SZ: Protokoll des Zorns – wie die Gewalt in Stuttgart eskalierte

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Von Martin Kotynek Stuttgart – Wenn Alexander Schlager in den Spiegel schaut, kann er das Blut in seinem rechten Auge sehen, und sein im- mer noch geschw ollenes Gesicht, vor demschwarzePunkteblitzen . Alexa nder Schlagerist keiner,der beiDemonstratio- nen an vorder ster Front steht. Auch nicht am 30. Septe mber, jenem Tag, an dem sich die Polizei mit Wasserwerfern ihrenWegdurchdenStuttgar terSchloss - garten bahnt. Er hockt hinten, auf dem Boden wartet er den Moment ab, in dem erweglaufenkann.Dann richte t sichder 31-Jährige auf. Der Wasserstoß trifft ihn so hart ins Gesicht, dass er zu Boden ge- worfen wird, seine Brille fliegt davon, er kann sein rechtes Auge nicht mehr öff- nen, Blut rinnt über sein Gesicht. Jetzt ist er einer von Hunderten Verletzten, und weil seine Netzhaut gerissen ist und er am nächsten Tag operiert wird, gilt er alseiner vonvier Schwerverle tzten.Ent- schuldigt hat sich niemand bei ihm. „Ich will wissen, wer für meine Verletzu ng verantwortlich ist“, sagt Schlager. OffiziellhatSiegfriedStumpfdie Ver- antwortung für den brutalen Polizeiein- satz übernommen . Ungef ragt hat der Stuttg arter Polize ipräsid ent das be- kannt, zuerst am Tag danach, und seit- dem immer wieder. Trotzdem glaubt es ihmkaum jemand .Stumpf istein lo yaler und pflichtbewusster Polizist, für ihn ist selbst verstä ndlich,dasser denKopfhin- hält.Dochdiejen igen,dieihnkennen,be- schreiben ihn als Hüter der Verhältnis- mäßigk eit,als einen,derniemals unnöt i- ge Härte zeigen würde. Mit Gewaltfrei- heit und Deeskalation hat er die „Stutt- garterLinie“mitgepräg t, diefür Friede n in der Stadt steht. Noch im Sommer hat Stump fbetont,dassin Stuttg artdasletz- te Mal vor 40 Jahren Wasserwerfer ge- braucht wurden: „Vom Einsatz solcher Mittel halte ich gar nichts.“ Unddannlässt erwenigeWochenspä- ter vier von ihnen im Schlossgarten auf- fahren, dazu Hundertschaften von Poli- zisten,martialisch gekleidete Sonderein- heiten ;er lässtsie mitSchlagstöckenund Pfeffersprays auf Schüler und Rentner los. Wegen eines Bahnhofs. Da kann et- wasnicht stimmen– diesen Verda chthat nicht nur die Opposition im Landtag. SPD und Grüne fragen sich, warum derPolizeipräsidentmonatelang diezahl- reiche n Demon strationen gegen Stutt- gart 21 ohne größere Zwischenfälle be- gleiten lässt, und dann, am 30. Septem- ber,plötzlichseineStrategi e ändert.„Da hat es Einmischung von oben gegeben“, sagt Andreas Stoch, der für die SPD im Stuttg arter Landt ag sitzt. „Entweder vomInnenmi niste roder vonMiniste rprä- sident Stefan Mappus persönlich“, sagt Stoch. Das will er nachweisen. Im Landtag hat seine Fraktio n einen Untersuchungsausschuss durchgesetzt, nur fünf Monate vor der Landtagswahl. AmDienstagwerdendortdie Zeuge n be- stimmt. Einer von ihnen wird Mappus sei n,ganzamSchlus ssoller andieReihe kommen. Der Regierungschef im Verhör – so kurz vor der Landtagswahl sind das keine Bilder, die sich die CDU wünscht. DieVerteidigungsliniedes CDU-Regie- rungschefs steht bereits. Er beteuert, für den Einsatz keine Vorgaben gemacht zu haben. „Ein Ministerpräsident darf sich nicht in das operative Geschäft der Poli- zei einmischen “, sagt Mappu s. Das ist auch SPD und Grünen klar. Sie wollen Mappu sdeshalbauch garnichtnachwei- sen, dass er Wasserwerfer bestellt hat. Vielmehr wollen sie zeigen, dass der Mi- nister präsid ent prinzi piell ein rasche s und hartes Vorgehen gewünscht hat. Hohe Beamte aus