Suhrkamp Verlag · Sex Pistols: Anarchy In The U.K. 10. 11 Teil Eins Wie schwarze Damenunterwäsche...

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Leseprobe Zhadan, Serhij Anarchy in the UKR Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe © Suhrkamp Verlag edition suhrkamp 2522 978-3-518-12522-9 Suhrkamp Verlag

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Leseprobe

Zhadan, Serhij

Anarchy in the UKR

Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe

© Suhrkamp Verlag

edition suhrkamp 2522

978-3-518-12522-9

Suhrkamp Verlag

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»Vergiß die Politik, lies keine Zeitung, geh nicht ins Netz, verweigeredeine Stimme« – so beginnt der »Linke Marsch«, ein Kapitel aus SerhijZhadans zweitem Prosaband, dem ein Song der Sex Pistols,

Anarchy InThe

U.K.

, als Motto dient. Zhadan ist dabei, sich zur stärksten Stimme derjungen ukrainischen Literatur zu entwickeln – und zum Antipoden vonJuri Andruchowytsch. Auch Zhadans Ich-Erzähler ist ständig im Zugoder in bizarren Landschaften unterwegs. Doch es zieht ihn nicht zu denRuinen der habsburgischen Vergangenheit, sondern in die Industrie-brachen des Donbass im Südosten des Landes – an die Orte des von denSowjets zerschlagenen Anarchokommunismus. Niemand scheint sich anNestor Machno zu erinnern. Anarchismus, das gab es nie. Bis er imNovember 2004 in Charkiw, zu Füßen des »Scheiß-Lenin-Denkmals«,wiederaufersteht.

Serhij Zhadan

, 1974 in Starobilsk geboren, publizierte acht Lyrikbände(darunter

Geschichte der Kultur zu Anfang des Jahrhunderts

(es 2455))und schreibt neuerdings Prosa. Zuletzt erschien sein Roman

DepecheMode

(es 2494).

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Foto: Susanne Schleyer

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Serhij Zhadan

Anarchy in the

UKR

Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe

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Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel

Anarchy in the

UKR

im Verlag Folio, Charkiw.

Die Übersetzung wurde gefördert vom Literarischen Colloquium Berlin mit Mitteln des Auswärtigen Amtes und der Senatsverwaltung für Wissenschaft und Kultur, Berlin

edition suhrkamp 2522Erste Auflage 2007© Serhij Zhadan 2005© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2007Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Satz: Jung Crossmedia Publishing, LahnauDruck: Druckhaus Nomos, SinzheimUmschlag gestaltet nach einem Konzeptvon Willy Fleckhaus: Rolf StaudtPrinted in Germany

ISBN

978-3-518-12522-9

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I am an antichristI am an anarchistDon’t know what I wantBut I know how to get itI wanna destroy passerbyCause IWanna be anarchyNo dogs body

Sex Pistols: Anarchy In The

U.K.

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Teil Eins

Wie schwarze Damenunterwäsche

1. Eisenbahnunfälle.

Anfang August holte mich Ljoschkain Charkiw ab, und wir haben dann auf dem Bahnhof gleichzwei Fahrkarten für den Nachtzug genommen. Es fing anzu regnen, der Bahnhof war halb leer, der Asphalt auf denBahnsteigen erwärmte sich den ganzen Tag nicht. Irgendwiehaben wir die Zeit bis zum Abend totgeschlagen, die zwölfStunden in der Stadt rumgebracht, dann offener Schlaf-wagen dritter Klasse und die tief hängenden Sterne über denWaggons wie Salz auf den Rücken der Fische. Den Zugkannte ich seit meiner Kindheit, mein erster Zug, die ersteEisenbahnerfahrung sozusagen, ich erinnere mich bis heutean die Pritschen, an die sowjetischen Bettlaken, naß wie ein-geweichtes Papier, an die verqualmten Tamburen, schwar-ze, verschneite Felder zogen vorbei, eine Landschaft wieschwarze Damenunterwäsche, es war Vorfrühling, und ichfuhr dieselbe Strecke. Seither ist viel Zeit vergangen, dieSchaffner sind alt geworden, mein guter alter »Sumy-Luhansk« zog Abend für Abend an den östlichen Grenzenentlang, manchmal zog ich mit ihm. Wenn es jemanden in-teressierte, könnte ich eine Menge erzählen über die Mor-phiumengel aus den Schlafwagenabteilen, die sich an denBahnübergängen mit den frisch erbeuteten Geldsäckelnund Klunkern aus rotem Zigeunergold aus dem Staubmachten, über die Knastis, die sich auf der Heimfahrt einenSchuß setzten und alle Mitreisenden mit gepanschtem pol-nischen Fusel abfüllten, über die Hilfsschaffner, die sich

