung mÅssen administrative und materielleStaatsaufgaben zunehmend in Kontexten erfÅllt werden, dieder einzelne Staat kaum noch beeinflussen kann. Der National-staat ist zu klein, um die in seiner neuen Umgebung entstehen-den Çkonomischen, Çkologischen, immunologischen und in-formationellen Probleme zu lÇsen; zugleich ist er zu groß, umden Bestrebungen identit�tsgetriebener sozialer und regionali-stischer Bewegungen gerecht zu werden. Unter diesen Umst�n-den ist Territorialit�t zu einer anachronistischen Form der Ab-

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4 Stephen Krasner (1999) bezweifelt die historische Dominanz dieses Mo-dells. Meiner Ansicht nach steht jedoch seine normative Geltung zumin-dest bei der Ordnung zwischenstaatlicher Beziehungen außer Frage.

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grenzung materieller Funktionen und kultureller Identit�tengeworden. Trotz dieses Zusammenbruchs traditioneller Souve-r�nit�tskonzepte wird aber das territoriale Monopol im Bereichder Einwanderungspolitik und des StaatsbÅrgerrechts ungebro-chen aufrechterhalten.

Lebten im Jahr 1910 etwa 33 Millionen Migranten außerhalbihrer Heimatl�nder, so waren es im Jahr 2000 bereits 175 Mil-lionen. Im Jahr 2005 waren es nach jÅngsten Sch�tzungenrund 191 Millionen Migranten.5 Zwischen 1910 und 2000

wuchs die WeltbevÇlkerung von 1,6 auf 5,3 Milliarden Men-schen an, verdreifachte sich also etwa (Zlotnik 2001, S. 227).Die Zahl der Migranten stieg im Lauf derselben neunzig Jahrebeinahe um das Sechsfache. �berraschenderweise entf�lltmehr als die H�lfte dieses Zuwachses auf die letzten dreiein-halb Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, die Jahre von 1965 bis2000. In dieser Zeit Åberschritten 75 Millionen Menschen zwi-schenstaatliche Grenzen, um sich in anderen L�ndern nieder-zulassen (United Nations, Department of Economic and So-cial Affairs 2002).

W�hrend das Tempo der Migration in der zweiten H�lfte des20. Jahrhunderts zugenommen hat, ist auch die Not der FlÅcht-linge grÇßer geworden. Weltweit gibt es etwa 20 MillionenFlÅchtlinge, Asylsuchende und Opfer von Zwangsumsiedlun-gen. Die reichen L�nder Europas und der nÇrdlichen Hemi-sph�re sehen sich einer wachsenden Zahl von Migranten gegen-Åber, aber es sind vorwiegend die L�nder des SÅdens wie derTschad, Pakistan oder Inguschetien, in die HunderttausendeZuflucht vor Kriegen in den Nachbarl�ndern Zentralafrikani-sche Republik, Afghanistan und Tschetschenien suchen (Rieff2003). Eine Beobachterin der globalen MigrantenstrÇme be-merkt zu Recht: »In den letzten einhundert Jahren stand dieinternationale Migration nicht selten im Mittelpunkt der gro-ßen Ereignisse, die das Antlitz der Welt ver�ndert haben. In denersten zehn Jahren des 20. Jahrhunderts nahm die transatlanti-

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5 MPI Data Hub, siehe www.migrationinformation.org; UN (2002).

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sche Migration ein beispielloses Ausmaß an, in seiner letztenDekade erreichte die Migration aus den Entwicklungsl�ndernin die Industriel�nder und aus den Ostblockl�ndern in denWesten einen HÇhepunkt« (Zlotnik 2001, S. 257).

Auch wenn man diese Entwicklungen ernst nimmt, mußman aus ihnen keineswegs das »Ende des Nationalstaats« her-auslesen. Die Ironie der gegenw�rtigen politischen Verh�ltnisseliegt darin, daß die Souver�nit�t des Staates, obwohl in Çkono-mischer, milit�rischer und technischer Hinsicht weitgehenderodiert, noch immer als unverzichtbar gilt, und daß die natio-nalen Grenzen, obwohl sie immer durchl�ssiger werden, nochimmer der Abwehr von Ausl�ndern und Eindringlingen dienen.Die Åberkommenen politischen Strukturen mÇgen an Kraftverloren haben, doch neue, globalisierte Formen der Politiksind noch nicht in Sicht.

Insofern geht es uns wie dem Wanderer, der versucht, sich inunbekanntem Terrain mit einer uralten und fÅr andere Zweckegezeichneten Karte zurechtzufinden. W�hrend sich das Ter-rain, auf dem wir uns bewegen, also die globale Staatenge-meinschaft, ver�ndert hat, ist unsere normative Landkartedie alte geblieben. Zwar besitze auch ich keine neue Karte,die die alte ersetzen kÇnnte, doch ich hoffe, zu einem besserenVerst�ndnis der hervorstechenden kartographischen IrrtÅmerund der AbgrÅnde des unbekannten Territoriums beizutragen,in dem wir uns bewegen. Diese neue Landschaft ist vor allemdurch wachsende normative Inkongruenzen zwischen interna-tionalen Menschenrechtsnormen – vor allem wenn sie die»Rechte der Anderen«, d. h. Immigranten, FlÅchtlinge, Asylsu-chende betreffen – und dem Festhalten an territorialer Souve-r�nit�t gepr�gt.

