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Suzette Boon, Kathy Steele & Onno van der Hart Traumabedingte Dissoziation bewältigen

Ein Skills-Training für Klienten und ihre Therapeuten

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SUZETTE BOON, KATHY STEELE & ONNO VAN DER HART

TRAUMABEDINGTE DISSOZIATION BEWÄLTIGEN

EIN SKILLS-TRAINING FÜR KLIENTEN UND IHRE THERAPEUTEN

Aus dem Englischen von Elisabeth Vorspohl

Mit einer CD

Junfermann Verlag Paderborn

2013

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Copyright © der deutschen Ausgabe: Junfermann Verlag, Paderborn 2013

© der Originalausgabe: 2011 by Suzette Boon, Kathy Steele, and Onno van der Hart

Die Originalausgabe ist 2011 unter dem Titel Coping with trauma-related dissociation:

skills training for patients and therapists bei W. W. Norton & Company erschienen.

Übersetzung Elisabeth Vorspohl

Coverfoto © Christopher Townson – Fotolia.com

Covergestaltung / Reihenentwurf Christian Tschepp

Satz JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Bibliografische Information Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese der Deutschen Nationalbibliothek Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-95571-225-9Dieses Buch erscheint parallel als Printausgabe (ISBN 978-3-87387-831-0).

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Für unsere Patientinnen und Patienten, die uns so vieles gelehrt haben und für dieses Manual die eigentliche Inspirationsquelle waren.

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Inhalt

Vorwort ............................................................................................................................ 15Danksagung .................................................................................................................... 21Einführung für Patienten ............................................................................................. 23

TEIL I – Dissoziation und trauma bedingte Störungen verstehen ............................ 27

1. Die Dissoziation verstehen ................................................................................... 291.1 Einführung ............................................................................................................. 291.2 Lernen, präsent zu sein ......................................................................................... 301.3 Symptome der Dissoziation ................................................................................. 331.4 Ursprünge chronischer Dissoziation.................................................................. 361.5 Dissoziative Störungen ......................................................................................... 37

2. Dissoziationssymptome ....................................................................................... 412.1 Einführung ............................................................................................................. 412.2 Probleme mit der Identität oder dem Selbstgefühl .......................................... 422.3 Zu wenig empfinden und wahrnehmen: dissoziative Symptome,

die mit einem scheinbaren Verlust an Funktionen einhergehen ................... 432.4 Zu viel empfinden und wahrnehmen: dissoziative Symptome,

die mit Intrusionen einhergehen ........................................................................ 472.5 Weitere Bewusstseinsveränderungen ................................................................. 48

3. Dissoziierte Persönlichkeitsanteile verstehen .................................................. 513.1 Einführung ............................................................................................................. 513.2 Die innere Welt des dissoziierenden Menschen ............................................... 523.3 Bedeutung und Funktionen spezifischer Typen der Persönlichkeitsanteile .. 57

4. Symptome der posttraumatischen Belastungsstörungbei komplexen dissoziativen Störungen ............................................................ 61

4.1 Einführung ............................................................................................................. 614.2 Was ist eine posttraumatische Belastungsstörung ........................................... 624.3 Symptome der PTBS ............................................................................................. 624.4 Dissoziative Identitätsstörung und nicht näher bezeichnete

dissoziative Störung als komplexe posttraumatische Belastungsstörungen ............................................................................................. 65

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4.5 Optionale Lektüre: Komplexe posttraumatische Belastungsstörung und Dissoziation ................................................................................................... 67

Teil I – Die Fertigkeiten im Rückblick .......................................................................... 71

TEIL II – Grundfertigkeiten für den Umgang mit der Dissoziation .......................... 73

5. Die Phobie vor dem inneren Erleben überwinden ............................................. 755.1 Einführung ............................................................................................................. 755.2 Weshalb Menschen eine Phobie vor ihrem inneren Erleben entwickeln ..... 775.3 Weshalb es notwendig ist, die Phobie vor dem eigenen inneren Erleben zu überwinden ....................................................................................................... 78

6. Reflektieren lernen ................................................................................................ 816.1 Einführung ............................................................................................................. 816.2 Reflexion: Sich selbst und andere empathisch verstehen ................................ 826.3 Beispiel für die Reflexionsfähigkeit in Aktion .................................................. 836.4 Beeinträchtigungen der Reflexionsfähigkeit von Menschen

mit einer komplexen dissoziativen Störung ...................................................... 836.5 Retrospektives Reflektieren ................................................................................. 856.6 Tipps zur Entwicklung von Reflexionsfertigkeiten .......................................... 89

7. Beginn der Arbeit mit dissoziierten Persönlichkeitsanteilen .......................... 937.1 Einführung ............................................................................................................. 937.2 Anfangsschwierigkeiten bei der Arbeit mit dissoziierten Selbstanteilen ..... 947.3 Erste Schritte zur Arbeit mit dissoziierten Selbstanteilen ............................. 957.4 Formen des inneren Gewahrseins und der inneren Kommunikation .......... 967.5 Techniken der inneren Kommunikation .......................................................... 98

8. Innere Sicherheit .................................................................................................... 1018.1 Einführung ............................................................................................................. 1018.2 Ein Gefühl der inneren Sicherheit entwickeln.................................................. 102

Teil II – Die Fertigkeiten im Rückblick......................................................................... 107

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TEIL III – Das Alltagsleben verbessern .......................................................................... 111

9. Den Schlaf verbessern ........................................................................................... 1139.1 Einführung ............................................................................................................. 1139.2 Schlafprobleme ...................................................................................................... 1149.3 Faktoren, die zu Schlafproblemen beitragen .................................................... 1159.4 Verbesserung der Schlafqualität ......................................................................... 1179.5 Tipps zum Umgang mit spezifischen Schlafproblemen .................................. 119

10. Entwicklung einer gesunden Tagesstruktur ...................................................... 12310.1 Einführung ............................................................................................................. 12310.2 Typische Probleme mit festen Tagesstrukturen ............................................... 12410.3 Eine gesunde Tagesstruktur entwickeln ............................................................ 12510.4 Die Zeit im Auge behalten ................................................................................... 12810.5 Gesunde Arbeitsgewohnheiten entwickeln ....................................................... 12910.6 Die Tagesstruktur noch weiter verbessern ........................................................ 131

11. Freizeit und Entspannung ..................................................................................... 13311.1 Einführung ............................................................................................................. 13311.2 Typische Probleme mit Freizeit und Entspannung .......................................... 13411.3 Tipps zur Bewältigung innerer Konflikte im Zusammenhang

mit Entspannung und freier Zeit ....................................................................... 13511.4 Tipps zur Organisation der Freizeit .................................................................. 13711.5 Lernen, sicher zu entspannen .............................................................................. 138

12. Körperliche Selbstfürsorge................................................................................... 14512.1 Einführung ............................................................................................................. 14512.2 Faktoren, die Ihre Körperwahrnehmung und Ihre

körperliche Selbstfürsorge beeinträchtigen ....................................................... 14612.3 Umgang mit Alkohol, illegalen Drogen und verschreibungspflichtigen Medikamenten ........................................................ 15012.4 Regulation Ihrer körperlichen Energie ............................................................. 15112.5 Tipps zur Bewältigung innerer Konflikte im Rahmen körperlicher Selbstfürsorge .................................................................................. 15212.6 Tipps zur Verbesserung Ihrer körperlichen Selbstfürsorge ............................ 153

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13. Entwicklung gesunder Essgewohnheiten ........................................................... 15513.1 Einführung ............................................................................................................. 15513.2 Bedeutungen unserer Nahrungsmittel und des Essens ................................... 15613.3 Typische Ernährungsprobleme ........................................................................... 15713.4 Tipps zur Bewältigung innerer Konflikte im Zusammenhang

mit gesunder Ernährung ...................................................................................... 158

Teil III – Die Fertigkeiten im Rückblick ....................................................................... 163

TEIL IV – Umgang mit traumatischen Triggern und Erinnerungen .......................... 167

14. Traumatische Erinnerungen und Trigger verstehen .......................................... 16914.1 Einführung ............................................................................................................. 16914.2 Autobiographisches Gedächtnis und traumatische Erinnerung ................... 17014.3 Trigger verstehen ................................................................................................... 17014.4 Trigger erkennen ................................................................................................... 17114.5 Verschiedene Triggertypen .................................................................................. 17314.6 Trigger von positiven Erfahrungen .................................................................... 175

15. Mit Triggern umgehen .......................................................................................... 17915.1 Einführung ............................................................................................................. 17915.2 Trigger im Alltagsleben reduzieren oder beseitigen ........................................ 180

16. Vorkehrungen für schwierige Zeiten treffen ..................................................... 18716.1 Einführung ............................................................................................................. 18716.2 Wichtige Planungen für Menschen mit einer

komplexen dissoziativen Störung ....................................................................... 18816.3 Schwierige Feiertage und andere besondere Zeiten ......................................... 19016.4 Wie man für schwierige Zeiten vorausplanen kann ........................................ 19316.5 Reflexionen, die Ihre Planung für schwierige Zeiten erleichtern ................... 19416.6 Wenn Verpflichtungen gegenüber anderen Menschen

mit eigenen Bedürfnissen in Konflikt geraten .................................................. 196

Teil IV – Die Fertigkeiten im Rückblick ....................................................................... 199

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TEIL V – Emotionen und Kognitionen verstehen ........................................................ 201

17. Emotionen verstehen ............................................................................................ 20317.1 Einführung ............................................................................................................. 20317.2 Basisemotionen und ihre Funktionen................................................................ 20417.3 Typische Probleme mit Emotionen .................................................................... 20617.4 Achtsamkeitsübung .............................................................................................. 209

18. Das Fenster der Toleranz: Selbstregulation erlernen ........................................ 21118.1 Einführung ............................................................................................................. 21118.2 Toleranzfenster für Arousal ................................................................................. 21218.3 Zu viel empfinden und wahrnehmen: Hyperarousal ...................................... 21618.4 Zu wenig empfinden und wahrnehmen: Hypoarousal ................................... 221

19. Kernüberzeugungen verstehen ........................................................................... 22519.1 Einführung ............................................................................................................. 22519.2 Entstehung von Kernüberzeugungen ................................................................. 22619.3 Typische negative Kernüberzeugungen ............................................................. 22719.4 Realistische und gesunde Kernüberzeugungen ................................................ 229

20. Kognitive Fehler identifizieren ............................................................................ 23120.1 Einführung ............................................................................................................ 23120.2 Häufige kognitive Fehler ...................................................................................... 23220.3 Imaginationsübung: Die Halskette aus positiven Erfahrungen ..................... 235

21. Infragestellung dysfunktionaler Gedanken und Kernüberzeugungen .......... 23721.1 Einführung ............................................................................................................. 23721.2 Feedbackschleifen ................................................................................................. 23821.3 Die eigenen Gedanken erforschen, wenn man eine

komplexe dissoziative Störung hat ..................................................................... 24021.4 Reflexionen, die das Verständnis und die Infragestellung Ihrer

Kernüberzeugungen und Gedanken erleichtern .............................................. 241

Teil V – Die Fertigkeiten im Rückblick ......................................................................... 243

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TEIL VI – Fortgeschrittene Coping-Fertigkeiten ......................................................... 249

22. Mit der Wut umgehen ........................................................................................... 25122.1 Einführung ............................................................................................................. 25122.2 Wut verstehen ........................................................................................................ 25222.3 Wut von Menschen mit einer komplexen dissoziativen Störung ................... 25422.4 Tipps zum Umgang mit Wut ............................................................................... 25822.5 Zusammenarbeit mit Selbstanteilen, um mit Wut umzugehen

und sie zu bewältigen ............................................................................................ 260

23. Angst bewältigen ................................................................................................... 26323.1 Einführung ............................................................................................................. 26323.2 Angst verstehen ..................................................................................................... 26423.3 Typische Probleme mit der Angst ....................................................................... 26623.4 Tipps zum Umgang mit Angst ............................................................................ 270

24. Scham- und Schuldgefühle bewältigen .............................................................. 27324.1 Einführung ............................................................................................................. 27324.2 Scham- und Schuldgefühle verstehen ................................................................ 27424.3 Schamskripte ......................................................................................................... 27724.4 Schuldgefühle verstehen....................................................................................... 28024.5 Tipps zum Umgang mit Scham- und Schuldgefühlen ................................... 280

25. Mit den Bedürfnissen innerer Kindanteile umgehen ....................................... 28525.1 Einführung ............................................................................................................. 28525.2 Kindliche Selbstanteile verstehen ....................................................................... 28625.3 Ziele der Arbeit mit kindlichen Anteilen ......................................................... 28825.4 Mit kindlichen Anteilen arbeiten ...................................................................... 29025.5 Blending: eine weiterführende Technik ............................................................. 292

26. Mit selbstverletzendem Verhalten umgehen .................................................... 29726.1 Einführung ............................................................................................................. 29726.2 Selbstverletzendes Verhalten verstehen ............................................................. 29826.3 Gründe für selbstverletzendes Verhalten .......................................................... 29926.4 Hilfe für selbstverletzende dissoziierte Anteile ................................................ 300

27. Verbesserung der Entscheidungsfindung durch innere Kooperation............. 30527.1 Einführung ............................................................................................................. 30527.2 Entscheidungsprozesse verstehen ....................................................................... 30627.3 Typische Entscheidungsprobleme ....................................................................... 30827.4 Verbesserung der Entscheidungsfindung .......................................................... 311

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27.5 Techniken effektiver Entscheidungsfindung ..................................................... 313

Teil VI – Rückblick auf die Fertigkeiten ....................................................................... 317

TEIL VII – Beziehungen zu anderen Menschen verbessern ........................................ 323

28. Die Phobien vor Bindung und Bindungsverlust ................................................. 32528.1 Einführung ............................................................................................................. 32528.2 Warum gesunde Beziehungen so wichtig sind ................................................. 32628.3 Die Auswirkungen interpersonaler Traumata auf Beziehungen ................... 32828.4 Bindungsphobie und Regulationsschwierigkeiten ........................................... 32928.5 Phobie vor Bindungsverlust und Regulationsschwierigkeiten ....................... 331

29. Beziehungskonflikte lösen ................................................................................... 33529.1 Einführung ............................................................................................................. 33529.2 Grundlegende Fertigkeiten zur Bewältigung von Beziehungskonflikten .... 33629.3 Wie Menschen mit einer komplexen dissoziativen Störung ihren

Umgang mit Beziehungskonflikten verbessern können ................................. 337

30. Umgang mit Isolation und Einsamkeit .............................................................. 34330.1 Einführung ............................................................................................................. 34330.2 Isolation verstehen ................................................................................................ 34430.3 Einsamkeit verstehen ............................................................................................ 34630.4 Reflexionen über Ihr Erleben von Isolation und Einsamkeit ......................... 34730.5 Tipps zum Umgang mit Isolation und Einsamkeit .......................................... 349

31. Lernen, sich selbst zu behaupten ........................................................................ 35131.1 Einführung ............................................................................................................. 35131.2 Grundlegende Fertigkeiten der Selbstbehauptung........................................... 35231.3 Nicht assertive Strategien: Beschwichtigung, Vermeidung und Aggression 35531.4 Typische Probleme mit der Selbstbehauptung .................................................. 35831.5 Assertives Verhalten durch Kooperation mit Selbstanteilen .......................... 360

32. Gesunde persönliche Grenzen setzen ................................................................. 36332.1 Einführung ............................................................................................................. 36332.2 Gesunde Grenzen .................................................................................................. 36432.3 Ungesunde Grenzen ............................................................................................. 36632.5 Selbstanteilen helfen, an der Entwicklung gesunder Grenzen mitzuwirken .. 370

