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| IM FOKUS Von gestern bis heute: totale Institutionen Begangene und unbegangene Wege aus der totalen Institution Sympa-Projekt in China Strukturen als sicherer Rahmen dynamik Familien Systemische Praxis und Forschung Herausgegeben von Ulrike Borst, Hans Rudi Fischer, Christina Hunger-Schoppe und Arist von Schlippe 44. Jahrgang Heft 3 | 2019 DOI 10.21706/fd-44-3 familiendynamik.de Familiendynamik 3/2019 Die Person in der Institution Die Person in der Institution b SEITEN-BLICKE Soteria – Symbol für eine Irritation b ÜBER-SICHTEN Kooperation zwischen Kinder- tagesstätte und Familie

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| IM FOKUS

Von gestern bis heute: totale Institutionen

Begangene und unbegangene Wege aus der totalen Institution

Sympa-Projekt in China

Strukturen als sicherer Rahmen

dynamikFamilienSystemische Praxis und Forschung

Herausgegeben von Ulrike Borst, Hans Rudi Fischer, Christina Hunger-Schoppe und Arist von Schlippe

44. JahrgangHeft 3 | 2019DOI 10.21706/fd-44-3

familiendynamik.de

Familiendynam

ik3/2019

Die Person in der Institution

Die Person in der Institution

b  SEITEN-BLICKE

Soteria – Symbol für eine Irritation

b  ÜBER-SICHTEN

Kooperation zwischen Kinder-tagesstätte und Familie

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AUTORENEXEMPLAR – NUR ZUR PERSÖNLICHEN VERWENDUNG

Der vermutlich vorletzte Akt des jahr-zehntelangen Dramas der Systemi-schen Therapie endete am 22. 11. 2018 mit einem Paukenschlag: Mit den Stim-men aller unparteiischen Mitglieder des Gemeinsamen Bundesschusses, den Stimmen und der Unterstützung der Kassenärztlichen Bundesvereini-gung, der Deutschen Krankenhausge-sellschaft und der Patientenvertretung wurden der Nutzen und die medizini-sche Notwendigkeit Systemischer The-rapie anerkannt.2 Sie wird ein von der Solidargemeinschaft getragenes Kas-

2 Verfügbar unter: https://www.g-ba.de/presse/pressemitteilungen/775/.

BerufspolitikWas gibt’s Neues

Gib niemals auf!

Systemische Therapie und ihre Einbettung ins deutsche Gesundheitswesen1

Sebastian Baumann, MannheimMatthias Ochs, FuldaKerstin Dittrich, LeipzigReinert Hanswille, EssenBjörn Enno Hermans, EssenUlrike Borst, Konstanz

1 Dieser Artikel beleuchtet neben der sozial-rechtlichen Anerkennung Systemischer Therapie auch einige Meilensteine auf dem Weg zur wissenschaftlichen Anerkennung. Das Risiko dabei ist, entscheidende Ereig-nisse oder Personen nicht zu erwähnen. Das bitten wir nachzusehen. Eine sehr viel aus-führlichere Darstellung bieten Haja Molter, Rose Schindler & Arist von Schlippe (2012) oder die digitale, nicht-lineare Darstellung von Tom Levold, Kurt Ludewig, Anni Mi-chelmann, Wolf Ritscher, Wilhelm Rotthaus und Gisal Wnuk-Gette, verfügbar unter: http://systemagazin.com/systemische-ge schichtswerkstatt.

DOI 10.21706/fd-44-3-236

Arbeitsgemeinschaft für Familienthe-rapie), DFS (Dachverband für Famili-entherapie und systemisches Arbeiten) und Systemische Gesellschaft (SG) zu-nächst eine wissenschaftliche Grund-lage ausgearbeitet. Die Wirrungen um das gerade entstehende Psychothera-peutengesetz (PsychThG), das Unbeha-gen, sich von einem als überholt emp-fundenen Wissenschaftsverständnis beurteilen zu lassen, die Sorge, dass das Kreativ-Bunt-Hilfreiche der Systemi-schen Therapie verloren gehen könnte, sowie die – im Vergleich zu den bereits etablierten Verfahren – kaum vorhan-denen Lobbytruppen, ließen der Syste-mischen Therapie trotz vielfältiger An-strengungen im damaligen Kampf um ihren Platz im Gesundheitswesen we-nig Chancen.

Schon in den 1990er Jahren schien die starke Verfahrensbin-dung überholt

Im Forschungsgutachten des vor der Verabschiedung des PsychThG verstor-benen Adolf-Ernst Meyer, das vorberei-tend für ein Psychotherapeutengesetz im Auftrag des Bundesgesundheitsmi-nisteriums (damals noch BMJFFG4) er-stellt wurde, heißt es: Angesichts des gegenwärtigen Entwicklungsstandes aber wäre es ein Anachronismus und fachwissenschaftlich nicht zu recht-fertigen, wenn man den Beruf des Psy-chotherapeuten in verschiedene, nach Therapieschulen getrennte Sparten einteilen würde und dieses womög-lich auch noch gesetzlich festschrie-be (Meyer, 1991, S. 98). Die Therapie-schulen wurden bekanntlich nicht abgeschafft und man entschied sich, »zunächst« Verhaltenstherapie undpsychodynamische Verfahren per Psy-chotherapie-Richtlinie flankierend

4 Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit.

senverfahren. Damit neigt sich ein Spa-nungsbogen seinem Ende zu, der durch das Durchschreiten von Jammertälern und dem Erklimmen höchster Weihen gekennzeichnet ist.

