System- und Handlungstheorie bei Luhmann. Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang

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Vittorio Klostermann GmbH is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Zeitschrift für philosophische Forschung. http://www.jstor.org System- und Handlungstheorie bei Luhmann. Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang Author(s): Karl-Heinz Nusser Source: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 32, H. 4 (Oct. - Dec., 1978), pp. 539-555 Published by: Vittorio Klostermann GmbH Stable URL: http://www.jstor.org/stable/20482922 Accessed: 07-12-2015 18:53 UTC Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at http://www.jstor.org/page/ info/about/policies/terms.jsp JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. This content downloaded from 207.249.33.125 on Mon, 07 Dec 2015 18:53:37 UTC All use subject to JSTOR Terms and Conditions

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Die Systemtheorie Luhmanns stellt den Anspruch, die philosophischeHandlungstheorie in ihrem traditionellenA usgang von der Bezugnahme aufdas einzelne Subjekt (Aristoteles, Kant, Hegel) uberholen und adaquaterfundieren zu konnen.

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System- und Handlungstheorie bei Luhmann. Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang Author(s): Karl-Heinz Nusser Source: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 32, H. 4 (Oct. - Dec., 1978), pp. 539-555Published by: Vittorio Klostermann GmbHStable URL: http://www.jstor.org/stable/20482922Accessed: 07-12-2015 18:53 UTC

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4) bestehende Sachverhalte, die nichtbestehende bestimmen, sind der Fall;

5) alles, was der Fall ist, ist die Wirklichkeit; 6) alles, was der Fall ist, bestimmt auch, was nicht der Fall ist; 7) alles, was der Fall ist und nicht der Fall ist, ist ,,Die Welt"; 8) es genugt aber, ,,Die Welt" als alles zu beschreiben, was der Fall ist; 9) die Gesamtheit bestehender Sachverhalte bestimmt die Wirklichkeit,

die wiederum ,,Die Welt" bestimmt. Das geschieht mit Hilfe von nichtbe stehenden Sachverhalten und von Moglichkeit. Wenn wir diesen stillen Bei trag nicht unterschlagen, konnen wir eine gewisse Totalitit von Gegebe nem Welt nennen.

Es gibt einen guten Grund dafiir, daB Wittgenstein seine Ontologie so in sich verschachtelt hat. Wenn alle Bedingungen wechselseitiger Bestimmung erfiillt sind, wird eine Summe von Sachverhalten alle erdenklichen Proble

me einfach dadurch l6sen, daB sie besteht. Das ist Wittgensteins Beschrei bung von Gliick (TB 6.7.16, 8.7.16).

SYSTEM- UND HANDLUNGSTHEORIE BEI LUHMANN

Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang

von Karl-Heinz Nusser, Munchen

A. Einleitung

Die Systemtheorie Luhmanns' stellt den Anspruch, die philosophische Handlungstheorie in ihrem traditionellen Ausgang von der Bezugnahme auf das einzelne Subjekt (Aristoteles, Kant, Hegel) uberholen und adaquater fundieren zu konnen. Erst mit den Mitteln der Systemtheorie soil sich eine adaiquate Zielbestimmung gesellschaftlicher Systeme ergeben, sollen not

wendig auftretende gesellschaftliche Widerspriiche, wenn nicht vermieden, so doch besser l6sbar werden. Luhmann will von vornherein eine bloBae phainomenologische Deskription der sozialen Wirklichkeit mit dem Ziel ihres adiquateren Verstehens (Alfred Schiitz) vermeiden. Daruiber hinaus

will Luhmann das Schisma von normativer und empirischer (deskriptiver

1 Dem Aufsatz liegt ein Referat vor der Projektgruppe ?Praktische Philosophie" an

der Universit?t M?nchen unter Leitung von Prof. R. Spaemann zugrunde. Ihm und

den Teilnehmern dankt der Verfasser f?r kritische Anmerkungen. Ebenso hilfreich waren die Diskussionen aus dem Oberseminar ?ber Systemtheorie von Prof. W.

B?hl, Universit?t M?nchen, dem ich an dieser Stelle meinen Dank aussprechen m?chte. F?r kritische Bemerkungen danke ich Prof. E. Heymann, Universit?t

Caracas, und Prof. W. Schild, Bielefeld.

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540 DISKUSSIONEN

oder kausal-erkIarender) Sozialwissenschaft iiberwinden2. Dahinter steht die Einsicht, daB eine angemessene sozialwissenschaftliche Methode ohne die Reduzierung des Drucks, der durch die Einzelwissenschaften in Form des Zuwachses an Informationskomplexitit fur das Bewul3tsein entstanden ist, trotz der ZeitgemaBheit empirischer Forschung obsolet wird. Die Sy stemtheorie scheint demnach einer die Empirie ubergreifenden Kiammer zu bedurfen, um iuberhaupt Probleme in Programme in der Weise transfor

mieren zu konnen, daB entscheidbare Alternativen sichtbar werden. Bereits hier kann man jedoch bemerken, daB es fur die Systemtheorie schwierig ist, diesem Erfordernis zu entsprechen; denn ihre allgemeinste und oberste

Devise und d. h. fuir den Fall der Handlungsanweisung ihre oberste Pramis se, aus der deduziert werden soll, ist inh aitlich vollig leer und lautet ,,Re duktion von Komplexitat". Sie entspricht in ihrer Gehaltlosigkeit etwa dem Hegelschen Prinzip der Geschichtsphilosophie, dem ,,Fortschritt im BewuBtsein der Freiheit", der an die konkreten geschichtlichen Verhaltnis se gebunden ist und im uibrigen keine direkte Handlungsanweisung an das agierende Subjekt, sondern eine Tendenz des ,,objektiven Geistes", d.h. eine situative Vermittlung des Kategorischen Imperativs von Kant dar stellt3. Wahrend jedoch Hegel eine Vermittlung von geschichtlicher iund

moralischer Bestimmung des Subjekts im Gedanken des Rechtsstaats ver sucht, lehnt Luhmann es iiberhaupt ab, eine Handlungstheorie normativ zu fundieren. Die Problematik eines obersten Moralprinzips, das entweder naturhaft dem Menschen vorgegeben oder auf dem Wege konsensueller Einigung notwendig mitgegeben ist, wird von Luhmann organisations theoretisch unterlaufen: Moderne Organisationen konnen sich heute nicht

mehr durch ein einziges Systemziel ausweisen; weder gelinge damit die Rechtfertigung des Handelns in jedem einzelnen Falle nach auBen, d.h. vor dem kritischen Publikum, noch die Motivation von Organisationsmit gliedern nach innen. Luhmann nimmt damit die Technokratiethese von Gehlen und Schelsky auf, nach der die Repriisentation des individuellen Selbst in den groBbuirokratisch verwalteten Institutionen nur noch unter Anerkennung grundsatzlicher Entfremdung m6glich ist. Diese hat fuir die Handlungsanalyse zur Folge, daB Motiv und Zweck grundsatzlich ausein anderfallen. Sie hebt somit die Moglichkeit oberster Handlungsziele, in denen das Subjekt sich selbst reprasentiert sehen konnte, auf: die letzte Sehnsucht darf nicht mehr gestillt werden.

Luhmanns Bemiihen, die empirische und normative Seite des ,,Positi vismusstreits in der deutschen Soziologie" nicht zum dogmatischen Ge gensatz werden zu lassen, verdient die Aufmerksamkeit auch der philoso phischen Fachgenossen. Anhand der Luhmannschen Systemtheorie versu

2 Zweckbegriff und Systemrationalit?t (11968), 1973, 343. Das Werk wird im fol

genden mit blo?er Seitenzahl zitiert.

3 Voraussetzung f?r eine solche Interpretation, die die gern gepflegte Frontstellung

Hegel versus Kant ? oder auch umgekehrt ?

aufgibt, w?re eine nicht nur forma

listische Interpretation des Kategorischen Imperativs von Kant, aber auch eine

nicht nur naturalistische Interpretation des Prinzips der Hegeischen Geschichts

philosophie.