Teil VII – Die Fertigkeiten im Rückblick ..................................................................... 373

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TEIL VIII – Anleitung für Gruppentrainer ..................................................................... 379

33. Anleitung für Gruppentrainer .............................................................................. 38133.1 Einführung ............................................................................................................. 38133.2 Trainerqualifikationen und Leitlinien für Trainer .......................................... 38133.3 Begutachtung und Diagnose potenzieller Kursteilnehmer ............................ 38333.4 Kontakt und Koordination mit dem behandelnden Therapeuten ................. 39033.5 Durchführung der Kurssitzungen ...................................................................... 39333.6 Schwierigkeiten in der Gruppe verstehen und lösen ....................................... 39833.7 Arbeit mit dem Manual in der Einzeltherapie .................................................. 40433.8 Verwendung des Manuals in der Tagesklinik und in stationären Gruppen .. 406

34. Vorstellungssitzung .............................................................................................. 40734.1 Erklärung der Grundregeln (Anhang B) ........................................................... 40734.2 Wie man vom Fertigkeitentraining optimal profitiert .................................... 40734.3 Informationsveranstaltung für wichtige Mitmenschen .................................. 408

35. Abschiedssitzung ................................................................................................... 41135.1 Einführung ............................................................................................................. 41135.2 Das Abschiednehmen ........................................................................................... 41235.3 Abschiedsrituale .................................................................................................... 41335.4 Beurteilung des Kurses ........................................................................................ 414

Abschlusssitzung ............................................................................................................. 415

ANHANG ........................................................................................................................... 417

A. Diagnostische Kriterien DSM-IV-TR ................................................................ 419B. Grundregeln einer Fertigkeitengruppe .............................................................. 423C. Vertrag über die Teilnahme an einer Fertigkeitengruppe .............................. 427D. Abschließende Beurteilung der Fertigkeitengruppe ........................................ 429

Literatur ........................................................................................................................... 433Über die Autorinnen und den Autor .......................................................................... 440Index ................................................................................................................................ 441Hinweise zur CD ............................................................................................................ 446(Die Inhalte der CD finden Sie auf der Junfermann Webseite zum Download unter http://www.junfermann.de/titel-1-1/traumabedingte_dissoziation_bewaeltigen-10005/)

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Vorwort

Traumabedingte Dissoziation bewältigen – Ein Skills-Training für Klienten und ihre Therapeuten ist das erste Handbuch für Patientinnen und Patienten mit komplexen, durch Entwicklungstraumata hervorgerufenen Störungen. Dazu zählen zum Bei-spiel die dissoziative Identitätsstörung (DIS) und die nicht näher bezeichnete disso-ziative Störung (NNBDS). Die Behandlung komplexer dissoziativer Störungen ge-winnt mittlerweile zunehmend an Bedeutung, da die entsprechenden Diagnosen in zahlreichen Populationen validiert wurden und Behandlungsverfahren, die auf dem Konsens klinischer Experten beruhen, nachweislich zu übereinstimmenden und signifikanten Besserungen führen (zu Behandlungsleitlinien siehe Internati-onal Society for the Study of Trauma and Dissociation [ISSTD], im Druck). Trotz methodologischer Mängel belegen die bislang durchgeführten Studien, dass Patien-ten mit einer dissoziativen Störung von einer Behandlung profitieren, die „speziell auf die dissoziative Pathologie fokussiert“; zwei Drittel der Patienten zeigten Besse-rungen bei vielfältigen Symptomen einschließlich Dissoziation, Angst, Depression, allgemeinem Distress sowie posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) (Brand, Classen, McNary & Zaveri, 2009, S. 652). Vorläufige Bemühungen, diese Behandlun-gen empirisch zu validieren, haben positive Ergebnisse erbracht (Brand et al., 2009). Weitere Studien sind in Arbeit.

In den 1990er Jahren erschienen die ersten Bücher über das Skills-Training für trau-matisierte Menschen und andere Psychotherapiepatienten. An einem speziellen Ma-nual für Menschen mit einer komplexen dissoziativen Störung aber hat es bislang gefehlt. Zahlreiche Buchveröffentlichungen konzentrierten sich auf die Behandlung und das theoretische Verständnis von Problemen, die zwar mit dem Trauma zusam-menhängen, aber nicht traumaspezifisch sind; sie bilden somit hilfreiche allgemeine Ergänzungen der Behandlung traumatisierter Patienten. Einige dieser Publikationen wurden als Begleitlektüre zur Einzeltherapie oder zum privaten Gebrauch verfasst, andere für die Arbeit in einem strukturierten Gruppensetting.

Diese wertvollen Manuale decken eine große Bandbreite an Themen ab, darunter Si-cherheit, emotionale Regulation und Affektphobie, Sozialangst, Suchterkrankungen, Selbstverletzung, Depression, Angst und Beziehungsschwierigkeiten. Zu den beson-ders renommierten Behandlungsverfahren, die sich für viele Traumaüberlebende als hilfreich erwiesen haben, zählen die dialektisch-behaviorale Therapie der Border-line-Persönlichkeitsstörung (Linehan, 1993), das Systems Training for Emotional Predictability and Problem Solving (STEPPS [Emotionale Stabilität und Problem-lösen systematisch trainieren]; Blum et al., 2008; Bos, van Wel, Appelo & Verbraak,

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2010), die psychodynamische Kurzzeittherapie der Affektphobie (McCullough et al., 2003) sowie achtsamkeits- und mentalisierungsgestützte Behandlungsansätze wie etwa die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT; Follette & Pistorello, 2007).

Die im vergangenen Jahrzehnt publizierten Manuale zur Traumabehandlung sind zum Teil auch empirisch validiert worden. Die Mehrzahl der Publikationen, die speziell der Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung gewidmet sind, stützt sich auf die kognitiv-behaviorale Therapie (KBT) und die prolongierte Expo-sition (z. B. Rothbaum, Foa & Hembree, 2007; Williams & Poijula, 2002). Andere PTBS-Manuale kombinieren die kognitiv-behaviorale Therapie mit anderen Ver-fahren, etwa mit der Emotionsregulation (z. B. Ford & Russo, 2006; Wolfsdorf & Zlotnick, 2001; Zlotnick et al., 1997), mit dem interpersonellen und Fallmanagement für Trauma und Suchterkrankungen (Najavits, 2002) sowie mit einem eklektischen Verfahren (Vermilyea, 2007). Cloitre, Cohen und Koenen (2006) haben als Erste ein auf der kognitiv-behavioralen Therapie und den Bindungs- und Objektbeziehungen beruhendes Psychotherapiemanual speziell für die komplexe posttraumatische Be-lastungsstörung bei erwachsenen Überlebenden von Kindesmissbrauch erarbeitet.

Im Mittelpunkt einiger dieser traumaspezifischen Manuale steht die Behandlung traumatischer Erinnerungen. Nach übereinstimmender Meinung von Experten liegt jedoch gerade bei Patienten mit einer komplexen dissoziativen Störung ein hohes Risiko vor, dass sie durch eine allzu frühe Konfrontation mit traumatischen Erin-nerungen destabilisiert werden und unter Umständen sogar dekompensieren. Die meisten dieser Patienten sind auf eine längere Phase der Stabilisierung und Entwick-lung von Fertigkeiten angewiesen, bevor sie traumatische Erinnerungen tolerieren und integrieren können. Nach allgemeinem klinischem Konsens wird zur Behand-lung chronisch traumatisierter Patienten einschließlich DIS- und NNBDS-Patien-ten eine phasenorientierte ambulante Einzeltherapie mit folgenden Komponenten empfohlen: 1) Stabilisierung, Symptomreduzierung und Fertigkeitentraining; 2) Be-handlung traumatischer Erinnerungen und 3) Persönlichkeitsintegration und Reha-bilitation (Brown, Scheflin & Hammond, 1998; Chu, 1998; Courtois, 1999; Herman, 1992; ISSTD, im Druck; Kluft, 1999; Steele & van der Hart, 2009; Steele, van der Hart & Nijenhuis, 2001, 2005; van der Hart, van der Kolk & Boon, 1998; van der Hart, Nijenhuis & Steele, 2006).

Die Behandlungsleitlinien für DIS und NNBDS (ISSTD, im Druck) sowie andere einschlägige Publikationen bieten nicht nur einen hervorragenden Überblick über die jeweiligen Therapieverfahren, sondern beschreiben auch spezifische Interventio-nen (z. B. Kluft & Fine, 1993; Kluft, 1999, 2006; Putnam, 1989, 1997; Ross, 1989, 1997; Steele & van der Hart, 2009; van der Hart et al., 2006). Gleichwohl bleibt es dem indi-viduellen Therapeuten überlassen, sich aus der Literatur über dissoziative Störungen

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Vor wor t · 17

und der reichen oralen Tradition seine eigenen, auf Phase I und das Fertigkeitentrai-ning zugeschnittenen Techniken zusammenzusuchen – mit dem Ergebnis, dass die Kreativität des Therapeuten und seine Literaturkenntnis über das Schicksal einer jeden Behandlung entscheiden.

Wir haben in diesem Manual versucht, für Patienten mit dissoziativen Störungen und für ihre Therapeuten grundlegende, in Phase I anzuwendende Stabilisierungs-techniken zusammenzustellen. Sie fokussieren speziell auf die Behandlung der Dis-soziation, die vielen Symptomen dieser Patienten zugrunde liegt und sie aufrecht-erhält. Zu diesen Fertigkeiten zählen: Mentalisieren, Achtsamkeit, Emotions- und Impulsregulation, innere Empathie, Kommunikation und Kooperation, Entwick-lung innerer Sicherheit sowie kognitive, affektive und relationale Fertigkeiten.

Hervorgegangen ist das Manual aus der rund dreißigjährigen klinischen Erfahrung, die seine Verfasser in Behandlungen von Patienten mit DIS oder NNBDS gesammelt haben; aber auch die hervorragenden Beiträge vieler anderer Kollegen, die wahre Pionierleistungen vollbracht haben, liegen ihm zugrunde. Es ist allgemein bekannt, dass klinische Neuerungen von Klinikern und nicht von Forschern entwickelt wer-den (Westen, Novotny & Thompson-Brenner, 2004); daher stützen wir uns auf diesen hart erarbeiteten klinischen Wissensschatz, solange nicht genügend randomisiert-kontrollierte Studien über die Behandlung komplexer dissoziativer Störungen vor-liegen. Mit diesem Manual steht erstmals ein operationalisiertes, seiner empirischen Validierung harrendes Behandlungsprotokoll für eine außerordentlich bedürftige Patientengruppe zur Verfügung, die in anderen Studien über Traumabehandlungen keine Berücksichtigung gefunden hat.

Entwicklung des Manuals für das Fertigkeitentraining

Dieses Manual beruht unter anderem auf den Lernerfahrungen, die wir im Laufe der vergangenen zehn Jahre in niederländischen Tagesklinikprogrammen für Pa tienten mit dissoziativer Identitätsstörung gewonnen haben. Diese ambulanten Programme, die gewöhnlich von Montag bis Freitag entweder halb- oder ganztags durchgeführt wurden, boten ergänzende Therapien an, beispielsweise Kunst- und Bewegungs-therapien. Dies unterschied sie von den eher kognitiv orientierten Kursen, die man für Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung entwickelt hat. Es stellte sich allerdings heraus, dass die nonverbalen, erfahrungsbezogenen Komponenten jener Behandlungsprogramme bei vielen Patienten mit komplexer dissoziativer Störung in den Frühstadien ihrer Therapie außerordentlich destabilisierend wirkten. Die-se Behandlungsmodalitäten können traumatische Erinnerungen und dissoziative

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Persönlichkeitsanteile reaktivieren und infolgedessen die gesamte Persönlichkeits-organisation erschüttern; dies gilt insbesondere dann, wenn die Phobie der Patien-ten vor dem eigenen inneren Erleben in unverminderter Intensität bestehen bleibt. Ebendiese Schwierigkeiten veranlassten eine der Autorinnen (S. B.), einen zeitlich begrenzten manualisierten Kurs zu entwickeln, der zwar Ähnlichkeiten mit dem Fertigkeitentraining etwa der dialektisch-behavioralen Therapie (Linehan, 1993) und des STEPPS-Programms (Blum et al., 2008; Bos et al., 2010) aufweist, aber spe-ziell auf Patienten mit komplexen dissoziativen Störungen zugeschnitten ist.

Ein in den Niederlanden von Ethy Dorrepaal, Kathleen Thomaes und Nel Draijer ent-wickelter und empirisch getesteter Stabilisierungskurs für Patienten mit komplexer PTBS, (Dorrepaal, Thomaes & Draijer, 2006, 2008) wurde für unser Skills-Training für Klienten und ihre Therapeuten zur wichtigsten publizierten Inspirationsquelle. Im Rahmen einer randomisiert-kontrollierten Studie leitete eine der Autorinnen (S. B.) mit jenem niederländischen Manual, das unter dem Titel Vroeger en Verder (Früher und weiter; Dorrepaal et al., 2008) erschienen ist, eine Gruppe für PTBS-Patienten und war von den Ergebnissen tief beeindruckt. An der Gruppe nahmen indes keine Patienten mit dissoziativen Störungen teil – ein weiterer Anlass, ein für dissoziative Störungen spezifisches Manual auszuarbeiten.

Während der vergangenen sechs Jahre haben etliche erfahrene Kliniker, so auch eine der Autorinnen (S. B.), mit einer Vorgängerversion des Manuals in den Niederlan-den und neuerdings auch in Norwegen und Finnland Fertigkeitengruppen geleitet. Die Änderungsvorschläge, die sich daraus ergaben, sind in die nun vorliegende, verbesserte und erweiterte Fassung eingegangen, die das Autorenteam in den ver-gangenen drei Jahren in intensiver gemeinsamer Arbeit erstellt hat. Darüber hinaus haben wir zahlreiche weitere Kollegen und auch einige Patienten konsultiert und um Kommentare und Vorschläge gebeten, weil uns an einem breitgefächerten Feedback gelegen war.

Wir haben das Manual zwar ursprünglich als strukturierte fertigkeitengestützte Gruppentherapie konzipiert, aber sehr rasch erkannt, dass es auch Patienten, die sich in Einzeltherapie befinden, als ungemein wertvolle Ergänzung dienen und überdies von Therapeuten als Handbuch genutzt werden kann. Mithin kann es sowohl in der Gruppenarbeit als auch im Rahmen von Einzeltherapien Verwendung finden. Da-rüber hinaus ist sein Inhalt, wiewohl es speziell für Patienten mit komplexer dis-soziativer Störung entwickelt wurde, auch für Menschen mit komplexer PTBS und traumabedingten Persönlichkeitsstörungen hochrelevant.

Therapeuten, die in Einzeltherapien mit dem Manual arbeiten, sollten beachten, dass das 34. Kapitel – „Vorstellungssitzung“ – und das 35. Kapitel – „Abschiedssitzung“ – nur für die Arbeit in Gruppen bestimmt sind.

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Vor wor t · 19

Wir weisen alle Kliniker und Patienten ausdrücklich darauf hin, dass dieses Ma-nual weder eine umfassende Behandlung dissoziativer Störungen ersetzt noch als Ersatz für eine qualifizierte Ausbildung in der Behandlung komplexer dissoziati-ver Störungen und entsprechende Supervisionen dient. Wir raten jedem Leser des Manuals, sich gründlich mit den aktualisierten Behandlungsleitlinien für DIS und NNBDS der International Society for the Study of Trauma and Dissociation (ISSTD, im Druck) vertraut zu machen.