den Innenministeri- enmehrererLänderbestätigen,dasssich diePolizeibei Einsät zenvon großerpoli- tischer Tragweite mit der Regierung ab- stimme.Essei üblich ,dass diePolitikdas Ziel und die grund sätzlic he Strate gie vonGroßei nsätzenvorgebe ,etwadie Fra- ge,obdie Poliz eitoleran todereher mitei- ner niedrigen Einsatzschwelle vorgehen solle. Bei brisan ten Einsätzen würde n sichhoheBeamte mitdem Innenminister abstimmen, jener wiederum häufig mit demRegierun gschef .Nach diesenVorga - ben entwickele die Polizei dann ein Ein- satzkonzept, in dem festgelegt sei, wel- che Hilfsmittel genutzt werden. Auch in Stuttgart hat es im Vorfeld des Einsatzes mehrere solche Bespr e- chungen gegeben. Schon im Juni fassten dieBahn,diePolize i unddasVerkehr smi- nisterium den 30. September als Termin für die Fällung der Bäume ins Auge, wie auseinemPolizeibe richtanden Unter su- chungsausschuss hervorgeht. Spätestens einen Tag vor dem Einsatz wusste dann die Landesregierung über die Planungen Besch eid.Das belegtein Treffen am Vor- mittag des 29. September, bei dem Poli- zeipräsident Stumpf seine Einsatztaktik im Innen ministe rium vorstellte. Um 16 Uhr erläuterte die Polizei ihren Plan dannauchim Staats ministerium– dieser sah vor, Wasser werfer bereitzustell en. NebenVerkehrsminister in Tanja Gönner war auch Mappus anwesend. Der Ministerpräsident habe den Ein- satz von Wasserwerfern daher billigend in Kauf genommen, sagt der SPD-Abge- ordnete Andreas Stoch. „Mappus wollte ein Zeichen der Entschlossenheit setzen, er hat den Einsatz dafür missbrauch t, sich als Politiker zu profilieren, der für Rech tund Ordn ungsteht. “Die CDUkon- tert, es sei die Pflicht der Regierung, sich von der Polizei über einen solchen Ein- satz informieren zu lassen. Das allein sei aberkeinBelegfür einepolitisch e Vorga - be an die Polizei. Bis Ende des Jahres will der Untersu- chung saussc husstagen,im Januar istder Abschlussbericht zu erwarten. So lange wollen viele Stuttgarter nicht warten. Amkommen denSamst agwirdes eineDe- monstration gegen Polizeigewalt geben. Auch der verletzte Alexander Schlager willdabei sein. Aber an vorderste r Front wird er auch diesmal nicht stehen. Berlin/München–Aufdieetwa70Millio- nen gesetz lich Krank envers icherte n in Deutschland kommen von Januar an hö- hereBeiträgeundweiterefinanzielleBe- lastun genzu. DerBundesta g verabschie- deteam Freit agmit denStimmenderKo- alitionsfraktionen von Union und FDP dasGesetzzurFinanzieru ngder gesetzli- chen Krankenversicherung, mit dem das Milliar dendefizit der Kassen einge- dämmtwerde nsoll. Oppo sition ,Gewerk- schaft enund Verbä ndegeißeltendenBe- schluss als Ausstieg aus dem Solidarsys- tem. Dem Gesetz zufolge steigt der ein- heitlic he Beitra gssatz von derzei t 14,9 auf 15,5 Prozent. Der Arbeitgeberanteil wird von sieben auf 7,3 Prozent erhöht und auf diesem Niveau festgeschrieben. Allekünftigen Kostensteigerungensol- len von den Versicherten durch Zusatz- beiträge finanziert werden – diese kön- nen die Kassen in unbegrenzter Höh e er- heben . Gerin gverdi ener erhalte n einen Sozialausgleich. Zudem werden Ausga- ben bei Ärzten , Krank enhäu sern und Kassen begrenzt. Für das Gesetz stimm- ten 306 Abgeo rdnete von Union und FDP, es gab 253 Nein-Stimmen aus den Reihen von SPD, Grünen und Linken . Der Bundesrat muss nicht zustimmen. Bunde sgesun dheitsminister Philipp Rösler (FDP) zeigte sich überzeugt, dass mit der Reform „nicht nur die Probleme im Jahr 2011 gelöst werden, sondern der Einsti eg in ein faires und besser es Sys- tem“ gelinge . Der Arbeit geberb eitrag werde festgeschrieben, um die Lohnzu- satzkosten zu stabilisieren. „Das ist un- serBeitragfür Wachst umund Besch äfti- gung“, sagte Rösler. Der CDU-Gesund- heitspo litikerJensSpahnsagte,die Koa- lition stelle sich der Verant wortun g, auch wenn es „unschöne Botschaften“ seien.MitBlickauf dasfür 2011erwarte- te Defizit von neun Milliarden Euro in der gesetz lichen Krank envers icheru ng sagte Spahn: „Wenn wir nichts tun wür- den, müssten viele Krankenkassen in die Insolvenz gehen.