Bereits in den Gründungsdokumen-ten der systemischen Dachverbände ist die offizielle Bestätigung als wirk-sames Psychotherapieverfahren und die damit verbundene flächendecken-de Anwendung in der Versorgung als Ziel aufgeführt. Umso größer war der Schock nach der ersten Ablehnung 1999 durch den Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (WBP3). Günter Schie-pek (1999) hatte hierfür im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft für Systemische Therapie, einer gemeinsamen Arbeits-gruppe der damaligen drei systemi-schen Dachverbände DAF (Deutsche

3 Der WBP ist ein nach § 11 Psychotherapeu-tengesetz eingesetztes Gremium aus ein-schlägigen Wissenschaftlern, dessen Ein-schätzung zur wissenschaftlichen Fundierung von psychotherapeutischen Verfahren, Me-thoden und Techniken als Empfehlung für zuständige Behörden wie den Landesprü-fungsämtern im Rahmen der Zulassung von Vertiefungsgebieten für die staatliche Aus-bildung zum Psychotherapeuten dient.

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AUTORENEXEMPLAR – NUR ZUR PERSÖNLICHEN VERWENDUNG

Systemische Familientherapie, Super-vision und Organisationsentwicklung) und RGST Mönchengladbach (Rheini-sche Gesellschaft für Systemische The-rapie GbR) auf Zulassung als staatlich anerkanntes Ausbildungsinstitut. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf gab der Klage statt und argumentierte, dass bei einem auch international unter Wis-senschaftlern so verbreiteten Verfah-ren wie der Systemischen Therapie der ablehnenden Einschätzung des WBP nicht gefolgt werden könne und eine Approbationsausbildung auch im Ver-tiefungsgebiet Systemische Therapie möglich sein müsse. Der Prozess ging in die Revision und wurde vor dem Oberverwaltungsgericht mit der Zu-stimmung beider Parteien eingestellt, weil das Verfahren durch das Ergebnis der erneuten Prüfung des WBP obsolet wurde.

Riesenjubel bei der Wissenschaftlichen Anerkennung 2008Als im Dezember 2008 dann tatsächlich die wissenschaftliche Anerkennung so-wohl für die Therapie mit Erwachsenen als auch mit Kindern und Jugendlichen seitens des WBPs besiegelt war5, konn-te man den Jubelschrei, der durch die systemische Szene drang, überall hö-ren. Zu dieser Zeit war auch Jürgen Kriz als bekannter Vertreter sowohl der Humanistischen als auch der Sys-temischen Therapie noch Mitglied im WBP; seine Unterstützung quasi »von innen« half sicherlich auch dabei, dass die Wirksamkeitsbelege nicht einfach vom Tisch gewischt werden konnten.

Mit der wissenschaftlichen Aner-kennung war ein immens wichtiger Schritt getan. Es war nun möglich, eine Approbation im Vertiefungsgebiet Sys-temische Therapie zu erwerben. Ohne

5 Verfügbar unter: https://www.wbpsycho therapie.de/fileadmin/user_upload/down loads/pdf-Ordner/WBP/GutachtenSystemischeTherapie20081214-1.pdf.

die sozialrechtliche Anerkennung war das jedoch ein sehr schwieriges Unter-fangen. Ab 2010 starteten trotz widriger Umstände die ersten Ausbildungen. Die Teilnehmer waren »Überzeugungs-täter«, nahmen sie doch bei ihrer Aus-bildung deutlich schlechtere Refinan-zierungsbedingungen in Kauf.

Nun war die formale Vorausset-zung gegeben, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), das obers-te Beschlussgremium von Kranken-kassen, Krankenhäusern, (Zahn-)Ärzten und Psychotherapeuten, die Leistungserstattung über die Kran-kenkassen prüfen konnte. Diese dop-pelte Prüfung – zuerst beim WBP die wissenschaftlich-berufsrechtliche An-erkennung, dann beim G-BA die so-zialrechtliche Kassenanerkennung – ist ärgerlich, weil sie neue Verfahren für viele Jahre ausbremst. Allerdings prüften WBP und G-BA tatsächlich nicht ganz Identisches, obgleich die Er-gebnisse weitgehend übereinstimmten: Der G-BA überprüft (wie inzwischen der WBP auch), ob die Hürde des soge-nannten Schwellenkriteriums genom-men wurde. Es verlangt, dass neue psychotherapeutische Verfahren ihren Nutzen in jedem Fall bei den derzeit am häufigsten diagnostizierten Störungen (Ängste und Depressionen) nachwei-sen müssen.

G-BA und IQWiG wal-ten ihres AmtesBis der konkrete Prüfantrag beim G-BA gestellt wurde, dauerte es weitere fünf Jahre, bevor sich 2013 das damalige un-parteiische Mitglied des G-BA, Harald Deisler, in die Geschichtsbücher der Selbstverwaltung des Gesundheitssys-tems in Deutschland schrieb. Erstma-lig stellte ein unparteiisches Mitglied selbst (es gibt inklusive des G-BA Vor-sitzenden drei unparteiische Mitglie-der im G-BA) einen Antrag auf Über-prüfung einer medizinischen Leistung. Es ist ein struktureller Schwachpunkt in der Anerkennungskette, dass es

zum Inkrafttreten des Gesetzes festzu-legen – allerdings mit der proklamier-ten Perspektive, dass die »anderen Ver-fahren« dann schnell folgen sollten …

In der unmittelbaren Folge der Ab-lehnung des WBP versuchte man aus der Not eine Tugend zu machen und in einer Art epochalem Reframing die Ablehnung als Glücksfall zu bezeich-nen, die eine unbeschnittene Ausbrei-tung in vielfältige Arbeitsbereiche (von der Jugendhilfe bis hin zur Organisa-tionsentwicklung) ermöglicht. In ver-schiedensten Formen und Formaten von Beratung und sogar teilweise im psychiatrisch stationären Kontext und in der ambulanten Psychotherapie setz-te sich die Verbreitung systemischer Ansätze immer weiter fort. Gleichzei-tig fehlte aber die Möglichkeit, an dem florierenden neuen Beruf des Psycho-therapeuten teilzuhaben, und Patien-ten wurde ein hochwirksames Verfah-ren vorenthalten. Wer eine Ausbildung zum Psychotherapeuten machen woll-te, wich vorrangig auf die Approbati-onsausbildung in Verhaltenstherapie aus.

