SV - suhrkamp.de · horcht, um sich zu vergewissern, dass Paul noch lebte. Er selbst hatte wach...

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Suhrkamp Verlag Leseprobe Lohse, Stephan Johanns Bruder Roman © Suhrkamp Verlag 978-3-518-42959-4

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  • Suhrkamp VerlagLeseprobe

    Lohse, StephanJohanns Bruder

    Roman

    © Suhrkamp Verlag978-3-518-42959-4

  • SV

  • Stephan Lohse

    Johanns Bruder

    omanSuhrkamp

  • Die Arbeit am oman wurde ermöglicht durch ein Arbeitsstipendiumder Senatsverwaltung für Kultur und Europa, Berlin, und ein Arbeitssti-pendium des Künstlerhauses Lukas, Ahrenshoop, gefördert durch das LandMecklenburg-Vorpommern.

    Erste Auflage © Suhrkamp Verlag Berlin Alle echte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch undfunkund Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darfin irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andereVerfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,vervielf ältigt oder verbreitet werden.Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH,WaldbüttelbrunnDruck: Pustet, egensburgPrinted in GermanyISBN ----

  • Johanns Bruder

  • Für O.

  • Eins

    ° ' '' N, ° ' '' O

    Paul schlief wie früher. Die Knie nah amKörper, dieHändezwischen den Beinen, das Ohr ins Kissen gedrückt. Johannlag neben ihm und sah eine True-Crime-Dokumentation.Ein neunzehnjähriger Afroamerikaner wurde des Mordesan einem weißen Ehepaar beschuldigt. Ein Ermittler, dermithilfe der Chemikalie Luminol auf der ückbank einesPick-ups Blutanhaftungen nachgewiesen hatte, nannte denjungenMann einen schlechtenMenschen, der den Tod ver-dient habe. Die Schwester des Beschuldigten, Halterin desPick-ups, hatte ein wasserdichtes Alibi. Die Beute belief sichauf Dollar Bargeld und einige Stücke wertlosen Mode-schmucks. Johann wollte Paul wecken und ihn fragen,war-um ein Mörder, der seine Opfer mit einem Pick-up fort-schafft, auf die Idee kommen sollte, sie auf der ückbankdes Wagens zu transportieren und nicht auf der Ladefläche,verdeckt von einer Plane. Die Schwester schwor unter Trä-nen, nicht zuwissen,was ihr Bruder angerichtet habe, sie seinach der Spätschicht noch im Supermarkt gewesen und erstin der Nacht zurückgekehrt. Johann legte seinen Kopf aufPauls Kissen und lauschte Pauls Atem.

    Es war nie anders gewesen: Johann hatte sich in PaulsZimmer geschlichen,war unter die Decke gekrochen, hatteseinen Kopf auf Pauls Kissen gelegt und auf Pauls Atem ge-

  • horcht, um sich zu vergewissern, dass Paul noch lebte. Erselbst hatte wach gelegen und Bibelkassetten gehört, aufStufe zwei, das Ohr am Lautsprecher. Am liebsten die Kas-sette mit der Geschichte von Josef und seinen Brüdern.Nachdem sie Josef für zwanzig Silberlinge an die Ismaeliterverkauft hatten, hatten die Brüder einen Ziegenbock ge-schlachtet und Josefs ock im Blut des Tieres getränkt.Den ock hatten sie dem Vater geschickt. »Zerfetzt ist Jo-sef«, hatte Jakob geklagt, »zerfetzt, ein wildes Tier hat ihngefressen.« Luminol hätte die Brüder überführt.

    Das Zimmer sah wie bemoost aus. Aus dem Teppichschien Feuchtigkeit aufzusteigen. Ein Weberknecht verharr-te totenstarr auf dem Holzdekor unter der Zimmerdecke.Die Bettwäsche roch vergoren. In der Dusche tropfte dasWasser auf die Kalkränder eines Jahrzehnts und gab den Taktzu Pauls Atem vor. Kempinski, dachte Johann.