“ Die Oppos ition beschw örte dageg en „das Ende der Solidarität“ im Gesund- heitswesen. „Die Versorgung wird nicht verbessert, aber es wird an vielen Punk- tenungere chterwerd enfür dieVersicher- ten“, sagte SPD-Generalsekretärin An- drea Nahle s. Der soziald emokra tische Gesun dheitse xperte Karl Laute rbach sprach sogar von „Abzocke“. Lin- ke-Fra ktions chef Gregor Gysi nannte die Reform „grob sozial ungerecht“ . Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB)warfder Bundes regier ungvor, sie mache mit den einseitigen Belastun gen der Versicherten „Politik gegen die Be- völker ung“.Die IG Metallsprachvon ei- nem „schwarzen Tag für die Arbeitneh- mer“. Der Sozialverband VdK mahnte, dieKluft zwisch enArm undReichwerde sich weiter vergrößern. Arbeit geberp räside nt Dieter Hundt kritisie rte in Berlin , durch den Anstieg des Arbeitgeberanteils auf 7,3 Prozent würdendieArbeitskostenerhö ht.DerSo- zialaus gleichführezudemzu mehrBüro- kratie bei den Arbeitgebern. Von einem „Wortbruch“ sprach die bayerische SPD angesichts der Zustim- mung der CSU zur Gesundheitsreform. Ander sals vombayerisch enMinisterpr ä- sidente n Horst Seehofer einst verspr o- chen,orientiertensichdie Beiträ gekünf- tignicht mehram Lohn,sondernwürden über Pauschalen geregel t. „Damit hat dieCSU heutedie solida rischeKranken - finanzierungbegraben“, sagte SPD-Lan- desparteichef Florian Pronold am Frei- tag in München. SZ,ddp,AFP Aufgrund von „Missverständnissen“ kommen die Polizeitrupps aus Bayern erst um 9.45 Uhr an den vereinbarten Treffpunkt. Es gelingt nicht rechtzeitig, sie mit den Baufahrzeugen der Rodungs- firma an der Autobahnabfahrt Zuffen- hausen zu einem Konvoi zu vereinen. Als den Gegnern von Stuttgart 21 die Blocks der Polizei auffallen, alarmieren sie um 10.25 Uhr etwa 25 000 Menschen über eine SMS-Kette und per E-Mail. Erst eine Viertelstunde später trifft die erste Beamten-Kolonne im Park ein – mittlerweile warten dort bereits 1000 Gegner, die meisten sind Jugendliche der Schülerdemonstration. Im Park besetzen die Demonstranten gegen 11.20 Uhr den Lastwagen der Polizei, auf dem die Absperrgitter trans- portiert werden. Mit Sitzblockaden hindern sie die Einsatzwagen am Vorrü- cken. Die Polizei spricht von einer „ins- gesamt sehr aufgeheizten und aggressi- ven Stimmung“. Polizeipräsident Stumpf stimmt um 11.53 Uhr zu, Schlag- stöcke einzusetzen und einen Wasserwer- fer auffahren zu lassen. Um 12.48 Uhr feuert der erste Wasserwerfer auf die Demonstranten – auch viele Schüler und Rentner werden getroffen. Bis zum letzten Wasserstoß um 16.33 Uhr vervier- facht die Polizei den Wasserdruck. Vor dem Einsatz hatte die Polizei nicht mit Verletzten (Foto) gerechnet und daher auch die Rettungsdienste nicht informiert. Hunderte Verletzte können daher zunächst nur von freiwilligen Sanitätern der Stuttgart-21-Gegner auf einer Liegewiese und in einem Biergar- ten notdürftig versorgt werden. Ständig kommen weitere Menschen mit gereiz- ten Augen hinzu. Erst gegen 16.35 Uhr gelingt es der Polizei mithilfe von vier Wasserwerfern, den Bauplatz abzusper- ren. Tausende Menschen versammeln sich vor dem Gitter, hinter dem um ein Uhr nachts der erste Baum fällt. Um 4.10 Uhr sind alle 25 Bäume gerodet.  