tad williams hal duncan -...

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j. g. ballard ursula k. le guin dietmar dath tad williams hal duncan 01

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j. g. ballard

ursula k. le guindietmar dath

tad williamshal duncan

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LESEPROBE

herausgegeben vonhannes riffel

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6 Editorial

8 tad williams · Das Schriftstellerkind

24 »Genre« von ursula k. le guin30 j. g. ballard · Die Botschaft vom Mars

38 »Überlegungen zur Novelle« von david pringle44 dietmar dath · Ladenhüter

52 richard bowes · Ein Loch in der Stadt

64 »I.N.R.I.« von michael moorcock72 david langford · Neue Hoffnung für die Toten

76 sean mcmullen · Schwarzdrache

90 »Merkwürdige Computer« von thomas p. weber92 carrie vaughn · Fragen Sie Dr. Kitty!

100 »Charles Stross’ Accelerando« von rudy rucker106 daryl gregory · Erste Person – Gegenwart

120 »Am Ende der Gegenwart« von jakob schmidt128 hal duncan · Der Chiaroscurist

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146 »Politik in der Fantasy« von jeff vandermeer150 christian von aster · Horrk & Grablakk

160 »Schöne neue Welt« von adam roberts166 susan palwick · Das Schicksal der Mäuse

176 »Das Schicksal der Menschen« von birgit herden178 »Von Mäusen und Menschen« von joachim körber180 boris strugatzki · In der Menge verloren

186 »Die ohnmächtige Suche nach dem Ausweg« von erik simon192 »Robert A. Heinleins Die Nachgeborenen« von john clute196 elizabeth hand · Kalypso in Berlin

208 »Science Fiction History« von hardy kettlitz212 rezensionen

Neue Bücher besprochen von Gunther Barnewald, Ulrich Blode,Frank Duwald, Birgit Herden, Christian Hoffmann, ChristianHumberg, Boris Koch, Hans-Peter Neumann, Alexander Pechmann,Hannes Riffel, Jakob Schmidt, Karla Schmidt, Gundula Sell,Sherwood Smith & Simon Weinert

252 Mitarbeiter

256 Vorschau | Impressum

Titelbild von t üDieter Jüdt

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EditorialH a n n e s R i f f e l

S p a ß m u s s s e i n !U n d m e h r . . .

Willkommen zur ersten Ausgabe von PANDORA,dem Magazin für Science Fiction & Fantasy! WasSie hier erwartet? Vor allem eins: gute Unter-haltung.

Wobei wir an dieser Stelle kurz erläuternmöchten, was wir unter »guter Unterhaltung«verstehen. Denn im Unterschied zur handelsüb-lichen Definition (und ich verwende den Begriffhandelsüblich mit voller Absicht), sind wir nichtder Meinung, dass Leser phantastischer Literaturausschließlich nach leichter Kost suchen, sonderndurchaus auch auf Herausforderungen aus sind.

Was Sie also hier nicht finden werden, sindGeschichten oder Sachtexte, bei denen die Re-daktion unablässig auf den kleinsten gemeinsa-men Nenner geschielt hätte – denn oft gefälltdas, was möglichst vielen gefallen soll, am Endefast niemandem mehr. Wir möchten, dass Sieauf den Seiten dieses Magazins immer wiederÜberraschungen erleben.

Das soll allerdings nicht heißen, dass unsereAutorinnen und Autoren jedes Mal das Rad neuerfinden müssen. Experimente um des Experi-ments willen halten auch wir für eher anstren-gend. Aber wenn J. G. Ballard über den erstenMarsflug der Menschheit berichtet, sollte er die-sem Stoff schon etwas Neues abgewinnen. Undwenn Richard Bowes eine Schauergeschichtevor dem Hintergrund des 11. September 2001erzählt, sollte er dabei den richtigen Ton treffen.

Ob ihnen das gelingt, dass müssen Sie, liebeLeserinnen und Leser, schon selbst entscheiden.Wir begreifen PANDORA jedenfalls als Zumutung –als Zumutung für all diejenigen, die Computer-spiele, Fernsehserien und Handyklingeltöneschon für den Gipfel menschlicher Kultur-leistungen halten. Das können sie manchmaldurchaus sein (mit Ausnahme der Klingeltönevielleicht, aber man weiß ja nicht, was nochkommt). Aber die Ausschließlichkeit, mit der die

John Clute, Jakob Schmidtund Hannes Riffel beikonzeptionellen Gesprächenim September 2006 in Berlin.

© 20

06 by

Sara

Riff

el

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sich als allein seligmachend begreifende Markt-macht in den letzten Jahren und Jahrzehntenauf den Vertrieb unfassbar niveauloser und in-haltsleerer Produkte setzt, jagt uns einen kaltenSchauer den Rücken hinunter.

Jede Form von Kunst ist eine Auseinander-setzung mit dem Dasein des Menschen in derWelt. Und das Niveau dieser Auseinanderset-zung ist für die Gestaltung der menschlichenZukunft von entscheidender Bedeutung. Politi-ker und Buchhalter, die der Ansicht sind, an denKulturausgaben könne eher gespart werden alsan nur kurzfristig wirksamen Wirtschaftssub-ventionen, handeln ebenso verantwortungsloswie Intendanten, Verleger und andere Kultur-schaffende, die sich damit begnügen, »demVolk aufs Maul zu schauen«, und dann sicher-heitshalber nur geistige Schonkost und Leicht-verdauliches servieren.

Menschen ohne Visionen sind Menschenohne Zukunft. Die Science Fiction ist die visio-näre Literatur schlechthin – und das nicht, weilsie, wie oft fälschlicherweise behauptet undgeglaubt wird, die Zukunft voraussieht. Diephantastischen Genres sind schlicht der besteZerrspiegel, den man unserer Wirklichkeit vor-halten kann, die effektivste Form von Literatur,um sich mit der Vergangenheit, der Gegenwartund ja, auch mit der Zukunft der Menschheit zubeschäftigen.

PANDORA möchte Sie in dieses Spiegelkabi-nett entführen. Dabei kann es abenteuerlichoder verspielt zugehen, witzig oder tragisch.Nur langweilen möchten wir Sie auf gar keinenFall!

Es war nicht einfach, ohne einen finanzstarkenVerlag im Rücken ein Magazin auf die Beine zustellen, das internationalen Standards genügt.Dass es uns möglicherweise trotzdem gelungenist, haben wir nicht zuletzt dem unermüdlichenund oft selbstlosen Einsatz zahlreicher Autoren,Übersetzer, Illustratoren, Literaturagenten, re-daktioneller Mitarbeiter und vieler anderer zuverdanken.