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SYSTEM- UND HANDLUNGSTHEORIE BEI LUHMANN 541

che ich zu zeigen, daB eine Handlungstheorie nicht nur die zentrale sozio logische Kategorie ,,menschliches Verhalten", sondern auch ethische und rechtsphilosophische Prinzipien enthalten muB. Im Abschnitt (B) gebe ich eine Skizze der Luhmannschen Systemtheorie sowie der wichtigsten Ent sprechungen zwischen System- und Handlungstheorie. Aufgrund des Stel lenwertes, den Luhmann dem Zweck-Mittel-Verhaltnis (Zweckfunktion) gibt, erortere ich die Frage, ob dieses Verhaltnis Grund oder Folge der Systemtheorie ist. Ein Blick auf das Modell einer empirisch generalisierten Systemtheorie (Alfred Kuhn) kontrastiert die Fragestellung (C). SchlieB lich diskutiere ich das Zweck-Mittel-Verhgltnis in seiner konstitutiven Funktion fur die verobjektivierende Beobachtung und im Rahmen einer Handlungstheorie, die unter den Bedingungen steht, ihre Voraussetzungen mitreflektieren zu miissen (D).

B. Die Parallelitat von System- und Handlungstheorie

Luhmanns Schriften werden, wie er selbst sagt, von einer ,,Mehrheit von Zentralperspektiven beherrscht, die sich nicht in eine einfache Sequenz bringen, nicht reihenformig arrangieren lassen"4. Dies macht es unmaglich, irgendeine Schrift als zentral zu bezeichnen und in den Mittelpunkt der Interpretation zu stellen. Wenn im folgenden der Abhandlung ,,Zweckbe griff- und Systemrationalitit" besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird, dann nur deshalb, weil dieses Werk den zentralen Zusammenhang von System und Handlung am eingehendsten analysiert5. In allen Schriften geht es um Begriffe wie z.B. Komplexitat, Komplexititsreduktion, System, Umwelt, Welt, die jedoch nie fBir sich, in ihrem logischen oder funktiona len Zusammenhang, sondern stets konkret, bezogen auf ein bestimmtes Problem, dargestellt werden. In kritischer Ankniipfung an die strukturell starre Systemtheorie von Talcott Parsons konzipiert Luhmann eine Theo ne, die behauptet, daB die Reproduktion der Gesellschaft durch den Riick griff auf die M6glichkeit des Vergleichs verschiedener Befriedigungsstrate gien (funktionale Aquivalenz) geleistet werden kann. Der damit gewahlte Bezugspunkt der Theorie bedingt, daB das System nicht nur abstrakt als ,,Interdependenz einer vollstandigen Reihe von Elementen, die im aktiven

Austausch mit einer Umwelt stehen" konzipiert wird, wie dies Georg Klaus fuir eine kybernetische Definition von System vorschlUgt6, sondern

4 Funktion der Religion, Frankfurt 1977, 7.

5 Andere und zum Teil sp?ter von Luhmann herangezogene Begriffe, wie z.B.

?Kontingenz" und ?Relationierung" stehen nicht im Widerspruch zu dem hier

vorliegenden Ausgang vom Verh?ltnis von Systemfunktionalismus und Handlung. ? Eine Entwicklung seiner Systemtheorie in eine Richtung, die ihre Einheit spren gen k?nnte, scheint Luhmann anzudeuten, wenn er im Aufsatz ?Systemtheorie, Evolutionstheorie und Kommunikationstheorie" (in: Soziologische Aufkl?rung, Bd. II, 1975, (201)) von den im Titel genannten Theorien als drei verschiedenen, nicht aufeinander reduzierbaren Ans?tzen spricht.

6 G. Klaus, W?rterbuch der Kybernetik, Berlin 1968, Artikel System.

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als ,, Vermittlung zwischen der duI3ersten Komplexitat der Welt und der sehr geringen, aus anthropologischen Griinden kaum ver7nderbaren Fahig keit des Menschen zu bewuBter Erlebnisverarbeitung7.

Komplexitat besagt ,,Gesamtheit der maglichen Ereignisse"8 und ist das ,,letzterreichbare sachliche Bezugsproblem der funktionalen For schung"9. Ebenso wie der Begriff des Systems10 ist der Begriff Komplexi tat auf eine ,,Differenz von System und Umwelt schlechthin" ausgelegt11.

Luhmann macht nun in der Abhandlung ,,Zweckbegriff und Systemra tionalitait" den Vorschlag, die Bewertung von Ereignissen nicht mehr mit

Hilfe des Subjektbegriffs, sondern mittels des Kriteriums der Komplexi tatssteigerung des Systems vorzunehmen. Da Organisationssysteme wesent lich iiber Programme gesteuert werden, besagt Komplexitatsreduktion in diesem Zusammenhang die Programmspeicherung des adaquaten Verhalt nisses von Input und Output eines Systems. Das Input-Output-Verhaltnis entspricht von seiten der Systemtheorie dem Zweck-Mittel-Verhaltnis in den Terminis der Handlungstheorie: der Input entspricht dem Mittel, der

Output dem Zweck. Mit Luhmanns Worten: ,,Das Input/Output-Modell behandelt - auf einer hoheren Ebene der Komplexitat, namlich nicht fuir Handlungen, sondern fur Systeme - dasselbe Thema wie das Zweck-Mit tel-Schema" (258). Luhmann begruindet diese These mit zwei weiteren

Thesen: 1. Die Begriindung einer Handlungstheorie im Ausgang von der Reflexion auf das einzelne Subjekt ist grundsitzlich nicht mehr moglich; sie muB vielmehr unter Rekurs auf systemtheoretische Pramissen geleistet

werden. 2. Das in der Industriegesellschaft erforderliche MaJp an Komplexi tat kann grundsatzlich nur von einer Systemtheorie, nicht dagegen von einer Handlungstheorie bereitgestellt werden.

Es ist klar, daf3 beide Thesen nur dann widerlegt werden konnen, wenn deren Durchfiihrung bei Luhmann miBl3ingt bzw. wenn sich der Ansatz einer philosophisch begriindeten Handlungstheorie rechtfertigen IfBtt2.

7 Soziologische Aufkl?rung, Bd. I, Opladen 1970, 116, Hervorhebungen vom Verf.

8 ebda, 115.

9 Vertrauen, Stuttgart 2

1973, 3.

10 Eine gute Einfuhrung in Luhmanns System th?orie stellt immer noch G?nther

Schmid, N. Luhmanns funktionalstrukturelle Systemtheorie. Eine wissen

schaftliche Revolution? (In: Politische Vierteljahresschrift 10 1969, 186-218) dar. Eine ausgiebige Information ?ber die amerikanischen Vorl?ufer der Theorie

Luhmanns (T. Parsons, Br. Malinowski, Radcliff-Brown, S. Nadel, R. Merton, K.

Davis) bietet der Artikel ?Functional Analysis" von M. J. Levy und F. M. Can

cian, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, ed. D. L. Sills, Bd.

VI, 21-43.

11 Vertrauen, Stuttgart 2

1973, 4; der Begriff des Systems wird somit bei Luhmann

?ber die System-Umwelt-Differenz in gewisser Weise erst hergestellt. Auf dieses

Problem kommen wir noch zu sprechen. 12 Der Vorschlag einer soziologischen Handlungstheorie wurde z.B. von Alain Tou

raine (Sociologie de l'action, Paris 1965) gemacht. Dieser Ansatz leidet jedoch

daran, da? er den weiteren Begriff der Handlung auf den nicht so umfassenden

Begriff der Arbeit zur?ckfuhrt.

Vgl. ferner auch H. Haferkamp, Soziologie als Handlungstheorie, D?sseldorf

1972; Haferkamp belegt sehr sch?n den Hiatus von philosophischer und soziolo

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Ferner mulB bemerkt werden, daf, falls sich die zweite These nicht recht fertigen lieI3e, auch das Potential einer immanenten Kritik an Luhmann gegeben ware. Es bestiinde zumindest die M6glichkeit, den Gedanken einer Systemtheorie dann aufrechtzuerhalten, wenn deren Begrundung auf ande re Weise durchgefiihrt wiirde. Offen zu halten ist dabei die Frage nach dem Leistungsumfang der so begriindeten Systemtheorie.