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schon betrunken hatten, bevor wir überhaupt losfuhren,weshalb ich fürs Öffnen der Türen zuständig war, damit dienervösen Mitternachtspassagiere den Ausstieg in ihren na-menlosen Bergarbeiterorten nicht verpaßten, kurz, wennsich jemand für den Alltag und die heldenhafte Arbeit mei-ner Landsleute interessierte, würde ich natürlich Auskunftgeben, aber lassen wir das.

So vor zehn Jahren bin ich oft schwarzgefahren, ichmußte nur im Blick haben, wann im Nachbarwagen dieKontrolle kam, die Schaffner kontrollierten natürlich niegleichzeitig, irgend jemand hinkte immer hinterher, und sobrauchte man nur in den Nachbarwaggon zu gehen unddann zurückzukommen. Seitdem hat sich kaum etwas ver-ändert, dasselbe Publikum, dieselben frustrierten Gesichter,derselbe Trott, so weit ich weiß, haben die Eisenbahnerden höchsten Prozentsatz an Geschlechtskrankheiten, keinWunder, bei dem, was die saufen.

Zurück zu unserem guten alten »Sumy-Luhansk«, Fahr-karten bis Swatowe, Plätze in einem ätzenden offenenSchlafwagen, uns gegenüber ein Mädchen, das gleich einGespräch anfängt. Aber worüber kann man mit uns schonreden? Ich weiß schon lange, daß ich Schwachsinn fasele,und wenn mich jemand anspricht, find ich es dann selbstoberpeinlich, also höre ich lieber zu. Das Mädchen sahsportlich aus, das heißt, nein, Trainingsanzug, Muskelnoder so meine ich nicht, was konnte die schon für Muskelnhaben! Hatte sie natürlich nicht, sie sah einfach sportlichaus, war echt sympathisch und absolut nicht auf unsere Ge-sprächsbeteiligung angewiesen, sie redete ohne Punkt undKomma, wir warfen nur ab und zu etwas ein und boten ihransonsten Wodka an. Es stellte sich heraus, daß sie an derPolizeihochschule studiert, um Polizistin zu werden, dort

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geht es zu wie in der Armee, die werden ordentlich ge-schliffen, mit Privatleben, das heißt Sex, ist da nicht viel,Schminken ist verboten. Ganz in Ordnung, das mit demSchminken, fand ich, wenn die Polizisten auch noch anfan-gen sich zu schminken, ist ihr gesellschaftliches Ansehen,das ohnehin ramponierte, vollends im Arsch. Und das mitdem Sex will auch gut überlegt sein, durch Sex entstehenKinder, und was sollen wir mit den ganzen Polizisten? Ichhing meinen Gedanken nach, sie war wirklich nett, und ichwollte sie nicht beleidigen, obwohl mir das mit dem Sexkeine Ruhe ließ. Na ja, dachte ich, vielleicht mischen sieBrom ins Essen, damit die Polizisten in den Kasernen gutschlafen und die Exerzierübungen nicht stören; machtBrom eigentlich abhängig? Wahrscheinlich schon, sichersetzen sie die meisten dieser netten, unverdorbenen Studen-tinnen auf Brom, und das werden sie dann ihr Leben langnicht los, sicher ist das für viele ein persönliches Drama, dakommt so ein Polizist vom Dienst nach Hause, läßt imKorridor seine frisch erbeuteten Skalps fallen, geht in dieKüche, verspeist ein üppiges Abendbrot, guckt seine Talk-Show, putzt sich ordentlich die Zähne, und ehe er ins Bettfällt, wo seine treue, kinderlose Frau auf ihn wartet, geht ernoch mal in die Küche, kippt sein Glas Wasser mit Brom,macht das Licht aus und klappt ab, ohne einen Gedanken anseine Pflichten vor Gott und den Menschen zu verschwen-den, an seine Frau schon gar nicht. Halb so tragisch, sagt dasMädchen, kriegen wir schon hin, so ist das Leben, mmh, sagich, aber was ist das denn für ein Leben, dieses ewige Ge-nerve, nein, antwortet sie, ich find das gut, ich hab Ferienund fahr jetzt heim nach Luhansk, und wo wollt ihr hin?