Auch nach Halbzeit der insgesamt acht Schlic htungsr unden unter Moder ator Heiner Geißler bleibt die große offene Frage im Raum, auf welchen Kompro- miss hin sich der öffentliche Argumen- te-Austausch zubewegen könnte. Wie- derum verteidigten Gegner und Befür- worter von Stuttgart 21 am Freitag ver- bissen ihre gegensätzlichen Positionen – diesmal zum Thema „Kopfbahnho f 21“, das Alternativkonzept der Gegner. Der frühere SPD-Bundestagsabge- ordnetePeter Conradierläutertedie Vor- züge des Erhalts und der Renovierung des Stuttga rter Hauptbahnhofs: das Konze ptsei robuster,wenige rstöranfäl - ligundvielkostengünstiger– zuma lkilo- meter lange Tunnelbaute n und teure s Grundwa sserma nagement entfal len würden. Bahnvo rstand Volker Kefer wandte dagegen ein, dass die Renovie- rungdesmarodenGleisvor feldsmehre- re Jahrzehnte in Anspruch nähme, wol- le man nicht eine massive Beeinträchti- gung des Zugverkehrs in Kauf nehmen.  Außerdem warnten die Befürworter da- vor, dass sämtliche Planfeststellungs- verfahren für Stuttgart 21 aufgehoben werde n undlangwieri geneue Verfah ren fürs Alternativkonzept in Gang gesetzt werd enmüssten.Daswiederumbestri t- ten die Gegner: „Die Mehrheit unserer Bausteine kommt ohne Planverfahren aus“, sagte Conradi. Geißler meinte, es gebe erste Erfolge bei der Schichtung: „Alle sind jetzt vom hohen Ross herunter, es ist inzwischen mehrFried eneingekehr t.“Es müssean- erkannt werden, dass es für beide Pro-  jekt e Argumentegebe.Im Übrig engelte es, das veraltete Baurecht zu moderni- sieren. dad Die Polizei setzt am 30. September auf den Überraschungseffekt. Binnen einer Stunde will sie im Stuttgarter Schloss- garten eine Absperrung errichten, hin- ter der dann nach Mitternacht 25 Bäu- me fallen sollen. Doch der für 15 Uhr geplante Einsatz spricht sich unter den Gegnern von Stuttgart 21 herum. Der Stuttgarter Polizeipräsident Siegfried Stumpf (im Foto links) entscheidet am Vortag, den Einsatz auf zehn Uhr vorzu- verlegen. Zu diesem Zeitpunkt ist am Hauptbahnhof eine Schülerdemonstrati- on angemeldet. Gegen zehn Uhr haben sich dort bereits 400 Jugendliche im Alter von 15 bis 18 Jahren versammelt. 10:40 Die Polizei verspätet sich 12:48 Wasserwerfer feuern auf Gegner 01:00 Der erste Baum fällt 10:00 Der Einsatz soll beginnen „Schwarzer Tag für die Arbeitnehmer“ Bundestag billigt höhere Krankenkassenbeiträge – Gewerkschaften protestieren Pr otokoll des Zorns wi e die Ge wal t in St uttgart eskalierte Erstmals zeigt ein Polizeibericht die genauen Abläufe am 30. September / Die Opposition macht Regierungschef Mappus für den Einsatz verantwortlich Schlicht ung: Die vierte Runde Samstag/Sonntag, 13./14. November 2010 HF2 Süddeutsche Zeitung Nr. 263 / Seite 5 POLITIK Polizisten führen am 30. September einen Demonstranten ab. Szenen eines unheilvollen Tages. Fotos: dapd (3), Reuters, dpa Bundesgesund- heitsminister Phil- ipp Rösler (FDP) sieht seine Ge- sundheitsreform als „Beitrag für Wachstum und Beschäftigung“. Die gesetzlichen Krankenkassen erwarten für 2011 neun Milliarden Euro Defizit – die Versicherten sol- len dieses ausglei- chen. Foto: dpa Der Polizeipräsident übernimmt die Verantwortung – eigentlich gilt er als Gegner übermäßiger Härte.   c   a   r   t    i   e   r  .    d   e     0    8    9    5    5    9    8    4     2    2    1