Weitere Informationen über die Behandlung dissoziativer Störungen finden Sie auf der Webseite der International Society for the Study of Trauma and Dissociation unter http://www.isst-d.org oder auf der Webseite der Europäischen Gesellschaft für Trauma und Dissoziation unter http://www.estd.org.

Zusätzliche Informationen über das Manual, seine Verfasser sowie über Spezialtrai-nings für Therapeuten finden Sie auf unserer Webseite unter http://www.coping-withdissociation.com.

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Danksagung

Zahlreiche unserer Kolleginnen und Kollegen haben wichtige Beiträge zu diesem Manual geleistet, indem sie eigene Trainingsgruppen entwickelten, uns von ihren Ideen berichteten und Vorschläge ausarbeiteten. Den Teams und Kollegen und Kolle-ginnen in den Niederlanden, die mit einer der Autorinnen (S. B.) zusammenarbeiten, verdanken wir unschätzbar wertvolle Beiträge zur Behandlung komplexer dissozia-tiver Störungen sowie zur Entwicklung des Fertigkeitentrainings. Einen besonderen Dank sprechen wir Sheri Miller, LCSW, und Kate O’Mullan, BA, für ihre überaus wichtige Mitarbeit am 30. Kapitel – „Umgang mit Isolation und Einsamkeit“ – aus.

In erster Linie aber danken wir unseren Patienten, die nicht nur den Mut hatten, uns von sich zu erzählen, sondern unermüdlich an ihrer Heilung gearbeitet haben und für dieses Manual zu unserer wichtigsten Inspirationsquelle geworden sind. Zahlreiche Teilnehmer der Kurse, die wir während der vergangenen sechs Jahre in den Niederlanden, aber auch in den USA durchgeführt haben, gaben uns wertvolle Kommentare zu früheren Manualversionen und halfen uns auf diese Weise, es zu verbessern. Wir sind ihnen für ihre Vorschläge und Kommentare zutiefst dankbar.

Dieses Manual enthält zahlreiche Techniken. Leider ist es in manchen Fällen un-möglich, altbewährte, häufig mündlich tradierte und zum Teil weltweit verbreitete psychotherapeutische Techniken auf ihre Ursprünge zurückzuverfolgen. Wir haben sie nach bestem Wissen und Gewissen belegt und entschuldigen uns, wenn wir eine Quelle versehentlich nicht zitiert haben.

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Einführung für Patienten*

Dieses Manual wurde für Menschen mit einer komplexen traumabedingten disso-ziativen Störung, also einer dissoziativen Identitätsstörung (DIS) oder einer nicht näher bezeichneten dissoziativen Störung (NNBDS), entwickelt. In der Öffentlich-keit werden diese Störungen häufig missverstanden; die Literatur über ihre Behand-lung richtet sich vorwiegend an Experten, nämlich an Psychiater, Psychotherapeuten usw. Von der Unterstützung durch ihren behandelnden Therapeuten einmal abge-sehen, ist es für die Betroffenen deshalb schwierig, verlässliche praktische Hilfe zu finden. Viele Menschen, die mit dissoziativen Störungen ringen, haben über viele Jahre immer wieder Kontakte mit dem psychiatrischen Versorgungssystem, bevor ihre grundlegenden Dissoziationsprobleme erkannt und behandelt werden. In die-sem Manual finden Sie praktische Lösungen für Dissoziationsprobleme in der ers-ten Phase Ihrer Therapie. Wir erklären die Dissoziation und weitere traumabedingte Symptome in einer einfachen Sprache und helfen Ihnen, dissoziierte Selbstanteile zu verstehen und konstruktiv mit ihnen zu arbeiten. Sie werden wichtige Überlegungen und Lernthemen kennenlernen, deren Durcharbeitung Ihre Heilung von Dissoziati-on und Trauma fördert, und Sie werden praktische Fertigkeiten erwerben, die Ihnen im Alltagsleben eine Hilfe sind.

Wir raten Ihnen dringend, dieses Manual ausschließlich im Rahmen einer Einzel-therapie oder aber in einer strukturierten, von ausgebildeten Klinikern geleiteten Fertigkeitengruppe zu verwenden; nur so werden Sie optimal von der Arbeit profitie-ren und außerdem die erforderliche Unterstützung erhalten. Das Manual richtet sich nicht an Menschen mit dissoziativer Störung, die nicht in Therapie sind, wenngleich manche Kapitel auch in diesem Fall hilfreich sein können. Seine Lektüre kann es aber auch Ihren Angehörigen erleichtern, Sie besser zu verstehen und effektiver zu unterstützen.

Jedes Kapitel behandelt ein für Trauma und Dissoziation relevantes Lernthema; außerdem lernen Sie Strategien kennen, die es für Sie einfacher machen, mit Ihrer Dissoziation und anderen traumabedingten Schwierigkeiten umzugehen. Zu jedem Lernthema gibt es Hausaufgaben, die Ihnen helfen, neue Fertigkeiten einzuüben (die Arbeitsblätter, die Sie als Hausaufgabe oder zusammen mit Ihrem Therapeuten ausfüllen können, befinden sich auf der begleitenden CD, auf die folgendes Symbol aufmerksam macht: ). Wenn Sie dieses Manual nicht in einer Gruppe, sondern in

* Der Einfachheit halber wird bei der Bezeichnung von Personen und Personengruppen im Folgenden die männliche Form verwendet. Die weiblichen Entsprechungen (Psychiaterin, Therapeutin, Patien-tin etc.) sind in diesen Fällen natürlich inbegriffen.

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Ihrer Einzeltherapie benutzen, können Sie die „Agenda“ zu Beginn eines jeden Ka-pitels ignorieren; Gleiches gilt für den gesamten achten Teil, also für die speziell an Gruppenmitglieder adressierten Kapitel 33–35.

Natürlich sind für Sie nicht alle Kapitel bzw. Lernthemen gleichermaßen relevant. Dennoch finden Sie auch in Kapiteln, die Sie persönlich weniger interessieren, hilf-reiche Tipps; lesen Sie deshalb zumindest kurz hinein, bevor Sie beschließen, ein Kapitel zu überspringen.

Es ist möglich, dass Sie sich manchen Themen im Augenblick noch nicht gewachsen fühlen. Das ist in Ordnung. Lassen Sie die entsprechenden Kapitel aus und machen Sie da weiter, wo es für Sie richtig ist.

Die regelmäßigen Übungen, die Sie bei Bedarf modifizieren und Ihren Bedürfnissen anpassen können, sind ein wesentlicher Bestandteil Ihrer Hausaufgaben. Die Lektü-re des Manuals ist sicherlich lehrreich, kann aber das konsequente Üben, das Ihnen neue Fertigkeiten einträgt, nicht ersetzen. Wir raten Ihnen dringend, das Manual zusammen mit Ihrem Therapeuten durchzuarbeiten.

Es ist wichtig, dass Sie selbst das Tempo Ihrer Arbeit bestimmen. Wann immer Sie sich überwältigt fühlen, halten Sie inne, führen Sie Erdungsübungen durch und konzentrieren Sie sich auf den gegenwärtigen Augenblick. Falls nötig, beraten Sie sich mit Ihrem Therapeuten. Ihre Heilung braucht Zeit, und wenn Sie sich allzu sehr unter Druck setzen, kommen Sie vermutlich nicht schneller, sondern langsamer vo-ran. Andererseits verzögern Sie Ihre Heilung, wenn Sie sich grundsätzlich nie un-ter Druck setzen, sondern schmerzvollen, schwierigen Angelegenheiten ausweichen oder die neuen Fertigkeiten nicht üben. Finden Sie Ihr eigenes Tempo; falls nötig, bitten Sie Ihren Therapeuten um Hilfe, damit Sie gemeinsam herausfinden können, in welchen Situationen Sie ein wenig drängen und wann Sie einen Gang zurück-schalten sollten.

Die Übungen in diesem Manual sind freiwillig. Wir haben sie so zu gestalten ver-sucht, dass sie für ganz unterschiedliche Menschen geeignet sind; natürlich ist es trotzdem möglich, dass Ihnen manche Übungen nicht helfen oder sich nicht gut für Sie anfühlen. Trotz zahlreicher Gemeinsamkeiten weisen Menschen mit einer dissoziativen Störung auch viele Unterschiede auf. Sie werden von dem Kurs optimal profitieren, wenn Sie die Übungen möglichst oft durchführen; achten Sie aber sorg-fältig darauf, was Ihnen hilft und was Ihnen vielleicht nicht guttut. Sie können die Übungen modifizieren und Ihren Bedürfnissen anpassen, Sie können eigene Übun-gen durchführen oder mit Hilfe Ihres Therapeuten weitere Möglichkeiten finden, um sich die verschiedenen Fertigkeiten, die wir in diesem Manual erläutern, anzu-eignen.

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Einführung für Pat ienten · 25

In diesem Manual werden Sie immer wieder gefragt, ob Sie bei den Hausaufgaben auf Schwierigkeiten getroffen sind. Die bewusste Wahrnehmung solcher Hindernis-se ist der erste Schritt zu ihrer Überwindung. Es ist ungemein wichtig, dass Sie alle Schwierigkeiten in Ihrer Einzeltherapie besprechen, denn dort bekommen Sie die nötige Hilfe und Unterstützung.

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Teil IDissoziation und trauma bedingte Störungen verstehen

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Die Dissoziation verstehen

Agenda

Begrüßung und Gedanken zur einführenden Sitzung

Übung: Lernen, präsent zu sein

Thema: Die Dissoziation verstehen

– Einführung

– Lernen, präsent zu sein

– Die Dissoziation verstehen

– Ursprünge chronischer Dissoziation

– Dissoziative Störungen

Hausaufgaben

– Lesen Sie das Kapitel ein zweites Mal

– Üben Sie Lernen, präsent zu sein zweimal täglich, morgens und abends, oder führen Sie

eine entsprechende Übung durch, von der Sie und Ihr Therapeut glauben, dass sie für

Sie besser geeignet ist

– Füllen Sie das Arbeitsblatt 1.1 – Reflexionen über das, was Sie gelernt haben – aus

1.1 Einführung

Dieses Manual soll es Ihnen erleichtern, die Dissoziation und die wichtigsten dis-soziativen Störungen sowie damit zusammenhängende Erfahrungen und Probleme zu verstehen und zu bewältigen. Es ist wichtig, dass Sie mit diesem Manual und in Ihrer Therapie von Anfang an in dem Tempo arbeiten, bei dem Sie sich wohlfühlen. Wahrscheinlich werden Sie merken, dass Ihre Angst vorübergehend wächst, sobald Sie sich auf Ihre Dissoziationssymptome konzentrieren; wenn Sie aber nach und nach besser verstehen, was in Ihnen vorgeht, und Methoden erlernen, um effektiver damit zurechtzukommen, werden Sie Ihrem inneren Erleben schon bald entspannter und gelassener begegnen können. Falls Ihre Angst bei der Arbeit mit diesem Manual an irgendeinem Punkt allzu intensiv wird, sollten Sie eine Pause einlegen und die Übung Lernen, präsent zu sein, die Sie am Schluss dieses Kapitels finden, oder andere in diesem Buch beschriebene Übungen durchführen. Sie erleichtern es Ihnen, wie-der ruhig zu werden und sich zu erden. Sie können die Arbeit jederzeit an der Stelle, an der Sie unterbrochen haben, wieder aufnehmen. Zunächst werden Sie etwas da-

1.

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rüber lernen, wie Sie präsent bleiben können. Sobald Sie die entsprechende Übung durchgeführt haben, können Sie sich unseren Erläuterungen über die Dissoziation zuwenden.

1.2 Lernen, präsent zu sein

In der Gegenwart präsent zu sein, also die Umwelt und sich selbst bewusst wahr-zunehmen, ist eine wesentliche Voraussetzung für das Lernen, für die Weiterent-wicklung und für die Heilung von einer dissoziativen Störung. In dem Augenblick, in dem Sie präsent sind, liegt die Vergangenheit hinter Ihnen. Bevor wir irgendein anderes Thema zur Sprache bringen, beginnen wir mit einer Übung, die Ihnen hilft, sich auf das Präsentsein zu konzentrieren, weil wir wissen, dass es für Menschen mit einer dissoziativen Störung zuweilen ungemein schwierig ist, sich in der Gegenwart zu erden. Diese Fertigkeit bildet die Grundlage der gesamten weiteren Arbeit, die Sie mit diesem Manual und in Ihrer Therapie leisten werden.

Menschen mit einer dissoziativen Störung stehen oft vor Problemen, die es ihnen schwer machen, präsent zu sein und präsent zu bleiben. Vielleicht haben Sie bereits eigene Methoden entwickelt, um dem Druck auszuweichen und sich von der Gegen-wart zu distanzieren, sobald Sie unter Stress geraten, in einem quälenden Konflikt hin- und hergerissen sind oder ein sehr intensives Gefühl empfinden. Ein solcher Rückzug bewirkt zwar, dass Sie sich vorübergehend besser fühlen; langfristig aber hat er zur Folge, dass Sie der Gegenwart immer häufiger zu entfliehen versuchen. Ihre Probleme werden dadurch umso schlimmer.

Vielleicht erleben Sie gelegentlich Situationen, in denen Sie sich benommen fühlen, wie benebelt oder nicht ganz klar im Kopf. Es kann passieren, dass Sie die Verbin-dung zur Gegenwart verlieren, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Erst im Nachhinein realisieren Sie, dass Sie nicht wirklich präsent waren. Vielleicht werden Sie von negativen Bildern, Gefühlen oder Gedanken aus der Vergangenheit einge-holt und überwältigt oder von Zukunftsängsten, die Ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, sodass Sie die Gegenwart nicht länger bewusst wahrnehmen können. Mitunter tauchen womöglich Momente auf, in denen Sie das, was Sie gerade tun, wie ein äußerer Beobachter registrieren, ohne aber Ihr eigenes Handeln un-ter Kontrolle zu haben – ein Zustand, in dem Sie zugleich anwesend und abwesend sind! Manche Menschen mit komplexen dissoziativen Störungen verlieren darüber hinaus auch jedes Zeitgefühl, das heißt, sie können sich an mehr oder weniger lange Zeiträume aus der jüngsten Vergangenheit nicht erinnern und sind außerstande zu erklären, was in diesen Phasen passiert ist. Andere schalten vorübergehend vollstän-

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Die Dissoziat ion verstehen · 31

dig ab und nehmen nichts mehr wahr, und manche Menschen tauchen in Phantasien oder Tagträume ein, wenn das Leben allzu schwierig wird.

Die folgende Konzentrationsübung kann Ihnen helfen, Ihre Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt zu richten. Sie lernen zunächst, was Sie selbst gegen das Abdriften tun können, um präsent zu bleiben und Ihre Dissoziation schließlich weitgehend zu überwinden. Denken Sie daran, sorgfältig zu beobachten, ob Ihnen die folgende Übung hilft. Wenn Sie den Eindruck haben, dass sie Ihnen nicht guttut, sollten Sie sie abbrechen oder modifizieren.

Lernen, präsent zu sein

Suchen Sie sich drei Gegenstände im Zimmer aus. Nehmen Sie ihre Details (Form, Far-

be, Oberflächenstruktur, Größe usw.) sehr aufmerksam wahr. Achten Sie darauf, dass

Sie diesen Teil der Übung ohne jede Hast durchführen. Lassen Sie den Blick auf jedem

der Gegenstände ruhen. Dann sprechen Sie jeweils drei Eigenschaften laut aus, zum

Beispiel: „Er ist grün. Er ist groß. Er ist rund.“

Konzentrieren Sie sich auf drei Geräusche, die Sie im Augenblick hören. Achten Sie auf

ihre Eigenschaften. Sind sie aufdringlich oder sanft, gleichförmig oder unterbrochen,

angenehm oder unangenehm? Sprechen Sie drei Eigenschaften des Geräusches laut

aus, zum Beispiel: „Es ist laut, grell und entschieden unangenehm.“

Berühren Sie nun drei Gegenstände in Ihrer Nähe mit der Hand und beschreiben Sie

laut, wie sich die Oberflächen anfühlen, zum Beispiel rau, glatt, kalt, warm, hart oder

weich usw.

Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit nun wieder auf die drei Gegenstände, die Sie zur ge-

nauen Betrachtung ausgesucht haben. Konzentrieren Sie sich, während Sie die Dinge

ansehen, auf die Tatsache, dass Sie sich zusammen mit diesen Gegenständen hier und

jetzt in der Gegenwart, in diesem Raum, befinden. Anschließend achten Sie auf die

Geräusche und konzentrieren sich darauf, dass Sie sich in diesem Raum mit diesen

Geräuschen befinden. Und schließlich machen Sie dasselbe mit den Gegenständen,

die Sie angefasst haben. Sie können diese Übung erweitern, indem Sie sie mehrmals

wiederholen: Konzentrieren Sie Ihren Blick, Ihre Ohren und Ihren Tastsinn zuerst auf

drei Gegenstände, dann auf zwei und auf einen, im nächsten Durchgang wieder auf

zwei und schließlich auf drei Dinge. Damit die Übung nicht langweilig wird, können Sie

auch neue Gegenstände einbeziehen.

ÜBUNG

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Beispiele

Anblick: Schauen Sie sich im Zimmer um und wählen Sie etwas oder auch jemanden

aus, das oder der Sie daran erinnern kann, dass Sie in der Gegenwart sind. Sie können

ein Kleidungsstück auswählen, das Sie gerade tragen und das Ihnen gut gefällt, eine

bestimmte Farbe oder Form oder Oberflächenbeschaffenheit, ein Bild an der Wand,

irgendeinen kleinen Gegenstand oder ein Buch. Sagen Sie laut den Namen des Gegen-

stands, den Sie sich ausgesucht haben.

Geräusch: Lassen Sie sich von den Geräuschen, die Sie umgeben, dabei helfen, die

Konzentration auf das Hier und Jetzt zu richten. Lauschen Sie zum Beispiel auf die

Alltagsgeräusche, die Sie hören: das Surren der Klimaanlage, das Brummen des Kühl-

schranks, menschliche Stimmen, Türen, die sich vernehmlich öffnen oder schließen,

Verkehrslärm, zwitschernde Vögel, ein sirrender Ventilator. Erinnern Sie sich laut: „Das

sind die Geräusche des Alltagslebens, und ich bin mittendrin. Ich bin sicher. Ich bin

hier.“

Geschmack: Versorgen Sie sich mit einer geschmacksintensiven Kleinigkeit zum Lut-

schen oder Kauen, zum Beispiel Pastillen, Pfefferminzbonbons, süße oder saure Drops

oder auch Obst, etwa einem Orangenspalt oder einem Stück Banane. Wenn Sie das

Gefühl bekommen, den Boden unter den Füßen zu verlieren, nehmen Sie Ihren Notpro-

viant in den Mund, konzentrieren Sie sich auf das Aroma, das Gefühl beim Lutschen

oder Kauen, und Sie werden merken, dass Sie ins Hier und Jetzt zurückkehren.

Geruch: Stecken Sie einen kleinen, duftenden Gegenstand in Ihre Tasche, zum Beispiel

eine Tube mit Ihrer Lieblingshandcreme, ein kleines Parfümflakon, ein Fläschchen mit

Ihrem Aftershave oder auch eine duftende Mandarine. Wenn Sie in eine Benommenheit

hineingleiten oder Ihr Präsentsein auf andere Weise verlieren, kann ein angenehmer

Geruch Sie an die Gegenwart erinnern.

Tastsinn: Probieren Sie mindestens eine der folgenden Tastübungen aus und entschei-

den Sie, was sich Ihrer Meinung nach gut anfühlt. Berühren Sie den Stuhl oder das Sofa,

worauf Sie gerade sitzen, oder Ihre Kleidung. Fahren Sie prüfend mit den Fingern darü-

ber, um sich die Beschaffenheit des Stoffes genau einzuprägen. Tun Sie so, als wollten

Sie den Fußboden mit Ihren Füßen von sich wegschieben. Spüren Sie, dass der Boden

Sie trägt? Ballen Sie die Hände zur Faust, um den Druck und die Wärme zu spüren –

diese Eigenschaften erinnern Sie daran, dass Sie im Hier und Jetzt sind. Pressen Sie die

Zunge fest an den Gaumen. Kreuzen Sie die Arme über der Brust zusammen, sodass

die Fingerspitzen Ihre Schlüsselbeine berühren; dann klopfen Sie abwechselnd mit der

linken und der rechten Hand leicht auf Ihren Brustkorb, um sich daran zu erinnern, dass

Sie in der Gegenwart und sicher aufgehoben sind. Artigas und Jarero (2005) nennen

diese Übung Schmetterlingsumarmung.

Atmen: Die Art, wie wir atmen, kann uns erheblich dabei helfen, präsent zu sein. Wenn

Menschen dissoziieren oder „abdriften“, atmen sie gewöhnlich sehr oberflächlich und

schnell, oder sie halten die Luft zu lange an. Nehmen Sie sich Zeit und versuchen Sie in

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Die Dissoziat ion verstehen · 33

1.3 Symptome der Dissoziation

In den folgenden Abschnitten informieren wir Sie über Dissoziationsvorgänge, die auf erlittene Traumata zurückzuführen sind. Dieses Konzept beruht auf jahrelangen sorgfältigen Beobachtungen und Studien (Boon, 1997; Boon & Draijer, 1993; van der Hart & Boon, 1997; van der Hart et al., 2006) einschließlich historischer Untersu-chungen über die Anfänge der einschlägigen Literatur im 19. Jahrhundert und die Erkenntnisse, die wir den Pionieren der Dissoziationsforschung des späten 20. Jahr-hunderts verdanken (z. B. Braun, 1986; Chu, 1998; Horevitz & Loewenstein, 1994; Kluft, 1985; Kluft & Fine, 1993; Loewenstein, 1991; Michelson & Ray, 1996; Putnam, 1989, 1997; Ross, 1989, 1997). Das Wort Dissoziation wird für zahlreiche verschie-denartige Symptome verwendet und überdies von den Angehörigen unterschiedli-cher Disziplinen unterschiedlich verstanden. Wir erklären zunächst die Integration, also den Zustand, den Sie als ein wesentliches Element Ihrer Heilung anstreben.

Integration

Um verstehen zu können, was Dissoziation bedeutet, müssen wir uns zunächst über ihr Gegenteil, nämlich die Integration, kundig machen. Im Zusammenhang mit dis-soziativen Störungen kann man die Integration als Vereinheitlichung all unserer unterschiedlichen Persönlichkeitsaspekte (einschließlich unseres Selbstgefühls) zu einem Ganzen verstehen, das auf kohärente Weise funktioniert.

Jeder Mensch wird mit einer natürlichen Tendenz geboren, seine Erfahrungen zu einer in sich zusammenhängenden, vollständigen Lebensgeschichte zu integrieren

aller Ruhe, langsam und regelmäßig ein- und auszuatmen. Atmen Sie durch die Nase

ein; dabei zählen Sie im Geiste langsam bis drei. Halten Sie die Luft an und zählen Sie

erneut bis drei. Dann atmen Sie durch den Mund aus und zählen wiederum langsam

„eins, zwei, drei“. Nehmen Sie Ihre Atmung aufmerksam wahr, und wiederholen Sie die

Übung mehrmals hintereinander.

Vielleicht haben Sie schon eine neue Methode entdeckt, die Ihnen die Erdung in der Ge-

genwart erleichtert?

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und ein stabiles Gefühl seiner selbst zu entwickeln. Unsere Integrationsfähigkeit hilft uns nicht nur, die Vergangenheit von der Gegenwart zu unterscheiden, son-dern ermöglicht uns auch, in der Gegenwart sogar dann verankert zu bleiben, wenn wir uns an die Vergangenheit zurückerinnern oder uns Gedanken über die Zukunft machen. Sie hilft uns überdies, ein Selbstgefühl zu entwickeln. Je sicherer und zuver-lässiger die emotionale und äußere Umwelt ist, in der wir aufwachsen, desto besser kann sich diese angeborene Integrationsfähigkeit entfalten und stabilisieren.

Wir alle entwickeln typische und beständige Denk- und Empfindungsweisen, Ver-haltens- und Wahrnehmungsweisen; sie machen das aus, was wir als unsere Persön-lichkeit bezeichnen. Freilich ist die Persönlichkeit kein „Ding“, das man sehen kann oder das lebt und atmet. Der Begriff ist vielmehr eine Abkürzung für das komplexe lebendige System, das all unsere unverwechselbaren, charakteristischen Verhaltens-weisen in sich vereint. Im Normalfall funktionieren Menschen auf eine koordinierte Weise. Das heißt, die Übergänge zwischen ihren Reaktionsmustern, die ihnen die Anpassung an unterschiedliche Situationen ermöglichen, sind fließend – ähnlich wie das Wechseln der Gänge beim Autofahren. Sie können sich morgens auf den Weg zur Arbeit begeben und ihr Denken, Fühlen, ihre Entscheidungsprozesse und ihr Verhalten entsprechend anpassen und verändern, ohne sich deshalb als Person verändert zu fühlen. So gesehen ist unsere Persönlichkeit stabil und berechenbar. Um aber in unserem Leben möglichst effektiv sein zu können, müssen wir mit jeder neuen Erfahrung, die wir machen, unsere Persönlichkeit subtil verändern, anpassen und umorganisieren. So gesehen ist unsere Persönlichkeit flexibel.

Selbstgefühl

Im Laufe unserer Entwicklung lernen wir nach und nach, die Lebenserfahrungen, die wir in unterschiedlichsten Situationen sammeln, mit unserem Selbstgefühl in Verbindung zu bringen. So gewinnen wir eine recht klare Vorstellung davon, wer wir sind, und können diese Erfahrungen als integralen Bestandteil unserer Auto-biographie in unsere „Lebensgeschichte“ einpassen. Jeder von uns hat ein Selbstge-fühl, das Teil seiner Persönlichkeit ist und das im Verlauf der Entwicklung und in unterschiedlichen Situationen beständig bleiben sollte: „Ich bin ich, ich bin ich als Kind, als Jugendliche, als Erwachsene, als Mutter, als Berufstätige. Ich bin ich, ob in angenehmen oder schwierigen oder gar überwältigenden Situationen. Diese äußeren Umstände und die Erfahrungen gehören zu mir. All meine Gedanken, Verhaltens-weisen, Gefühle, Empfindungen und Erinnerungen – ganz gleich, wie angenehm oder unangenehm sie sein mögen – gehören zu mir.“

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Die Dissoziat ion verstehen · 35

Dissoziation

Die Dissoziation resultiert aus einer schweren Störung der Integrationsfähigkeit, die unser Selbstgefühl und unsere Persönlichkeit in Mitleidenschaft zieht und ver-ändert. Wenn wir traumatisiert sind, kann unsere Integrationsfähigkeit chronisch beeinträchtigt sein. Vorübergehend beeinträchtigt wird sie manchmal durch ex treme Übermüdung, hohen Stress oder schwere Erkrankungen. Traumatisierungen im Kin-desalter können die Fähigkeit, unsere Erfahrungen zu einer kohärenten, in sich stim-migen Lebensgeschichte zu integrieren, drastisch herabsetzen, weil sie in den ersten Lebensjahren begrenzter als im Erwachsenenalter und noch nicht ausgereift ist.

Natürlich zieht nicht jedes Integrationsdefizit Dissoziationen nach sich. Wir kön-nen uns solche Defizite des Integrationsvermögens auf einem Kontinuum vorstel-len. Dissoziation bedeutet, dass wir eine Erfahrung als eigene Erfahrung gleichzeitig anerkennen und nicht anerkennen: Während ein bestimmter Teil Ihrer selbst sie wahrnimmt, weist ein anderer sie von sich. Infolgedessen fühlen sich Menschen mit einer dissoziativen Störung nicht integriert, sondern fragmentiert. Sie haben Erin-nerungen, Gedanken, Gefühle, Verhaltensweisen usw., die sie als fremd und für sich selbst untypisch erleben, als etwas, das scheinbar gar nicht zu ihnen gehört. Ihre Persönlichkeit ist nicht imstande, von einem Reaktions- oder Verhaltensmuster rei-bungslos – wie die Gangschaltung im Auto – in ein anderes zu wechseln. Stattdessen verändern sich ihr Selbstgefühl und ihre Reaktionsmuster je nach Situation, sodass es ihnen schwerfällt, sich neue Bewältigungsstrategien anzueignen. Sie haben nicht nur ein Selbstgefühl, sondern mehrere Selbstgefühle, und sie nehmen diese Selbste so wahr, als gehörten sie nicht (vollständig) zu einer Gesamtpersönlichkeit.

Dissoziierte Persönlichkeitsanteile

Diese abgespaltenen Selbstgefühle und Reaktionsmuster werden als dissoziierte Per-sönlichkeitsanteile bezeichnet. Es scheint, als bestünden zwischen verschiedenen Selbstgefühlen und ihren jeweiligen Reaktionsmustern nicht genügend Verknüp-fungen oder psychische Verbindungen. So kann zum Beispiel eine Frau, die unter einer dissoziativen Störung leidet, den Eindruck haben, dass bestimmte quälende Kindheitserinnerungen gar nicht ihre eigenen Erinnerungen seien: „Ich habe die-se schlimmen Erfahrungen nicht gemacht; ich bin nicht dieses kleine Mädchen. Das Mädchen hat Angst, aber das ist nicht meine Angst. Es ist hilflos, aber das ist nicht meine Hilflosigkeit.“ Diese fehlende Realisation, dieses „Nicht-Ich“-Erleben, ist das eigentliche Charakteristikum dissoziativer Störungen.

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Die Funktionen aller dissoziierten Persönlichkeits- oder Selbstanteile können ext-rem eingeschränkt sein oder auch recht hohe Entwicklungsniveaus erreichen. Letz-teres trifft insbesondere auf die dissoziative Identitätsstörung zu, die wir im 3. Kapi-tel ausführlicher erläutern. Dissoziationen treten in mannigfaltiger Gestalt auf. Dazu mehr im folgenden, den Symptomen gewidmeten Kapitel. Viele Dissoziationssymp-tome sind für Menschen mit dissoziativen Störungen typisch, doch jeder Mensch kann überdies sein ureigenes, subjektives Dissoziationserleben entwickeln.

1.4 Ursprünge chronischer Dissoziation

Eine Dissoziation taucht im Allgemeinen auf, wenn eine Erfahrung für den Betroffe-nen allzu bedrohlich ist oder ihn überwältigt, sodass er sie nicht umfassend integrie-ren kann – erst recht nicht ohne angemessene emotionale Unterstützung. Menschen, die in der frühen Kindheit traumatisiert wurden, haben die chronische Dissoziation von Teilen ihrer Persönlichkeit oder ihres Selbst mitunter zu einer „Überlebensstra-tegie“ entwickelt. In gewissem Umfang ermöglicht die Dissoziation ihnen ein nor-males Leben, indem sie es konsequent vermeiden, von extrem belastenden Erfah-rungen, die ihnen in der Gegenwart zustoßen könnten oder in der Vergangenheit zugestoßen sind, überwältigt zu werden. Leider hat dies zur Folge, dass dabei einer oder mehrere Persönlichkeitsanteile in unbewältigten Erfahrungen gleichsam „ste-ckenbleiben“, während ein anderer Teil unablässig versucht, diesen nicht integrierten Erfahrungen auszuweichen oder sie zu vermeiden.