    Er versuchte, die Bäume zu bestimmen, die amUfer desSees standen, in dem nach Ansicht des FBI der junge Afro-amerikaner das getötete Ehepaar versenkt hatte. Die Stämmewaren fleckig und reflektierten die Signallichter der Ein-satzwagen. Paul atmete, als wolle er keine Umstände ma-chen. Johann betrachtete ihn mit Argwohn. Pauls Schlafbarg ein Geheimnis, und Johann hatte damals geglaubt, esenthüllen zumüssen. Er hatte Pauls Haltung eingenommenund auf Pauls Art die Bettdecke gehalten. Er hatte versucht,im selben Moment wie Paul die Augen zu schließen. EineZeitlang hatte er sogar dasselbe wie Paul zu Abend geges-sen. Doch die Angst, Paul im Schlaf zu verlieren, hatte ihnstets wach gehalten. Also hatte er Bibelkassetten gehört. Amnächsten Morgen hatte er dafür gesorgt, dass Paul wiederaufwachte und nicht im Geheimnis eines fernen Traumesfür immer verschwand.

  • Auf derKommode lauerte ein Iltis. Das ausgestopfte Tierstarrte mit gläsernem Blick ins tote Licht der Straßenbe-leuchtung. Johann stand auf und zog an einer Schnur. DerKunstledersaum des Vorhangs klatschte träge gegen dieWand.

    Der Fall des jungen Afroamerikaners war abgeschlossen.Das Gericht hatte ihn zu lebenslanger Haft verurteilt. Mitt-lerweile berichtete ein Bezirksstaatsanwalt von einer Bezie-hungstat. Ein Chirurg, der ein Verhältnis mit einer Kranken-schwester eingegangen war, hatte in einer Pause zwischenzwei Operationen seine Ehefrau getötet. Er war den kur-zenWegvonderKlinik nachHausegefahren,hatte seineFrauim Badezimmer angetroffen, sie zunächst gewürgt, bis siedas Bewusstsein verloren hatte, und ihr dannmit einer schne-ckenförmigen Skulptur den Schädel eingeschlagen. Kleins-te Blutspritzer auf der Innenseite seines Hemdsärmels hat-ten ihn verraten.

    Birken, dachte Johann. Gewöhnliche Birken. Er rüttel-te an Pauls Schulter. »Ist dir aufgefallen, dass dem Iltis einStück von seiner Schnauze fehlt?«

    Ohne die Augen zu öffnen, noch im Halbschlaf, griffPaul nach Johanns rechtem Arm und zeichnete ein Dreieckaufs Handgelenk.

    »Nein«, sagte Johann daraufhin. »Ich kann nicht schlafen.Außerdem habe ich gestern Nacht Drogen genommen.«

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    Aus denKratern, die ausgedrückteZigaretten imPlastik desSpülkastens hinterlassen hatten, barg Johann die este frem-den Kokses.Während sein Zahnfleisch taub wurde, betätig-te er die Spülung. Die Nacht war vorbei, bald würde dieNeonbeleuchtung angehen. Er beeilte sich hinauszukom-men. Auf der Straße durchsuchte er seine Taschen. Er fandein Stück Karamellgebäck, in der Packung zu Pulver zerrie-ben, und siebzig Euro, die er Lukas gestohlen hatte, seinemFreund, der nun vermutlich sein Ex-Freund war. Der Him-mel über ihm war blank wie eine Kachel.