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Vor ungefähr einem Jahr habe ich in einem Interview gesagt,ich würde gern ein Buch über Anarchismus schreiben. Jetztweiß ich nicht mehr, warum ich das eigentlich gesagt habe,damals hatte ich nicht die geringste Lust, ein Buch über An-archismus zu schreiben, aber das ist ja noch kein Grund, esnicht zu schreiben. Irgend jemand muß schließlich auchdarüber schreiben, warum also nicht ich. Mein Ziel war klarund einfach – ich wollte die Orte aufsuchen, an denen dieukrainischen Anarchokommunisten am aktivsten gewirkthatten, und dann etwas dazu schreiben. Ich nahm meinenPresseausweis und überredete Ljoschka, mitzukommenund Fotos zu machen. Ljoschka nahm die Sache sehr ernstund stellte einen Haufen Fragen, was er denn lesen solle, umsich einzuarbeiten, keine Ahnung, sagte ich, lies Kropotkin.Oder laß es besser. Der Sommer ging zu Ende, das Wetterwurde schlechter, und irgendwann fuhren wir wirklich los.Ljoschka hatte mich, wie gesagt, in Charkiw abgeholt, undnun waren wir schon seit ein paar Stunden schlaflos in die-sem Zugabteil mit der rätselhaften Reisenden unterwegsund versuchten ihr zu erklären, wohin wir wollten, aber wirhatten keine Kraft und wußten auch nicht, wie wir es ihr er-klären sollten. Ihr die Theorie der anarchistischen Selbst-verwaltung darzulegen, traute ich mich nicht, was sollte sieauch damit, bei dem Brom und der Ausbildung, und vonmeiner Kindheit und den Dämonen zu erzählen, die hin undwieder zum Vorschein kommen, wäre zumindest merkwür-dig gewesen, was würde sie schon von meiner Kindheit be-greifen, wo sie nicht mal mit ihrer eigenen klarkam.

Manchmal mußt du einfach deinen Phantasien, zumin-dest den sympathischen, deiner inneren Stimme nachgeben,mußt ihre Ratschläge befolgen, wenn sie dir zum Beispielzuflüstern: Na los, fahr hin, du hast doch da mal gelebt, bist