Insgesamt haben über ein halbes HundertMenschen an dieser ersten Ausgabe mitge-wirkt, weshalb es dem Herausgeber schwerfällt,jemanden besonders hervorzuheben. Beispiel-haft soll das trotzdem geschehen, und ein ganzherzlicher Dank geht stellvertretend an Jakob

Schmidt, ohne des-sen Intelligenz und TatkraftPANDORA nur ein Traum gebliebenwäre; an Dieter Jüdt für das groß-artige Titelbild und die Um-schlaggestaltung; und an HardyKettlitz, der in nächtelanger Ar-beit das Layout entworfen unddas ganze Magazin gesetzthat.

Bitte nehmen Sie sich dieZeit und schlagen Siezwischendurch auch einmaldie Seiten 252 bis 254 auf –dort stellen wir all diejenigenvor, denen Sie und wir diesenBand zu verdanken haben. Vie-le der Genannten sind profes-sionelle Graphiker und Text-arbeiter, die auch für weiterfüh-rende – und vor allem angemessenhonorierte Aufträge – zur Verfügungstehen.

Schreiben Sie uns, was Ihnen gefallen hat undwas nicht – ab der nächsten Nummer wird esauch eine Leserbriefseite geben. Und nun vielVergnügen mit Tad Williams, Ursula K. Le Guinund all den anderen ...

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Tad Williams

Deutsch vonHannes Riffel

Illustriert vonDieter Jüdt

Diese Geschichte habe ich mir ausge-dacht. Sie handelt von Jessica. Jessicaist eine Prinzessin und lebt im Gläser-nen Schloss. Hört mir gut zu! Es istwirklich wichtig.

Jessica weiß, dass sie im GläsernenSchloss eigentlich glücklich sein soll-te. Denn dort gibt es viele Dinge, diesie tun kann. Zum Beispiel Nintendospielen, fernsehen – Jessica mag die›Retter des Rechts‹, denn es wäre wirk-lich Klasse, loszuziehen und in fernenLändern Abenteuer zu erleben – undeinen Haufen andere Dinge. Und siehat Puppen, die wirklich alt sind unddie sie schon hat, seit sie ein kleinesMädchen war.

Aber sie ist eine Prinzessin, alsobraucht sie keine dummen Puppen.Sie sagen nie ein Wort. Deshalb sindsie auch dumm. Manchmal hat sie ih-

nen den Arm verdreht oder ihnen dieKleider ausgezogen und sie zerrissen,aber sie haben trotzdem kein Wortgesagt.

Im Schloss leben noch eine ganzeMenge anderer Leute. Jessicas Mutterist die Blumenkönigin. Die meiste Zeitverbringt sie im Garten. Die Pfingst-rosen, sagt sie oft, sind so verdammtschwierig. Außer mir kümmert sichniemand um die Pfingstrosen, sagt sie.Jessicas Mutter ist wunderschön, vielschöner als Jessica, und sie duftetimmer nach Blumen. Sie spricht sehrlangsam und leise und mit müderStimme.

Jessica hat einen besonderen Helfernamens ›Mister George‹, der aussiehtwie ein Bär. Jessica hat ihn von derBlumenkönigin geschenkt bekom-men, als sie noch ganz klein war. Er

Im Gläsernen Schloss ist alles so, wie es sein sollte: Der König liebt seineTochter, die Königin ihren Blumengarten und die Prinzessin ihrenTeddybären. Aber was, wenn dieser Teddybär eines Nachts zur Prinzes-sin sagt, dass bald etwas geschehen müsse – sich zu verstecken, nützenichts mehr? Und wovor hat die Prinzessin so schreckliche Angst?

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wird dein Freund sein, hat ihre Mutter gesagt. Aberdas geht schon klar, denn Mister George gefällt sichin dieser Rolle. Er kann wirklich gut zuhören, under ist auch nicht wie die dummen Puppen, denner redet. Er redet immer nur nachts, und seineStimme ist wirklich leise und gepresst, aber er sagtäußerst kluge Dinge.

Es ist schwierig, sich im Gläsernen Schloss zuverstecken, sagt er manchmal. Also sollte manbesser darauf achten, dass nichts Schlimmesgeschieht, dann muss man sich auch nicht ver-stecken. Mister George ist ganz braun und hatkomische ausgefranste Ohren und ein krummesBein. Manchmal hat Prinzessin Jessica ihn ausge-lacht, aber er hat gesagt, das würde seine Gefühleverletzen, und jetzt lacht sie ihn nicht mehr aus.

Auch Jessicas Großmutter lebt im GläsernenSchloss. Sie ist die Herzogin und verlässt ihr Zim-mer nur selten. In ihrem Zimmer hat sie einenFernseher, und sie schaut gerne Jeopardy. Woherwissen diese Leute all diese Dinge, fragt sie stän-dig. Außerdem sagt sie oft: Jessica, mein Schatz,bringst du mir bitte noch etwas heißes Wasser?Die Herzogin trinkt für ihr Leben gerne Oh-Long-Tee. Das ist ein seltsamer Name, aber es gibt ihnwirklich. Ihre Haare sind lustig – ganz weiß undgelockt –, aber ihre rosafarbene Haut schimmertein wenig hindurch, wo sich ihr Haar gelichtet hat.

Über das Schloss herrscht der Gläserne König.Er ist Jessicas Vater und sieht sehr gut aus.Manchmal hebt er Jessica hoch und lässt sie durchdie Luft sausen, bis ihr Kopf fast die Decke be-rührt. Dann sagt er: Hubschrauber, Hubschrauber.Früher musste Jessica darüber lachen. Er machtes immer noch, aber inzwischen findet sie es doof.

Der Gläserne König schreibt gerne. Er geht insein Zimmer, das einzige im Gläsernen Schloss, indas man nicht hineinschauen kann, und dortschreibt er. Manchmal kommt er ganz lange nichtheraus. Die Blumenkönigin sagt, er arbeite ausge-sprochen hart, aber manchmal kommt er herausund sagt nur: Nichts, nichts, nichts. Wenn er dassagt, sind seine Augen wirklich traurig. Dann gehter wieder in sein Zimmer zurück und macht diesegläsernen Geräusche.

Hier etwas, das der Gläserne König geschriebenhat.

a f es i t t l rDas Schriftstellerkind o h oder Der heimliche Mor an Zd d an der Zeit

Lassen Sie uns ein Kind zeugen.Warten Sie, nicht weiterblättern! Ich weiß, das

mag etwas vorschnell erscheinen, vielleicht sogarausgesprochen unverschämt – sofern Sie denn überein empfindliches Zartgefühl verfügen. Lassen Siemich erklären. Es ist so etwas wie ein Spiel.