Ich wende mich zunachst der Erorterung von Luhmanns Handlungsbe griff zu; denn Luhmann nimmt den Einstieg in die Systemtheorie iuber die Problematik der Handlung. In der Abhandlung ,,Zweckbegriff und System rationalitat" schreibt er: ,,Unter Handlung soll jedes sinnhaft orientierte auBenwirksame menschliche Verhalten verstanden werden" (7). Erortern

wir die drei spezifizierenden Elemente der deskriptiven Definition, die teils phanomenologische, teils analytische Elemente aufweist. Die sinnhafte Orientierung der Handlung fuihrt nach Luhmann nicht zu deren teleologi scher Deutung, da es durch die ,,neuzeitliche Wendung des Denkens" kein natuirliches Ende einer Bewegung, wie es noch Aristoteles fuir die Formulie rung des Handlungszieles vorausgesetzt habe, mehr gebe (19). Zur sinn haften Orientierung des Handelns geniigt es, daB Werte funktional zur Dis position stehen. Das zweite Element in der oben genannten Definition, die AuJ3enwirksamkeit des menschlichen Verhaltens, bringt Luhmann in die Niihe all jener analytischen Handlungstheorien, fur die die Bewegung des eigenen K6rpers oder auch die Veranderung des empirisch feststellbaren Zustands der Welt der UuBere Aspekt von Handlung ist. Der Grund fur diese Nahe auf seiten Luhmanns liegt im empirischen Charakter der Sy stemtheorie: obwohl namlich diese als selbstbeziigliche Theorie eingefiihrt

werden muB, lassen sich ihre Systemteile (Untersysteme) nicht als in einem reflex-begrifflichen Verhaltnis stehend begreifen, sondern stehen sich aus schliel3lich empirisch gegenuber. Die Systemtheorie thematisiert sich als Systemtheorie, indem sie ihre Systemteile prozessual strukturiert. Luh mann hat dies in einem eigenen Aufsatz ,,Selbst-Thematisierung der Gesell schaftssysteme" (1973) darzustellen versucht. Dort schreibt Luhmann: ,,Durch Relativierung wird die Verweisungsstruktur lebensweltlicher Hori

gischer Handlungstheorie. Sein soziologischer Ansatz ist vor allem durch die ?ber

wiegende Rezeption von Mead zu sehr eingeengt: Selbstbeziehung des Individuums ist lediglich Resultat des Sozialisationsprozesses. Die Spontaneit?t des Handeln

den ist nur nach au?en, in die Welt hinein, gerichtet. Es geht dieser soziologi schen Theorie um die Beschreibung des Prozesses der Verobjektivierung des

?Selbst", w?hrend die philosophische Theorie des Selbstbewu?tseins (z.B. Fich

te, Hegel) aufgrund der prinzipiellen Antizipation des Selbst in der Selbstthe

matisierung gerade auf der Unm?glichkeit der Verobjektivierung bestehen m??te.

Ferner zur Handlungstheorie: H. Girndt, Das soziale Handeln als Grundkatego rie erfahrungswissenschaftlicher Soziologie, T?bingen 1967;M. Clemenz, Sozio

logische Reflexion und sozialwissenschaftliche Methode, Frankfurt 1970; Neue

Hefte fur Philosophie, Heft 9 (Beitr?ge von A. Danto, R. Wiehl, K. D. Opp, B.

Wegener, R. Grathoff, A. Touraine), G?ttingen 1976. Das Heft dokumentiert

die Breite der Ans?tze philosophischer Handlungstheorien. Vermi?t wird ein

Beitrag einer auf Piaton und Aristoteles zur?ckgreifenden Handlungstheorie.

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zonte spezifiziert, schematisiert und fur3progressive Operationen des Erle bens und Handelns verfiigbar gemacht"' . Oder: ,,Einen Bedarf ebenso wie eine Moglichkeit der Identifikation eines Systems gibt es nur, wenn das System sich von seiner Umwelt unterscheiden und abgrenzen lilt"14 . Das Problem des reflexen Charakters der Systemtheorie - wir sind darauf schon eingangs bei der Auslegung der Systemdifferenz als System-Umwelt

Verhaltnis gestoBen - wird sofort klar, wenn man etwa an diese AuBerung die Frage anschlieBen wiirde, was denn dann, wenn jedes System nur durch Abgrenzung gegen die Umwelt faBbar sei, die Umwelt der Systemtheorie als solcher sei. Ich verfolge an dieser Stelle den Reflexionsbegriff der Systemtheorie nicht welter , sondern halte lediglich das zweite Element der Luhmannschen Handlungsdeskription fest: Handlung ist auB3enwirksam im Sinne der empirisch erfaBbaren Veranderung des Weltzustandes. Das dritte Element der Handlungsdeskription, Handlung ist menschliches Ver halten, erganzt das zweite Element dahingehend, daB empirische Verande rungen im Falle von Handlungen auf menschliches Verhalten kausal zu riickgehen. Verhalten ist dabei nicht konzipiert als Verhalten eines Sub jekts, das hie-Be als Sich-Verhalten, sondern als Resultat einer Handlungs einheit (action unit, Parsons)16. Diese drei deskriptiven Elemente eines allgemein zugInglichen Handlungsbegriffs werden nun von Luhmann auf die drei Prinzipien bezogen, die sich fir ihn aus einer Interpretation der Handlungstheorie im Lichte der Systemtheorie ergeben, und zwar auf folgende: Komplexitatsreduktion, Kausal-Schema und Zweck-Mittel-Ver

13 Soziologische Aufkl?rung, II, Opladen 1975, 73, Hervorhebung vom Verf.

14 Soziologische Aufkl?rung, II, Opladen 1975, 73 f.

15 Dieses Problem ist bereits nachdr?cklich in der Diskussion behandelt worden.

Habermas hat als erster auf die Schwierigkeiten, in die Luhmann aufgrund seines

Versuchs, die Grundbegriffe der Kybernetik zu verallgemeinern, kommt, hinge wiesen (Habermas/Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt 1971, 153 ff.). K. Hartmann verweist auf dasselbe Problem unter dem

Stichwort von ?antagonistischer Inklusion oder Parataxe" im Fall der Bezogen heit sozialer Systeme (K. Hartmann, Systemtheoretische Soziologie und kate

goriale Sozialphilosophie, in: Philosophische Perspektiven, 1973, 130?161).

Angeregt durch K. Hartmann hat R. Albrecht in der Arbeit ?Sozialtechnologie und ganzheitliche Sqzialphilosophie", Bonn 1973, einen Exkurs zum Verh?ltnis

Hegel?Luhmann (201?222) vorgelegt. Zweifelhaft erscheint dem Verf., da?

?Hegels Vorgehen durchaus funktional interpretierbar ist", wie Albrecht 206

meint. Hegels Theorie der Funktion hat in der Kategorie der Quantit?t ihren lo

gischen Ort.? F. Schneider hat den von Hartmann gesehenen Systemfehler auf

gegriffen und zum Leitfaden einer die ganze Breite der Luhmannschen ?u?e

rungen umfassenden Interpretation gemacht (F. Schneider, Systemtheoretische

Soziologie und dialektische Sozialphilosophie, Meisenheim 1976). Die H?ufig keit und Fundiertheit dieses philosophischen Widerspruchs kann von der Sy stemtheorie Luhmanns wohl kaum nicht bemerkt werden.

16 Zu dieser Abgrenzung des Handlungsbegriffs ist zu bemerken, da? die Beschrei

bung von Handlung als ein Verhalten sicher nicht genug in das Handlungsph?no men eindringt. Wir kommen nicht umhin, individuelles und gesellschaftliches Handeln zu bewerten; zu den drei unabdingbaren Bedingungen des Handelns

vergleiche man: Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, $ 113.

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haltnis. Damit ergeben sich die Zuordnungen: die sinnhafte Orientierung der Handlung entspricht der Komplexitatsreduktion, die Aul3enwirksam keit der Handlung dem Kausal-Schema, das Verhaltenselement der Hand lung dem Zweck-Mittel-Verhaltnis17. Meine These lautet nun, daB Luh

mann die zwischen Subjekt und Objekt vermittelnde Doppelstellung des Zwecks (vgl. 51) nur in Anspruch nehmen kann, wenn er das aktuelle System-Umwelt-Verhailtnis von einem Begriff der Subjektivitat aus reflek tiert, der sowohl die Kausal- als auch die Wertperspektive grundsatzlich impliziert, m. a. W.: Wenn Luhmann das Zweck-Mittel-Verhaltnis auf die systemtheoretische Ebene ,,heben" will, gelingt dies nicht, ohne daf das Zweck-Mittel-Verhaltnis sowohl als Endzweck als auch als Antizipation des Systems genommen wird, d.h. es wird riickbeziiglich. Ein ruckbeziigliches Zweck-Mittel-Verhaltnis ist traditionell in Begriffen wie z.B. des Selbst zwecks, des Sinnes, in den Dimensionen des Rechts und der Ethik konzi piert worden" . Auf die Problematik des Zweck-Mittel-Verhiltnisses werde ich im folgenden noch zuriickkommen.