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dort aufgewachsen, na ja, vielleicht nicht ganz genau dort,macht nichts, versuch wieder rauszukommen aus den Nie-derungen da, und dann sehen wir mal, ob dein Geist, deineErinnerung all die Wege wiederbeleben kann, die sich aufmerkwürdige und unglaubliche Weise über deine persön-liche Widerstandserfahrung gelegt haben, ab und zu mußtdu deine Dämonen auf Urlaub schicken, sie entsteigen oh-nehin Nacht für Nacht deinen Lungen wie Brieftauben ih-ren Schlägen und fliegen auf Strecken, die nur sie kennen;was hätte ich also dem Mädchen mit seinen Muskeln ant-worten sollen, he? Daß wir noch ein paar Stunden die glei-che Richtung fahren, wie ich das schon oft getan habe, unddaß ich irgendwann nachts, wenn der Zug nicht entgleistund uns alle unter seinen Trümmern begräbt, umsteige undweiterfahre; daß ich in die Stadt will, in der ich aufgewach-sen bin und auf die ich in letzter Zeit keinen Bock mehrhabe, daß ich Freunde treffen will, die irgendwo da auf michwarten; daß ich absolut nicht scharf bin auf was Neues, daßich einfach umsteige, von einem Zug in den nächsten, voneinem Bus in den nächsten, immer eine andere Strecke, im-mer eine andere Fahrkarte, und ab und zu aussteige, umwieder einmal festzustellen, daß sich nichts verändert hat,daß alles so ist wie früher, wie immer, in bester Ordnung;daß sich auch nichts verändern konnte, wenn du dich nichtverändert hast. Und auch davon muß ich mich überzeugen.Ich konnte nicht richtig erklären, wohin ich wollte, siewürde das nicht verstehen, denn dort, wo für sie der Zugstehenblieb, blieb für mich die Zeit stehen, und ich konntenur darauf warten, daß die Zeit sich wieder in Bewegungsetzte, mit angehaltenem Atem warten, um sie nicht zu ver-schrecken, und da ich den Weg nur zu gut kannte, wußte ichgenau, wie lange er dauert und wie er enden wird.

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An der nächsten Station stiegen wir aus und holten Bier.Es war ein Uhr nachts. Ich glaube, es regnete. Oder nicht?Keine Ahnung. Egal.

2. Die Strapazen des ukrainischen Trampens.

Es gibt meh-rere Möglichkeiten, halbwegs unbeschadet die 200 Kilo-meter von Charkiw in die kleine Stadt zurückzulegen, diedafür bekannt ist, daß dort seinerzeit Wolodymyr Myko-lajowytsch Sosjura, später ein gefeierter Dichter, nicht fest-genommen und in kleine, unansehnliche Stücke zerteiltwurde, wodurch der sowjetukrainischen Literatur bedeu-tende Werke erhalten geblieben sind, zum Beispiel Sosjurasunsägliche Memoiren. Es gibt also mehrere Möglichkeiten.Man könnte den Bus nehmen, das ist am einfachsten undbequemsten, kommt also für uns nicht in Frage. Weiter.Man könnte den Bummelzug nehmen und mehrmals um-steigen, zum Beispiel nachts auf dem merkwürdigen Bahn-hof Hrakowe, wo sich stundenlang keine Menschenseelezeigt, nur irgendwo links riesige Silos in den Himmel ragen,eine graue Multifunktionsanlage, öde Erinnerung an dieabgefuckte sowjetukrainische Landwirtschaft, dir bleibtnichts anderes übrig, als mitten in der Nacht auf die Stahl-brücke zu treten, die Gott weiß warum über den Bahn-steigen entlangführt, in den Himmel zu schauen und zuwarten, daß die Sonne oder sonst irgendwas auftaucht, undwenn die Sonne dann – so gegen fünf – wirklich auftaucht,siehst du plötzlich, wie sie ihre Strahlen bewegt, ganz vor-sichtig, wie eine Flunder, die über eine ferne, von Kadavernund gebrauchten Kondomen gesäumte Schnellstraße rollt,du schaust lange, sehr lange, so lange, bis ein Bummelzugkommt, drei Stunden vielleicht. Doch zur Schnellstraße.