Nach dem EFTA-Kongress 2004 in Berlin und der Heidelberger For-schungstagung 2004 entschieden die Vorstände von SG und der aus der DAF und der DFS hervorgegangenen DGSF, erneut einen Antrag auf wissen-schaftliche Anerkennung einzureichen. Grundlage dafür war die Einschätzung der sogenannten »Expertise-Gruppe« mit Kirsten von Sydow, Rüdiger Retz-laff, Stefan Beher und Jochen Schweit-zer. Sie hatten weltweit Studien ge-sammelt und wurden beauftragt, eine Übersicht der RCT-Studien für den Antrag zusammenzustellen (von Sy-dow et al., 2007). Eine besondere Rol-le nahm hier Anni Michelmann ein, die sich jahrzehntelang unermüdlich für die berufs- und sozialrechtliche Aner-kennung Systemischer Therapie stark gemacht hat und deren richtungswei-sende Steuerungen bis heute gewinn-bringend wirken.

Flankiert wurden die Bemühun-gen durch eine Klage der beiden Aus-bildungsstätten ifs Essen (Institut für

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keinen Automatismus für einen Prüf-antrag gibt. Die Fachgesellschaften DGSF/SG sind selbst nicht antragsbe-rechtigt. Nach einer informellen Vor-prüfung stellte sich die Studienlage für Systemische Therapie bei Erwachsenen kontraintuitiv erfolgsversprechender dar als bei Kindern/Jugendlichen. Der G-BA beauftragte dann das IQWiG, das Institut für Qualität und Wirtschaftlich-keit im Gesundheitswesen, mit der Re-cherche, Darstellung und Bewertungdes aktuellen medizinischen Wissens-standes zur Systemischen Therapiefür Erwachsene. Systemische Therapieist das erste Psychotherapieverfahren,das vom IQWiG geprüft wurde, undnimmt damit eine Pionierstellung ein;bisher prüfte es hauptsächlich Arznei-mittel, Screeningmethoden und ande-re nichtmedikamentöse Behandlungs-methoden (z. B. Operationsmethoden).

Trotz banger Momente angesichts der strengen IQWiG-Prüfung, kann diese letztlich nur als Glücksfall be-zeichnet werden. Der Endbericht stellt mit Abstand die bisher umfangreichs-te Überprüfung der Studienlage dar. Es wurde eine extensive Literaturrecher-che durchgeführt und 3133 Publikati-onsquellen identifiziert, davon wurden 2837 als nicht relevant klassifiziert. Am Ende blieben 33 RCT-Studien, die über Daten verfügten, die für das IQWiG verwertbar waren. Das Ergebnis wur-de im Mai 2017 dem G-BA übergeben und konnte sich mehr als sehen lassen: In sieben sogenannten Störungsberei-chen wurde der Systemischen Thera-pie Nutzen bescheinigt (vgl. Baumann et al., 2017; Retzlaff et al., 2017).

Trotzdem wurde der IQWiG Bericht unterschiedlich ausgelegt. Während die Kassenärztlichen Bundesvereini-gung, die Deutsche Krankenhausge-sellschaft und die Patientenvertretung darin einen klaren Nutzennachweis sahen, konnte der Zusammenschluss der Krankenversicherungen lediglich ein »Potential« erkennen und verlang-te weitere Studien. Über ein Jahr lang wurde im Unterausschuss Methoden-bewertung des G-BA über diese Frage diskutiert. Mit großer Spannung erwar-

teten wir deshalb die alles entscheiden-de öffentliche Sitzung des Plenums des G-BA am 22. 11. 2018. Systemische The-rapie war an diesem Tag einer von etwa 30 Tagesordnungsunterpunkten. Eswar klar, dass die Pattsituation durchdie Stimmen der drei unparteiischenMitglieder entschieden würde. Und sie fiel eindeutig aus: Alle drei stimmtendafür, so dass die Aufnahme in die Psy-chotherapie-Richtlinie mit 8:5 Stimmenbeschlossene Sache war.6 Das kurze Vi-deo, das einen Teil von uns direkt imAnschluss an die Sitzung beim Jubelnzeigt, wurde inzwischen über 45 000Mal alleine auf Facebook geklickt.

Wie geht es nun im G-BA weiter? Der-zeit wird im Unterausschuss Psy-chotherapie die konkrete Anpassung der Psychotherapie-Richtlinie vorge-nommen, über die voraussichtlich im Herbst 2019 im Plenum abgestimmt wird. Parallel laufen die Verhandlun-gen zur Anpassung der Psychothera-pie-Vereinbarung zwischen KBV und GKV-SV sowie die Schaffung neu-er Abrechnungsziffern, sog. EBM-Zif-fern. Für uns ist wichtig, dass die An-wendung Systemischer Therapie im Familientherapie- bzw. Mehrperso-nensetting möglichst attraktiv wird. Andernfalls befürchten wir, dass im Alltag der Kassenpraxis das vermut-lich weniger aufwendige Einzelsetting als nahezu einziges Setting angewen-det wird. Wir sind sowohl aufgrund unserer Erfahrungsevidenz als auch der empirischen Evidenz (z. B. Crane & Christenson, 2014) mit vielen anderen erfahrenen Kollegen der festen Über-zeugung, dass gerade das Mehrperso-nensetting einen wesentlichen Aspekt darstellt, der die Wirkstärke Systemi-scher Therapie ausmacht.