Bevor die Systemprinzipien Kausal-Schema und Zweck-Mittel-Verhalt nis weiter analysiert werden, diskutiere ich ein Beispiel fur die Nichthinter gehbarkeit des ruckbeziiglichen Zweck-Mittel-Verhaltnisses (= Sinnes), das Reinhart Maurer in seinem Aufsatz ,,Politische Wissenschaft nach Pla ton"1 9 gegeben hat. Luhmann hatte unter Komplexitatsreduktion verstan den, daB Systeme, z.B. Wirtschaftsunternehmen, Bildungsinstitute, staat

17 Weitere Entsprechungen bestehen zwischen dem Kausalschema und dem Pro

ze?charakter, sowie zwischen Zweck-Mittel-Verh?ltnis und Proze?struktur. Wie

Luhmann die angef?hrten Begriffe in den Kapiteln 4 (Die Funktion der Zweck

setzung) und 5 (Zweckprogrammierung) des Buches ?Zweckbegriff und System rationalit?t" konkretisiert, kann hier nicht dargestellt werden.

18 J. Heinrichs hat einen beachtenswerten Vorschlag einer Parallelisierung von He

gels Sozialphilosophie und Parsonsscher Systemtheorie gemacht. Davon abgese hen, da? Luhmann eine gr??ere Bedeutung in der Rezeption der Parsonsschen Theorie zukommt als Heinrichs es zugestehen m?chte, bleiben Bedenken, die in

der Heterogenit?t der Ans?tze von Hegel und Parsons liegen. Hegels Denken ist

formal und apriorisch, regulativ f?r empirische Theorien, w?hrend Parsons'

Theorie formal und empirisch zugleich sein will; Beleg daf?r ist z.B. bei Parsons

die ?nderung aller theoretischen Elemente des Systems durch jeweils neue Ein

zelerkenntnisse. Auch spricht gegen den Vorschlag einer Entsprechung, da?

Heinrichs im Sinne Parsons' die Identit?t des sozialen Bereichs mit dem Bereich

des Rechts bei Hegel kritisieren mu?, zugleich aber im Sinne Hegels die Auswer

fung von drei Handlungssystemen (personality system, social system, culturel

system) durch Parsons kritisiert. ? Fraglich bleibt auch, ob die zentrale Stelle,

die der Begriff des Selbstbewu?tseins in Heinrichs Vorschlag einnimmt, nicht

wichtigen Positionen Hegels zuwiderl?uft. Vgl. J. Heinrichs, Reflexion und so

ziales System. Perspektiven einer Reflexionssystem th?orie, in: Theologie und

Philosophie, 51,1976, 546, Anm. 23 (Kritik an Parsons) ; vgl. ferner J. Heinrichs, Reflexion als soziales System, Bonn 1976, 142 f. (Kritik an Hegel). Zum Verh?ltnis von System und Subjekt vgl.: F. Wagner, Systemtheorie und

Subjektivit?t. Ein Beitrag zur interdisziplin?ren theologischen Forschung, in:

Internationale Zeitschrift f?r Wissens- und Religionssoziologie 10, 1976.

19 in: Der Staat, 15,1976, 67, Anm. 30.

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546 DISKUSSIONEN

liche Organe grundsatzlich in ihrem Bestand bedroht sind und infolgedes sen auf ihre Erhaltung bzw. Verbesserung hinarbeiten miissen. Maurer be hauptet nun, daB dieses Prinzip sinnlos sei, weil darunter ebenso das Ver stehen eines Buches wie das Zertriimmern eines Radios mit einem Hammer gemeint sein k6nne. Dieser Einwand gegen die funktional-strukturelle Systemtheorie Luhmanns ist deshalb berechtigt, weil Luhmann den Sy stembegriff dem Sinnbegriff vorordnet und glaubt, Sinn funktional inter pretieren zu k6nnen. In Wirklichkeit entwickeln Systeme nur deshalb einen positiven Richtungssinn weil der Sinnbegriff ursprunglicher als der funktionale Systembegriff ist2 .

Bei der weiteren Thematisierung des systemtheoretisch umgeformten Grundgerustes der Handlungstheorie (Komplexitatsreduktion, Kausal-Sche ma, Zweck-Mittel-Verhaltnis) ist zu beachten, daB das erste Glied, Kom plexitatsreduktion, sowohl als die die beiden anderen Elemente umgreifen de Klammer enthalten ist, als auch aufgel6st in den Bestimmungen Kausal Schema und Zweck-Mittel-Verhaltnis, zu deren Funktionssinn beitragend. Dies hangt, wie bereits angedeutet, damit zusammen, daB der Begriff Kom plexitat bei Luhmann, selbst wenn er abstrakt formuliert wird, auf die ,,Differenz von System und Umwelt schlechthin und im Hinblick auf das

Aktualisierungspotential von Systemen" ,,definiert" werden mu1321. Kom plexitatsreduktion ist ein quasitranszendentaler Begriff und kann deshalb nur iiber die Erorterung derjenigen Elemente, die er konstituiert, disku tiert werden. Ich beginne mit dem Begriff des Kausal-Schemas.

Luhmann versteht das Kausal-Schema in einem heuristischen Sinn und lehnt damit das Verstandnis von ,,Kausalgesetzen im Sinne von invarianten

Korrelationen zwischen je einer Ursache und je einer Wirkung" ab (27). Gemeint ist damit das Kausalitatsverstandnis von Hempel und Nagel, die ja beide auf dem deterministischen und eindeutig-nichtumkehrbaren Cha rakter der Kausalgesetze bestehen22. Einzelne Stationen eines Prozesses

m6gen fur sich wertvoll sein und deshalb festgehalten werden, andere k6n nen geandert werden. Dies setzt jedoch voraus, da.3 Luhmann seinen Be griff des Kausal-Schemas im Bereich der Naturwissenschaften nicht mehr verwenden kann, daB es somit auf jenen Gegenstandsbereich, der mensch licher Verfuigung zugiinglich ist, bezogen bleibt23. Kausalgesetze als funk

20 W. Loh moniert den ?bergang vom abstrakten Systembegriff zum Sinnbegriff, der bei Luhmann immerhin noch gemacht wird. F?r eine kybernetische System

theorie, wie er sie vorschl?gt, ist jedoch die Sinnhaftigkeit des Handlungskreises, an dem ? im Gegensatz zu Maschinen ? der Regelkreis gewonnen werden soll, ebenso unausgewiesen vorausgesetzt (vgl. W. Loh, Kritik der Theorieproduktion von N. Luhmann und Ans?tze fur eine kybernetische Alternative, Frankfurt

1972, 21 f. und 15). 21 Vgl. Luhmann, Vertrauen, a.a.O., 4.

22 Vgl. dazu E. Nagel, The Structure of Science, New York 1961; C. G. Hempel,

Aspects of Scientific Explanation and other Essays in the Philos, of Science, New York 1965; W. Stegm?ller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheo

rie und analytischen Philosophie, Bd. I, Teil 3, Berlin 1969. 23 R. D?bert (Systemtheorie und die Entwicklung religi?ser Deutungssysteme,

Frankfurt 1973) kritisiert den Versuch Luhmanns, Kausalit?t durch Rekurs auf

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SYSTEM- UND HANDLUNGSTHEORIE BEI LUHMANN 547

tionale Zustandsfolgen festgeschriebener Naturereignisse kommen auf diese Weise nicht in den Blick. Kausalprozesse werden auf Handlungen be zogen. Die Begriffe Ursache und Wirkung ,,sind nichts weiter als Variable, als Leerplatze fir den Austausch funktional aquivalenter Moglichkeiten" (S. 29). Fur die Analyse des Kausal-Schemas bleibt festzuhalten, daB Luh

mann die Spezifikation des Begriffs als neutrale aber auch verfuigbare Ab folge bereits unter Voraussetzung des Handlungsbegriffs, genauer: des Zweck-Mittel-Verhaltnisses, gewinnt. Die Abfolge von Ereignissen wird jedoch in Form von potentiell unendlichen Kausalketten gedacht, fOir die ein Selektionsprinzip in Form einer naher zu prazisierenden Wertvorstel lung (= Zweck-Mittel-Verhaltnis) notig ist.