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Man könnte auch trampen. Im Sommer ist das ganz prak-tisch, im Winter gefährlich. Aber auch im Sommer macht eskeinen großen Spaß, es fahren kaum Autos, zu Sowjetzei-ten, ja, da war hier richtig was los, an den Tankstellen wurdeLimonade verkauft, heute ist die Infrastruktur im Arsch,und obwohl man in den Kiosken am Straßenrand alles kau-fen kann bis hin zu Waffen und Drogen, ist das Leben ab-seits der Siedlungen traurig und kümmerlich, das ShowBusiness stirbt aus, die Autofahrer sind nervös, die Bewoh-ner der abgelegenen Dörfer sehen dich an wie einen Dow-nie, hier hält nicht mal eine Nutte, um dich mitzunehmen,bloß weg von den endlosen Sonnenblumenfeldern, denWartehäuschen am Straßenrand mit Blut- und Spermaspu-ren an den Wänden, zu den Menschen mit ihren Leben undLebensmittelläden, aber um die geht es gar nicht, wirklichnicht. Ich kenne diese Schnellstraße gut, unzählige abge-speicherte Erinnerungen an Petting in überhitzten Ikarus-Kabinen, an zerschmetterte Schädel und Blut auf demAsphalt, direkt an der Geschwindigkeitsbeschränkung, anblondes Frauenhaar auf deinen Schultern, das du sorgfältigabzupfst, als ihr fast schon am Ziel seid und sie gerade ein-geschlafen ist; die Pausen unterwegs sind immer hilfreichund willkommen, und wenn du von Charkiw nach Luhansktrampst, sind die Pausen überhaupt das Wichtigste, das Ei-gentliche, sie sind so lang und wiederkehrend, daß sie allesausfüllen – dich, deine Hoffnung und deine Hoffnungs-losigkeit. Einmal, es war ein heißer Sommer, trampte ich aufdieser Straße, wurde nachts an der merkwürdigen RaststätteHrakowe abgesetzt und stellte mich am Morgen an die leereFahrbahn mit Hundekadavern und den Spuren fremderLiebe; ich hatte Glück, irgendein Biker hielt, nahm mich guthundert Kilometer mit und setzte mich an der Wuslowa-

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Trasse ab. Und da fing es an. Ich wartete eine Stunde undging dann los, in meine Richtung. Die Luft war warm undstaubig und roch nach Wolfsmilch, so daß ich einfach los-laufen mußte, in so einer Luft kannst du nicht einfach ste-henbleiben und warten, bis jemand kommt, der in deineRichtung will und dich mitnimmt, du mußt einfach los,läufst über alle Kieselsteine dieser Welt, kommst an allenSonnenblumen dieses Erntejahres vorbei, die sich von dirabwenden, der Sonne zu. Ich muß mich loben, ich bin im-merhin fünfzehn Kilometer gelaufen, dann fiel ich ins Grasund schlief bis zum Abend. Ich kam gerade noch so an, woich hinwollte, aber, wie soll ich sagen, also, es gibt vieles inmeinem Leben, woran ich mich überhaupt nicht mehr erin-nere, und anderes, woran ich mich nicht erinnern will, aberdie Kieselsteine und die versifften Wartehäuschen, in die ichvor der Sonne flüchtete, die Provinzschönheit, die in einemHäuschen auf den Bus aus der Gegenrichtung wartete undmich ansah – daran werde ich mich immer erinnern. An derSchnellstraße gibt es ein paar Stellen, wo mir gleich einersteht, wenn ich nur dran denke. Kurz hinter Swatowe zumBeispiel ist so eine, an einer Kreuzung, wo mich an einemSeptembertag zufällige Fernfahrer abgesetzt haben, sie ha-ben mich rausgeschmissen und sind rechts abgebogen, ichstand zwischen den leeren Septemberfeldern, die eineWärme verströmten – wie das Blut eines aufgeschlitztenTiers, die Nächte waren schon kalt, aber tagsüber knallte dieSonne, ich war fast einen Tag lang unterwegs gewesen, undals ich an der Kreuzung ausstieg, hatte ich alles Schwarzeund Schwere des zurückgelegten Wegs aufgesogen; ichstand auf dem grauen Asphalt und hörte den Vögeln zu, wiesie über meinem Kopf kreischten, sich zu ihrem Flug nachSüden sammelten, und auf einmal wurde mir klar, daß ich,

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wenn ich lange, sehr lange stehenbliebe, hören könnte, wiedie Stimmen der Vögel leiser und leiser werden, bis sie ver-stummen, ganz und gar, und an ihre Stelle etwas anderestritt, Stille zum Beispiel.