    Zu Hause blinkte der Anrufbeantworter. Johann wusstenicht, wer seine Festnetznummer haben sollte. Er zog sichaus, setzte sich in die leere Badewanne und duschte seinenSchwanz, bis der Schmerz in der Eichel nachließ. Er ver-suchte, sich zu erinnern, woher die Verletzung auf seinemrechten Handrücken kam und bei wem er sich dafür ent-schuldigen musste.Als er später den Anrufbeantworter abhörte, erfuhr er,

    dass man Paul vor sechs Tagen wegen eines Vorfalls in ei-nem Ortsteil der niedersächsischen Stadt Bergen in derPsychiatrisch-Psychosomatischen Klinik Celle aufgenom-men habe, man allerdings beabsichtige, ihn aus der stationä-ren Behandlung zu entlassen.Weiter erfuhr Johann, dass dieMitarbeiter des Sozialdienstes angesichts derUmstände über-rascht gewesen seien,von Paul einMobiltelefon zu erhalten,verbunden mit dem Wunsch, mit dem einzigen darin ge-speicherten Teilnehmer Kontakt aufzunehmen. Man bitteum baldigen ückruf zur Klärung, in welcher Beziehung

  • der Teilnehmer zu ihrem Patienten stehe und ob es gegebe-nenfalls möglich sei, den Patienten zur Sicherstellung dernachstationären Versorgung in dessen Obhut zu übergeben.

    Johann suchte ein paar Sachen zusammen, warf sie ineinen Koffer und nahm sich ein Taxi zum Bahnhof. Es hieltihn nichts. Er bezahlte den Fahrer mit zwanzig der siebziggestohlenen Euro. Beim Einsteigen in den überfülltenZug schien es ihm, als ziehe er Fäden, eine Folge des nächt-lichenDrogenkonsums.Während der nächsten Stundenwür-de ihm alles dickflüssig vorkommen. Er zwängte sich aufeinen Fensterplatz und sah hinaus. Die Schallschutzwand,an der der Zug entlangfuhr,wirkte wie in die Landschaft ge-cremt.

    Ihm wurde übel, und er ging auf die Zugtoilette. DasFenster war mit einer Zierfolie beklebt. Ein Gewächs, des-sen Fruchtkapseln unter dem Einfluss der Intoxikation derletzten Nacht über die Kunststoffwände wucherten, in it-zen und Hohlräumen ihren Samen ablegten und durch denAbfluss der Toilette ins Freie wuchsen. Johann klappte denDeckel hinunter, setzte sich und schlief ein. Das Gewächstrieb eine weitere Fruchtkapsel aus.

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    Die Lider desMannes flatterten. »Ich habe BLIPS«, flüsterteer. »Brief Limited Intermittent Psychotic Symptoms. IchhabeGlück. LiesmalmeineAufzeichnungen.« Bei denAuf-zeichnungen handelte es sich um ein etwa zwei Quadratme-ter großes taxonomisches Schaubild, auf dem durch ein Ge-wirr von Linien die Arten ins Verhältnis gesetzt wordenwaren: Hunde, Hundeähnliche, Paarhufer, stumme Vögel,Tiere mit Stacheln und Tiere kleiner als ein Zehennagel.Flugf ähige Käfer, imMoor heimische Tiere,Tiere, die mit-tels Elektrizität ihre Feinde in die Flucht schlagen können,Mäuse und Drosseln. Die ehe seien ihm jedoch die liebs-ten. Für sie empfinde er tiefe Freundschaft. DerMann holteeine Sammlung abgegriffener Glanzbildchen hervor. Äsen-de ehe, flehmende ehe, trollende ehe, eingerollte Kit-ze, ehe im Sprung. Gabelböcke, icken, Jährlinge. Er sahsich um und rief mit Showmasterstimme: »Quick! The thi-cket! Faster, faster, Bambi! Don’t look back! Keep running!Mother? Mother, where are you? Mother? Your mothercan’t be with you anymore.« Der Mann faltete das Schau-bild zusammen. Im Gehen sagte er, ehe seien Trughirsche,doch Bambi sei gar kein eh, sondern einWeißwedelhirsch-kalb.