Es ist wichtig für Sie, zu wissen, dass Sie sich auf Ihrem Weg zum Verständnis und zum effektiven Umgang mit Ihrer Dissoziation nicht unverzüglich auf die schmerz-volle Vergangenheit konzentrieren müssen. Vielmehr besteht unser erstes Ziel darin, die dissoziativen Aspekte Ihrer Persönlichkeit zu verstehen und zu lernen, sie effek-tiver zu handhaben, damit es Ihnen im alltäglichen Leben besser geht. Erst wenn Sie gelernt haben, in der Gegenwart mit Ihrer äußeren wie auch inneren Welt besser fertigzuwerden, wenden wir uns der Vergangenheitsbewältigung zu.

Biologische, soziale und Umweltfaktoren machen jeden von uns für Dissoziations-vorgänge anfällig. Manche Menschen haben eine biologische Tendenz zu dissoziie-ren; andere haben organische Probleme mit dem Gehirn, die ihnen die Integration ihrer Erfahrungen grundsätzlich erschweren. Für kleine Kinder ist es aufgrund der Unreife ihres Gehirns schwieriger als für Erwachsene, traumatische Erfahrungen zu integrieren. Weil es ihrem Selbstgefühl und ihrer Persönlichkeit noch an Kohärenz, an Zusammenhalt, mangelt, neigen sie stärker zum Dissoziieren. Außerdem wissen wir seit Langem, dass Menschen, die ohne angemessene soziale und emotionale Un-

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terstützung aufwachsen, in besonderem Maß dazu tendieren, chronische trauma-bedingte Störungen zu entwickeln. Dies gilt insbesondere für Menschen, die als Kinder chronisch missbraucht und vernachlässigt wurden. Und schließlich gibt es viele Familien, die schlechterdings nicht in der Lage sind, mit schwierigen Gefühlen und Themen umzugehen; in solchen Familien finden Kinder niemanden, der ihnen dabei hilft, Fähigkeiten zur angemessenen Verarbeitung überwältigender Erfahrun-gen und Gefühle zu erwerben. Auf solche Fähigkeiten sind wir jedoch angewiesen, um Dissoziationen überwinden und traumatische Erfahrungen meistern zu können. Dieses Manual hilft Ihnen, unter anderem auch diese Fähigkeiten zu erwerben.

1.5 Dissoziative Störungen

Bei Menschen, die chronisch in einem Maß dissoziieren, das ihr Leben beeinträch-tigt, wird vermutlich eine dissoziative Störung diagnostiziert. Weil es unterschied-liche dissoziative Störungen gibt, ist es wichtig zu wissen, dass diese Klassifizierun-gen kein Individuum umfassend beschreiben können; im Übrigen wissen wir über Dissoziationen beileibe nicht alles. Im Großen und Ganzen aber stimmt man darin überein, dass die schweren, komplexen dissoziativen Störungen sich normalerweise bereits in der Kindheit entwickeln, wenn die Integration der kindlichen Persönlich-keit und des kindlichen Selbstgefühls massiv beeinträchtigt wird. Die Folgen solcher Beeinträchtigungen machen sich bis ins Erwachsenenalter hinein bemerkbar.

Zurzeit stehen uns zwei diagnostische Klassifikationssysteme zur Verfügung, die gewisse Unterschiede aufweisen. Da wäre zum einen das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM), das gegenwärtig in der 4. Auflage vorliegt (Ame-rican Psychiatric Assoziation, 1994); die 5.  Auflage ist in Vorbereitung. Jede neue Auflage enthält Veränderungen der Kriterien für die Diagnostizierung psychischer Störungen, die auf neuen Forschungserkenntnissen und anderen Weiterentwicklun-gen beruhen. Das DSM ist das Klassifikationssystem, das in den USA und in vielen anderen Ländern vorrangig benutzt wird. Das zweite Klassifikationssystem wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) unter dem Titel International Classification of Diseases (ICD) herausgegeben. In manchen europäischen und außereuropäischen Ländern wird anstelle des DSM vorrangig die aktuelle 10. Auflage des ICD (WHO, 1992) benutzt. Auf einem Kontinuum traumabedingter Störungen – an hebend mit der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), die sich bei Menschen jeden Al-ters im Anschluss an eine Traumatisierung entwickeln kann – sind komplexe disso-ziative Störungen eine tiefergreifende Anpassung der Entwicklung an ein Kindheits-trauma; sie nähern sich deshalb dem anderen Endpol des Kontinuums an.

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Dieses Manual beschäftigt sich in erster Linie mit zwei spezifischen dissoziativen Störungen, nämlich mit der dissoziativen Identitätsstörung und einer weiteren dis-soziativen Störung, die eine Art Sammelbegriff für Menschen ist, deren Symptome denen der DIS ähneln, aber weniger stark ausgeprägt sind. Man bezeichnet diese Störung als Dissociative Disorder Not Otherwise Specified, Type 1b (DDNOS), zu Deutsch Nicht näher bezeichnete dissoziative Störung, Typ 1b (NNBDS; siehe Anhang A). Von dieser Störung ist die Mehrzahl der Menschen betroffen, die sich wegen einer dissoziativen Störung in Behandlung begeben. Die zentrale Schwierigkeit beider Stö-rungen ist eine Dissoziation der Persönlichkeit und des Selbst, die zur Folge hat, dass dissoziierte Anteile die Kontrolle über das Verhalten und Erleben des Menschen übernehmen oder ihr Verhalten und ihr Erleben beeinflussen. Freilich gehören auch all die dissoziierten Anteile zur Gesamtpersönlichkeit des Individuums (ISSTD, im Druck; Kluft, 2006; Putnam, 1989; Ross, 1997; van der Hart et al., 2006).

Sie sollten Ihre Diagnose mit Ihrem Therapeuten besprechen, wenn Sie Fragen oder Bedenken haben. Vergessen Sie nicht: Diagnosen sind keine Etiketten, die etwas darüber aussagen, wer Sie sind. Diagnosen sind nichts anderes als Möglichkeiten, breitgefächerte Erfahrungen zu kategorisieren, damit Ihr Therapeut Ihnen helfen kann. Die meisten Menschen mit einer komplexen dissoziativen Störung begeben sich zunächst wegen anderer Beschwerden in Therapie, zum Beispiel wegen Angst, Panik, Depressionen, Ess- und Schlafschwierigkeiten, Substanzmissbrauch, Selbst-verletzungen, suizidalen Tendenzen, somatischen Problemen, Pseudoanfällen und Beziehungsschwierigkeiten. Wenn der Therapeut das klinische Bild nicht sorgfältig auf eine zugrunde liegende dissoziative Störung hin untersucht, verbringt der Be-troffene womöglich viel Zeit in Behandlung, ohne dass sich sein Befinden wirklich bessert. In der Regel können die Probleme gelöst oder die Symptome erfolgreich be-handelt werden, wenn sich herausstellt, wie sie mit einer zugrunde liegenden Disso-ziation der Persönlichkeit zusammenhängen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Disso ziation diese Symptome so lange aufrechterhält, bis sie bearbeitet wird.

In diesem Manual gilt das Augenmerk nicht der Diagnose; vielmehr möchten wir Ihnen eine praktische Hilfe bei der Bearbeitung Ihrer Dissoziationssymptome an die Hand geben. Freilich ist die Diagnose wichtig, denn sie dient Ihnen und Ihrem Therapeuten als Orientierungshilfe. Weil sich die Diagnosekriterien aber von Zeit zu Zeit ändern und sie überdies zu Recht umstritten sind, empfehlen wir Ihnen, sich nicht allzu viele Gedanken über Ihre Diagnose zu machen, sondern sich stattdessen auf das zu konzentrieren, was Ihnen dabei helfen kann, die Dissoziation zu überwin-den, die Ihr Leben beeinträchtigt.

Führen Sie die Übung durch, die wir zu Beginn dieses Kapitels beschrieben haben: Lernen, präsent zu sein. Nehmen Sie sich dafür mindestens zweimal täglich einige

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Minuten Zeit. Sie können zum Beispiel gleich nach dem Aufstehen oder unmittelbar vor dem Schlafgehen üben. Im Übrigen aber lässt sich diese Art Übung zu jeder be-liebigen Tageszeit und ganz gleich, wo Sie sind, ein paar Minuten lang praktizieren.

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Dissoziationssymptome

Agenda

Begrüßung und Gedanken über die vorangegangene Sitzung

Übung: Lernen, präsent zu sein

Thema: Dissoziationssymptome

– Einführung

– Probleme mit der Identität oder dem Selbstgefühl

– Zu wenig empfinden und wahrnehmen: dissoziative Symptome, die mit einem schein-

baren Verlust an Funktion einhergehen

– Zu viel empfinden und wahrnehmen: dissoziative Symptome, die mit Intrusionen ein-

hergehen

– Weitere Bewusstseinsveränderungen

– Erweiterung der Übung Lernen, präsent zu sein: Finden Sie Ihre eigenen Gegenwarts-

anker

Hausaufgaben

– Lesen Sie das Kapitel ein zweites Mal

– Füllen Sie das Arbeitsblatt 2.1 – Dissoziative Symptome begreifen – aus

– Führen Sie die Übung Lernen, präsent zu sein weiterhin zweimal täglich, zum Beispiel

morgens und abends (s. Kap. 1), durch

– Füllen Sie das Arbeitsblatt 2.2 – Liste sicherer Gegenwartsanker – aus

2.1 Einführung

Die Dissoziation umfasst eine breite Vielfalt leichter bis schwerer, vorübergehender und chronischer Symptome. Bei Menschen mit einer dissoziativen Störung sind die Symptome grundsätzlich chronisch; das heißt auch, dass das tägliche Leben zumin-dest zu einem gewissen Grad durch sie beeinträchtigt wird. Manche dissoziativen Symptome treten nicht nur bei dissoziativen Störungen, sondern auch bei anderen psychiatrischen Erkrankungen auf. Die Experten streiten sich nach wie vor darüber, welche Symptome als dissoziativ zu betrachten sind oder eher als häufiger auftreten-de, mit Gewahrseins- und Bewusstseinsveränderungen zusammenhängende Symp-tome, die in gewissem Umfang jeder Mensch kennt. In diesem und in den folgenden Kapiteln beschreiben wir die wichtigsten Dissoziationssymptome.

2.

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2.2 Probleme mit der Identität oder dem Selbstgefühl

Die meisten Menschen mit einer dissoziativen Störung klagen keineswegs über Iden-titätsprobleme oder über ein unsicheres Selbstgefühl, wenn sie sich in Therapie be-geben. Vielmehr suchen sie wegen anderer Beschwerden Hilfe, zum Beispiel weil sie unter Depressionen leiden, unter Angst, Schlafstörungen oder Beziehungsschwierig-keiten. Aber sie nehmen auch fremdartige und verstörende Symptome an sich wahr, die ihnen unbegreiflich sind und sie häufig fürchten lassen, „verrückt“ zu sein. Oft können sie dieses innere Erleben nicht recht beschreiben. Sie empfinden es als be-schämend und bringen es womöglich gar nicht zur Sprache, solange sie nicht direkt danach gefragt werden. Tatsächlich hängen solche Symptome in der Regel mit den nicht anerkannten Aktivitäten anderer Persönlichkeits- oder Selbstanteile zusam-men. Sobald diese Menschen ihre dissoziativen Symptome verstehen, erscheinen sie ihnen zumeist weniger befremdlich und besorgniserregend.

Eines der zentralen Symptome der Dissoziation ist ein Gefühl der Unfreiwilligkeit, das heißt, man nimmt bestimmte Gedanken, Gefühle, Verhaltensweisen, Erinne-rungen und Ereignisse usw. in sich wahr, hat aber den Eindruck, als gehörten sie nicht zum eigenen Selbst. Sie werden als „Nicht-ich“-Erfahrungen empfunden. Man-che Menschen haben das Gefühl, „mehr als eine Person“ zu sein oder verschiedene „Stimmen“ oder Identitäten zu besitzen, mitunter mit jeweils eigenem Namen, Alter und weiteren charakteristischen Eigenschaften, die mit dem Identitätserleben des Betroffenen nicht im Einklang stehen.

Potenziell kann jeder dissoziierte Persönlichkeitsanteil eine relativ individuelle Sicht auf das Selbst, auf andere Menschen und auf die Welt entwickeln, die mit je eigenen Gedanken, Vorhersagen, Gefühlen und Verhaltensweisen – wenngleich in sehr be-grenztem Umfang – einhergehen. Infolgedessen fällt es Menschen mit einer disso-ziativen Störung schwer zu sagen, wer sie wirklich sind: Ihre Gedanken, Gefühle, Handlungen, Wünsche oder körperlichen Wahrnehmungen sind in hohem Maße verwirrend. Dissoziierte Persönlichkeitsanteile sind keine voneinander getrennten Identitäten oder Persönlichkeiten in einem einzigen Körper, sondern Anteile eines In-dividuums, die allerdings noch nicht bruchlos, koordiniert und flexibel miteinander funktionieren können. Im nächsten Kapitel werden wir dissoziierte Persönlichkeits-anteile detaillierter beschreiben.

Die innere Spaltung der Persönlichkeit kann sich in mannigfaltigen Symptomen äußern, die allesamt darauf hinauslaufen, dass man „zu wenig“ oder „zu viel“ emp-findet.

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2.3 Zu wenig empfinden und wahrnehmen: dissoziative Symptome, die mit einem scheinbaren Verlust an Funktionen einhergehen

Manche dissoziativen Symptome sind mit einem scheinbaren Verlust bestimmter Funktionen oder Erfahrungen verbunden, die Sie eigentlich besitzen sollten. Infol-gedessen weisen Sie ein Wahrnehmungsdefizit auf. Denkbar ist zum Beispiel, dass Sie an einer Amnesie leiden, das heißt, die Erinnerung an wichtige Ereignisse oder Phasen Ihres Lebens verloren haben. Oder Ihnen scheinen eine bestimmte Fähigkeit oder bestimmte Kenntnisse, die eigentlich ganz selbstverständlich zu Ihrem Leben gehören, plötzlich abhandenzukommen – Sie können nicht mehr Autofahren oder nicht mehr mit Geld umgehen. Die meisten dissoziierenden Menschen berichten auch, dass sie urplötzlich keine Gefühle mehr empfinden oder ihren Körper nicht mehr wahrnehmen können: Sie werden emotional oder physisch taub. Diese Ver-luste sind weder dauerhafter Natur noch liegt ihnen eine organische Erkrankung, etwa eine Demenz oder ein neurologisches Problem, zugrunde. Sie werden vielmehr durch die Aktivität anderer Persönlichkeitsanteile hervorgerufen, die sich gewisser-maßen von Ihnen abgetrennt und verselbständigt haben.

Verluste dieser Art sind „scheinbar“, weil die Funktion oder Erfahrung, die Ihnen vorerst nicht mehr zur Verfügung steht, einem anderen Teil Ihrer selbst durchaus verfügbar sein kann. Auch wenn Sie sich beispielsweise nicht daran erinnern, als Kind Angst gehabt zu haben, wird ein anderer Selbstanteil Angst oder Panik emp-finden, sobald Sie auf geeignete Auslöser treffen, die bestimmte Ereignisse aus Ih-rer Kindheit wiederaufleben lassen. Das heißt: Auch wenn Sie zu wenig empfinden und wahrnehmen (emotionale Taubheit), kann ein anderer Anteil Ihrer selbst zu viel empfinden und zum Beispiel von Gefühlen überwältigt werden. An späterer Stelle in diesem Kapitel werden wir die Symptome beschreiben, die auftreten, wenn Sie „zu viel“ empfinden und wahrnehmen.