Zunächst einmal werde ich so tun, als sei ich einSchriftsteller, also tun Sie bitte so, als seien Sie eineLeserin. Bitte. Es ist wichtig, dass wir uns überunsere Rollen im Klaren sind. Haben Sie sich bereitsfür Ihre Figur entschieden? Sind Sie sich – wie esbei Stanislawski heißt – über Ihre Motivation imKlaren? Gut. Dann können wir anfangen.

Ich hoffe, Sie haben sich über meinen ersten Satznicht erschrocken. (Nun, das stimmt nicht ganz.Ich wollte Sie zumindest ein wenig aus der Fassungbringen. Die meisten guten Liebesgeschichten fan-gen so an. Beständigkeit und Vertrauen sollten erstspäter das Staunen ablösen, finde ich, und nichtandersherum. Das ist nur meine Meinung; Siesehen das möglicherweise anders.) Natürlich woll-te ich damit sagen, dass wir ein imaginäres Kindzeugen sollten – ein Schriftstellerkind. Aber die An-deutung einer unerwarteten (und ganz gewiss un-gebetenen) geschlechtlichen Beziehung zwischenmir und Ihnen, zwischen Leser und Autor, warnicht völlig unbegründet. Ob ein Schriftsteller nunmännlich oder weiblich ist – das Schreiben einerGeschichte hat etwas Maskulines. Ein Same wirdausgestreut, ein Begehren geweckt, das einen kur-zen Zeugungsakt zur Folge hat. Der Leser – auchhier ist Ihr wirkliches Geschlecht unwichtig – spielteine femininere Rolle. Sie müssen den Samen auf-nehmen und ihm einen fruchtbaren Boden bieten.Falls dieser Same nicht gefällt – oder, was nochbedeutsamer ist, falls er folgenlos bleibt –, wird erausgestoßen, er ist untragbar, und die Verbindungbleibt kinderlos. Aber wenn er sich festsetzt, kanner zu etwas heranwachsen, das weit größer ist alsseine Eltern.

In uralten Zivilisationen herrschte manchmal derGlaube vor, im Blitz manifestiere sich die Zeugungs-kraft des Himmels – wenn er in die wartende Erdeeinschlägt, entspringt neues Leben. Lassen Sie michein wilder Blitzstrahl sein. Lassen Sie mich füreinen kurzen Moment auflodern, Ihre grünen Hügelin grelles Licht tauchen. Dann werde ich wiederfort sein, und Sie können mein Geschenk annehmenoder zurückweisen. Die Entscheidung wird ganz beiIhnen liegen.

Aber ein Buch, eine Geschichte, all diese Dinge,die ein Schriftsteller hervorbringt – sind sie nichtvon Geburt an und aus sich heraus vollkommen,ob sie nun jemand liest oder nicht? Sprechen man-che Schriftsteller von ihren Werken nicht wie vonKindern? Mit etwas Nachdenken werden Sie fest-stellen, dass sich diese Schriftsteller irren oderzumindest nicht die ganze Wahrheit kennen. OhneSie bin ich ein Blitz, der eine augenlose Einödedurchzuckt. Eine ungelesene Geschichte in einemZen-Rätsel, ein Schrei in einem leeren Universum.Ungelesen, ungehört fällt ein Schriftsteller dem Todanheim.

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»When we have nothing left to giveThere’ll be no reason for us to livebut when we have nothing left to loseyou will have nothing left to use.«

Fugazi, Merchandise

I.

Wenn’s reißerisch anfangen sollte,müsste es damit anfangen, wie die alteausgetrocknete Stebaxfrau vor mirstand und in diesem raunenden, wald-geistschrumpeligen, brüchig-bedroh-

Illustriert vonBjörn Wirtz

Dietmar Dath

Als wäre es in der Mitte des 21. Jahrhunderts nicht schon schwierig genug, eine Buch-handlung zu betreiben! Die Außerirdische, die eines Tages den Laden betritt, gehörtda eher noch zum Alltag. Aber was hat es mit der vieldeutigen Warnung auf sich, diesie in ihren nicht vorhandenen Bart murmelt? Das Schicksal schlägt unerbittlich zu –und alle Versuche, ihm zu entfliehen, scheinen erfolglos ...

lichen Ton sprach: »Passt auf, dassihr’s nicht verkauft.« Aber dann kannmir wieder keiner folgen und es franstaus, bevor es richtig angefangen hat.Wollen wir nicht. Obwohl: eine Epi-phanie war das schon, ein magischerMoment oder was – die Oma wusstewas, nennt mich frühsenil. Natürlichsehen alle Stebax immer und überallso aus, als wüssten sie was, und na-türlich weiß und erfährt man dannnie, was das sein soll, was sie wissen,aber sie benehmen sich, als hingeArsch weiß was davon ab, dass man

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es ihnen aus den kostbaren versilberten Nasenzieht.

Anders anfangen, gut.

Der Laden. Der Laden ist eine Videothek und einSpieleladen und eine Buchhandlung und heißtUFO. Das ist ein Erbstück, der Name mein ich. Sowürde man ja heute keinen Laden mehr nennen,nachdem die Stebax gelandet sind oder genauer:offiziell eingetroffen in ihren linsenförmigen Schif-fen, melodramatischerweise genau rechtzeitig zurprophezeiungsumläpperten Jahrtausendwende.Echte Außerirdische, prima wichtig. Waren zwarals covert Entwicklungshelfer schon immer (i.e.die letzten fünfzehntausend Jahre, wenn ich esrichtig versteh) da gewesen, aber erst zu dieserhochwichtigen Jahrtausendwende haben sie ihreechten Fratzen gezeigt.

OK, heute würde also niemand mehr einenBuchladen UFO nennen, aber das hat in FreiburgTradition, einen Phantastikbuchladen dieses Na-mens gab’s schon im zwanzigsten Jahrhundert,also haben wir unseren (eröffnet am 7. April 2045)eben auch so genannt. War in der rechten Ecke(Südwesten) vom Böhme-Mallkomplex – früherhaben da der Bahnhof und die Post usw. gestan-den. Siebzehnter Stock. Einigermaßen erschwing-liche Miete. Deswegen haben wir auch alle ganzschön mit Ächzen und Wehklagen angefangen, alsdie Verwaltung von dieser Böhme-Mall uns die»Änderungskündigung« gemailt hat, entwederUmzug in den elften Stock runter, Nordostecke,bei den Spiegeln und Sonnenkollektoren, oder aufdie Straße, Feierabend. Ultimatum bis Januar 2053.Große Diskussion, vierzehn schwere Kneipen-

konferenzen der drei Hauptbetroffenen, schließ-lich haben wir dem Knebelungsdreck zugestimmt,weil ein Laden im elften Stock neben den Spiegelnja immer noch mehr Laden ist als kein Laden. DerUmzug war auf die letzten beiden Februarwochen2053 terminiert, wir mussten uns also ranhalten.Fritz, Alex, ich, die Aushilfen, die freiwilligenHelferInnen aus Überzeugung und sogar ein, zweitreue Kunden (Verrückte also, und wer kauftüberhaupt noch Bücher? Einige der Hardcopys, diewir in den Regalen aufliegen haben, sind älter alsich.) raffelten, packten, ruckten und zogen dasZeug kreuz und quer, verkisteten alles, verkarte-ten alles, verdateten alles, karriolten alles zu denAufzügen, und um den Schaden zu begrenzen unddie Verluste, die uns die ganze Sache bescherte,wenigstens ein bisschen im Rahmen zu halten undaufzufangen, ließen wir den alten Laden so langwie möglich geöffnet. Ich stand also an der Kasseund sah, wie die KollegInnen mir die Waren, dieich hätte verkaufen sollen, an der Fratze vorbeiaus dem Laden trugen. Alles in allem ein ehermelancholisches Erlebnis. Und dann stand die alteStebax vor mir und sagte: »Passt auf, dass ihr’snicht verkauft.«