6 Die komplette Dokumentensammlung ist verfügbar unter: https://www.g-ba.de/beschluesse/3588/.

Die sogenannte »Steu-erungsgruppe«

Bereits im Jahr 2012 verständigten sich DGSF und SG auf die Einrichtung einer gemeinsamen Steuerungsgruppe, die im weiteren Prozess die strategischen Entscheidungen treffen sollte. Dieser Steuerungsgruppe gehören alle Au-toren des Artikels an, jeweils in Funk-tionen, die für ein solches Gremium für zentral befunden wurden: Ulrike Borst (Vorsitzende SG), Enno Hermans (Vorsitzender DGSF und Sprecher der Gruppe), Sebastian Baumann (Vor-standsbeauftragter), Kerstin Dittrich (Referentin), Reinert Hanswille (Leiter der ersten systemischen staatlich an-erkannten Ausbildungsstätte), Matthi-as Ochs (Hochschullehrer und wissen-schaftlicher Berater). Dieses bezüglich Kompetenzen und Funktionen hetero-gene und überschaubare Team erwies und erweist sich als eine sehr geeigne-te Struktur zur Prozessbegleitung und zur Vernetzung der zahlreichen Aktivi-täten. Besonders ist hierbei die Koope-ration zwischen den Fachverbänden DGSF und SG hervorzuheben: Obwohl die Verbände an anderen Stellen auch im Wettbewerb miteinander stehen, war die Steuerungsgruppe der Ort, an dem alle Informationen unabhängig von daraus resultierenden individuel-len Vorteilen geteilt wurden. Diese Ver-trauensbasis hat die teils harte Arbeit in der Gruppe sehr erleichtert.

Womit hat sich die Steuerungsgrup-pe die letzten sieben Jahre in zahlrei-chen Treffen und Telefonkonferenzen beschäftigt? Generell ging es darum, alle Verfahrensschritte zu begleiten, trotz knapper Ressourcen Kontakte mit den Stakeholdern aufzunehmen und wichtige Aspekte in die politi-sche (Fach-)Öffentlichkeit zu bringen. Bei Sebastian Baumann in Berlin liefen alle politischen Fäden zusammen. Pro-blematisch war, dass die meisten Bera-tungen geheim abliefen und weniger Versorgungs- oder psychotherapeu-tisch-fachliche Fragen im Vordergrund standen als vielmehr eine Orientierung

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daran, ob neue Kosten entstehen wür-den. Statt der gesetzlich vorgesehenen drei Jahre zieht sich das Verfahren un-abgeschlossen bereits über sechs Jah-re (!) hin. Dabei zeigt die DEGS-Studie (Jacobi et al., 2014) des Robert-Koch-In-stituts zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland, dass in einem Zeitraum von 12 Monaten rund jeder Dritte im Alter zwischen 18 und 65 eine psychi-sche Störung erleidet. Es macht deshalb keinen Sinn, wenn lediglich ein- bzw. genauer zweidimensional behaviorale und psychodynamische Ansätze zum kassenfinanzierten Einsatz kommen für diese für die Volksgesundheit hoch relevanten Beeinträchtigungen.

Aber auch an anderer Stelle ist der G-BA reformbedürftig: Die Atmosphä-re zwischen Leistungserbringern undKrankenkassen ist teilweise eisig. Weilman manchmal keine Einigung findet,wird endlos und mit immer gleichenArgumenten diskutiert, und das gehtvor allem auf Kosten der Zeit. Es fehlen weitere Mediationselemente, die strit-tige Fragen zu einem schnelleren Er-gebnis bringen. Unser Eindruck war,dass es dann gut funktioniert, wennEinzelne über ihre soziale KompetenzEinfluss nehmen. Der SpitzenverbandBund der gesetzlichen Krankenversi-cherungen (GKV-SV) als Sprachrohraller Krankenkassen, die untereinan-der im Wettbewerb stehen, kann sichhäufig nur auf den kleinsten gemeinsa-men Nenner einigen, und der heißt lei-der allzu oft: »Njet«.

Politiker aller Parteien, mit denen wir gesprochen haben, haben wir der Systemischen Therapie gegenüber sehr aufgeschlossen erlebt. Fraktionsüber-greifend wolle man sich dafür einset-zen, dass 32 Jahre nach Aufnahme der Verhaltenstherapie wieder ein neues Verfahren den Versicherten zur Ver-fügung gestellt wird. Die Kleine An-frage der Bundestagsfraktion von Bündnis90/Die Grünen an die Bun-desregierung, warum es bei der Sys-temischen Therapie immer noch kei-ne Entscheidung gibt, brachte weitere wichtige Aufmerksamkeit, ebenso der besondere Einsatz von Dirk Heiden-

blut, SPD, Mitglied im Gesundheits-ausschuss des Bundestages.

Neben der generellen Begleitung und den unter immensem Zeitdruck er-arbeiteten Stellungnahmen auf höchs-tem fachlichem Niveau, galt es den Prozess mit Öffentlichkeitsarbeit zu unterstützen und immer wieder auf die Verschleppung des Verfahrens hin-zuweisen.