Dissoziative Amnesie (Erinnerungsverlust)

Jeder Mensch hat eine natürliche Amnesie, die die ersten drei Lebensjahre betrifft und auf die Unreife des frühkindlichen Gehirns zurückzuführen ist. Auch an die nachfolgenden Jahre bis zur Einschulung haben viele Menschen nur vage Erinne-rungen. Freilich kann sich niemand an alles erinnern, was er jemals erlebt hat; Ver-gesslichkeit und Erinnerungsverzerrungen sind zu einem gewissen Grad normal. Im Großen und Ganzen aber sollten Kinder, sobald sie eingeschult werden, weitgehend

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stimmige Erinnerungen an ihr Leben und an bedeutsame Ereignisse besitzen und in der Lage sein, sie in eine schlüssige Geschichte über sich selbst zu fassen.

Eine Amnesie ist weit mehr als bloße Vergesslichkeit. Sie hängt mit gravierenden Erinnerungsschwierigkeiten zusammen, die nicht krankheitsbedingt oder auf ext-reme Müdigkeit, Alkoholisierung, bewusstseinsverändernde Drogen oder Medika-mente oder auf ganz normales Vergessen zurückzuführen sind. Man kann die Am-nesien auf einem Kontinuum anordnen. Menschen mit einer dissoziativen Störung erinnern sich möglicherweise an einzelne Aspekte eines bestimmten Vorgangs, die wesentlichen Elemente aber sind ihrem Gedächtnis entglitten. Bisweilen kann über-haupt keine Erinnerung an bestimmte Ereignisse abgerufen werden. Manche Men-schen mit einer dissoziativen Störung vergleichen ihre Erinnerungen aufgrund ihrer Lückenhaftigkeit mit „Schweizer Käse“; andere berichten von „trüben“ oder „dif-fusen“ Erinnerungen oder von Erinnerungen „voller schwarzer Löcher“. Sie haben den Verdacht, dass irgendetwas mit ihnen geschehen ist, und vielleicht wurde ihnen sogar von anderen Menschen erzählt, dass ihnen etwas zugestoßen ist – sie können sich aber an kein bestimmtes Ereignis erinnern und geraten häufig in Angst, wenn sie darüber nachzudenken beginnen. Es kommt vor, dass längere Zeiträume, in de-nen das normale Leben weiterging, einer Amnesie unterliegen, sodass sich jemand zum Beispiel an nichts erinnern kann, was nach seinem 5. Schuljahr passiert ist, oder im Alter zwischen neun und zwölf Jahren.

Amnesien betreffen nicht ausschließlich die Vergangenheit. Auch die Gegenwart kann einer Amnesie unterliegen. Man bezeichnet dies als Zeitverlust. Der Zeitverlust ist ein charakteristisches Symptom der dissoziativen Identitätsstörung. Menschen, die darunter leiden, finden sich unter Umständen an einem Ort wieder, ohne zu wissen, wie sie dorthin gelangt sind; oder sie berichten, dass ihnen die Erinnerung an alles fehlt, was sie im Laufe bestimmter Stunden oder sogar Tage getan haben. Oder sie stellen plötzlich fest, dass sie offensichtlich etwas getan haben (zum Beispiel einkaufen gegangen sind oder in der Bibliothek waren), wissen es aber nicht mehr. Sie treffen Menschen, von denen sie erkannt werden, ohne sich daran erinnern zu können, ihnen jemals begegnet zu sein. Und manchmal merken sie im Gespräch mit anderen, dass diese über ein bestimmtes Thema so sprechen, als hätte man sich zuvor schon darüber unterhalten – aber ihnen ist kein entsprechender Austausch in Erinnerung geblieben, und das Thema kommt ihnen nicht vertraut vor.

Diese Symptome hängen, wenn sie nicht auf stressbedingte Unaufmerksamkeit zu-rückzuführen sind, häufig damit zusammen, dass ein bestimmter Persönlichkeitsan-teil aktiv ist, ein anderer dies aber gar nicht oder nur begrenzt zur Kenntnis nimmt. So gibt es Anteile, die einkaufen gehen oder die Bibliothek aufsuchen, und Anteile, die eigene Freunde haben, denen die übrigen Anteile nie begegnet sind. Der häufige

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oder lang andauernde Zeitverlust ist für die dissoziative Identitätsstörung typischer als für die nicht näher bezeichnete dissoziative Störung.

Zeitverzerrungen

Mit einer dissoziativen Störung gehen häufig Probleme einher, die als Zeitverzerrung bezeichnet werden (van der Hart & Steele, 1997). Die Betroffenen haben das Gefühl, dass die Zeit viel zu langsam oder aber zu schnell vergeht; sie sind überrascht zu merken, wie viel Zeit verstrichen ist, oder haben den Eindruck, dass eine Stunde sich genauso lang hinzieht wie ein ganzer Tag. Manche Persönlichkeitsanteile sind desorientiert; sie können nicht angeben, wo sie sich räumlich und zeitlich befinden, und glauben, noch immer in der Vergangenheit zu leben.

Entfremdung von sich selbst und vom eigenen Körper (Depersonalisation)

Viele Menschen erleben temporäre Formen der Depersonalisation, wenn sie müde sind oder unter Stress stehen. Solche vorübergehenden Depersonalisationserschei-nungen treten bei zahlreichen psychischen Störungen auf. Die Experten diskutieren noch darüber, welche Depersonalisationserscheinungen als dissoziative Symptome zu betrachten sind oder aber zutreffender als Bewusstseinsveränderungen anderer Art (Boon & Draijer, 1993, 1995; Steele et al., 2009; van der Hart et al., 2006). Wir beschreiben diese nicht dissoziationsbedingten Bewusstseinsveränderungen im vor-letzten Abschnitt dieses Kapitels.

Wenn Sie das Gefühl entwickeln, sich selbst fremd zu sein, treten häufig dissoziierte Persönlichkeitsanteile auf den Plan, beispielsweise ein Anteil, der sich taub anfühlt, leer oder diffus; gleichzeitig fühlt sich ein anderer Teil wahrscheinlich überwältigt. Möglich ist auch, dass Sie das Gefühl haben, sich selbst von außen zuzuschauen; das heißt, Sie beobachten einen anderen, aktiven Anteil Ihrer selbst so, als wäre er eine andere Person.

Manche Menschen mit einer dissoziativen Störung können sich an das, was in einer bestimmten Situation geschehen ist, erinnern – sie leiden also nicht unter einer Am-nesie –, haben aber dennoch das Gefühl, als sei das, was ihnen in Erinnerung geblie-ben ist, nicht wirklich passiert. Vielmehr kommt es ihnen so vor, als sei ein Film oder ein Traum vor ihnen abgelaufen. Oder sie wissen, was passiert ist, ohne indes zu re-alisieren, dass es ihnen selbst zugestoßen ist; es scheint jemand anderen getroffen zu

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haben. Auf diese Weise gelingt es ihnen, sich von überwältigenden Erfahrungen zu distanzieren. Sie koppeln sich von ihren Gefühlen ab und glauben, ausschließlich „in ihrem Kopf“ zu existieren, so als seien sie innerlich tot oder „in Watte eingepackt“; manche Menschen fühlen sich wie ein „Stück Karton“ oder „eindimensional“. Es scheint, als seien sie in der Gegenwart nicht wirklich präsent; sie fühlen sich unwirk-lich, nicht existent und unfähig, ihr eigenes Handeln zu steuern. Andere beschreiben den Eindruck, „auf Autopilot“ oder „wie ein Roboter“ zu funktionieren.

Wenn Menschen mit einer dissoziativen Störung den eigenen Körper als fremd wahrnehmen, sind sie nicht selten unempfindlich gegenüber körperlichem Schmerz oder in einzelnen Teilen empfindungslos. Manche Menschen berichten, dass sie Hitze und Kälte nicht immer zutreffend wahrnehmen, dass sie nicht merken, ob sie hungrig oder müde sind oder sich körperlich wie abgestorben fühlen. Auch in sol-chen Fällen nehmen andere Anteile des Selbst sowohl körperlichen Schmerz, Hunger als auch andere körperliche Empfindungen sehr wohl wahr.

Wir kennen eine Vielzahl von Depersonalisationssymptomen. Sie alle aber erfüllen die Funktion, überwältigende Gefühle oder Wahrnehmungen zu meiden oder zu re-gulieren. Depersonalisationssymptome können vorübergehender oder chronischer Natur sein.

Entfremdung von der Umwelt (Derealisation)

Man kann sich nicht nur sich selbst entfremden, sondern auch das beunruhigende Gefühl entwickeln, dass die Umwelt oder die Menschen, die einen umgeben, un-wirklich seien. So kann Ihr eigenes Haus Ihnen fremd vorkommen, absonderlich oder irreal, wie ein Haus, in dem sie nur zu Besuch sind. Auch andere Menschen, die Sie eigentlich gut kennen, erscheinen Ihnen fremd. Sie empfinden die ganze Welt als unwirklich, wie in einem Traum oder einem Theaterstück. Manchmal wirkt Ihre Umgebung verschwommen, nebelig oder wie in die Ferne gerückt. Sie hören die Stimmen anderer Menschen, als kämen sie von weit her, sie scheinen aus den Tiefen eines langen Tunnels an Ihr Ohr zu dringen, obwohl diese Menschen direkt vor Ih-nen stehen. Oder Sie sehen jemanden, der neben Ihnen sitzt, wie aus weiter Ferne. Bei Menschen mit einer dissoziativen Störung sind diese Fremdheits- und Unwirk-lichkeitssymptome zumindest manchmal an Persönlichkeitsanteile gekoppelt, die für immer in einer Zeit der Traumatisierung leben; das heißt, sie können zwischen Vergangenheit und Gegenwart nicht unterscheiden und die Gegenwart deshalb nicht als real oder vertraut empfinden. Diese Persönlichkeitsanteile können Ihre Realitäts-wahrnehmung in einem solch hohen Maß beeinträchtigen, dass Sie Verwirrtheits-zustände entwickeln.

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2.4 Zu viel empfinden und wahrnehmen: dissoziative Symptome, die mit Intrusionen einhergehen

Als dissoziative Intrusionen werden jene Symptome bezeichnet, die auftreten, wenn ein dissoziierter Persönlichkeitsanteil in das Erleben eines anderen Anteils eindringt. Intrusionen können in sämtlichen Bereichen des Erlebens auftreten: Erinnerungen, Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Wünsche, Bedürfnisse, Be-wegungsabläufe oder Verhaltensweisen. Dies ist der Grund, weshalb so viele Symp-tome letztlich durch eine Dissoziation hervorgerufen werden.

Dissoziative Intrusionen umfassen zum Beispiel Flashbacks traumatischer Ereignis-se aus der Vergangenheit, Gefühle, Gedanken, Impulse oder Verhaltensweisen, die Sie „wie aus heiterem Himmel“ überkommen, unerklärliche Schmerzen oder ande-re Empfindungen ohne ersichtliche organische Ursache, das Gefühl, körperlich von jemand anderem oder von anderen Mächten gesteuert zu werden, das Hören von Stimmen, die im Hintergrund Kommentare abgeben, streiten, kritisieren, weinen oder sprechen, oder andere aufdringliche innere Empfindungen, die Sie als fremd, als nicht zu Ihnen selbst gehörend, erleben. Solche Wahrnehmungen überfallen Sie, wenn ein dissoziierter Selbstanteil in Ihr Bewusstsein eindringt und Sie das, was die-ser Anteil erlebt, zumindest partiell miterleben. Symptome dieser Art treten je nach den äußeren Umständen und abhängig von dem Stress, unter dem Sie gerade stehen, auf, können aber auch wieder verschwinden.

Zumindest in den Anfangsphasen der Therapie lässt sich oft schwer sagen, ob ein Symptom tatsächlich dissoziativ ist, das heißt, mit einem dissoziierten Persönlich-keitsanteil zusammenhängt. Es ist wichtig, dass Sie sich genügend Zeit lassen, um den Ursprung und die Bedeutung Ihrer Symptome zu verstehen. Ein Grund, der es so schwierig macht, Dissoziationen zu erkennen, ist, dass die Betroffenen manchmal keine Worte finden, um ihre Symptome zu beschreiben. Deshalb müssen Sie lernen, Ihr inneres Erleben bewusst wahrzunehmen und in Worte zu fassen, ganz gleich, ob es dissoziiert ist oder nicht. Im Laufe der Zeit ermöglicht ein solches Gewahrsein es Ihnen, all das, was Sie empfinden und erleben, besser zu verstehen und nach und nach auch erfolgreicher damit umzugehen. Die Übungen am Ende des Kapitels sol-len Ihnen helfen, Ihre dissoziierten Erfahrungen bewusster wahrzunehmen und sie zu beschreiben.

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2.5 Weitere Bewusstseinsveränderungen

Die Dissoziation hängt aufs Engste mit weiteren Bewusstseinsveränderungen zu-sammen, die jeder von uns kennt und die auch bei anderen psychischen Störungen auftreten. Sie sind also kein spezifisches Merkmal dissoziativer Störungen. Diese Symptome können ohne Weiteres durch Müdigkeit, Krankheit oder Stress hervorge-rufen werden, durch Medikamente, Drogen oder Alkohol und klingen dann häufig von selbst wieder ab. Dazu zählen zum Beispiel das Gefühl, nicht wirklich präsent zu sein, das Abdriften, extreme Vergesslichkeit und der Verlust des Zeitgefühls, Kon-zentrationslosigkeit oder Unaufmerksamkeit, aber auch die Erfahrung, sich in ir-gendeine Aktivität (zum Beispiel in die Lektüre eines Buches oder das Anschauen eines Filmes) so sehr zu vertiefen, dass Sie nicht mehr merken, was um Sie herum vorgeht. Weitere Symptome dieser Art sind das Tagträumen, das Phantasieren oder auch ein tranceähnliches Verhalten einschließlich der Autobahnhypnose: Sie fahren automatisch, ohne bewusst darauf zu achten, können sich später kaum an die Tour erinnern und haben womöglich sogar Ihre Ausfahrt verpasst; Zeitverzerrungen und eine verminderte geistige Leistungsfähigkeit zählen ebenfalls zu solchen Verände-rungen des Bewusstseins.

Diese Symptome können in leichter, aber auch in schwerer Form auftreten; sie kön-nen sich lediglich als besonders ausgeprägte Formen normalen Verhaltens äußern oder das Gesamtfunktionieren des Menschen gravierend beeinträchtigen. Sie kön-nen vorübergehend oder tendenziell chronisch sein (Steele et al., 2009; van der Hart et al., 2006). Menschen mit einer dissoziativen Störung leiden häufig unter zahlrei-chen solcher Bewusstseinsveränderungen und darüber hinaus unter Symptomen, die mit den dissoziierten Anteilen ihrer Persönlichkeit oder ihres Selbst zusammen-hängen. Tatsächlich kann jeder dissoziierte Anteil diese Probleme in der einen oder anderen Form erleben; überdies kann der Bewusstseinszustand auch durch die In-trusion dissoziierter Anteile verändert werden.

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Dissoziat ionssymptome · 49

Erweiterung der Übung Lernen, präsent zu sein: Finden Sie Ihre eigenen Gegenwartsanker

Sie können die Übung aus dem 1. Kapitel erweitern und Ihren individuellen Bedürfnissen

anpassen. Führen Sie die Übung zu Hause durch und suchen Sie sich in jedem Zimmer

mehrere Gegenwartsanker aus. Sie sollten ausgeruht sein, wenn Sie mit der Übung begin-

nen. Üben Sie während des Tages, denn das Licht hilft Ihnen, präsent zu bleiben. Wir emp-

fehlen, neue Übungen grundsätzlich durchzuführen, wenn Sie sich topfit fühlen, denn

in dieser Verfassung können Sie am meisten davon profitieren. Sobald sich die Übungen

eingespielt haben, werden sie Ihnen auch dann leichter fallen, wenn Sie gestresst sind.