»Was nicht verkauft?«, fragte ich, noch einiger-maßen höflich, ich hab ja nix gegen Stebax an sich.Also grundsätzlich. Hab nie einen oder eine ge-troffen, die man länger als zwanzig Minuten aus-gehalten hätte, aber wie gesagt – generell, abstrakt,allgemein und theoretisch hab ich keinerlei Vor-behalte. Was wiederum nicht heißt, dass ichbesonders spitz drauf wäre, denen ihre sinnlosenRätsel zu knacken.

»Den Ladenhüter«, murmelte sie kryptisch undwandte sich von mir ab, um in einer Grabbelkistemit antiquarischen SF-Paperbacks zu wühlen.

Sie hatte es natürlich geschafft. Ich meine, wennich nur ein halbes Hirn im Kopf gehabt hätte, hät-te ich mich um meinen Krempel gekümmert unddie Stebaxoma Stebaxoma sein lassen – ich hattenoch genug zu verkarten und zu verdaten. Statt-dessen winkte ich Robert, er solle meinen Platz ander Kasse mal eben übernehmen, und schlich dergrausen Dame hinterher, wie sie die Reihen derhalbleeren Regale entlangstrich. Scheißdumm, klar.

Aber trotzdem. Sie hatte mich dazu gebracht.Der Köder war ziemlich simpel gewesen, und ichhatte ihn geschluckt, und das war das.

»Wie haben Sie das gemeint, vorhin? Was sollenwir nicht verkaufen?«

»Junger Mann, ich möchte was kaufen. Und ichwünsche nicht beraten zu werden. Ich möchte mirZeit lassen. Gehen Sie wieder an Ihre Kasse undmachen Sie Ihre Arbeit. Oder können Sie sich daserlauben, bei Ihrem Mitarbeiterstamm, hier wildin der Gegend herumzudelegieren?«

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I.N.R.I.

Mein langes Ringen, mich aus den Niederungender Trivialliteratur zu erheben und mich in denfeineren Gefilden des literarischen Schaffens zuetablieren, spiegelt wohl eher die konventionel-len Vorstellungen von Kultur wider, als dass esirgendetwas über meine eigene schriftstelleri-sche Karriere aussagt. Ich habe es nie für nötiggehalten, meine Lust auf Rock and Roll mit mei-ner Vorliebe für Schönberg auszusöhnen, odermich für meine Begeisterung für anspruchsvol-le, populäre und literarische Belletristik zu ent-schuldigen. Wenn meine Begeisterung fürHarrison Ainsworth nicht ganz so leidenschaft-lich ausfällt wie die für George Meredith, dannhat das vor allem mit der Tatsache zu tun, dassMeredith in seiner besten Zeit der größteRomanautor des 19. Jahrhunderts war. Aller-dings war Meredith nicht in der Lage, mit dergleichen Hingabe wie Ainsworth Schnurrenüber Räuber zu erzählen, und im Gegensatz zuAinsworth zeigte er nur selten die Neigung, deneinen oder anderen Gassenhauer einfließen zulassen, sobald der Erzählfluss zu erlahmendrohte.

Ich bin in einer Welt aufgewachsen, in der diepopulären Künste eine ungeheure Kraft entwi-

ckelten – besonders jene, die vom Rock and Rollund der Science Fiction abgeleitet waren. Daswaren die angesagten Kunstformen einer Gene-ration, in der die Ironie kultiviert wurde wie eineSuperdroge. Ihre Helden waren Andy Warholund die Popkünstler, die Satire erlebte eine Blü-te, und der gesellschaftliche Protest wurde zumMassenmarkt. Die Beatles, Jimi Hendrix, TheWho, Pink Floyd, The Grateful Dead, CaptainBeefheart, 2001, Dark Star, The Rocky HorrorPicture Show, fortschrittliche Gesetzgebung beiden Bürgerrechten, Gonzo-Journalismus, radi-kaler Feminismus, die Black-Power-Bewegung,erfolgreiche Proteste gegen Zensur, eine Re-naissance des Theaters, des Tanzes und andererdarbietender Künste, große Dichterlesungen anOrten wie der Albert Hall – und überall gab esExperimente, die mit neuen Ideen neue Aus-drucksmöglichkeiten suchten. Die Künstler fühl-ten sich durch die orthodoxen Ausdrucksmittelihrer Zeit, die ihre Erfahrungen nicht mehr be-schreiben konnten, beengt und suchten in denBildern, dem Vokabular und auch den Technikender populären Formen nach neuen Anregungenund Methoden.

Die Orthodoxie vertritt ihrem Wesen nachstets die Ansicht – und zwar manchmal rechtaggressiv –, das Beste sei bereits erreicht. Sieschafft ein künstlerisches Klima, das zugleichbedrohlich und erdrückend wirkt. In den USAder fünfziger Jahre entstand die repressivsteund grausamste politische Landschaft unter al-len Nachkriegsdemokratien, in der eine ganzeGeneration Oppositioneller mitsamt ihren ide-alistischen Prinzipien zum Schweigen ver-dammt war. In England litten wir, wenngleichunter einer progressiven Regierung, noch langeunter Entbehrungen und den Folgen der Kriegs-wirtschaft, was natürlich auch auf die Einstel-lung der Menschen abfärbte. AufbegehrendeKinder wie ich wollten sich diesem Klima ent-ziehen und suchten ihr Heil in Rock und SF. Ichglaube, wir haben es gefunden, und ich glaubeauch, dass wir den englischen Roman gerettethaben. Ein Überblick über die heute erfolgrei-che Belletristik belegt die deutlichen Spuren,die jene Ideen und Techniken hinterlassen ha-ben, die wir vor dreißig Jahren in NEW WORLDSausprobierten.