C. Zweck-Mittel-Verhaltnis und Begrundung der Systemeinheit

Unter der Form des Zweck-Mittel-Verhaltnisses werden bei Luhmann all diejenigen Erwartungen begriffen, die friiher, d.h. in der traditionellen

Handlungstheorie (z.B. bei Platon) im Verhaltnis von Praxis und Techne thematisiert wurden. Die BerOicksichtigung der ethischen Dimension als eigenstandiger Bereich failt damit fir ce Grundlegung der Systemtheorie hinweg. Bei Luhmann wird im Begriff des Zweck-Mittel-Verhiltnisses die

Wertsetzung als opportunistische Auswahl unter einem disponiblen Hori zont von Werten gedacht (vgl. 43). Die Frage nach einem hochsten Wert scheidet wegen der Unm6glichkeit, eine hierarchische Wertordnung orga nisationstheoretisch fruchtbar zu machen, aus. Beweis genug ist fOir Luh mann einmal die Unmoglichkeit, moderne Firmen mittels hierarchischer Struktur angemessen zu organisieren, eine Auffassung, die der Entwick lung in der Organisationssoziologie entspricht24. Zum anderen deutet

Luhmann an, daB auch politische Systeme ,,nicht mehr durch gesellschaft lich vorgegebene, fOir wahr gehaltene (und damit invariante) Zwecke be stimmt werden" (105). Auch das politische System kann demnach seine

Autonomie nicht einfach mit dem argumentativen EinfOihren einer hierar

die Kategorie der Funktion zu begr?nden. Dieser Einwand scheint mir solange triftig zu sein, als Luhmann den Anschein erweckt, die Identit?t des Systems mit

dessen Aufrechterhaltung durch pragmatische Abwahl von bereitgestellten M?g lichkeiten (?quivalenzfunktionalismus) leisten zu k?nnen. D?berts Einwand

w?rde sich jedoch dann er?brigen, wenn es nicht mehr um die Herstellung von

Systemidentit?t, sondern um die Reflexion der handlungstheoretischen Grund

lagen formaler Systemidentit?t ginge. Letztere M?glichkeit versuche ich im fol

genden zu entwickeln.

24 Vgl. z.B. A. Etzioni, Modern Organizations, Englewood Cliffs, New Jersey 1967; R. Mayntz, Soziologie der Organisation, Reinbek 1963.

? Voraussetzung f?r

meine Argumentation im folgenden ist, da? die Handlungstheorie als grundle

gendere Theorie als die Organisationswissenschaft angesehen wird und nicht um

gekehrt, wie Luhmann ansetzt. F?r eine ?berordnung spricht schlicht die Tat

sache, da? Organisationen keine selbstbez?glichen Gebilde sind, wohl aber die

Menschen, die in ihnen handeln. Organisationen sind um der Menschen willen

da und nicht umgekehrt.

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548 DISKUSSIONEN

chischen Werte-Ordnung behaupten. Bereits hier zeigt sich, daB Luhmann keineswegs - ebensowenig wie Habermas - iiber einen nicht-deskriptiven Legitimititsbegriff, der zugleich mit der Form positiver Rechtsstaatlich keit kompatibel ware, verfligt. An Stelle einer Wertehierarchie bzw. der Vorgegebenheit einer hochsten Sinneinheit nimmt Luhmann die Moglich keit ,,der opportunistischen Wertbefriedigung" an (47)25.

Durch die Behauptung, dal der Mensch nie die in dem Zweck-Mittel Verhaltnis angesetzten Potentialitaten - wegen deren Unendlichkeit - aus schopfen konne (23), und die gleichzeitige Prioritit der opportunistischen

Wertbefriedigung erlangt die letztere Strategie die Bedeutung einer quasi regulativen Idee. Dem Zweck-Mittel-Verhaltnis (oder auch der Zweck funktion) wird damit eine Unendlichkeit eingeraumt, die in keiner Weise begriindet werden kann. Auch die Systemstrategien (Subjektivierung, Institutionalisierung, Umweltdifferenzierung, Innendifferenzierung, Unbe stimmtheit (182-186)) setzen das Verfiigenk6nnen iiber unendliches Po tential voraus

Luhmann sieht zwar, daB seine funktional-strukturelle Systemtheorie dann, wenn sie die traditionelle Handlungstheorie iiberholen will, auch in der Lage sein muB, deren Aussagen iiber allgemein-notwendige und unbe dingte Zwecke zu widerlegen, aber sein inhaltlich leerer Begriff ,,Kom plexitaitsredukdion" kann dies nicht leisten. Der abstrakte Gegensatz von Bestimmtheit (System) und Unbestimmtheit (Umwelt) lit sich zwar in das Dilemma des Festhaltens von Zwecken und der opportunistischen Reaktion transformieren, aber damit ist das Problem, welche Normen fuir individuelle, gesellschaftliche oder staatliche Situationen zu gelten haben, lediglich umgangen.

25 Luhmann versucht mit dem Begriff der opportunistischen Wertbefriedigung das

Prinzip ?Der Zweck heiligt die Mittel" zu kritisieren und sein eigenes System

prinzip einzuf?hren. Das Prinzip ?Der Zweck heiligt die Mittel" l??t sich dahin

gehend umschreiben, da? 1. der Zweck, ungeachtet anderer Werte oder Unwerte

der Nebenwirkungen vorgeht (vgl. R. Spaemann, Nebenwirkungen als morali

sches Problem, in: Philosophisches Jahrbuch, 1975, 324?335) und da? 2. die

Folgen der gew?hlten Mittel vernachl?ssigt werden d?rfen (42). Ein solches

Prinzip war z.B. dem Begriff der Zweckrationalit?t bei Max Weber zugrunde

gelegen. Als institutionelles Paradigma gilt f?r diesen die kapitalistische Wirt

schaftsform oder auch die b?rokratisch-legale Verfa?theit des Staates. Luh

manns Argument gegen dieses Prinzip ist nicht, da? es gar keine Wahrheit ent

h?lt, sondern da? sein Inhalt als Prinzip nicht formulierbar ist. Mittel werden

durch den Zweck immer neutralisiert. Gerade dies konstituiert sie als Mittel.

Zugleich aber gilt dies nur ad hoc: ?denn Zwecksetzung will andere Werte weder

negieren noch den in einem bestimmten Wirkungszusammenhang bevorzugten Werten generell unterordnen" (47, Hervorhebung von Luhmann). Formal be

trachtet sagt Luhmann also nichts anderes, als da? ein Prinzip nicht allgemein

gelte, weil es immer nur im einzelnen Fall gelte. Diese Auskunft ist paradox, trifft aber auf Luhmann deshalb zu, weil er eine allgemeine Regel einfuhren

mu?, um die Anwendung im einzelnen Fall zu begr?nden, dann aber nur den

einzelnen Fall anf?hren kann, um die allgemeine Regel zu falsifizieren.

26 Knappheit definiert Luhmann als systeminternes Schema, um Inkonsistenzen zu

bew?ltigen. Sie ist jedenfalls keine ?Eigenschaft der Natur" (191).

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SYSTEM- UND HANDLUNGSTHEORIE BEI LUHMANN 549

Bei der Durchfiihrung der Systemtheorie kann Luhmann der Ethik keine autonome Rechtfertigungsmoglichkeit mehr zugestehen. So wenig es den Gedanken des Selbstzwecks geben darf - der fuir Luhmann eine ,,sinnlose, in sich widerspruchsvolle Protestformel" ist (16) -, so wenig

m6chte Luhmann im Gefolge von E. Durkheim27 zugeben, daB eine Er wartung absoluter Werte nicht nur die spezifische Einbildung des Mora listen ist. Trotzdem meine ich, daB die M6glichkeit einer Ethik implizit in der Luhmannschen Systemtheorie in der Form einer von ihr in An spruch genommenen Begriindung der Handlung und der damit gesetzten anthropologischen und gesellschaftlichen Bedeutsamkeit enthalten ist28. Um dies aufzuzeigen, vergleiche ich sie mit einer ,,empirisch" begruindeten Systemtheorie.