Wandern Sie durch Ihre Wohnung und konzentrieren Sie sich in jedem Zimmer auf die

Dinge, die Sie dort sehen, auf die Geräusche, die Sie hören, die Gerüche, die Sie erschnup-

pern, die Lebensmittel, die in der Küche zum Probieren bereitliegen, die Gegenstände,

die Sie berühren oder in die Hand nehmen können. Wichtig ist, dass Sie sich neutrale Ge-

genstände aussuchen, die Sie als angenehm empfinden – Dinge, auf denen Ihr Auge gern

verweilt, Geräusche, die Sie mögen, Oberflächen, die sich gut anfühlen. All dies bindet Sie

in die Gegenwart ein. Betrachten Sie zum Beispiel ein Bild oder ein Poster an der Wand,

legen Sie Musik auf, die Ihnen gefällt, naschen Sie in der Küche etwas Leckeres usw. Sie

sollten sich in jedem Zimmer drei Dinge aussuchen, die Sie sehen, hören, fühlen oder

berühren können. Vielleicht möchten Sie eine Liste dieser Anker anlegen, die Sie jederzeit

zur Hand haben? Notieren Sie sich Ihre Anker, denn unter Stress vergisst man häufig, sie

zu Hilfe zu nehmen. Sie können sogar jemanden bitten, eine Liste dieser Gegenstände

für Sie auf Band zu sprechen; wann immer Sie unter Stress geraten, können Sie sich die

Aufzeichnung anhören. Entscheidend ist, dass Sie Ihre Konzentration auf Gegenstände

lenken, die Ihnen helfen, sich fest in der Gegenwart zu verankern, und dass Ihnen diese

Gegenstände zur Verfügung stehen, wenn Sie sich zu Hause in der Gegenwart erden und

orientieren müssen. Somit sollte nun jedes Ihrer Zimmer mit Ankern ausgestattet sein,

vertrauten Plätzen oder Gegenständen, die Sie erden und die Sie daran erinnern, präsent

zu sein. Wenn es Ihnen nicht gut geht oder eine Situation allzu schwierig wird, werden

Ihre Anker Ihnen und all Ihren Persönlichkeitsanteilen dabei helfen, der sicheren Gegen-

wart verhaftet zu bleiben.

Vielleicht möchten Sie sich sogar eine Kleinigkeit kaufen, die Sie an das Präsentbleiben

erinnert und in Ihrem Zuhause einen besonderen Platz erhält – ein Foto vielleicht, ein

Stein, eine kleine Figur, kurz alles, was Ihnen oder inneren Anteilen Ihrer selbst hilft, den

Kontakt zur Gegenwart nicht zu verlieren. Jedes Mal, wenn Sie diesen Gegenstand be-

trachten oder in die Hand nehmen, erinnern Sie sich daran, dass er Teil der Gegenwart ist

und dass Sie hier und jetzt mit ihm zusammen sind. Manche Anteile Ihrer Persönlichkeit

werden vielleicht andere Gegenwartsanker bevorzugen als Sie selbst. Und einigen werden

ÜBUNG

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50 · Traumabedingte Dissoziat ion bewält igen

Hinweis. Wenn Sie zu Hause nach Gegenwartsankern suchen, fallen Ihnen wahr-scheinlich auch Gegenstände ins Auge, die Sie an schmerzvolle Ereignisse aus der Vergangenheit erinnern. Wenn Sie irgend können, räumen Sie solche Dinge vorläu-fig weg! Im 15. Kapitel finden Sie spezifische Empfehlungen, die Ihnen helfen, diese Auslöser traumatischer Erinnerungen zu meiden oder zu reduzieren. Manche Ge-genstände werden lediglich in einem bestimmten Selbstanteil quälende Erfahrungen aktivieren und in anderen nicht; deshalb ist es wichtig, die Bedürfnisse und Gefühle sämtlicher Anteile möglichst umfassend zu berücksichtigen, wenn Sie entscheiden, welche Dinge Sie wegräumen oder künftig meiden wollen.

die Dinge, die Sie ausgewählt haben, womöglich nicht behagen. Persönlichkeitsanteile,

die sich für jünger halten, suchen sich vielleicht etwas aus, das den erwachsenen Anteilen

kindisch erscheint. Häufig aber ist es gerade für diese jungen Selbstanteile am schwie-

rigsten, in der Gegenwart zu bleiben. Deshalb sind sie auf Hilfe angewiesen. Versuchen

Sie, alle Anteile Ihrer selbst zu respektieren und ihnen das zuzugestehen, was sie brau-

chen, um sich geborgen und sicher zu fühlen.

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Dissoziierte Persönlichkeitsanteile verstehen

Agenda

Begrüßung und Gedanken über die vorangegangene Sitzung

Erläuterung der Hausaufgaben

Thema: Dissoziierte Persönlichkeitsanteile verstehen

– Einführung

– Die innere Welt des dissoziierenden Menschen

– Bedeutung und Funktionen spezifischer Typen der Persönlichkeitsanteile

Rückblick auf die Übung zum Finden persönlicher Anker

Hausaufgaben

– Lesen Sie das Kapitel ein zweites Mal

– Führen Sie die Übung Lernen, präsent zu sein weiterhin regelmäßig durch

– Vervollständigen Sie Ihre Liste der Anker

– Füllen Sie das Arbeitsblatt 3.1 – Dissoziative Symptome erkennen – aus

– Füllen Sie das Arbeitsblatt 3.2 – Dissoziierte Selbstanteile erkennen – aus

Hinweis. Dieses Kapitel ist sehr materialreich. Wenn Sie das Manual in einem Gruppen-

setting benutzen, ist es vielleicht hilfreich, für die Erarbeitung des Inhalts zwei oder mehr

Sitzungen zu veranschlagen.

3.1 Einführung

Menschen mit einer komplexen dissoziativen Störung haben eine dissoziative Per-sönlichkeitsorganisation, das heißt, ihre Persönlichkeit besteht aus zwei oder mehr dissoziierten Teilen mit jeweils (zumindest minimal) unterschiedlichen Reakti-onen, Gefühlen, Gedanken, Wahrnehmungen, körperlichen Empfindungen und Verhaltensweisen. In der inneren Welt dieser Menschen spielen sich Interaktionen zwischen unterschiedlichen Persönlichkeitsanteilen ab, die nicht zwangsläufig ins Bewusstsein gelangen. Wie schon erwähnt, ist die menschliche Persönlichkeit ein komplexes dynamisches System, in dem – wie in allen Systemen – kontinuierliche Aktionen und Reaktionen ablaufen und einzelne Bestandteile gutartige oder auch bösartige Verbindungen eingehen. Dissoziierte Anteile können die Gesamtpersön-

3.

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lichkeit mehr oder weniger lückenlos unter ihre Kontrolle bringen. Wie oben er-wähnt, handelt es sich bei diesen Anteilen – ganz gleich, wie abgetrennt sie Ihnen er-scheinen mögen – nicht um andere „Personen“ oder vollständige „Persönlichkeiten“, sondern vielmehr um Manifestationen der Art und Weise, wie Ihre Persönlichkeit aufgebaut ist. Sie sind und bleiben eine Person, auch wenn Sie mitunter das Gefühl haben, „mehrere“ zu sein.

3.2 Die innere Welt des dissoziierenden Menschen

Bilder von der „inneren Welt“ dissoziierter Selbstanteile

Viele (wenngleich nicht alle) Menschen mit einer dissoziativen Störung visualisieren einen inneren Raum oder eine innere Welt als Sitz ihrer einzelnen Anteile; manch-mal visualisieren sie auch einen bestimmten Teil. Sie beschreiben innere Szenarien, etwa Gänge mit Türen, Häuser mit mehreren Zimmern oder bestimmte Plätze, an denen einzelne Teile „leben“ – zum Beispiel ein Kind, das sich in einer Ecke zu-sammenkauert, oder ein wütend dreinschauender Teenager mit strähnigem Haar. Diese Bilder sind hilfreich, denn sie können therapeutisch verändert werden, um Ihre innere Sicherheit und die Kommunikation in Ihrer inneren Welt zu verbessern. Zum Beispiel lassen sich in den Zimmern Sprechanlagen installieren, die die Kom-munikation erleichtern; dem Bild von dem zusammengekauerten Kind kann eine warme Decke oder ein Stofftier hinzugefügt werden, um ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit zu erzeugen.

Die Grundfunktionen der verschiedenen Persönlichkeitsanteile

Wenngleich die dissoziierten Anteile einer jeden Persönlichkeit bestimmte unver-wechselbare Merkmale besitzen, weisen sie doch auch typische grundlegende Ähn-lichkeiten in ihren wesentlichen Funktionen auf. So lassen sich in der Persönlich-keitsorganisation traumatisierter Menschen im Allgemeinen je nach Funktionen mindestens zwei verschiedenartige Anteilstypen unterscheiden. Der erste Anteilstyp ist darauf konzentriert, das Alltagsleben zu bewältigen und traumatische Erinne-rungen zu vermeiden; der zweite hingegen steckt in den traumatischen Erfahrungen der Vergangenheit fest und ist darauf konzentriert, Bedrohungen abzuwehren (van der Hart et al., 2006).

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Häufig besteht die Gesamtpersönlichkeit weitgehend aus dem Anteil oder den An-teilen, die das tägliche Leben führen. Die meisten Menschen mit einer nicht näher bezeichneten dissoziativen Störung haben nur einen einzigen Anteil, der im tägli-chen Leben funktioniert, Menschen mit dissoziativer Identitätsstörung hingegen mehrere. Anteile dieses Typs meiden den Kontakt zu anderen Teilen oder erkennen diese nicht einmal an, obwohl sie durch diese Anteile auf verschiedenerlei Weise beeinflusst werden können. Dazu später mehr. Sie weichen Situationen oder Erfah-rungen aus, die traumatische Erinnerungen zu aktivieren drohen. Anfangs hilft die-ses Vermeidungsverhalten, die Erinnerung an schmerzhafte (frühere) Erfahrungen unter Kontrolle zu halten. Kurzfristig erleichtert es den Alltag, doch im Laufe der Zeit schränkt es das Leben immer mehr ein.

Während sich der Persönlichkeitsanteil, der das Alltagsleben führt, vermeidend ver-hält, bleibt mindestens ein anderer Anteil – zumeist sogar mehrere – in traumati-schen Erinnerungen „stecken“; die Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen und das Verhalten dieses Anteils oder dieser Anteile sind so geartet, als spielten sich jene Vorgänge (zumindest partiell) in der Gegenwart weiterhin ab oder als könnten sie sich jederzeit wiederholen. Diese Persönlichkeitsanteile können nicht von Verhal-tensweisen lassen, die vor Gefahren schützen, selbst wenn ein solches Handeln der Situation überhaupt nicht angemessen ist. Zum Beispiel beginnen manche Anteile zu kämpfen, um Sie zu schützen, obwohl niemand Sie aktuell bedroht; andere wollen der Situation, in der Sie sich gerade befinden, ausweichen oder ihr entfliehen, obwohl Sie sicher sind; manche erstarren vor Angst, und wieder andere brechen vollstän-dig zusammen. Diese Persönlichkeitsanteile sind häufig nicht sehr rational, sondern hochemotional, begrenzt in ihrem Denk- und Wahrnehmungsvermögen, nicht auf die Gegenwart orientiert und überwältigt. Sie leben weitgehend in der Traumazeit, das heißt, sie erleben die traumatische Vergangenheit als Gegenwart, und all ihre Gefühle, Überzeugungen, Empfindungen usw. sind von traumatischen Erfahrungen geprägt.

Wechselseitige Wahrnehmung der verschiedenen Persönlichkeitsanteile

Dissoziierte Selbstanteile können einander mehr oder weniger klar wahrnehmen. Manche Anteile nehmen sämtliche oder die meisten anderen nicht zur Kenntnis. Es ist denkbar, dass ein bestimmter Anteil einen anderen wahrnimmt, ohne indes von diesem wahrgenommen zu werden. Selbst wenn sie sich der Existenz weiterer Antei-le bewusst sind, können sie sich oft über Belange, die für die Gesamtpersönlichkeit von Bedeutung sind, nicht einigen. Eines unserer Ziele besteht darin, Ihnen durch

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dieses Manual die Fähigkeit zu vermitteln, Einigkeit zwischen den verschiedenen Anteilen herzustellen. Dies bedeutet aber nicht, dissoziierte Anteile zu ignorieren oder sie zu zwingen, Ihnen zu gehorchen.

Wechselseitige Beeinflussung der verschiedenen Persönlichkeitsanteile

Ganz gleich, inwieweit die verschiedenen Anteile einander wahrnehmen, üben sie doch Einfluss aufeinander aus. Jeder Anteil kann sich in das Erleben des Anteils, der im Alltagsleben funktioniert, einmischen, ohne es vollständig unter seine Kontrolle zu bringen – eine Erfahrung, die als passiver Einfluss (Kluft, 1987) oder partieller Einfluss (Dell, 2002) bezeichnet wird. Im vorangegangenen Kapitel haben wir einige dieser Intrusionssymptome kurz erläutert und gezeigt, dass andere Bereiche Ihres Denkens, Fühlens, körperlichen Empfindens, Ihrer Wahrnehmungen, Impulse oder Verhaltensweisen einen Einfluss auf Sie ausüben können. Ein Mensch mit einer dis-soziativen Störung kann beispielsweise beim Einkauf in einem Geschäft eine innere Stimme hören, die ihn drängt: „Raus hier, raus hier, du bist in Gefahr! Geh rasch nach Hause!“ Er hört diese Stimme und weiß doch gleichzeitig, dass in Wirklichkeit alles in Ordnung ist. Das Geschäft zu verlassen ist nicht lediglich ein Wunsch, vielmehr spricht durch die verzweifelte Stimme ein anderer Persönlichkeitsanteil, den der Betroffene unter Umständen als verängstigtes kleines Kind visualisiert. Möglich ist auch, dass er andere Stimmen in sich hört oder wahrnimmt, die dem inneren Kind befehlen, Ruhe zu geben, oder die sich über den überflüssigen Einkauf beschweren und behaupten, gar nichts zu brauchen.

Solche Menschen reagieren verwirrt auf das, was in ihrem Innern passiert, schämen sich dafür oder bekommen Angst und fürchten, dass ihnen etwas Schreckliches zu-stoßen wird. Gleichzeitig aber ist ihnen die ganze Zeit über bewusst, dass sie sich in einem Geschäft befinden, in dem sich alle anderen Kunden ganz normal um ihre Be-lange kümmern. Möglich ist auch, dass sie darüber hinaus Interaktionen zwischen mehreren unterschiedlichen Selbstanteilen mit anhören oder in sich wahrnehmen und sich wie ein unbeteiligter Zuschauer fühlen, der von einer Unterhaltung oder Diskussion ausgeschlossen ist.