Nachdem es ihr gelungen war, der Welt et-was mehr Gerechtigkeit und Gleichheit zu brin-gen, machte die »Gegenkultur« meiner Genera-tion auch in der Musik keine schlechte Figur.Ganz praktisch gesagt, fördert allein die RexCorporation der Grateful Dead mehr begabtemoderne Komponisten ernster Musik als diemeisten anderen öffentlichen oder privaten

Michael Moorcock

I.N.R.I.Bemerkungen des Autors

Als Michael Moorcocks Novelle »Behold, the Man« 1966 erstmals in derZeitschrift NEW WORLDS erschien, löste sie – ebenso wie die längere Buch-fassung 1969 – eine mittelgroße Kontroverse aus. Schließlich wagte sichhier ein »Trivialautor« an die heilige Kuh des Christentums, die PersonJesu Christi. Wie respektvoll Moorcock dabei vorging und was er damitbeabsichtigte, schildert er in diesem Essay, der einer englischsprachigenJubiläumsausgabe zum dreißigjährigen Erscheinen der Novelle entnom-men ist. Moorcocks Auseinandersetzung mit Religiosität und Fundamen-talismus hat nichts an Aktualität verloren.

Deutsch vonJürgen Langowski

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Stiftungen, und Paul McCartneys aktive Unter-stützung aller Arten von Musik, besonders derklassischen Musik, ist bekannt. Pete Townsendtrat als Direktor in das Verlagshaus Faber andFaber ein und beschäftigt sich mit der Förde-rung junger Künstler, besonders im Bereich derMusik. Es gibt noch viele weitere Beispiele. Die-jenigen unter uns, die die sechziger Jahre miteinigermaßen intaktem Kopf und Bankkontoüberlebt haben, halten sich immer noch an dasPrinzip, wenngleich vielleicht etwas effizienterund kritischer, dass jede Kunst populär sein soll-te, und dass Künstler, die der breiten Öffentlich-keit noch nicht bekannt sind, ein wenig Aufmerk-samkeit und Förderung brauchen. Wir vertratenauch die Ansicht, unsere Werke sollten die Viel-falt der Belletristik, der Malerei oder der Musikwiderspiegeln, die wir selbst genossen haben.

Die Idee für I.N.R.I. kam mir zu Ostern 1966in einem Keller in Ladbroke Grove, als ich miteinigen Freunden über das Wesen von Demago-gen und die Frage diskutierte, in welchem Maßihr Aufstieg ihrem eigenen Ehrgeiz zu verdan-ken sei und inwieweit die Sehnsucht der Mas-sen ihnen ihre Macht verlieh.

Die Schulzeit in Michael Hall, dieser nach RudolfSteiners eigenwilligen christlichen Prinzipiengeführten Schule in Sussex, übte natürlicheinen großen Einfluss auf mich aus, doch ge-noss ich weder eine konventionelle religiöse Er-ziehung, noch eine schulische Ausbildung imstrengen Sinne. Ich wuchs in einem überwie-gend weltlichen Elternhaus auf, das sich kaumvon allen anderen in jenem Teil von Südlondonunterschied, in dem ich meine Kindheit ver-brachte. Ich glaube, ich kannte niemanden, derin die Kirche ging, und meine Freunde und ichhielten die Jungen, die sich den Pfadfindernoder anderen kirchlichen Gruppen wie der BoysBrigade anschlossen, für Waschlappen. MeinFreund Brian Alford und ich hatten eine schöneSammlung ihrer Uniformmützen. Nichts ver-schaffte uns eine größere Genugtuung, als dielärmende Kapelle der Boys Brigade marschierenzu sehen, die Köpfe größtenteils unbedeckt undunfähig, uns zu verfolgen, wenn wir sie scha-denfroh von der anderen Straßenseite aus ver-spotteten. Inzwischen kann ich auch ohneScham zugeben, dass Kirchen vor allem dannunsere Aufmerksamkeit erregten, wenn manBlei von den Dächern stehlen oder eine Stink-bombe durch ein offenes Fenster werfen konnte.

Wir wuchsen in Trümmern auf. Wir waren ge-wohnheitsmäßige Lumpensammler. Wir liebtendie Landschaften, durch die wir streiften, wo wir

immer wieder neue Beute und neue Abenteuerfanden. Meine Kindheit verlief glücklich undnicht völlig amoralisch, und ich wurde durch dieRomane beeinflusst, die ich damals las. Dazuzählten Werke von Edgar Rice Burroughs, LouisaMay Alcott, P. G. Wodehouse, Dickens, Shaw,E. Nesbit, Scott, Dante, Aldous Huxley, Peake,Richmal Crompton, Charles Hamilton, Karl May,Sinclair Lewis, Steinbeck, W. W. Jacobs, Camus,Henry Treece, Dylan Thomas und Shakespeare.Außerdem verschlang ich eine gewaltige Men-ge von Science-Fiction-Magazinen, die vor demZweiten Weltkrieg erschienen waren, ins-besondere Texte von Anthony Skene, demSchöpfer von Sexton Blakes berühmtem Gegen-spieler, Zenith der Albino, dessen Abenteuer imKrieg ein jähes Ende fanden. Sexton Blake warPrivatdetektiv und der Held tausender Ge-schichten, die nach 1890 von verschiedenenAutoren verfasst wurden. Ich las auch ameri-kanische Groschenhefte wie STARTLING STORIES

NEW WORLDS 166 mitder Erstveröffent-

lichung der Novelle»Behold, the Man«

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»Der nächste Anrufer, hallo. Du bistauf Sendung.«

»E-es geht um meine Freundin. Siewill mich nicht beißen.«

Bobby aus St. Louis klang wie umdie zwanzig, jungenhaft und nervös.Ein unbeholfener Spätpubertärer mitFantasien, die eine Nummer zu großfür ihn waren. Wahrscheinlich trug ereine schwarze Lederjacke und hattemindestens eine Tätowierung – aneiner Stelle, die er mit einem Hemdverdecken konnte.

»Okay, Bobby, nochmal von vorne.Deine Freundin.«

»Ja?«»Deine Freundin ist eine Werwölfin.«»Ja«, sagte er mit einer Stimme, die

leicht verträumt klang.»Und du willst, dass sie dich beißt

und dich mit Lykanthropie infiziert?«»Äh, ja. Sie sagt, ich wüsste nicht,

worauf ich mich da einlasse.«»Glaubst du nicht, sie könnte viel-

leicht Recht haben?«

Carrie Vaughn

Für Kitty Norville ist ein Wunschtraum wahr geworden: Sie ist Moderatorin ihrer eige-nen Radiosendung. Zur Mitternachtsstunde gibt sie orientierungslosen MenschenTipps, wie sie besser mit ihrem Leben klarkommen können. Dabei stört es sie nichtweiter, dass viele Anrufer mit äußerst ungewöhnlichen Problemen an sie herantreten.Bis sie eine Morddrohung erhält ...