    Man hatte Johann mitgeteilt, dass sich Paul zurzeit in derErgotherapie befinde. Frau Dr. Al-Nour, seine behandeln-de Ärztin,wünsche allerdings ein Gespräch, sobald sich diesergäbe. Am Ende des Stationsflurs befinde sich ein Aufent-haltsbereich, der auch Besuchern zugänglich sei.An einer Wand hing ein einigungsplan. Er verzeichnete

  • eine einigung um :Uhr. Ein oder eine Vuković hat-te eine Flächendesinfektion durchgeführt und hierfür dasMittel ProrusSept® verwendet.Während Johann dem eh-freund nachsah, erinnerte er sich, dass ProrusSept® ein Mit-tel aus einer quartären Ammoniumverbindung war. Voreinigen Jahren hatte er sich den Namen eines ähnlichen Pro-duktes einfallen lassen und damit ziemlich viel Geld ver-dient.

    Pauls Ärztin besaß die Fähigkeit, sich vollkommen laut-los zu bewegen. »Auch ihr Bruder hielt es für eine guteIdee, wenn zunächst wir uns ein wenig unterhalten.« Siebat Johann in ihr Büro, ein unerwartet dunkler aum mitMöbeln aus Palisander, Leder und Chrom. In einem e-gal standen vor Bänden psychiatrischer Fachliteratur einigeKrankenwagenminiaturen. Dr. Al-Nour wies auf einen Ses-sel. Sie lächelte mit einer Offenheit, die Johann verwirrte.Schließlich erklärte sie, was vorgefallen war.

    Johann erfuhr, dass Paul von der Polizei in die Klinik ge-bracht worden war, nachdem man ihn zuvor an der Bus-haltestelle eines Dorfes namens Altensalzkoth aufgegriffenhatte. Offenbar hatte er sämtliche Hühner des Dorfes, ins-gesamt Stück, zusammengetrieben und an Ort und Stel-le getötet, indem er ihnen mit einem Beil den Kopf abge-schlagen hatte. Gegenüber den Polizeibeamten hatte Pauljegliche Auskunft verweigert.

    In der Aufnahmesituation habe eine tiefgreifende Sprech-störung des Patienten imponiert, sagte die Ärztin, eine Ver-balisation habe nicht stattgefunden, allerdings habe Paulmittels eines Kinderspielzeugs kommuniziert, einer ArtZaubertafel, verblüffend für einen neunundvierzig Jahrealten Mann. Zum Zeitpunkt der Aufnahme in der Kliniksei Paul zu Zeit, Ort und Person orientiert gewesen, be-

  • wusstseinsklar, adäquat schwingungsf ähig und im Antriebsowie mimisch und mnestisch unauff ällig. Johann tat so,als würde er die Ärztin verstehen. Frau Dr. Al-Nour ergänz-te, dass formale und inhaltliche Denkstörungen nicht fest-stellbar gewesen seien. Auch Anzeichen einer akuten Suizi-dalität hätten nicht vorgelegen.

    Im weiteren Verlauf der Aufnahmesituation habe Paulmithilfe der Zaubertafel erklärt, als Kind nur mit seinerMutter gesprochen zu haben und im Alter von zwölf Jahrenvollständig verstummt zu sein, nachdem die Mutter die Fa-milie verlassen habe. Zum Vater, der erneut verheiratet sei,halte er bis heute sporadisch Kontakt. Trotz seiner Kom-munikationsstörung habe er die Hochschulreife erlangt undein Geographiestudium erfolgreich abgeschlossen. Zu ei-nem möglichen Arbeitsplatz habe er sich nicht äußern wol-len.

    »Er arbeitet in der Kartenabteilung einer Universitäts-bibliothek«, sagte Johann.

    Die Ärztin machte eineNotiz und legte sie in Pauls Akte.Sie fuhr fort, Paul habe angegeben, unverheiratet zu seinund keine Kinder zu haben. Am Ende des Gesprächs habeer einen vier Jahre jüngeren Bruder erwähnt, zu dem derKontakt vor über fünfundzwanzig Jahren abgebrochen sei.Hierüber habe Paul großes Bedauern geäußert.