Im Gegensatz zur Luhmannschen Systemtheorie stiitzt sich eine System theorie auf ,,empirischer Basis" auf die universelle Verwendung des Regel kreises. Kybernetisch orientierte Systemtheorien, wie etwa der Ansatz von Alfred Kun29, miissen dabei die verschiedenen Schichten der Wirklich keit, die anorganische, die organische und die vital-bewul3te, jede fir sich - und innerhalb jeder Schicht die kleinste Einheit - als bestehend aus Regel kreisen, zugleich aber alle zusammen als in einem einzigen Regelkreis inter agierend denken. Der umfassendste Regelkreis wird dadurch erforscht, daB die Abliufe der kleinsten Systemeinheiten beschreibbar werden. Wenn sich z. B. genau ermitteln lieIBe, welche Reizreaktion bei einem Menschen A durch eine bestimmte verbale Augerung eines anderen Menschen B ablauft, konnte damit Krisenverhalten auf weltpolitischer Ebene steuerbar werden. Es sollen jedoch nicht die Schwierigkeiten der Durchfiihrung dieses Ansat zes, sondern der Ansatz selbst beachtet werden. Der Ansatz beruht auf dem Ineinanderwirken von folgenden verschiedenen Gro-3en:

1. Die universelle Strukturierung des Systems und jedes Systemelemen tes durch ein Detector-Selector-Effector-Verhialtnis, d.h. durch einen posi tiven Riickkopplungsmechanismus.

2. Die Erkenntnis des Systems durch empirische Verfahren, d. h.: a) durch das Erstellen von Hypothesen b) durch die Herstellung bzw. das Auswahlen der zur Oberprilfung der Hypothesen geeigneten Randbedingungen c) durch die Uberprifung der Hypothesen durch Verfahren der empiri schen Verifikation 3.

27 De la division du travail social, Paris 1907.

28 Normen k?nnen zwar in soziologischer Perspektive gesehen werden. Dabei wer

den sie behandelt wie irgendwelche anderen Konventionen, die auf ihre funk

tionale Unersetzlichkeit befragbar sind. Philosophisch gesehen gen?gt diese Me

thode jedoch nicht, um den Anspruch von Normen zu begr?nden. Ebenso wie es

auch philosophisch gesehen einen Unterschied macht, ob normativ fundierte

und fundierbare Erwartungsstrukturen entt?uscht werden, oder liebgewonnene Gewohnheiten. Anders dagegen: Luhmann, Normen in soziologischer Perspekti

ve, in: Soziale Welt, 1969, 28-48.

29 The Logic of Social Systems, San Francisco 1974.

30 Vgl. zu a), b) und c) z.B. P. F. Lazarsfeld, Sociology, in: Main trends of research

in the social und human sciences. Part one: Social sciences, Paris/The Hague

1970, 61-165, bes. 90.

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550 DISKUSSIONEN

Eine empirische Systemtheorie wird ferner eine Hierarchisierung be stimmter methodischer Schritte in dem Sinne zulassen, daB einige Ergeb nisse als gesicherter im Vergleich zu anderen und deshalb als grundlegen der betrachtet werden. Gerade am Problem der Hierarchisierung zeigt sich die von der empirischen Systemtheorie als selbstverstandlich vorausgesetz te Handlungsrelevanz. Auch eine empirische S ystemtheorie wird namlich bestimmte Zusammenhange nicht allein deshalb erforschen, weil sie gut verifizierbar, sondern weil sie besonders bedeutsam sind. Diese Bedeutsam keit kann jedoch nirgends als Theorie-Element in die Theorie eingebracht werden, sie wird ebenso wie die Einheit des Gegenstandes, namlich der Begriff ,,Gesellschaft", vorausgesetzt. Die Theorie muI3 voraussetzen, daB die Einheit der verschiedenen Wirklichkeitsschichten dazu geeignet ist, ,,Gesellschaft" objektiv zu konstituieren, d.h. zu einem erforschbaren Ge

genstand zu machen. Luhmanns Systemtheorie hat nun den groBen Vor zug, da-B er diese Schwierigkeit der empirischen Systemtheorie gesehen und zu vermeiden versucht hat. Luhmann bezieht die empirische Wirklichkeit von vornherein auf die Handlung. Nichts anderes heiBt namlich seine Be hauptung, daB das Kausal-Schema durch den Aquifunktionalismus aufzu schliisseln sei3". Emn solches vergleichendes Handeln setzt jedoch grund satzlich die Sinnzugehorigkeit der verglichenen Momente und die Antizi pation von Einheit und Sinn voraus. Die Abgeschlossenheit von Elemen ten, die es ermoglicht, uberhaupt von einem System zu sprechen - und nicht von relativer Haufigkeit einzelner Elemente -, wird nur m'oglich durch den in der Aquivalenzleistung liegenden und sie erm'oglichenden Bezug auf ein vorgegebenes, sinnhaftes Einheitsprinzip. Indem Luhmann den Gedanken des Auqivalenzfunktionalismus einfiihrt, iibersteigt er be reits seine eigene deskriptive Fassung von Handlung als Verhalten. Der

Grund, warum Luhmann diesem Schritt nicht Rechnung tragt, ist klar: Mit der Annahme eines vorgegebenen Sinnraumes wiirde der M6glichkeits spielraum des Auqivalenzgesichtspunktes - unter funktionalistischer Per spektive - beschnitten. Genau diese Annahme, daB3 die Aufhebung natiir licher Grenzen im Menschen und im Verhaltnis des Menschen zur Umwelt unbesehen und ohne Gegenrechnung sinnvoll und bejahenswert sei, ist das unreflektierte technologische Apriori der Systemtheorie. Im Gegensatz dazu kann die Beschneidung von Moglichkeiten auch Erh6hung des - qua litativen - Potentials bedeuten.

Die eben angefUihrte Handlung (Einheit und Sinn als Prinzip), die den

Aquivalenzfunktionalismus ermoglicht, gibt dem Zweck die Bedeutung

31 Nur deshalb ist es verst?ndlich, da? Reduktion von Komplexit?t in der Beson

derheit ihrer Formen, z.B. des Erlebens, Handelns, Vertrauens, f?r Luhmann

keine Schwierigkeit enth?lt. Erleben und Vertrauen sind Voraussetzungen des

Handelns und damit dem Handeln verwandt. Dagegen ergibt sich f?r eine Sy stemtheorie nach kybernetischem Modell das System nur in der abstrakten

Form des ?Wirklichwerdens aus anderen M?glichkeiten". Jedes Wirkliche ist

Reduktion von Komplexit?t, ?also gibt es keine besonderen Mechanismen";

vgl. dazu W. Loh, Kritik der Theorieproduktion von N. Luhmann und Ans?tze

f?r eine kybernetische Alternative, Frankfurt 1972, 108.

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einer ,,Doppelstellung im Kausalkontext und im Wertkontext" und schafft den tObergang zwischen beiden Bereichen. Dieser mit Luhmann (vgl. 50) volizogene Gedanke ist jedoch gegen Luhmann zu begriinden. Denn es gibt keinerTei konsistenten Grund dafiir, daB Luhmann, nachdem er eigentlich auf das Handlungsprinzip als Grund der Ermoglichung von Systemganzheit rekurriert ist, auf die Systemrelationalitat von System und Umwelt zuruick greift, um die in der Handlung liegende Antizipation des reflektierenden Systemtheoretikers auf ein Umweltverhalten einer atomaren Systemein heit zurilckzustufen32. Der Zweck hat die Doppelstellung im Kausalkon text und im Wertkontext aufgrund der Selbstbez'uglichkeit von Handlun gen und nicht von Funktionen, bzw. Funktionen konnen als selbstbeziig liche nur aufgrund der Selbstbeziiglichkeit von Handlung konzipiert wer den. Damit entfallt jene Moglichkeit der prinzipiellen Gleichsetzung von Handeln und Erleben33 bei Luhmann, die Rudiger Bubner34 zu Recht mo niert hat. Reale M6glichkeiten liegen nicht aufgrund der empirischen Komplexitat der Welt fur ein sinnerlebendes Subjekt bereit - so die Ar gumentation von Luhmann im Aufsatz ,,Sinn als Grundbegriff der Sozio logie" -, sondern die empirische Komplexitat der Welt ist Realisationsbe reich fUir jene Zwecke, fur die sich der Mensch aufgrund vernunftiger tYber legung entscheidet. Auf diese Weise wird nicht ausgeschlossen, daB Han deln sich in vielen Fallen Erleben zum Ziel setzt und demnach von der empirischen Komplexitat der Welt bestimmt ist. Es wird nur die Moglich keit, Erleben selbst funktional fUr Handeln eintreten zu lassen, geleugnet.

D. Bedingungen der Beobachtung und des Handlungsprinzips

Die bisherigen tOberlegungen haben ergeben, daB allein die im Hand lungsprinzip liegende Reflexintat von Handlung und nicht der spezifische

Charakter einer funktionalen Systemtheorie die Einheit des sozialwissen

32 Fundierung des Sinnbegriffs im Bewu?tsein hei?t f?r Luhmann dann auch des sen Bezug auf das psychische System. Vgl. Luhmann, Sinn als Grundbegriff der

Soziologie, in: Habermas/Luhmann, a.a.O., 29.