Aber irgendwie habe ich es nie lange an einem Ort aus-gehalten, egal wie viele überraschende Anblicke sich mir inder Abenddämmerung oder im Morgennebel boten, wieviele verfallene Fabriken und überschwemmte Ortschaften,Mohnplantagen und Wehranlagen, Hafenkräne und herbst-liche Gebirgsketten vor mir auftauchten, weder auf Berg-gipfeln noch auf Mohnplantagen hat es mich lange gehalten,obwohl vielleicht gerade dort mein Platz ist, vielleichtmüßte ich genau das Stück Raum ausfüllen, das aufgrundmeiner Abwesenheit immer mehr fremden Sauerstoff, im-mer mehr fremdes Licht einsaugt und damit einen Luftzugin der fest gefügten Weltordnung auslöst, aber trotzdem, ichhalte nicht inne, der größte Fehler liegt darin, so tief wiemöglich in den Raum eindringen, ihn so genau wie möglichauf den Filmstills der Erinnerung festhalten zu wollen, ihnpausenlos mit eigenen Erfahrungen zu mischen, ohne an-zuhalten, denn bei jedem Halt könnte sich eine Falltür untermir öffnen, eine Geheimluke, von deren Existenz ich dieganze Zeit wußte, mich nur gefürchtet habe, hineinzu-schauen. Hielte ich inne, könnte ich feststellen, daß die Be-siedlung des Raumes, die Inbesitznahme der damit verbun-denen Erinnerung viel interessanter und faszinierender istals die bloße Anhäufung von Räumen und das endlose Ab-spulen von Erinnerungen. Je öfter du unterwegs anhältst, jelänger deine Pausen sind, desto größer ist die Chance,schließlich all die Details zu entdecken, die dir entgehen,wenn du nicht anhältst, das ist nicht einmal eine Frage desBlickwinkels, sondern der Geschwindigkeit deiner Bewe-

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gung, wenn ich anhielte, könnte ich entdecken, daß dasnicht einfach die Änderung meiner Vorstellung von derLandschaft ist, sondern eine Änderung der Landschaft unddamit auch meiner selbst.

Vor Jahren ist mein Bruder auf dieser Schnellstraße ver-unglückt. Er stieß mit irgendwelchen Yuppies zusammen,die auf seine Spur geraten waren, er hatte keine Chance, kamaber mit einem gebrochenen Bein davon, dafür war dasAuto reif für den Schrottplatz; immer wenn ich an der Stellevorbeikomme, denke ich, es müßte doch noch Spuren ge-ben, schwarze Reifenspuren auf dem Asphalt, den einge-drückten Metallzaun, die zerfetzte Jeans im Straßengraben,Benzingeruch, Blut, da muß doch auch Blut sein, wenn esder Regen nicht weggewaschen hat, wahrscheinlich hat er esweggewaschen, mit Sicherheit.

Mein Bruder hatte schon etliche Unfälle, er fuhr alle seineMotorräder zu Schrott, es waren einige, er stürzte bei vollerFahrt, holte sich Schürfwunden, riß sich die Klamotten ka-putt, stand auf und fuhr weiter, als wäre nichts gewesen, erhat so viele Autos gehabt, daß ich mich gar nicht an alle er-innern kann. Als ich klein war, wollte er mir das Autofahrenbeibringen, aber was er sich da in den Kopf gesetzt hatte,klappte nicht – Geschwindigkeit hat mir immer schon angstgemacht, bis heute, das kam wahrscheinlich daher, daß meinFreund und ich mal als Kinder betrunken eine schwere Uralmit Seitenwagen geklaut haben und damit über besagte ein-same und holprige Schnellstraße bretterten, und als wir sorichtig aufgedreht hatten, merkte ich, daß mein Freund, derübrigens am Steuer saß, eingeschlafen war. In einer Kurveflog die Ural von der Fahrbahn und landete zwischen zweiStrommasten. Wir überlebten und waren schlagartig nüch-tern, aber ich habe Angst vor Geschwindigkeit, ich habe