    Johann zerrte unter dem Tisch an den Fingern seiner lin-ken Hand. Die Ärztin beschrieb Paul im Kontakt als zu-gewandt und freundlich. Er kommuniziere gestisch oderschreibe auf die Zaubertafel, ein Spielzeug, das durch me-chanisches Löschen von bereits GeschriebenemmehrfachesBeschreiben erlaube. Allerdings weigere er sich beharrlich,zur Aufklärung der Beweggründe beizutragen, die ihnzur Tötung der Hühner des Dorfes Altensalzkoth veran-

  • lasst hätten. Trotz mehrfacher Intervention verschiedenerMitarbeiter bleibe er in diesem Punkt unnachgiebig. Den-noch gelinge es ihm, glaubhaft zu versichern, dass die Ange-legenheit mit dem Tod der Tiere erledigt sei. Er habe nichtgrundsätzlich etwas gegen Hühner, seine Tat habe sich aus-schließlich gegen die Hühner dieses einen Dorfes gewandt.

    In der Musiktherapie habe sich Paul als rhythmusstarkund taktsicher erwiesen. Johann dachte an die Posaune unddaran, wie sich Paul beim Spielen des Instruments hinterdem Schallbecher versteckt hatte. In der Bewegungsthera-pie sei Pauls Erfolg allerdings eher unterdurchschnittlich ge-wesen, bemerkte die Ärztin, und Johann erinnerte sich anunzählige misslungene Handstände. Auch zeige Paul auffal-lend wenig Interesse an der Ergotherapie. Statt die vorge-schlagenen künstlerischen Arbeiten durchzuführen, fertigeer umfangreiche Notizen an. Der Bericht der Ärztin schlossmit mehreren Diagnosen, von denen jede wie ein Urteilklang.

    »Gestern hat ihr Bruder übrigens den Pflanzenbestandum die Klinik herum kartiert. Ich habe ihn um eine Kopiegebeten. Ich glaube, unser Gebäudemanagement wird sichdarüber freuen.« Dr. Al-Nour schob ein Blatt über den Pa-lisander. »Bemerkenswert ist der Olivenbaum am rechtenand, der dort eigentlich gar nicht steht.«

    Johann rang nach Luft. »Es ist ein Olivenbaum aus demGartenGethsemane. Auf denKarten, die Paul anfertigt, be-findet sich immer irgendwo ein solcher Olivenbaum.Meis-tens bleibt er unbemerkt.«

    Gethsemane war der Ort des Verrats, der Achtlosigkeit,des Glaubens und der Unschuld. Oft hatte ihr Vater sie auf-gefordert, wach zu bleiben für den heiligen Dienst undnicht in sündigen Schlaf zu sinken wie einst die Jünger Jesu

  • oder wie Jörg Grabow, der, als sie in der Sonntagsschule dieEreignisse in Gethsemane als Theaterstück aufgeführt hat-ten und Johann einen Busch am Fuß des Ölbergs darstel-len musste, als Jakobus der Ältere tatsächlich eingeschlafenwar. »Bleibet hier und wachet«, hatte egula Schmidt, dieDarstellerin des Jesus, durch den Jutebart gelispelt. »Bleibethier und wachet«, und: »Meine Seele ist zu Tode betrübt.«Nicht einzuschlafen, wach zu bleiben für den Dienst, galtbis heute.

    »Wir sind religiös aufgewachsen. Sehr religiös sogar«, sag-te Johann.

    Dr. Al-Nour nickte wortlos. »Warum ist Ihr Bruderstumm?«

    Über diese Frage hatte Johann nie nachgedacht. »Paulkann nicht lügen«, sagte er. Es schien ihm eine vernünftigeAntwort zu sein. Pauls Schweigen war nichts Außerge-wöhnliches gewesen. Hätte man Johann damals gebeten,seinen Bruder zu beschreiben, hätte er dessen braune Haa-re, die spitzen Knie, die rachitisch eingefallene Brust er-wähnt und vielleicht Pauls nervtötende Angewohnheit, aufdem Telefon zu Hause immer wieder die eigene Nummerzu wählen und sich so selbst anzurufen. Paul war der Hän-geschulternjunge, der Landkarten zeichnete und beimGot-tesdienst die Posaune spielte. Dass er schwieg, hätte Johanndamals nicht erwähnt. Erst als Erwachsener erkannte er,wieungewöhnlich es war, einen Bruder zu haben, der sich soanhaltend weigerte, auch nur ein einziges Wort zu spre-chen.