Beispiel IQWiG: Der Abschlussbe-richt ist sehr detailliert (890 Seiten) und nach State of the Art der evidenz-basierten Medizin durchgeführt wor-den.7 Das Problem ist nur: Wer im Ge-sundheitswesen liest einen 890seitigen Abschlussbericht, außer den ganz we-nigen direkt Betroffenen? Die Gegner Systemischer Therapie versuchten, den Abschlussbericht als vollkommen un-eindeutig darzustellen, etwa indem sie die Zusammenfassung von psychi-schen Störungen zu Anwendungsbe-reichen, die an das ICD angelehnt sind, infrage stellten (nach dem Motto: wo-her weiß ich, dass ein Wirksamkeits-nachweis bei sozialen Ängsten auch für generalisierte Angststörungen gilt?). Hier war es wichtig, die Haupt-aussagen des IQWiG grafisch anspre-chend und knapp darzustellen und alle Evidenzen bündig so zu zeigen und zu kommunizieren, dass sie trotzdem ei-ner genauen Prüfung standhalten.

Stellungnahmen und mündliche Anhörun-gen der VerbändeDie Steuerungsgruppe schrieb auch mit Unterstützung von Mitgliedern der z. T. neu besetzten »Expertise-Grup-pe«, v. a. mit Markus W. Haun, dessengenaue Kenntnis auf dem aktuellstenStand der evidenzbasierten Medizin

7 Verfügbar unter: https://www.iqwig.de/de/projekte-ergebnisse/projekte/nicht medikamentoese-verfahren/n14-02-sys temische-therapie-bei-erwachsenen-als-psychotherapieverfahren.6247.html.

von unschätzbarem Wert war, die ge-meinsamen Stellungnahmen der Ver-bände und entschied von Mal zu Mal, wer die gemeinsame Sache vertre-ten sollte, wenn die Verbände münd-lich Stellung nehmen durften. Dreimal war das der Fall, und hier zeigte sich so richtig, was gute Zusammenarbeit be-deutet. 1. Im Mai 2015 reisten Rüdiger Retzlaff

und Ulrike Borst nach Köln, um dieStellungnahme unserer Verbändezum Berichtsplan des IQWiG münd-lich mit den Projektmitarbeitern desIQWiG und externen Experten zuerörtern. Sie erlebten eine sehr faireBefragung, mit dem spürbaren Be-mühen, die einzelnen psychothera-peutischen Methoden »richtig« zu-zuordnen, um im weiteren Verlaufder Sichtung und Bewertung vonStudien möglichst große Eindeutig-keit zu erreichen.

2. Im November 2016 reisten dann Rü-diger Retzlaff, Kirsten von Sydowund Ulrike Borst wieder nach Köln,um mit den IQWiG-Mitarbeitern die Stellungnahmen zum Vorberichtdes IQWiG wissenschaftlich zu er-örtern. Es ging um Versorgungsre-levanz der Systemischen Therapie,Qualität der Studien, Besonderhei-ten der Psychotherapieforschung.

Weil einige wichtige Studien nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt wa-ren, setzte sich Matthias Ochs in seiner Funktion als Ko-Präsident der Heidel-berger Systemischen Forschungsta-gung 2017 ein und lud Olavi Lindfors aus der Arbeitsgruppe von Paul Knekt ein, um die Angstdiagnose-spezifi-schen Ergebnisse der Helsinki Psycho-therapy Study vorzustellen und in ei-nem Tagungsband zu veröffentlichen (Ochs, Borcsa & Schweitzer, 2020). Auch die Heidelberger Systemische Forschungstagung 2014 wurde bereits genutzt, um den sozialrechtlichen An-erkennungsprozess von wissenschaft-licher Seite flankierend zu unterstüt-zen: Russell Crane von der Brigham Young University in Utah (USA) stellte im Eröffnungsvortrag seine Analysen

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AUTORENEXEMPLAR – NUR ZUR PERSÖNLICHEN VERWENDUNG

von Krankenkassendaten vor, die diag-noseübergreifend zeigen, dass es effizi-enter ist, mit Familien als mit einzelnen Patienten zu arbeiten.

Als schließlich im Juni 2017 der Ab-schlussbericht des IQWiG veröffent-licht wurde, waren wir selbst hoch er-freut, wie gründlich und umfassend das IQWiG gearbeitet hatte, auch wenn wir den Ausschluss von einigen Stu-dien nicht nachvollziehen konnten.

Die in diesem Zusammenhang ge-führte Debatte mündete (unter an-derem) in ein Heft 4/2018 dieser Zeit-schrift, in dem auf fachlich höchstem Niveau um eine Antwort auf die Fra-ge gerungen wurde, ob der »Goldstan-dard« der EbM wirklich ausreicht, um die Wirkungen von Psychotherapie zu erfassen.

In einer weiteren Diskussion ging es darum, wem welche psychotherapeuti-sche Methode »gehört«. Bei immer in-tegrativeren Vorgehensweisen kann ein bestimmtes psychotherapeutisches Handeln nur schwer eindeutig zuge-ordnet werden.

3. In der letzten mündlichen Anhö-rung im September 2018 beim G-BAwurden Sebastian Baumann, Mar-kus W. Haun, Enno Hermans undUlrike Borst unterstützt durch Ver-treter anderer Verbände, die äußerst überzeugend darlegten, dass z. B.die Therapie in der Psychosomatikoder in der Kinder- und Jugendpsy-chiatrie ohne systemisches Arbeitenundenkbar ist.