33 Luhmann spricht in dem Aufsatz ?Sinn als Grundbegriff der Soziologie" (in: Habermas/Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frank

furt 1971, 37) davon, da? ?das unmittelbar gegebene, evidente Erleben durch setzt ist mit Verweisungen auf andere M?glichkeiten und mit reflexiven und

generalisierbaren Negationspotentialen .." Mit diesem Vorschlag will Luhmann

einen Bezug der Sinnbegriffe auf ?Bewu?tsein" erhalten, nachdem er im selben

Aufsatz vorher (28) ausgef?hrt hatte, da? der Sinnbegriff ohne Bezug auf den

Subjektbegriff zu gewinnen sei. Luhmann sieht v?llig richtig, da? der Sinnbe

griff ?subjektiv" und ?objektiv", d.h. f?r psychische und soziale Systeme gilt. Aber das Problem, das fr?here Theorien (z.B. Hegel) mit der R?ckbindung des

Sinnbegriffs durch den Bezug auf das Subjekt zu l?sen versuchten, war ja nicht nur die Beschreibung des verschiedenen Vorkommens von Sinn, sondern auch

die Kl?rung der Frage, wie der Sinn in den verschiedensten Formen ein einziger, d.h. eben Sinn, bleiben k?nnte. Dieses Problem setzt die Systemtheorie Luh

manns einfach als gel?st voraus.

34 R. Bubner, Handlung, Sprache und Vernunft, Frankfurt 1976, 48.

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552 DISKUSSIONEN

schaftlichen Gegenstandes und damit eine empirische Sozialwissenschaft ermoglicht. Da der Mensch selbst Handelnder ist, ist es auch ausgeschlos sen, ihn als Element mit der Qualitat ,,Bewul3tsein" auf den Stoffwechsel prozeg des System-Umwelt-Verhiiltnisses zu beziehen. Wenn Handlung dasjenige ist, wodurch der Stoffwechselprozel3 menschlicher Systeme mit ihrer Umwelt erst thematisierbar wird, dann ist dieser ProzeB auch keine Instanz gegen die M6glichkeit von moralischen Begriindungen von Hand lungen. Damit ware die Unmoglichkeit, von einer Luhmannschen sozio logischen Systemtheorie aus eine Moralbegriindungskritik leisten zu k6n nen, dargetan.

Im folgenden versuche ich, die Parallelisierung von Handlungsbegriff und Zweck-Mittel-Verhg1tnis durch Luhmann weiter zu erhellen.

a) Ist es m6glich, die Grundlagen der Handlungstheorie iiber eine Zweck-Mittel-Theorie zu erreichen, oder vollzieht man damit eine vor schnelle Gleichsetzung zwischen beiden Theorien?

b) Wie steht es mit jener im Gefolge dieser Annahme gemachten Be hauptung von Luhmann, daB Zwecksetzung generell die Wahrheit von Zwecken aufhebt (Neutralisationsfunktion des Zweck-Mittel-Verhalt nisses) ?

Zu a): Es scheint, daB Luhmann die Ambivalenz der Bedeutung des Zweck-Mittel-Verhaltnisses fir die Handlungstheorie nicht gesehen hat. Dieses Verhaltnis ist zwar insofern fuir eine Handlungstheorie zentral, als es um den theoretischen, den Erkenntnischarakter, von Handlung - ist sie kausal-erklarbar oder intentional-beschreibbar? - geht. G.-H. von

Wright hat gezeigt35, da.3 die Intention, die in der Pramisse eines prakti schen Schlusses (z.B. ,,A beabsichtigt, daB der Knopf reingeht") enthalten ist, eine intentionale Erklarungspramisse unter der Voraussetzung darge stellt, daB die Conclusio (z.B. ,,Folglich driickt A den Knopf") des Prakti schen Schlusses beobachtbar war. Die Tatsache, daB jemand einen Zweck durch ein Mittel realisiert, ist Bedingung fur das Aufstellen einer Intention im Praktischen SchluB - wenn wir einmal davon absehen, ob es sich wirk lich um einen deduktiven Syllogismus handelt. Die Analysen von Wrights fiihren zu einer Vereinbarkeit der intentionalen Erklarung einer Handlung

mit deren kausalen Erklarung im Sinne der logischen Unabhangigkeit von Ursache und Wirkung. Obwohl mit diesem Begriff der Intention noch kei ne bestimmten Werte prajudiziert werden, ist er grundsatzlich wegen seiner methodischen Unabhangigkeit von der kausalen Erklarung geeignet, dem Charakter von Werten zu entsprechen. Im Alltag, aber auch z.B. bei der historischen Forschung, versuchen wir die Intention (Zweck) einer Hand lung durch deren wiederholte Beobachtung bei gleichzeitigem Vergleich

35 G. H. von Wright, Explanation and Understanding, New York 1971, dt. ?ber

setzung Frankfurt 1974. Bei dieser Bezugnahme auf von Wright ist zu beachten, da? ich ?ber dessen analytische Unterscheidung von Intention und Wille hinaus

gehe. Eine Intention ist zwar eine bedeutungstragende Geste, wie von Wright (108 f.) ausf?hrt, sie scheint sich aber nur durch so etwas, das man traditionell

Wille genannt hat, von einer anderen K?rperbewegung, z.B. Husten, unter

scheiden zu k?nnen.

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mit den auftretenden Randbedingungen festzulegen. Die dabei verwendete Methode ist lediglich deskriptiv und dient weder dazu, bestimmte Werte als vorrangig aufzustellen, noch die Vorrangigkeit von bestimmten Werten prinzipiell zu widerlegen. Wenn wir so vorgehen, wollen wir dabei nur wissen, welche Intention eine Personfaktisch hat oder gehabt haben k6nn te. Die Frage einer Beurteilung rechtlicher oder moralischer Art ist damit noch nicht gestellt. Die Abstraktion von der wertmaiigen Bestimmtheit bedeutet nicht deren Aufhebung. Die Interdependenz von kausaler und wertmaBiger Bestimmtheit ist nicht hintergehbar, wie Luhmann will, viel mehr taugt das Zweck-Mittel-Verhaltnis nur zu einer vordergriindigen Be schreibung von Handlungsphanomenen, nicht dagegen zu ihrer Beurtei lung und Begriindung.

Zu b): Ein weiteres Argument, das Luhmann zur Unterstiitzung seiner These von der Unwahrheit und Nichtnotwendigkeit der Zwecke anfuihrt, ist die Neutralisationsfunktion, die Luhmann dem Zweck-Mittel-Verhaltnis aufgrund der Zwecksetzung zuschreibt (vgl. 47 ff.). Diese Neutralisations funktion kann sich jedoch nicht auf die Zwecksetzung generell, sondern nur auf einzelne Mittel beziehen. Nicht jedes Mittel neutralisiert den Zweck, wohl aber ist die Unmoglichkeit, einen Zweck unmittelbar verwirk lichen zu k6nnen, der Hinweis auf die eigenstandige Wirklichkeitsdimen sion der Mittel-Wahl. Der Zweck muB notwendig im Mittel erscheinen, d. h. duBerlich sichtbar werden36. Dies wiederum ist Voraussetzung dafiir, daB ein schlechtes Mittel einen guten Zweck aufheben kann. Das gleiche gilt fur Luhmanns Systemtheorie. ,,Gute" Systemzwecke werden durch schlechte

Mittel neutralisiert. Aufgrund des Erscheinungscharakters des Mittels, d.h. der realen Differenz von Mittel und Zweck, die die gleichzeitige Verwiesen heit des Zweckes auf das Mittel impliziert, ist es Luhmann moglich, den Anschein zu erwecken, das Zweck-Mittel-Verhiltnis konne auch uiber den Begriff des Mittels konzipiert werden. Da Luhmann die Inhaltlichkeit des Zweckpinzips, d.h. den Gedanken eines Selbstzweckes im Zweck-Mittel Verhiitnis negiert, muB das Zweck-Mittel-Verhaltnis dessen Aufgabe bei der Analyse der Handlung iibernehmen, indem das Mittel selbst in die antizipatorische Funktion des Zweckes eintritt. Dadurch wird im Sinne einer Tautologie das Mittel-Sein einer Sache Kriterium und Bestimmungs grund fUir das Mittel. Luhmann will insofern uiber Max Weber hinausgehen, als er die instrumentelle und technische Tendenz in dessen Konzeption der Zweckrationalitiit erkennt - bei Weber sind in der Tat wertrationales und zweckrationales Handeln grundsatzlich verschieden37.- und daraus den SchluIB zieht, Zweckrationalitat sei nicht mehr als Zweckprinzip fUir Han deln, sondern auch als Handlungsmittel (fuir den funktionalen Vergleich)

36 Vgl. J. Derbolav, Hegels Theorie der Handlung, in: Hegel-Studien 3,1965, 209

223; ?Handlung aber ist in die Erscheinungswelt insofern unabdingbar hinein

gebunden, als sie einem Zweck als ihrem Beweggrund zu ?u?erem Dasein ver

h?ft" (211). 37 Vgl. Max Weber, Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft (aus dem Nach

la? Preu?ische Jahrb?cher, 187. Bd., 1922) abgedruckt in: Gesammelte Aufs?tze zur Wissenschaftslehre, T?bingen 41973, 475-488.