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8/8/2019 SZ: Protokoll des Zorns – wie die Gewalt in Stuttgart eskalierte

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Von Martin Kotynek

Stuttgart – Wenn Alexander Schlager inden Spiegel schaut, kann er das Blut inseinem rechten Auge sehen, und sein im-mer noch geschwollenes Gesicht, vordemschwarzePunkteblitzen. AlexanderSchlagerist keiner,der beiDemonstratio-nen an vorderster Front steht. Auchnicht am 30. September, jenem Tag, an

dem sich die Polizei mit WasserwerfernihrenWegdurchdenStuttgarterSchloss-garten bahnt. Er hockt hinten, auf demBoden wartet er den Moment ab, in demerweglaufenkann.Dann richtet sichder31-Jährige auf. Der Wasserstoß trifft ihnso hart ins Gesicht, dass er zu Boden ge-worfen wird, seine Brille fliegt davon, erkann sein rechtes Auge nicht mehr öff-nen, Blut rinnt über sein Gesicht. Jetztist er einer von Hunderten Verletzten,und weil seine Netzhaut gerissen ist under am nächsten Tag operiert wird, gilt eralseiner vonvier Schwerverletzten.Ent-schuldigt hat sich niemand bei ihm. „Ichwill wissen, wer für meine Verletzungverantwortlich ist“, sagt Schlager.

Offiziell hatSiegfriedStumpfdie Ver-antwortung für den brutalen Polizeiein-satz übernommen. Ungefragt hat derStuttgarter Polizeipräsident das be-kannt, zuerst am Tag danach, und seit-dem immer wieder. Trotzdem glaubt esihmkaum jemand.Stumpf istein loyaler

und pflichtbewusster Polizist, für ihn istselbstverständlich,dasser denKopfhin-hält.Dochdiejenigen,dieihnkennen,be-schreiben ihn als Hüter der Verhältnis-mäßigkeit,als einen,derniemals unnöti-ge Härte zeigen würde. Mit Gewaltfrei-heit und Deeskalation hat er die „Stutt-garterLinie“mitgeprägt, diefür Friedenin der Stadt steht. Noch im Sommer hatStumpfbetont,dassin Stuttgartdasletz-te Mal vor 40 Jahren Wasserwerfer ge-braucht wurden: „Vom Einsatz solcherMittel halte ich gar nichts.“

Unddannlässt erwenigeWochenspä-ter vier von ihnen im Schlossgarten auf-fahren, dazu Hundertschaften von Poli-zisten,m artialisch gekleidete Sonderein-heiten;er lässtsie mitSchlagstöckenundPfeffersprays auf Schüler und Rentnerlos. Wegen eines Bahnhofs. Da kann et-wasnicht stimmen– diesen Verdachthatnicht nur die Opposition im Landtag.

SPD und Grüne fragen sich, warumderPolizeipräsidentmonatelang diezahl-reichen Demonstrationen gegen Stutt-gart 21 ohne größere Zwischenfälle be-gleiten lässt, und dann, am 30. Septem-ber,plötzlichseineStrategie ändert.„Dahat es Einmischung von oben gegeben“,

sagt Andreas Stoch, der für die SPD imStuttgarter Landtag sitzt. „EntwedervomInnenministeroder vonMinisterprä-sident Stefan Mappus persönlich“, sagtStoch. Das will er nachweisen.

Im Landtag hat seine Fraktion einenUntersuchungsausschuss durchgesetzt,nur fünf Monate vor der Landtagswahl.AmDienstagwerdendortdie Zeugen be-stimmt. Einer von ihnen wird Mappussein,ganzamSchlusssoller andieReihekommen. Der Regierungschef im Verhör– so kurz vor der Landtagswahl sind daskeine Bilder, die sich die CDU wünscht.

DieVerteidigungsliniedes CDU-Regie-rungschefs steht bereits. Er beteuert, fürden Einsatz keine Vorgaben gemacht zuhaben. „Ein Ministerpräsident darf sichnicht in das operative Geschäft der Poli-zei einmischen“, sagt Mappus. Das ist

auch SPD und Grünen klar. Sie wollenMappusdeshalbauch garnichtnachwei-sen, dass er Wasserwerfer bestellt hat.Vielmehr wollen sie zeigen, dass der Mi-nisterpräsident prinzipiell ein raschesund hartes Vorgehen gewünscht hat.