Eine andere Herausforderung bestand darin, in die Gesundheits- und Ent-scheiderszene hinein zu kommunizie-ren. Pressemeldungen der Fachgesell-schaften werden dort kaum gelesen. Über Kommentare auf einer vielgelese-nen Internetplattform, in der sonst vor-rangig Vorstände der großen Kranken-kassen und Bundestagsabgeordnete kommentieren, konnten wir unsere Sicht darstellen. Das 25-jährige Jubilä-um der SG wurde zum ersten parla-

mentarischen Abend gemeinsam ge-nutzt, um mit Beteiligten direkt ins Gespräch zu kommen.

Wir mussten aber auch so manche Lektion lernen. Zum Beispiel die, dass »Gerechtigkeit« oder »Verfahrensge-rechtigkeit« als politisches Argumentnicht zieht. Manche Gespräche mitVertretern von Krankenversicherun-gen zielten nicht darauf ab, die Ver-besserung der psychotherapeutischenVersorgung in den Blick zu nehmen,sondern wurden genutzt, um mög liche Schwächen auszuloten, die sich für sieim weiteren G-BA-Verfahren nutzenlassen würden. Auf der anderen Seitegab es aber auch Kassenvertreter, dieuns als »Überzeugungstäter« sehr un-terstützt haben.

Auch die allermeisten Vertreter der anderen Verfahren sowie die großen Berufsverbände, die Bundespsycho-therapeutenkammer und die Bundes-ärztekammer standen entweder von Anfang an oder stellten sich im Verlauf hinter uns. Ebenso unterstützte uns die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und hatte einen großen Anteil an dem positiven Ausgang des Verfah-rens. Hätte sich der Beschlussentwurf des Spitzenverbandes Bund der gesetz-lichen Krankenversicherungen (GKV-SV) durchgesetzt, hätten noch weite-re, naturalistische Studien aufgesetzt werden müssen. Deren Ergebnisse hät-ten erst nach Jahren vorgelegen, und dann hätten die Beratungen von neu-em begonnen. Wir hoffen und appellie-ren nun, dass die Entscheidung für den Kinder- und Jugendlichenbereich deut-lich schneller gefasst wird.

Der historischen Einordnung des Gesamtprozesses durch Hans Schind-ler kann nur zugestimmt werden: Weil systemische Ansätze sehr stark außer-halb des Psychotherapie-Bereiches ver-breitet sind, haben SG/DGSF eine im-mens starke Mitglieder-Basis, die es den Fachgesellschaften ermöglicht hat, sich für die sozialrechtliche Aner-kennung einzusetzen. Ohne die Mit-glieder, die im Bereich von Jugendhil-fe, lebensweltlicher Beratung, Schulen, Kindergärten, Kirchen, Organisatio-

nen, Familienunternehmen und an an-deren Stellen arbeiten, wäre die sozial-rechtliche Anerkennung nicht möglich gewesen. Das ist umso bemerkenswer-ter, als die meisten Mitglieder selbst nicht zu Lasten der Gesetzlichen Kran-kenversicherungen werden arbeiten können. Trotzdem stimmten z. B. im Jahr 2012 bei einer Online-Umfrage der SG 73 % der vielen teilnehmenden Mit-glieder dafür, sich weiter für die sozi-alrechtliche Anerkennung einzusetzen (18 % waren unentschieden, 9 % dage-gen). Wir sehen das als ein sehr starkes Zeichen: In Zeiten, in denen beklagt wird, dass Menschen ausschließlich auf ihren eigenen direkten Vorteil bedacht sind, hat sich die Mitgliedschaft für ein Ziel eingesetzt, das vor allem der nach-folgenden Generation neue Wege eröff-nen wird.

Systemische Approba-tionsausbildungen Die sozialrechtliche Anerkennung ver-ändert die Ausgangslage für den Er-werb der Approbation nun grund-sätzlich. Im Rahmen der sogenannten ›Praktischen Ausbildung‹ (600 Stun-den eigenverantwortliche Psychothe-rapie) kann mit einer Refinanzierungdurch die gesetzlichen Krankenkas-sen gerechnet und damit endlich eineGleichstellung zu den anderen Richtli-nienverfahren erreicht werden. Außer-dem wird es für psychiatrische Klini-ken und psychotherapeutische Praxeninteressanter, den Kollegen, die sich ineiner Ausbildung im VertiefungsgebietSystemische Therapie befinden, eineAnstellung im Rahmen der praktischen Ausbildung Teil I und II anzubieten. Im Laufe dieses und des kommenden Jah-res werden einige weitere Institute, diein der DGSF/SG beheimatet sind, Ap-probationsausbildungen im Vertie-fungsgebiet Systemische Therapie an-bieten. Bereits jetzt ist erkennbar, dassdarüber hinaus auch Ausbildungsstät-ten, die bisher andere Richtlinienver-

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fahren angeboten haben, zusätzlich auch Systemische Ausbildungen anbie-ten werden.

Interessierte Hochschulabgänger mit einem Master in Psychologie gibt es reichlich. Die größte Schwierigkeit für Institute, die sich auf den Weg machen wollen, besteht darin, eine ausreichen-de Anzahl an approbierten Trainerkol-legen zu gewinnen, die über fünf Jahre im Vertiefungsgebiet Systemische The-rapie tätig waren und drei Jahre am In-stitut gearbeitet haben. Viele Bedingun-gen und Regelungen kann ein Institut mit dem zuständigen Landesprüfungs-amt vorab besprechen und sogar Über-gangsbedingungen verhandeln. Des-halb ist neben der internen Klärung im Institut der Aufbau einer guten Koope-ration mit dem zuständigen Landes-prüfungsamt zentral.