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554 DISKUSSIONEN

aufzufassen38. Freilich sieht Luhmann nicht, daB sich daraus fur eine Handlungstheorie die Folgerung ergibt, es komme im Prinzip darauf an, dal3 - egal wie - gehandelt werde. Letzteres mag in manchen Konstellatio nen zutreffen, grundsatzlich ist es aber falsch, die Orientierungsanweisung aufzustellen, es komme darauf an, daB Nicht-Handeln vermieden werde. Luhmann ist aus Griinden des empirischen Charakters seiner Systemtheo rie dazu genotigt, ein zeitlich ablaufendes Spannungsreduktionsverhaltnis zwischen Umwelt und System anzusetzen. Wenn das System der Umwelt nicht hilflos ausgesetzt sein will, muI3 es permanent auf diese einwirken. Dies ist der eigentliche Grund fur Luhmanns Auszeichnung des Mittel Begriffs39.

Insofern der empirische und wertmiBig neutrale Zustand des System/ Umwelt-Verhaltnisses Bezugspunkt der Reduktion von Komplexitit ist, ist es relativ leicht einzusehen, daB Luhmann die Form des Handelns eben so auf das Kriterium des Erfihllens einer Maximalleistung als auch, in Kri senzeiten, auf die Erfiillung einer Minimalfunktion, die Bestandserhaltung des Systems, beziehen kann. Er kann, je nach Bedarf und geschichtlicher Lage, auf die Tradition der ,,invertierten Teleologie"40 von Spinoza bis Gehlen verweisen, oder aber versuchen, denjenigen Vertretern, die in der Tradition der extrovertierten Teleologie (z.B. J. Habermas) stehen, die Lei stungsfiahigkeit seiner Position zu demonstrieren.

Ein Ausweg konnte sein, beide Formen der Systemstrategie nicht auf das Begrundungsproblem der Systemtheorie zu beziehen, sondern auf eine empirische Systemtheorie mit begrenztem Thematisierungsbereich. Die Strategien wurden in der Form von Maximen gefaBt werden. Rechtfertig bare Maximen waren in der Form von Imperativen einzufhihren, so bei spielsweise: ,,Reduziere die anstehende Komplexitat in der Weise, daB alle bestandsgefaihrdenden Leistungen abgewiesen werden!" Aber auch dieser

38 Luhmann hat sicher damit Recht, wenn er sich gegen eine zweckrationale Inter

pretation der Produktionsprozesse, wie sie bei Max Weber vorlag (215), wendet. Eine zweckrationale Ausrichtung des Systemmodells kann die Interessen der Ka

pitalgeber und Arbeiter nicht angemessen einarbeiten. Gemessen an den Grund linien der Handlungstheorie unterscheidet sich der pragmatische Funktionalis

mus Luhmanns jedoch nicht ? entgegen dem Anspruch Luhmanns ? vom

zweckrationalen Denken Max Webers. Beide erheben den Zweck-Mittel-Gedan ken zur quasi-Norm des Verhaltens und verzichten auf die Strukturierung der

Theorie durch ?berproze?hafte, wertende Ziele.

39 Daraus folgt weiter, da? bei Luhmann der subjektive Mangel (das Bed?rfnis des

Subjekts) auch durch eine zeitliche Differenz interpretiert werden mu? (Luh mann tut es auch in dem Aufsatz ?Sinn als Grundbegriff der Soziologie", in:

Habermas/Luhmann, a.a.O., 38). Dabei steht die Befriedigung des Subjekts nicht

mehr im Vordergrund. Dies kann politisch und strategisch als Vorteil erscheinen, ist jedoch, weil der Mangel zur Form des Prozesses wird, eher ein Nachteil. Der

gr??eren Leistung, die die Systemtheorie aufgrund ihres Reduktionsbegriffs anbietet, steht somit die Steigerung der Systemerfordernisse gegen?ber, weil mit

dem Proze? als solchem Mangel konstituiert wird.

40 Vgl. die Kennzeichnung des Sachverhaltes durch R. Spaemann, Reflexion und

Spontaneit?t, Stuttgart 1963, 50-64.

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SYSTEM- UND HANDLUNGSTHEORIE BEI LUHMANN 555

Vorschlag ist untauglich. Man sieht leicht, daB3 der Terminus ,,bestandsge fahrdend" keine eindeutige Interpretation ermoglicht. Verschiedene Sy stemmitglieder verstehen darunter jeweils etwas anderes. Menschen sind verschieden angstlich. Auf diese Weise zeigt sich, daB das den organischen Systemen entnommene Systemverhalten ,,Erhaltung des Systemgleichge wichts", das unter den Bedingungen einer fixierten Systemumwelt gilt, nicht auf Gesellschaften iibertragbar ist, weil diese die Sinnantizipation ihrer Entwicklungsdimension nicht in Form von empirisch umsetzbaren inhaltlichen Steuerungsleistungen erbringen k6nnen. Wenn jedoch der Ge danke einer gesamtgesellschaftlichen Steuerung absurd ist, welche Aufgabe bleibt dann der Systemtheorie von Luhmann?

Die Zwecksetzung kann zwar nicht auf der Ebene der allgemeinen Handlungstheorie funktional begriindet werden, wohl aber im Organisa tions- und betriebswirtschaftlichen Bereich. Die Systemtheorie muB sich auf diese Bereiche beschranken. Bei der Untersuchung formaler Organisa tionen hat Luhmann eine ganze Reihe wichtiger Anregungen gegeben. Sein dabei verwendeter Komplexitatsbegriff besagt dann z.B., daB Verwaltun gen nicht an derjenigen Stelle vereinfachen diirfen, wo sie eine Leistung ohne weiteres erbringen k6nnen. Ein daftir eingefuihrtes Prinzip lautet: ,,Verwaltungen sind Organisationen, deren Zweck es ist, Entscheidungen zu kommunizieren '41 . Wenn Luhmann die Systemtheorie auf die Aufga ben einer empirischen Organisationswissenschaft beschrankte, wi&rde der Blick frei fur die der Macht und Politik eigenen Gesetzlichkeiten, von de nen auch Organisationen und Verwaltungen dependieren. Die Nachdriick lichkeit, die Luhmann der Auswahl der Mittel zukommen lieB, ware mit der Beschrinkung auf den Organisationsgesichtspunkt am ehesten ge rechtfertigt.

Zusammenfassend laBt sich sagen: Das Haupthindernis fur Luhmanns funktionale Uminterpretation der Handlungstheorie ist, daB sich das Zweck-Mittel-Verhaltnis aufgrund des Mittel-Begriffs (der je durch ein einzelnes Objekt spezifiziert ist) nur zur Realisation einer Einzelhandlung eignet, nicht dagegen zur Reflexion der Handlungs- und Systemtheorie als allgemeiner. Wird trotzdem das Zweck-Mittel-Verhaltnis fur sich gedacht, dann besteht der betreffende Inhalt im Voraussetzen eines riickbeziigli chen ,,Zweckbegriffes", d.h. im Voraussetzen von Sinn. Indem Handlung sich auf diese Weise auf Sinn bezieht, bezieht sie sich auf sich selbst, eine Beziehung, die in der Tradition der Philosophie mit Freiheit bezeichnet wurde. Auf diesen alteuropiischen Begriff mu eine moderne Systemtheo rie, wenn sie konsequent ihre Grundlagen reflektiert, notwendigerweise zuriickgreifen.

41 Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964,111.

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