Hohe Beamte aus den Innenministeri-enmehrererLänderbestätigen,dasssichdiePolizeibei Einsätzenvon großerpoli-tischer Tragweite mit der Regierung ab-

stimme.Essei üblich,dass diePolitikdasZiel und die grundsätzliche StrategievonGroßeinsätzenvorgebe,etwadie Fra-ge,obdie Polizeitolerantodereher mitei-ner niedrigen Einsatzschwelle vorgehensolle. Bei brisanten Einsätzen würdensichhoheBeamte mitdem Innenministerabstimmen, jener wiederum häufig mitdemRegierungschef.Nach diesenVorga-ben entwickele die Polizei dann ein Ein-satzkonzept, in dem festgelegt sei, wel-che Hilfsmittel genutzt werden.

Auch in Stuttgart hat es im Vorfelddes Einsatzes mehrere solche Bespre-chungen gegeben. Schon im Juni fasstendieBahn,diePolizei unddasVerkehrsmi-nisterium den 30. September als Terminfür die Fällung der Bäume ins Auge, wieauseinemPolizeiberichtanden Untersu-chungsausschuss hervorgeht. Spätestenseinen Tag vor dem Einsatz wusste danndie Landesregierung über die PlanungenBescheid.Das belegtein Treffen am Vor-mittag des 29. September, bei dem Poli-zeipräsident Stumpf seine Einsatztaktikim Innenministerium vorstellte. Um16 Uhr erläuterte die Polizei ihren Plandannauchim Staatsministerium– diesersah vor, Wasserwerfer bereitzustellen.NebenVerkehrsminister in Tanja Gönner

war auch Mappus anwesend.Der Ministerpräsident habe den Ein-satz von Wasserwerfern daher billigendin Kauf genommen, sagt der SPD-Abge-ordnete Andreas Stoch. „Mappus wollteein Zeichen der Entschlossenheit setzen,er hat den Einsatz dafür missbraucht,sich als Politiker zu profilieren, der fürRechtund Ordnungsteht.“Die CDUkon-tert, es sei die Pflicht der Regierung, sichvon der Polizei über einen solchen Ein-satz informieren zu lassen. Das allein seiaberkeinBelegfür einepolitische Vorga-be an die Polizei.

Bis Ende des Jahres will der Untersu-chungsausschusstagen,im Januar istderAbschlussbericht zu erwarten. So langewollen viele Stuttgarter nicht warten.AmkommendenSamstagwirdes eineDe-monstration gegen Polizeigewalt geben.Auch der verletzte Alexander Schlagerwilldabei sein. Aber an vorderster Frontwird er auch diesmal nicht stehen.

Berlin/München–Aufdieetwa70Millio-nen gesetzlich Krankenversicherten inDeutschland kommen von Januar an hö-

hereBeiträgeundweiterefinanzielleBe-lastungenzu. DerBundestag verabschie-deteam Freitagmit denStimmenderKo-alitionsfraktionen von Union und FDPdasGesetzzurFinanzierungder gesetzli-chen Krankenversicherung, mit dem dasMilliardendefizit der Kassen einge-dämmtwerdensoll. Opposition,Gewerk-schaftenund VerbändegeißeltendenBe-schluss als Ausstieg aus dem Solidarsys-tem. Dem Gesetz zufolge steigt der ein-heitliche Beitragssatz von derzeit 14,9auf 15,5 Prozent. Der Arbeitgeberanteilwird von sieben auf 7,3 Prozent erhöhtund auf diesem Niveau festgeschrieben.

Allekünftigen Kostensteigerungensol-len von den Versicherten durch Zusatz-

beiträge finanziert werden – diese kön-nen die Kassen in unbegrenzter Höhe er-heben. Geringverdiener erhalten einen

Sozialausgleich. Zudem werden Ausga-ben bei Ärzten, Krankenhäusern undKassen begrenzt. Für das Gesetz stimm-ten 306 Abgeordnete von Union undFDP, es gab 253 Nein-Stimmen aus denReihen von SPD, Grünen und Linken.Der Bundesrat muss nicht zustimmen.