Wir hoffen, dass sich noch viele Ins-titute darum bemühen, denn der Zeit-raum, in dem eine staatliche Anerken-nung erzielt werden kann, ist durch die geplante Reform des Psychotherapeu-tengesetzes begrenzt bis voraussicht-lich September 2020. Wenn man für den Anerkennungsprozess zehn Monate einkalkuliert, wird es höchste Zeit, sich auf den Weg zu machen.

Die Reform des Psychotherapeu-tengesetzes wird die Ausbildung radi-kal verändern. Die Approbation wird in Zukunft nach einem Studium der »Psychotherapiewissenschaft« erwor-ben. Danach wird in einer fünfjährigenWeiterbildung (die derzeitigen Aus-bildungsinstitute werden in Weiterbil-dungsinstitute überführt) die in einemspezifischen Altersbereich, Erwachse-ne oder Kinder/Jugendliche und einem Vertiefungsgebiet angesiedelt ist, dieBasis geschaffen, um den Arztregister-eintrag zu erhalten und mit den gesetz-lichen Krankenkassen abzurechnen.Die entsprechende Weiterbildungsord-nung wird von den Landespsychothe-rapeutenkammern geregelt. Bisher istgeplant, dass sie zwei Jahre im statio-nären und zwei Jahre im ambulantenKontext und ein Jahr in sogenannten

institutionellen Kontexten (Sozialpsy-chiatrie, Beratungsstellen, Jugendhilfe, Suchthilfe etc.) beinhalten wird und da-neben eine theoretische Weiterbildung mit Supervision und Selbsterfahrung laufen wird. Wir hätten den systemi-schen Instituten mehr Zeit gewünscht, sich in der alten Ausbildungsform zu-rechtzufinden. So kommen sie in eine Übergangsphase hinein, die mit neuen Unsicherheiten behaftet ist. Anderer-seits bietet sie eine große Chance, die Profile der Institute zu schärfen und einen weiteren Professionalisierungs-schritt zu gehen – das zumindest ist die Erfahrung der Institute, die diesen Weg schon beschritten haben. Ausbildungen nach »alter Art« können noch bis 2032 abgeschlossen werden.

Indirekter Nutzen für das gesamte systemi-sche Feld Auch die Systemiker, die außerhalb der Heilkunde und ohne Approbation tätig sind und bleiben, haben einen indirek-ten Nutzen, denn durch die Anerken-nung wird öffentlich sehr deutlich, wie

qualitativ hochwertig und wichtig sys-temische Ansätze sind. In Jugendhil-fe oder sozialpsychiatrischen Zentren wird mittelfristig die verfahrensspezi-fische Weitergabe von Klienten mehr Bedeutung und Gewicht erhalten. Die Versorgungsgerechtigkeit ist wichtig, und es wäre merkwürdig, wenn wir von unserem Verfahren sehr überzeugt sind und dann nicht dafür Sorge tra-gen würden, dass es möglichst vielen gesetzlich versicherten Menschen auch tatsächlich zugutekommt. Es eröffnen sich zudem immer wieder Wege für Systemische Therapeuten ohne Appro-bation, im Gesundheitssystem mithilfe von Spezialverträgen tätig zu werden.

Es erscheint dennoch vielen unge-recht, dass trotz passender Grundpro-fession, langjähriger praktischer und klinischer Erfahrungen und umfang-reicher Weiterbildungen in Systemi-scher Therapie meist wenig davon für eine Psychotherapeutenausbildung anerkannt werden kann und es auch keine Übergangsregelungen gibt. Vor dem Hintergrund der Logik des Geset-zes ist dies verständlich, aber realitäts-fern, wenn langjährig klinisch tätige, z. T. leitende Psychologen, im Rahmeneiner Approbationsausbildung wieder

SPIEGEL

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im Praktikantenstatus in Kliniken zu-rückkehren sollen. Diese wahrgenom-mene Ungerechtigkeit ist nicht verfah-rensspezifisch, spielt aber aufgrund der besonderen Situation der Systemischen Therapie und deren später sozialrecht-licher Anerkennung eine stärkere Rolle.

Mögliche Auswirkun-gen der sozialrecht-lichen Anerkennung Die Frage, inwiefern die sozialrechtli-che Anerkennung und die größer wer-dende Gruppe der Psychotherapeuten im Vertiefungsgebiet Systemische The-rapie die Verbände verändern werden, wird kontrovers diskutiert. Hier rei-chen die Spekulationen von Ab- und Aufspaltungen über die Gründung von Berufsverbänden bis hin zu dem Wunschszenario der heutigen Vorsit-zenden – alle systemisch tätigen Be-rufsgruppen weiterhin unter einem Dach zu vereinen bei ausreichender Binnendifferenzierung und Teilauto-nomie, um den unterschiedlichen Er-fordernissen gerecht zu werden.

Spannend wird auch die Aus-wirkung der Anerkennung auf die Hochschullandschaft. Wird sich die Berufungspolitik an den psycholo-gisch-universitären Fachbereichen verändern und zukünftig auch ap-probierte Kollegen mit systemischen Vertiefungsschwerpunkt klinisch-psy-chologische Lehrstühle besetzen? (Wie) werden Systemiker in die universitä-ren Ausbildungsambulanzen einge-bunden? (Wie) werden in Systemischer Therapie weitergebildete approbierte Professoren an den Hochschulen für angewandte Wissenschaften (HAWs) und Fachhochschulen (FHs) – davon gibt es vermutlich zwei bis drei Dut-zend in Deutschland – in die heilkund-liche grundständige Psychotherapie-ausbildung eingebunden? Müssen die einschlägigen deutschsprachigen Psy-