Deutsch vonSara Riffel

Illustriert vonTitus Ackermann

»Naja, es ist meine Entscheidung ...«»Würdest du sie zwingen, mit dir

zu schlafen, Bobby?«»Nein! Das wäre Vergewaltigung.«»Dann zwinge sie auch nicht dazu,

das zu tun. Stell dir nur mal vor, wieschuldig sie sich fühlen würde, wennsie es täte, und du würdest hinterherdeine Meinung ändern. Das ist keineTätowierung, die man mit einem La-ser wieder entfernen kann. Wir redenhier über eine völlige Veränderungdeines Lebensstils. Sich einmal imMonat in ein blutrünstiges Ungeheu-er verwandeln, diese Tatsache vor al-len um einen herum verbergen, unddabei versuchen, ein normales Lebenzu führen, wenn man nicht malmenschlich ist. Hast du schon ihr Ru-del kennengelernt?«

»Äh, nein.«»Dann weißt du also eigentlich gar

nicht, wovon du sprichst, wenn dusagst, du willst ein Werwolf werden.«

»Äh, nein.«

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»Bobby, normalerweise mache ich nur Vorschlä-ge, anstatt den Leuten zu sagen, was sie tun sol-len, aber in deinem Fall will ich eine Ausnahmemachen. Hör auf deine Freundin. Sie weiß sehrviel mehr über diese Sache als du, okay?«

»Äh, okay. Danke, Kitty.«»Viel Glück, Bobby«, sagte ich und schaltete

Bobby weg. »Und auch Bobbys Freundin vielGlück. Mein Ratschlag an sie ist, den Typen zumMond zu schießen – diesen Stress kann sie inihrem Leben wirklich nicht gebrauchen. Ihr hörtdie ›Mitternachtsstunde‹ mit mir, Kitty Norville. Inder vergangenen Stunde haben wir uns mit Lykan-thropen über ihre Beziehungen unterhalten, knall-hart und ohne Blatt vor dem Mund. Wir machenjetzt eine kurze Werbepause, und wenn wir wiederda sind, gibt es die nächsten Anrufe.«

Ich gab Matt, meinem Techniker, durch das Fens-ter der Kabine ein Zeichen. Er drückte auf einenKnopf. Das ›Auf Sendung‹-Lämpchen erlosch, undder Titelsong meiner Show, CCRs ›Bad MoonRising‹, ertönte. Ich nahm die Kopfhörer ab undschob das Mikrofon beiseite.

Jeder will ein Monster sein. Oder ein Monsterkennen. Oder zumindest sagen sie das. Gefahr istverlockend, und was könnte gefährlicher sein alsein Wesen mit den Klauen eines Wolfs und demVerstand eines Menschen? Oder faszinierender alsder Schrecken, der nachts andere verführt? So vie-le furchtbare und spannende Dinge geschehen inder Nacht, und die Monster beherrschen sie alle.Wie reizvoll, ein Teil davon zu sein. Laut denUmfragen zur Sendung gehören drei Viertel derZuhörer nicht zu den Übernatürlichen – Werwöl-fe, Vampire, Hexen, übersinnlich Begabte, Geister-beschwörer, Wünschelrutengänger, Regenmacherund dergleichen – und haben auch keinen Kon-takt zu übernatürlichen Wesen. Sie suchen nacheiner Ersatzbefriedigung, einem Gefühl der Be-drohung, während sie sicher zu Hause sind. Siewollen sich die Gefahren draußen in der Welt vor-stellen, jenseits der massiven Wände ihrer Vor-stadtwohnungen, und Erregung verspüren. Viel-leicht noch einmal eine Urerinnerung durchleben,aus der Zeit, als es zwischen den Menschen undder Nacht noch keine Wände gab. Von diesen dreiVierteln hält die Hälfte das Ganze für einen Scherz,für so was wie eine gefakete Dokumentarsendung.Schließlich weiß doch jeder, dass es keine Mons-ter gibt.

Das andere Viertel dagegen. Für sie mache ichdiese Show. Um ihnen zu zeigen, dass sie nichtallein sind.

Die zweiminütige Pause war vorbei, und Mattzählte durch das Fenster den Countdown an denFingern ab. Die ›Auf Sendung‹-Lampe leuchtetewieder und die Lichter auf meiner Anrufertafel

ebenso. Kopfhörer aufgesetzt und die Leitung frei-geschaltet.

»Willkommen zurück bei der ›Mitternachtsstun-de‹. Wir haben Sarah aus Sioux City am Apparat.«

Die Frau war den Tränen nahe. Sie versuchte,nicht zu weinen, doch es war ein aussichtsloserKampf. »Kitty?«

»Hi, Sarah«, sagte ich beruhigend und machtemich auf das Schlimmste gefasst. »Worüber möch-test du sprechen?«

»Mein Mann«, sagte sie nach einem langen, zitt-rigen Atemzug. »Ich habe ihn letzte Woche er-wischt. Ich meine, ich habe ihm nachspioniert.«Sie hielt inne, und ich ließ ihr Zeit, sich zu sam-meln, bevor ich nachfragte.

»Was ist passiert, Sarah?«»Er ... er hat sich verwandelt ... in einen Wolf.

Im Wald ... hinter unserem Haus. Als er dachte,ich sei ins Bett gegangen.«

»Und du wusstest nicht, dass er ein Lykanthropist.«

»Nein! Ich meine, ich hatte so meine Vermutun-gen. Die Geschäftsreisen einmal im Monat wäh-rend des Vollmonds; die Steaks, die er roh gegessenhat. Wie konnte er das nur vor mir verstecken?Ich bin seine Frau! Wie konnte er das tun?« DieStimme der Frau bebte, bis sie fast kreischte.