Bundesgesundheitsminister PhilippRösler (FDP) zeigte sich überzeugt, dassmit der Reform „nicht nur die Problemeim Jahr 2011 gelöst werden, sondern derEinstieg in ein faires und besseres Sys-tem“ gelinge. Der Arbeitgeberbeitragwerde festgeschrieben, um die Lohnzu-satzkosten zu stabilisieren. „Das ist un-serBeitragfür Wachstumund Beschäfti-gung“, sagte Rösler. Der CDU-Gesund-

heitspolitikerJensSpahnsagte,die Koa-lition stelle sich der Verantwortung,auch wenn es „unschöne Botschaften“

seien.MitBlickauf dasfür 2011erwarte-te Defizit von neun Milliarden Euro inder gesetzlichen Krankenversicherungsagte Spahn: „Wenn wir nichts tun wür-den, müssten viele Krankenkassen in dieInsolvenz gehen.“

Die Opposition beschwörte dagegen„das Ende der Solidarität“ im Gesund-heitswesen. „Die Versorgung wird nichtverbessert, aber es wird an vielen Punk-tenungerechterwerdenfür dieVersicher-ten“, sagte SPD-Generalsekretärin An-drea Nahles. Der sozialdemokratischeGesundheitsexperte Karl Lauterbachsprach sogar von „Abzocke“. Lin-ke-Fraktionschef Gregor Gysi nanntedie Reform „grob sozial ungerecht“.Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund(DGB)warfder Bundesregierungvor, siemache mit den einseitigen Belastungender Versicherten „Politik gegen die Be-völkerung“.Die IG Metallsprachvon ei-nem „schwarzen Tag für die Arbeitneh-mer“. Der Sozialverband VdK mahnte,dieKluft zwischenArm undReichwerdesich weiter vergrößern.

Arbeitgeberpräsident Dieter Hundtkritisierte in Berlin, durch den Anstiegdes Arbeitgeberanteils auf 7,3 ProzentwürdendieArbeitskostenerhöht.DerSo-

zialausgleichführezudemzu mehrBüro-kratie bei den Arbeitgebern.Von einem „Wortbruch“ sprach die

bayerische SPD angesichts der Zustim-mung der CSU zur Gesundheitsreform.Andersals vombayerischenMinisterprä-sidenten Horst Seehofer einst verspro-chen,orientiertensichdie Beiträgekünf-tignicht mehram Lohn,sondernwürdenüber Pauschalen geregelt. „Damit hatdieCSU heutedie solidarischeKranken-finanzierungbegraben“, sagte SPD-Lan-desparteichef Florian Pronold am Frei-tag in München. SZ,ddp,AFP

Aufgrund von „Missverständnissen“kommen die Polizeitrupps aus Bayernerst um 9.45 Uhr an den vereinbartenTreffpunkt. Es gelingt nicht rechtzeitig,sie mit den Baufahrzeugen der Rodungs-firma an der Autobahnabfahrt Zuffen-hausen zu einem Konvoi zu vereinen.Als den Gegnern von Stuttgart 21 dieBlocks der Polizei auffallen, alarmierensie um 10.25 Uhr etwa 25 000 Menschenüber eine SMS-Kette und per E-Mail.Erst eine Viertelstunde später trifft dieerste Beamten-Kolonne im Park ein –mittlerweile warten dort bereits 1000Gegner, die meisten sind Jugendlicheder Schülerdemonstration.

Im Park besetzen die Demonstrantengegen 11.20 Uhr den Lastwagen derPolizei, auf dem die Absperrgitter trans-portiert werden. Mit Sitzblockadenhindern sie die Einsatzwagen am Vorrü-cken. Die Polizei spricht von einer „ins-gesamt sehr aufgeheizten und aggressi-ven Stimmung“. PolizeipräsidentStumpf stimmt um 11.53 Uhr zu, Schlag-stöcke einzusetzen und einen Wasserwer-fer auffahren zu lassen. Um 12.48 Uhrfeuert der erste Wasserwerfer auf dieDemonstranten – auch viele Schülerund Rentner werden getroffen. Bis zumletzten Wasserstoß um 16.33 Uhr vervier-facht die Polizei den Wasserdruck.

Vor dem Einsatz hatte die Polizei nichtmit Verletzten (Foto) gerechnet unddaher auch die Rettungsdienste nichtinformiert. Hunderte Verletzte könnendaher zunächst nur von freiwilligenSanitätern der Stuttgart-21-Gegner aufeiner Liegewiese und in einem Biergar-ten notdürftig versorgt werden. Ständigkommen weitere Menschen mit gereiz-ten Augen hinzu. Erst gegen 16.35 Uhrgelingt es der Polizei mithilfe von vierWasserwerfern, den Bauplatz abzusper-ren. Tausende Menschen versammelnsich vor dem Gitter, hinter dem um einUhr nachts der erste Baum fällt. Um4.10 Uhr sind alle 25 Bäume gerodet.