    »Als Kind hat er viel geredet.Meistens flüsternd.Manch-mal wie ein Wasserfall. Allerdings nur mit unserer Mutter.Als sie weggegangen ist, hat er aufgehört. Damals war seineStimme noch hoch. Irgendwoher wusste er, dass man täg-

  • lich Tausende Wörter mit durchschnittlich acht Menschenspricht, sich selbst nicht eingerechnet. Er hat da wohl nichtmehr mitmachen wollen.«

    »Ist er damals wegen seiner Sprachlosigkeit einem Arztvorgestellt worden?«

    »Paul ist nicht sprachlos. Im Gegenteil. Er schreibt jedeKleinigkeit auf. Er konnte es schon mit vier Jahren.UnsereMutter hat es ihm beigebracht. Er hat Karten gezeichnetund neben die Wege Wörter gepflanzt. Und ja, man hatihn dauernd zu irgendwelchen Ärzten geschickt.«

    »Zu welchem Ergebnis ist man damals gekommen?«»Zu dem Ergebnis, dass Paul nicht spricht.«»Und hat er seit demWeggang IhrerMutter jemals etwas

    gesagt?«»Nein. Ich glaube, nicht.« Johann seufzte. »Er verspricht

    sich nichts vom Sprechen.« Der Witz klang abgestanden,und Johann entschuldigte sich damit, freischaffend als Tex-ter für eine Werbeagentur zu arbeiten. »Eine Zeitlang hater geglaubt, kein Deutsch mehr sprechen zu können. Erhat angefangen, Hebräisch zu lernen. Doch auch das hater nur aufgeschrieben, und um es aufzuschreiben, ist Heb-räisch zu kompliziert.«

    »Und das Mobiltelefon? Das hat uns überrascht.«»Er spricht zwar nicht, aber er kannKurzmitteilungen ver-

    senden.«Dr. Al-Nour blätterte in Pauls Akte.Wenn Kooperation

    die Grundlage menschlicher Kommunikation sei, also dasBedürfnis, einander zu helfen, habe Paul möglicherweisewenig Hilfe erwartet.

    »Wie gesagt, wir sind religiös aufgewachsen. ›Eure edeaber sei: Ja, ja; nein, nein.Was darüber ist, das ist vomÜbel.‹Dafür reicht Nicken und Kopfschütteln.«

  • »Und Sie haben sich wirklich vor fünfundzwanzig Jahrenzum letzten Mal gesehen?«

    »Nein, vor achtundzwanzig.« Für einen Moment ließ sichJohann von dem Gedanken aus der Fassung bringen, dassPauls Ärztin zu diesem Zeitpunkt vermutlich noch Grund-schülerin gewesen war.

    Dr. Al-Nour fragte, ob Paul ausschließlich die Zauber-tafel zur Kommunikation verwende.

    »Nein. Er schreibt auch massenhaft Zettel. Die meistenbewahrt er in Tüten auf.Wir nennen das Ding übrigensWunderblock.«

    Pauls Ärztin lächelte, und Johann begann, die Maserungim Palisander des Tisches zu bestaunen. »Was geschieht nunmit ihm?«

    »Wir entlassen ihn. Ihr Bruder ist bei Ihnen in gutenHänden, davon bin ich überzeugt. Auch wenn die rechteverletzt ist. Brauchen Sie ein Pflaster?«

    Johann verneinte. Lautlos begleitete ihn Dr. Al-Nour zurTür.