Diese Intrusionen sind von anderer Qualität als der normale Stress, in den Menschen ohne dissoziative Störung in einem überfüllten Geschäft geraten können („Ich bin heilfroh, wenn ich hier fertig bin! Nichts wie raus aus dem Gewühl!“). Stattdessen haben Menschen mit einer dissoziativen Störung (mindestens) zwei absolut unter-schiedliche Psychen, die einander nicht verstehen oder über ganz verschiedene The-

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men sprechen. Diese Intrusionen können so bizarr oder fremdartig auf Sie wirken, dass Sie womöglich Angst bekommen, verrückt geworden zu sein. Sie sind aber nicht verrückt. Auch wenn Sie es noch nicht wirklich verstehen können, so gibt es doch Anteile in Ihnen, die aus gutem Grund ihre je eigene Agenda verfolgen, eigene Wahr-nehmungen, Gedanken, Gefühle, Wünsche, Bedürfnisse usw. haben. Ihre Aufgabe ist es, diese Anteile kennenzulernen und urteilsfrei zu akzeptieren, auch wenn Sie ihre Meinungen und Einstellungen nicht teilen. Dieses Verständnis ist unerlässlich, damit Sie die Veränderungen vornehmen können, die allen Anteilen ein reibungslo-seres Miteinander erlauben werden.

Exekutive Kontrolle

In manchen Fällen und insbesondere bei einer dissoziativen Identitätsstörung kann ein dissoziierter Anteil die ausschließliche Kontrolle Ihres gesamten Verhaltens übernehmen. Man bezeichnet den Prozess, durch den ein Anteil einen anderen kom-plett verdrängt, sich also an seine Stelle setzt, als Switchen oder Wechseln. Dabei handelt es sich häufig um einen Vorgang, der sich unwillkürlich vollzieht. Wenn Sie ein Switchen erleben, kann es passieren, dass Sie das Gewahrsein für die Zeit verlieren, sobald sich ein anderer Teil Ihrer selbst der Kontrolle bemächtigt. Oder Sie merken, was geschieht, haben aber den Eindruck, lediglich zuschauen und Ihr eigenes Verhalten nicht steuern zu können. So nahm beispielsweise eine Frau die Zeit nicht mehr wahr, sobald sie sich in einem überfüllten Geschäft aufhielt. Erst in ihrem Auto kam sie wieder zu sich: Sie hatte sämtliche Einkäufe erledigt, konnte sich aber nicht daran erinnern. Eine andere Frau hatte beim Einkaufen das Gefühl, sich selbst zu beobachten, so als laufe sie hinter sich selbst her oder beobachte sich von oben. Sie fühlte sich, als hätte sie ihren Körper verlassen, und wunderte sich, weshalb ihr der Einkauf nicht rascher von der Hand ging. Sobald sie wieder im Auto saß, kehrte sie in ihren Körper zurück.

Die meisten dissoziierten Persönlichkeitsanteile üben keine vollständige Kontrolle aus, sondern beeinflussen Ihr Erleben von innen, das heißt, sie machen einen passi-ven Einfluss geltend. Viele Anteile übernehmen nie die vollständige Kontrolle über einen Menschen, sondern werden lediglich als innere Präsenz wahrgenommen. Häufiges Switchen ist zumeist ein Zeichen für hohen Stress und für einen akuten inneren Konflikt. Für manche Patienten mit dissoziativer Identitätsstörung gehört das Switchen allerdings zum täglichen Leben.

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Elaboration und Autonomie von Persönlichkeitsanteilen

Einzelne Persönlichkeitsanteile können mehr oder weniger hochentwickelte – ela-borierte – Eigenschaften aufweisen und mehr oder weniger autonom sein, das heißt, sich als getrennt von anderen Anteilen erleben (Kluft, 1999, 2006; Putnam, 1997; Ross, 1997; van der Hart et al., 2006). Manche von ihnen, aber nicht alle, haben nicht nur einen eigenen Namen, sondern auch ein eigenes Alter und Geschlecht sowie eigene Vorlieben. Jeder Anteil aber verfügt zumindest über eine Konstellati-on relativ begrenzter Erinnerungen, Wahrnehmungen, Gedanken, Emotionen und Verhaltensweisen. Vor allem Menschen mit dissoziativer Identitätsstörung haben hochentwickelte Persönlichkeitsanteile mit einer breiten Skala an Aktivitäten, Fer-tigkeiten und einem komplexeren Selbstgefühl. So kann beispielsweise ein Anteil bei der Arbeit und in Gesellschaft anderer Menschen aktiv sein, das heißt in Situa-tionen, die sehr komplexe Emotionen, Gedanken, Verhaltensweisen und ein entwi-ckeltes Selbstgefühl voraussetzen; ein anderer Persönlichkeitsanteil hingegen kann in denselben Situationen nur stumm und verängstigt weinen. Dieser Anteil besitzt ein sehr begrenztes Repertoire an Erfahrungen, Verhaltensweisen, Emotionen, Ge-danken und Wahrnehmungen. Freilich verfügen die meisten Menschen, die unter dissoziativen Störungen leiden, über einen zentralen, komplexen und von den üb-rigen relativ abgetrennten Persönlichkeitsanteil, der in der Welt funktioniert und zurechtkommt. Je mehr Anteile die Persönlichkeit aufweist, das heißt, je fragmen-tierter sie ist, desto unflexibler und begrenzter ist im Allgemeinen das Erleben zahl-reicher (nicht sämtlicher) dieser Anteile. Je aktiver ein Anteil ist, je intensiver er mit anderen Menschen sowie mit anderen Anteilen interagiert, desto komplexer wird er seine eigene Lebensgeschichte und seine Aktivitäten ausgestalten. Auch der Grad, zu dem die jeweiligen Persönlichkeitsanteile autonom sind, also eigenständig und un-kontrolliert von anderen Anteilen agieren und unter Umständen selbst die Kontrolle übernehmen können, variiert (Chu, 1998; Kluft, 1999, 2006; Putnam, 1997; Ross, 1997; van der Hart et al., 2006).

Anzahl der Persönlichkeitsanteile

Manchmal fragen sich Menschen mit einer dissoziativen Störung, wie viele Anteile sie besitzen. Die Zahl an sich ist nicht wichtig. Sie ist lediglich insofern von Belang, als sie etwas über die Integrationsfähigkeit aussagt: Je fragmentierter die Persönlich-keit, desto geringer das Integrationsvermögen. Dies bedeutet im Allgemeinen, dass Menschen mit „mehr“ Anteilen in der Therapie intensiver arbeiten müssen, um die Fähigkeit, ihre Erfahrungen zu integrieren, zu verbessern.

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3.3 Bedeutung und Funktionen spezifischer Typen der Persönlichkeitsanteile

Persönlichkeitsanteile besitzen eigene, unverwechselbare Eigenschaften, die auf den Funktionen beruhen, die sie in der Gesamtpersönlichkeit erfüllen. Alter, Ge-schlecht, emotionale Bandbreite, Überzeugungen und Verhaltensweisen – all diese Eigenschaften geben zu erkennen, was in die Gesamtpersönlichkeit integriert wer-den muss. Der Anteil eines sehr kleinen Kindes beispielsweise, der nach der Mutter ruft, sehnt sich wahrscheinlich nach Liebe und Zuwendung; ebendiese Liebe und Zuwendung aber wurden von der Gesamtpersönlichkeit als überwältigend, beschä-mend oder inakzeptabel erlebt. Persönlichkeitsanteile sind Repräsentationen, und deshalb können sie in einer unendlich großen Formenvielfalt auftreten, der einzig die Erfahrungen und die Kreativität des individuellen Menschen Grenzen setzen. Zum Beispiel wurde eine Patientin von einem starken männlichen Anteil beschützt, wenn sie in furchterregende Situationen geriet. Auf diese Weise vermied sie es, sich ihrer realen Hilflosigkeit bewusst zu werden. Eine andere Patientin bezeichnete einen Anteil ihrer Persönlichkeit als Vogel. Er erwies sich schließlich als ein Selbst-anteil, der in ihrer Vorstellung fortzufliegen und zu flüchten versuchte, wenn sie mit überwältigenden Erfahrungen konfrontiert war. Somit sind die charakteristischen Eigenschaften eines Anteils zwar aufschlussreich, stehen aber nicht im Zentrum der Therapie und sollten nicht konkretistisch verstanden werden. Entscheidend ist, dass Sie (und Ihr Therapeut) die Bedeutung und Funktion dessen, was sie repräsentieren, verstehen.

Persönlichkeitsanteile, die im Alltagsleben funktionieren

Wie schon erwähnt, besitzen Menschen mit nicht näher bezeichneter dissoziativer Störung einen dominierenden Persönlichkeitsanteil, der gleichsam das tägliche Le-ben führt, während bei Menschen mit dissoziativer Identitätsstörung mehr als nur ein einziger Anteil in der Welt aktiv ist. Sie haben zum Beispiel Anteile, die zur Ar-beit gehen, und Anteile, die die Kinder versorgen. In Extremfällen nehmen die im Alltagsleben aktiven Anteile einander nicht wahr. Häufiger aber ist zumindest bei vielen Patienten eine gewisse wechselseitige Anerkennung der Persönlichkeitsanteile möglich, auch wenn sie einander zu meiden versuchen. Die meisten Anteile wie-derum, die im Alltagsleben funktionieren, reagieren phobisch auf jene, die in der Traumazeit steckengeblieben sind.

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Persönlichkeitsanteile, die traumatische Erfahrungen enthalten

Es gibt verschiedenartige Persönlichkeitsanteile, die in der Traumazeit steckenge-blieben sind. Sie repräsentieren wiederholte Konflikte und Erfahrungen, die schwie-rig zu integrieren sind. Beachten Sie bitte, dass die folgenden Beschreibungen all-gemeiner Art sind und die Beispiele nicht zwangsläufig auf Sie selbst zutreffen. Es ist wichtig, dass Sie ihr eigenes inneres Erleben so akzeptieren, wie es ist, statt zu versuchen, es den Beschreibungen, die Sie in diesem Manual lesen, anzugleichen.

Junge Anteile. Die meisten Menschen mit einer dissoziativen Störung, die als Kin-der traumatisiert wurden, haben Persönlichkeitsanteile, deren subjektiv empfunde-nes Alter nicht dem tatsächlichen Alter der Person entspricht: Sie nehmen sich als jünger wahr, zum Beispiel als Teenager, als Grundschulkind oder gar als Kleinkind oder Säugling. Es scheint, als sei jeder dieser Anteile in einer der Entwicklungspha-sen, die das Individuum durchlaufen hat, steckengeblieben. Häufig sind sie Träger traumatischer Erinnerungen und empfinden quälende Gefühle oder Körpersensa-tionen; manchmal haben sie aber auch gute Erinnerungen. Normalerweise hegen sie Sehnsüchte, fühlen sich einsam und abhängig, trost-, hilfs- und schutzbedürftig, sind aber auch misstrauisch und haben Angst, abgelehnt und im Stich gelassen zu werden. Diese Anteile werden im 25. Kapitel ausführlicher beschrieben.

Dass Menschen, die vernachlässigt, misshandelt oder missbraucht wurden, bedürf-tig sind, ist natürlich völlig normal und verständlich. Dennoch empfinden andere Persönlichkeitsanteile diese normalen Bedürfnisse häufig als abstoßend oder ge-fährlich, weil sie in der Vergangenheit negative Erfahrungen gemacht haben, wenn sie Wünsche oder Bedürfnisse äußerten. Infolgedessen lehnen manche Persönlich-keitsanteile die „bedürftigen“ Anteile ab und sind überzeugt, dass es besser sei, kei-nerlei Bedürfnisse zuzulassen, sondern absolut selbstgenügsam zu sein. Damit ist der Boden für einen typischen inneren Konflikt zwischen bedürftigen Anteilen und solchen bereitet, die auf Bedürfnisse mit Angst oder Abscheu reagieren.

Helferanteile. Die innere Welt mancher, aber gewiss nicht aller Menschen mit einer dissoziativen Störung enthält „Helferanteile“, die für das Wohlergehen der übrigen Anteile Sorge tragen – eine innere Regulation sozusagen, die sich als Ressource erwei-sen und als Grundlage dienen kann, um weitere Selbstberuhigungsstrategien zu er-lernen. Manchmal haben sich die hilfreichen Anteile nach dem Vorbild eines freund-lichen Menschen aus der Vergangenheit oder einer ansprechenden Figur aus einem Buch, aus einem Film oder einer Fernsehsendung entwickelt. Diese Anteile sind der Versuch des traumatisierten Kindes, sich selbst zu beruhigen und zu trösten. Manch-mal kann auch der zentrale, im Alltagsleben funktionierende Persönlichkeitsanteil lernen, sich empathisch in andere innere Anteile einzufühlen und ihnen beizustehen.

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Anteile, die Menschen nachahmen, von denen Sie verletzt wurden. Die Persön-lichkeit enthält gewöhnlich auch Anteile, die Ärger und Wut empfinden. Für an-dere Anteile wiederum sind diese Gefühle inakzeptabel oder sehr beängstigend. Manchmal ähneln wütende Anteile Menschen aus der Vergangenheit, von denen Sie misshandelt oder missbraucht worden sind. Sie beschämen, bedrohen oder strafen andere Persönlichkeitsanteile, können ihre Wut aber auch auf Menschen in der Au-ßenwelt richten. Ihr Verhalten kann angsterregend, beschämend oder unannehmbar sein; trotzdem müssen Sie verstehen lernen, dass diese Anteile aus gutem Grund existieren und dass es sich um Repräsentationen handelt. Das heißt, sie sind nicht mit den Menschen identisch, die Ihnen ursprünglich wehgetan haben. Sie sind ent-standen, um eine Vielzahl aufwühlender, niederschmetternder Gefühle der Wut, Hilflosigkeit und manchmal auch Schuld- und Schamgefühle in sich aufzunehmen und Sie auf diese Weise zu schützen. Darüber hinaus tragen sie oft dazu bei, andere Teile an Verhaltensweisen zu hindern, die in der Vergangenheit Furcht oder Scham geweckt haben. Es ist wichtig, dass Sie im Laufe der Zeit verstehen, weshalb sie exis-tieren, auch wenn ihre „Methoden“, das heißt ihr Verhalten und ihre Einstellungen, für Sie nicht akzeptabel sind. Sie müssen die Angst und Scham, die Sie wegen dieser Anteile empfinden, irgendwann überwinden, um gesund werden zu können. Diese Anteile müssen ebenso wie alle übrigen in ein inneres „Team“ integriert werden, dass zusammenhält und Sie als ganze Person mitsamt Ihrer vollständigen Geschichte re-präsentiert. Sobald dies erreicht ist, werden Sie überrascht sein zu sehen, wie sehr Ihnen diese Anteile helfen können. Im 22. Kapitel werden sie ausführlich erläutert.

Kämpferische Persönlichkeitsanteile. Wuterfüllte Persönlichkeitsanteile stecken manchmal in einer kämpferischen Gefahrenabwehr fest. Sie haben die eindeutig bestimmte Funktion, das Individuum durch den Einsatz von Kampfreaktionen zu schützen, die sich entweder gegen andere Menschen richten oder aber gegen innere Anteile, die auf diese oder jene Weise ein Gefühl der Bedrohung heraufbeschwören. Kämpferische Anteile halten sich häufig für stark, sind von ihrer Unverwundbarkeit überzeugt und reagieren hochaggressiv auf eine wahrgenommene Gefahr oder auf vermeintlich respektloses Verhalten. Nicht selten betrachten sie sich selbst als über-aus robustes Kind, als Teenager, der hart im Nehmen ist, oder auch als großgewach-senen, starken Mann.

Schamerfüllte Anteile. Die Scham ist ein überaus wichtiges Gefühl, das die Disso-ziation aufrechterhält (s. Kap. 24). Bestimmte Persönlichkeitsanteile werden beson-ders strikt gemieden und erbarmungslos verunglimpft, weil sie jene Erfahrungen, Gefühle oder Verhaltensweisen in sich bergen, die Sie oder manche Ihrer Anteile als beschämend oder abstoßend empfinden. Gegenüber diesen Anteilen werden Sie sich künftig besonders empathisch und bejahend verhalten müssen.