 Auch nach Halbzeit der insgesamt achtSchlichtungsrunden unter Moderator

Heiner Geißler bleibt die große offeneFrage im Raum, auf welchen Kompro-miss hin sich der öffentliche Argumen-te-Austausch zubewegen könnte. Wie-derum verteidigten Gegner und Befür-worter von Stuttgart 21 am Freitag ver-bissen ihre gegensätzlichen Positionen– diesmal zum Thema „Kopfbahnhof21“, das Alternativkonzept der Gegner.

Der frühere SPD-Bundestagsabge-ordnetePeter Conradierläutertedie Vor-züge des Erhalts und der Renovierungdes Stuttgarter Hauptbahnhofs: dasKonzeptsei robuster,wenigerstöranfäl-ligund vielkostengünstiger– zumalkilo-meterlange Tunnelbauten und teuresGrundwassermanagement entfallenwürden. Bahnvorstand Volker Keferwandte dagegen ein, dass die Renovie-

rungdesmarodenGleisvorfeldsmehre-re Jahrzehnte in Anspruch nähme, wol-

le man nicht eine massive Beeinträchti-gung des Zugverkehrs in Kauf nehmen. Außerdem warnten die Befürworter da-vor, dass sämtliche Planfeststellungs-verfahren für Stuttgart 21 aufgehobenwerden undlangwierigeneue Verfahrenfürs Alternativkonzept in Gang gesetztwerdenmüssten.Daswiederumbestrit-ten die Gegner: „Die Mehrheit unsererBausteine kommt ohne Planverfahrenaus“, sagte Conradi.

Geißler meinte, es gebe erste Erfolgebei der Schichtung: „Alle sind jetzt vomhohen Ross herunter, es ist inzwischenmehrFriedeneingekehrt.“Es müssean-erkannt werden, dass es für beide Pro-

 jekte Argumentegebe.Im Übrigengeltees, das veraltete Baurecht zu moderni-sieren. dad 

Die Polizei setzt am 30. September aufden Überraschungseffekt. Binnen einerStunde will sie im Stuttgarter Schloss-garten eine Absperrung errichten, hin-ter der dann nach Mitternacht 25 Bäu-me fallen sollen. Doch der für 15 Uhrgeplante Einsatz spricht sich unter denGegnern von Stuttgart 21 herum. DerStuttgarter Polizeipräsident SiegfriedStumpf (im Foto links) entscheidet amVortag, den Einsatz auf zehn Uhr vorzu-verlegen. Zu diesem Zeitpunkt ist amHauptbahnhof eine Schülerdemonstrati-on angemeldet. Gegen zehn Uhr habensich dort bereits 400 Jugendliche imAlter von 15 bis 18 Jahren versammelt.

10:40Die Polizei verspätet sich

12:48Wasserwerfer feuern auf Gegner

01:00Der erste Baum fällt

10:00Der Einsatz soll beginnen

„Schwarzer Tag für die Arbeitnehmer“Bundestag billigt höhere Krankenkassenbeiträge – Gewerkschaften protestieren

Protokoll des Zorns – wie die Gewalt in Stuttgart eskalierteErstmals zeigt ein Polizeibericht die genauen Abläufe am 30. September / Die Opposition macht Regierungschef Mappus für den Einsatz verantwortlich

Schlichtung: Die vierte Runde

Samstag/Sonntag, 13./14. November 2010 HF2 Süddeutsche Zeitung Nr. 263 / Seite 5POLITIK 

Polizisten führen am 30. September einen Demonstranten ab. Szenen eines unheilvollen Tages. Fotos: dapd (3), Reuters, dpa

Bundesgesund-heitsminister Phil-

ipp Rösler (FDP)sieht seine Ge-sundheitsreformals „Beitrag fürWachstum undBeschäftigung“.Die gesetzlichenKrankenkassenerwarten für 2011neun MilliardenEuro Defizit – dieVersicherten sol-len dieses ausglei-chen. Foto: dpa

Der Polizeipräsident übernimmtdie Verantwortung – eigentlich gilter als Gegner übermäßiger Härte.

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