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    – Ergotherapie. Ich soll zur Stärkung des Selbstausdrucksmit Wachsmalkreiden hantieren. N. sitzt mir gegenüber.Er begreift die Tageszeiten nicht. Es heißt, er leide unterdem Ausbruch einer verkappten Psychose. Das gefällt mir:ein Irresein unter der Kapuze. N. hatte mit seinen Freun-den im Haus seiner Eltern eine Party gefeiert und den Ein-druck bekommen, dass sich seine Gäste wohlfühlten und ersie für eineWeile allein lassen könne. Er war in den Park ge-gangen, zum Luftschnappen,wie er zögernd sagt, und hatteden nächtlichen Joggerinnen zugesehen. Als er nach eini-gen Stunden zurückgekehrt war, hatte er niemanden mehrerkannt, auch das Haus nicht, allerdings auch nicht angenom-men, versehentlich auf eine falsche Party geraten zu sein.

    Er sitzt imHoodie amTischwie einGespenst und glaubtsich von jedem Blick durchschaut. Er spricht wenig. Er sig-nalisiert, er sendet Zeichen. Er übermittelt Botschaften ausden Trümmern seines Unbewussten. Seit dem Ausbruchder verkappten Psychose waren seine Mutter und sein Stief-vater viermal auf Bali und einmal auf Mauritius.

    Mir wird geraten, zum Einüben der Stresstoleranz Trep-pen zu steigen, Chilischoten zu essen oder saures Kaugum-mi. Meine Sinne anzusprechen.Wandliegestütze zumachen.Ich soll mein Problemverhalten in die Bewertungsskalenauf der Diary-Karte eintragen. Meinen Wunsch, mich zusuizidieren, auf einer Skala von -, meinenWunsch, michselbst zu verletzen, auf einer Skala von -, und ob ich Sportgemacht habe. Ich soll lernen, achtsam zu sein und nicht allesin Frage zu stellen. Mich einlassen, dieWeichheit spüren.

  • L. hat Feldhockey auf Landesliganiveau gespielt. Das seinun leider nicht mehr möglich, trotzdem sei sie optimis-tisch, und diesenOptimismuswolle sie in die Gruppe tragen,um so die Stimmung zu verbessern. Auf die Frage der The-rapeutin,woher die schlechte Stimmung in der Gruppe ih-rer Meinung nach komme, sagt sie, sie sei von denWändenherabgefallen.

    ., Impulskontrollstörung, also übermütig, ein Handy-vertrag nach dem anderen, verlangt, dass N. (der andere N.)sie nicht anblicke, denn er blicke wie ein »Züchopath«. N.kann nichts dafür. Er ist kataton. Die Hände ausgebreitetauf dem Tisch, die Finger zu Astwerk erstarrt, verharrt erin seinem Geheimnis wie in einem Nest.

    K. ist mein Bettnachbar. Sein Bett ist zerwühlt und voll-gestellt mit Gegenständen. Gummistiefel, alte Zeitungen,vorwiegend die Seiten mit den Karikaturen, mehrere leere,ineinander gesteckte Joghurtbecher, ein Gebinde aus Island-moos, ein Nähset, die Schere darin daumengroß, Kamillen-tee und ein Fragebogen zum Einstufen der Fröhlichkeit aufeiner Skala von -, von »sehr fröhlich« bis »überhaupt nichtfröhlich«. Sein kostbarster Besitz ist ein Buch mit Heiligen-geschichten. Als er sich mir vorstellt, fragt er, ob ich mitmeinem Namen zufrieden sei oder ob er mich lieber mit ei-nem anderen Namen ansprechen solle, er habe eine langeListe von Namen angelegt, die er zunächst für sich selbst inBetracht gezogen, dann aber sämtlich verworfen habe, ob-wohl sie alle sehr schön klängen. Ich schreibe ihm, dass ichmittlerweile an »Paul« gewöhnt sei. K.versucht, das Heiligeverborgen zu halten. Es habe heutzutage von allen Seiteneine psychiatrische Diagnose zu gewärtigen.Wenn es über-haupt behandelt werden müsse, wünsche er eine traditio-nelle Behandlung mittels uten und Stöcken zum Beispiel.