»Hast du ihn zur Rede gestellt? Mit ihm darübergesprochen?«

»Ja, ja. Ich meine, ich habe ihn darauf ange-sprochen. Er hat gesagt, es täte ihm leid. Er kannmir nicht mal mehr in die Augen sehen!«

»Sarah, hol tief Luft. So ist’s gut. Ich weiß, dasist ein Schock, aber lass es uns mal genauer be-trachten. Wie lange seid ihr schon verheiratet?«

»Sechs ... sechs Jahre.«»Und hat dir dein Mann gesagt, wie lange er

schon ein Werwolf ist?«»Zwei Jahre.«»Also, Sarah, ich möchte dich bitten, die Sache

einmal mit seinen Augen zu sehen. Es war wahr-scheinlich ziemlich traumatisch für ihn, sich ineinen Lykanthropen zu verwandeln, oder?«

»Ja. Er war alleine auf Nachtschicht und hatgerade den Laden abgeschlossen, als es passiertist. Er ... er sagte, er hätte Glück gehabt, dass eskeiner gemerkt hat. Warum hat er mir das nie er-zählt?«

»Meinst du nicht, er wollte dich vielleicht be-schützen? Ihr habt eine gute Ehe geführt, und erwollte das nicht aufs Spiel setzen, oder? Ich behaup-te nicht, dass das, was er getan hat, richtig war,Sarah. In einer wirklich guten Ehe hätte er es dirsofort erzählt. Aber er wird das vor einer MengeLeute geheimhalten müssen. Vielleicht wusste ernicht, wie er es dir sagen sollte. Vielleicht hatte erAngst, du würdest ihn verlassen, wenn er es dir sagt.«

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»Ich würde ihn nicht verlassen! Ich liebe ihndoch!«

»Aber es gibt Leute, die ihren Partner verlassen,wenn so etwas passiert. Wahrscheinlich hat erAngst, Sarah. Hör mal, liebt er dich immer noch?«

»Das sagt er zumindest.«»Weißt du, was ich tun würde? Setz dich mit

ihm zusammen. Sag ihm, dass er dich verletzt hat,aber dass du weiter zu ihm halten willst, wenner von jetzt an ehrlich mit dir ist. Bevor du dasmachst, solltest du dir jedoch darüber klar wer-den, ob du mit einem Werwolf weiter verheiratetsein willst. Du musst genauso ehrlich mit dir selbstsein, wie du es von ihm verlangst.«

Sarah hatte sich inzwischen beruhigt. Sie hatteeinen kleinen Schluckauf vom Weinen, aber ihreStimme klang fest. »Okay, Kitty. Ich verstehe. Vie-len Dank.«

»Lass mich wissen, wie es ausgeht. Viel Glück,Sarah. Gut, ich habe noch eine Menge Anrufer inder Warteschleife, wir können also gleich weiter-machen. Cormac aus Longmont, hallo.«

»Ich weiß, was du bist.«

»Wie bitte?«»Ich weiß, was du bist, und ich kom-

me, um dich zu töten.«Ein paar seltsame Anrufe waren

immer dabei. Das war wohl zu er-warten, bei dieser Art von Sendung.Deshalb siebte Matt die Anrufe aus,bevor er sie zu mir durchstellte. Die-ser Typ hatte gesagt, er hätte eine Fra-ge zu Lykanthropie und sexuell über-

tragbaren Krankheiten.Ich hätte den Anruf gleich abwürgen

können. Wahrscheinlich hätte ich das tunsollen. Aber die seltsamen Anrufer interes-

sierten mich immer.»Cormac? Willst du mir sagen, wovon du

sprichst?«»Ich bin Kopfgeldjäger. Ich habe mich auf

Lykanthropen spezialisiert.« Seine Stimme klangseltsam und wurde leiser und wieder lauter.

»Rufst du von einem Handy aus an?«»Ja. Ich bin in der Eingangshalle des Gebäu-

des, und ich komme, um dich zu töten.«Der gute Matt rief bereits die Sicherheitskräfte

an. Ich sah ihn am Telefon stehen. Ohne zu re-den. Was stimmte da nicht?

Matt knallte den Hörer auf die Gabel. »Es gehtkeiner ran«, sagte er laut genug, dass ich es durchdas Glas der Kabine hören konnte.

»Ich habe draußen für eine kleine Ablenkunggesorgt«, sagte Cormac. »Die Gebäudesicherheit istnicht im Gebäude.« Daraufhin hob Matt denTelefonhörer ab und wählte, nur drei Ziffern, nach-dem er auf Außerhaus-Gespräch umgestellt hatte.Er rief die Kavallerie.

Dann wählte er noch einmal. Und noch einmal.Sein Gesicht wurde blass. »Es ist besetzt«, gab ermir zu verstehen.

»Hast du die 911 außer Gefecht gesetzt?«»Ich bin ein Profi«, erwiderte Cormac.Verdammt, das war echt. Ich hörte das ›Pling‹ des

Fahrstuhls im Erdgeschoss, das Aufgleiten der Tü-ren. Es war eine Einschüchterungstaktik, dass ermich anrief und mir meine eigene Ermordung an-kündigte. Es war eine gute Einschüchterungstaktik.

»Okay, du kommst also, um mich zu töten, undwarnst mich vorher über Handy.«

»Das ist Teil des Vertrags«, sagte er auf eine ge-künstelte Weise, die klang, als würde er eine Gri-masse ziehen, während er sprach.

»Was ist Teil des Vertrags?«»Ich muss es tun, während du auf Sendung bist.«Mit einem fragenden Blick fuhr sich Matt ruck-

artig mit der Handkante über den Hals. Die Sen-dung abbrechen? Ich schüttelte den Kopf. Viel-leicht konnte ich mich irgendwie aus der Sacherausreden.

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»Wie kommst du darauf, dass ich ein Lykan-throp bin, Cormac, der Kopfgeldjäger, der sich aufLykanthropen spezialisiert hat?«

»Mein Klient hat einen Beweis dafür.«»Was für einen Beweis?«»Fotos. Videoaufnahmen.«»Ja, bestimmt Videoaufnahmen in der Dunkel-

heit mit einer Menge verschwommener Bewegun-gen. Diese Fernsehsendungen habe ich auch schongesehen. Würde das vor Gericht standhalten?«

»Mich hat es überzeugt.«»Und du bist offensichtlich nicht ganz richtig

im Kopf«, sagte ich nervös. »Ist dir schon mal derGedanke gekommen, Cormac, dass du eine Mario-nette bei einer Publicity-Nummer bist, mit der mirder Garaus gemacht werden soll? Bestimmte Grup-pierungen versuchen schon seit Monaten, meineSendung absetzen zu lassen.«

So spät am Abend hatten Matt und ich das Stu-dio für uns. Selbst wenn irgendein aufmerksamerZuhörer die Polizei rief, wäre Cormac hier, bevorsie einträfe. Ich war sicher, dass er darauf zählte.

Matt kam in die Kabine und flüsterte mir lautetwas zu. »Du kannst über den Notausgang ver-schwinden, bevor er hier auftaucht.«

Ich bedeckte mit der Hand das Mikrofon. »Ichkann die Sendung nicht abbrechen.«

»Kitty, er wird dich umbringen!«»Das ist nur ein Trick. Irgendein selbstgerechter

Fanatiker versucht, mir einen Schreck einzujagen.«»Kitty ...«»Ich gehe nicht. Du kannst gern verschwinden,

wenn du willst.«Er warf mir einen finsteren Blick zu, kehrte je-

doch zu seinem Schaltpult zurück.»Und hol mir bitte einen der Funkkopfhörer aus

dem Schrank.«Matt brachte mir den Kopfhörer, und ich legte

die Sendung darauf. Ich verließ die Kabine undtrat damit aus der direkten Sichtlinie zur Tür. Derandere Raum, Matts Kontrollraum, hatte ein Fens-ter, das auf den Flur hinausging. Ich setzte michauf den Boden, unterhalb des Fensters, neben derTür. Wenn jemand hereinkäme, würde ich ihnzuerst sehen.