chotherapielehrbücher umgeschrieben und erweitert werden um die systemi-sche Perspektive? Wie kann sich die Kooperation von Hochschulen mit sys-temischen Aus- und Weiterbildungsin-stituten ausgestalten? Wie kann die in den Verbänden praktizierte sehr gute Zusammenarbeit zwischen systemi-schen (Sozial-)Pädagogen/Sozialarbei-tern und Psychologen auch im Kontext der psychotherapeutischen Hochschul-ausbildung stattfinden? Wir wissen aus Studierendenbefragungen an psy-chologisch-universitären Fachberei-chen, dass viele Studierende sich für eine systemische Approbationsausbil-dung bzw. Weiterbildung nach dem dann neuen Psychotherapeutengesetz entscheiden werden. Wir können also davon ausgehen, dass Studierende ver-stärkt Hochschul-Lehrende mit syste-mischen Kompetenzen und Qualifika-tionen einfordern werden – und sich nicht mit dem Abspielen einer alten Virginia Satir VHS-Kassette »abspei-sen« lassen werden.

Das Gesundheitswesen ist an vielen Stellen dermaßen durchprofessionali-siert, dass man mit einer relativ kleinen Truppe wie der unsrigen eigentlich wenig Erfolgsaussichten hat. Dass die Systemische Therapie es jetzt trotzdem geschafft hat, gegen viele Widerstände die Anerkennungsweihen zu erkämp-fen, liegt nicht zuletzt daran, dass sich viele weitere Menschen mit großer Be-reitschaft und Begeisterung hartnäckig und überwiegend ehrenamtlich dafür eingesetzt haben. Von der Idee, syste-mische Prägungen ins Gesundheitswe-sen zu bringen, ging und geht ein be-trächtliches Begeisterungspotential aus – so groß, das viele Menschen dazu bereit waren, sich nach Feierabend oder gerne auch mal mitten im Urlaub (die Fristensetzungen von IQWiG und G-BA waren durchweg familienun-freundlich) in die für den politischenErfolg nötige Hintergrundarbeit zustürzen. Ob dieser in der systemischenSzene weit verbreitete Idealismus jetzt,nach dem Erfolg, bewahrt und zukünf-tig dafür eingesetzt werden kann, sys-

temischen Werten entsprechende Ver-änderungen im Gesundheitswesen wahrscheinlicher zu machen? Bei eini-gen Systemikern ist die Sorge groß, dass systemische Betrachtungen be-droht sein könnten, wenn man ab so-fort offiziell zum Gesundheitswesen gehört. Denn schließlich verändern Systeme auch ihre Mitglieder. Jürgen Matzat, Patientenvertreter im G-BA, hat den Systemikern im Gesundheits-wesen einmal eine ähnliche Zukunft prognostiziert wie den Grünen nach ihrem Einzug in den Bundestag – lang-fristige Verbesserungen am System sei-en zwar nicht auszuschließen, die eige-ne Anpassung an das System und seine Regeln aber wahrscheinlicher. Eine der Alternativen – so unser Konter – wäre der Vergleich zur Piratenpartei, die im aktuellen politischen Diskurs kaum mehr eine Rolle spielt, obwohl sie sich einem hochrelevanten Thema ver-schrieben hat. Alle Systemiker, ob in-nerhalb oder außerhalb des Gesund-heitswesens tätig, sind gefordert, hier aufmerksam zu sein. Unser systemisch reflektiertes Mitwirken im Gesund-heitswesen ist schließlich kein Selbst-zweck, sondern erhöht hoffentlich die Wahrscheinlichkeit, das Gesundheits-wesen durch systemische Beiträge zu irritieren. Gute Ausgangspunkte dafür könnten sein: weniger Respekt vor for-malen Hierarchien, mehr vor Men-schen und ihren Aufträgen. Mehr Aus-einandersetzung über Ideen, weniger über Machtverteilungsfragen. Wie dies gelingen kann, das sollte in den nächs-ten Jahren Thema in den Verbänden und der gesamten systemischen Szene sein.

Î Bibliografie

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Anschrift des Verfassers

Dipl. Psych. Sebastian BaumannSystemische Gesellschaft (SG)Brandenburgische Straße 2210707 [email protected]

Jg. 1976, Diplom-Psychologe, Systemi-scher Therapeut (SG, DGSF) und Lehr-therapeut (DGSF), Hypnotherapeut (M. E. G.), Sexualtherapeut, Systemi-scher Supervisor (SG). Vorstandsbeauf-tragter Psychotherapie der Systemi-schen Gesellschaft. Privatpraxis für Einzel- und Paartherapie, Lösungsraum Mannheim. Dozent an mehreren priva-ten und universitären Aus- und Weiter-bildungsinstituten.

Anschrift des Verfassers

Prof. Dr. Matthias OchsHochschule FuldaLeipziger Straße 12336037 [email protected]

Prof. Dr. Matthias Ochs, Dipl.-Psych., psychologischer Psychotherapeut, sys-temischer Familientherapeut (DGSF, SG), Lehrender für Systemische The-rapie und Beratung (DGSF), Gestalt-therapeut, Professor für das Fachgebiet »Psychologie und Beratung« am Fach-bereich Sozialwesen der HochschuleFulda – University of Applied Scien-ces, 2010 – 2017 gemeinsam mit Prof. Dr. Jochen Schweitzer Leitung der Hei-delberger Systemischen Forschungsta-gungen. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte:Systemische Praxis und Forschung, Sys-temtheorie von Netzwerken und inter-professioneller Kooperation, Dialogis-mus und systemische Theorie/Praxis. Aktuelle Forschungsprojekte: Inter-professionelle und -organisationaleKooperation von SGBII und SGBVIII, Unerwünschte Nebenwirkungen Syste-mischer Beratung.