Eine internationale Menschenrechtsordnung

Seit der Allgemeinen Erkl�rung der Menschenrechte (1948) sindeine Reihe weiterer einschl�giger internationaler Abkommen in

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Kraft getreten.6 So unterliegt die grenzÅberschreitende Migra-tion insbesondere von FlÅchtlingen und Asylsuchenden heuteeiner internationalen Menschenrechtsordnung. Zu ihr z�hle ichalle globalen und regionalen Rechtsordnungen, die sich aufMenschenrechtsabkommen oder herkÇmmliches internationa-les Recht sowie internationales »Soft Law« beziehen (d.s. inter-nationale �bereinkÅnfte oder Leitlinien, die nicht rechtsver-bindlich sind und deshalb nicht unter die Wiener Vertrags-rechtskonvention fallen) (Neuman 2003).

Diese »internationale Menschenrechtsordnung« gewinnt inmindestens drei miteinander zusammenh�ngenden Bereichenan Bedeutung.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit,VÇlkermord und Kriegsverbrechen

Der Begriff des Verbrechens gegen die Menschlichkeit, der erst-mals von den Alliierten Anklagevertretern in den NÅrnbergerKriegsverbrecherprozessen juristisch verwendet wurde, unter-

19Einleitung

6 Dazu z�hlen u.a. der Internationale Pakt Åber bÅrgerliche und politischeRechte (1976; die Jahreszahlen geben jeweils den Zeitpunkt des Inkraft-tretens an), der Internationale Pakt Åber wirtschaftliche, soziale undkulturelle Rechte (1976), das Internationale �bereinkommen zur Besei-tigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1969), das �bereinkom-men zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (1981), dasUN-�bereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschlicheoder erniedrigende Behandlung oder Strafe (1987) sowie das �berein-kommen Åber die Rechte des Kindes (1990), deren Einhaltung vom jeweilszust�ndigen UN-Ausschuß Åberwacht wird (Neuman 2003). Die GrÅn-dung der Europ�ischen Union ging mit der Formulierung der Europ�i-schen Menschenrechtskonvention und der GrÅndung des Europ�ischenGerichtshofs (EuGH) einher. Die Europ�ische Konvention zum Schutzder Menschenrechte und Grundfreiheiten, der auch Nicht-EU-Mitgliederbeigetreten sind, erlaubt den BÅrgern der Unterzeichnerstaaten, sich mitihren Klagen an den Europ�ischen Gerichtshof fÅr Menschenrechte zuwenden. Dem entsprechen auf dem amerikanischen Kontinent das Inter-American System for the Protection of Human Rights und der Inter-American Court of Human Rights (Jacobson 1997, S. 75).

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stellt, daß Vertreter des Staats ebenso wie Privatpersonen imUmgang mit anderen Menschen bestimmte Normen einhaltenmÅssen, auch und vor allem bei gewaltsamen Auseinanderset-zungen und im Krieg. Als Verbrechen gegen die Menschlichkeitgelten »im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischenAngriffs gegen eine ZivilbevÇlkerung« vollzogene ethnischeS�uberungen, Massenhinrichtungen, Vergewaltigungen, dasFoltern bzw. die »grausame und ungewÇhnliche« Bestrafungdes Feindes u. a.m. Wer sich solcher Taten schuldig machtbzw. fÅr sie verantwortlich ist, macht sich auch dann strafbar,wenn er als Staatsbediensteter oder Untergebener »auf Befehl«gehandelt hat. Der Refrain des Soldaten und des BÅrokraten –»Ich habe nur meine Pflicht getan« – ist kein akzeptabler Grundmehr fÅr die Aufhebung der Menschenrechte des Anderen –auch und vor allem dann nicht, wenn dieser Andere ein Feindist.

Die kontinuierliche Weiterentwicklung dieser Kategorien desinternationalen Rechts, vor allem die Erweiterung ihres Gel-tungsbereichs von internationalen bewaffneten Konflikten aufBÅrgerkriege und gegen die eigenen BÅrger gerichtete Aktionenstaatlicher Organe, hat zur Entstehung des Konzepts der »hu-manit�ren Intervention« beigetragen.7

20 Einleitung

7 W�hrend der NÅrnberger Prozesse wurde der Begriff »Verbrechen gegendie Menschlichkeit« erstmals fÅr im Rahmen eines internationalen be-waffneten Konflikts begangene Verbrechen verwendet (UN 1945, Art. 6

[c]; vgl. Ratner und Abrams [1997] 2002, S. 26-45; Schabas 2001, S. 6 f.).Unmittelbar nach den NÅrnberger Prozessen wurde der VÇlkermord indie Reihe der Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufgenommen, erhieltaber einen eigenen juristischen Status, der in Artikel II der KonventionÅber die VerhÅtung und Bestrafung des VÇlkermordes (1948) kodifiziertwurde. Demnach begeht »VÇlkermord«, wer »in der Absicht [. . .], einenationale, ethnische, rassische oder religiÇse Gruppe als solche ganz oderteilweise zu zerstÇren«, Mitglieder dieser Gruppe tÇtet oder der GruppeLebensbedingungen oder andere Maßnahmen aufzwingt, die auf ihreAusrottung abzielen, wie es etwa bei den sogenannten »ethnischen S�ube-rungen« der Fall war. Der VÇlkermord ist das schlimmste der Verbrechengegen die Menschlichkeit. Er zielt auf die ZerstÇrung der Vielfalt mensch-lichen Lebens, der unterschiedlichen Formen des Menschseins ab; es