Cormac würde vielleicht zehn Minuten brau-chen, um mit dem Fahrstuhl hochzufahren undvon dort zum Studio zu gelangen. Ich musste alsoschnell reden.

»Okay, Cormac, ich will dir eine Frage stellen.Wer hat dich engagiert?«

»Das kann ich nicht sagen.«»Ist das auch Teil des Vertrags?«Er zögerte. Einen Augenblick lang glaubte ich,

dass er es nicht gewohnt war zu reden, und ihmdieser Teil seines Auftrags nicht gefiel. Ich zwei-felte nicht daran, dass er tatsächlich das war, wo-

für er sich ausgab. Er klang zu beherrscht, zu ru-hig. Für solche Dinge hatte ich ein Ohr.

»Berufsgeheimnis«, sagte er schließlich.»Dann ist das also einer von diesen Deals, bei

denen ich dir mehr Geld anbiete dafür, dass dumich nicht umlegst?«

»Nee. Ist schlecht für den Ruf.«Nicht, dass ich überhaupt so viel Geld hätte.

»Also, wie viel genau ist mein Leben wert?«Pause. »Das ist vertraulich.«»Nein, wirklich, ich bin neugierig. Ich denke,

ich habe ein Recht darauf, das zu erfahren. Ichmeine, wenn es eine wirklich exorbitante Summeist, kann ich mein Leben dann als Erfolg werten,weil ich jemanden so sehr verärgert habe? Dasheißt doch, dass ich Eindruck gemacht habe, oder?Und das ist nun wirklich mehr, als man sich wün-schen kann ...«

»Himmel, du redest zu viel.«Ich konnte nicht anders, ich musste grinsen.

Matt hockte an der Wand und schüttelte mit ei-nem Ausdruck gequälter Nachsicht den Kopf.

Darüber nachzudenken, wer es wohl auf michabgesehen haben mochte, war sinnlos – schließlichwaren das ziemlich viele. Ich ging trotzdem dieListe durch: der Bund der Hexenjäger, der Recht-schaffene Reverend Deke Torquemada von derNeuen Inquisition, eine Handvoll Politiker, diegegen die Übernatürlichen eingestellt waren,darunter der Präsident und die Christliche Koali-tion – und alle anderen, die der Ansicht waren,für übernatürliche Wesen sei in der Gesellschaftkein Platz.

Der Fahrstuhl klingelte, einmal, zweimal ...noch zwei Stockwerke. »Also, nochmal von vorn,Cormac. Die meisten deiner Aufträge sind nichtwie dieser hier, oder? Du jagst einzelgängerischeWölfe. Solche, die getötet haben und von ihremRudel nicht unter Kontrolle gehalten werden kön-nen. Habe ich Recht?«

»So ungefähr.«»Hast du eine Ahnung, wie wenige Wölfe tat-

sächlich in diese Kategorie fallen?«»Nicht sehr viele.«»Richtig. Tatsächlich weiß niemand, wie viele

Lykanthropen es in Amerika überhaupt gibt, denndie meisten von ihnen leben anonym. Sie werdenjedenfalls ganz sicher nicht auf sich aufmerksammachen.« Die meisten, mich eingeschlossen. Ichmachte zwar die Sendung, aber niemand wussteüber mich Bescheid. Natürlich gab es jede MengeSpekulationen, darunter Theorien, dass ich eineVampirin sei; eine Voodoo-Königin, die finstereAnhänger für ihre Armee anheuerte; ein außerir-discher Eroberer, der Paranoia säte; ein lykanthro-pischer Vampir ... Aber selbst ich war nicht mutiggenug, um meinen Zustand öffentlich zu machen.

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Politische Ansichten sind so persönlich wie reli-giöse. Das Zeitgeschehen sollte auf Schriftstellereinwirken und in ihren Texten widerhallen. DieFiguren, die Handlung, der Aufbau – all das pro-fitiert von einer sorgfältigen Berücksichtigungund einem Dialog mit der politischen Welt.

Vor zwanzig Jahren hätten solche Erklärun-gen mich entsetzt – Erklärungen, an die ich nunfest glaube. In meiner Zeit als Teenager und jun-ger Erwachsener betrachtete ich Literatur aus-schließlich als Kunst, durch und durch. Kunststand für mich über dem Alltäglichen, also auchüber der Politik. Damals verstand ich noch nicht,dass die Erklärung der Surrealisten von der»krampfhaften Schönheit im Dienste der Frei-heit« ein politischer Ruf zu den Waffen war.

Gleichzeitig gerieten meine Erzählungen je-doch in einen Widerspruch mit meinen bewuss-ten Überlegungen über das Schreiben. Unter-bewusst, auf der Ebene der Inspiration, flossenPolitik und die Konsequenzen politischer Ent-scheidungen regelmäßig in meine Literatur ein.Ich schrieb über lateinamerikanische Diktaturenund das Erbe der Konquistadoren. Ich schriebüber den allmählichen Verlust persönlicherGrundrechte. Ich schrieb über die Auswirkun-gen, die Kriege auf Individuen und Gruppenhaben. Ich schrieb über die Folgen des Kolonia-lismus.

Meine Kurzgeschichten wurden von politi-schen Ansichten durchdrungen. Manchmalwaren diese so fest darin verankert, dass es dieGeschichte ruiniert hätte, wären sie herausge-

nommen worden. Manchmal waren sie nuroberflächlich. Manchmal waren sie wahrschein-lich zu belehrend.

Ich glaube, die letztgenannte Möglichkeit –dass Literatur zu moralisierend wird – brachtemich zu der Überzeugung, dass Literatur alsKunstform von der Welt des Zeitgeschehens,und damit auch dem Durcheinander der Politik,getrennt sein sollte. Literatur sollte sich aus Fi-guren und Situationen entwickeln. Das Alltäg-liche sollte ausschließlich als Ausschmückung inForm von unbedeutenden Details präsent sein.Die Art und Weise, wie Licht auf einen Fenster-rahmen fällt. Der bestimmte Tonfall einer Frau.Der Duft des Kaffees, der aus einem Café aufden Bürgersteig herausdringt.

Ich glaube, diese Einstellung zur Literatur er-klärt, warum viele meiner Geschichten sehr sti-lisiert waren. Ich betrachtete sie beinahe alsGemälde: schön, aber statisch, emblematischund symbolisch, erhaben und visionär, die Lei-denschaft auf dem so genannten »Universel-len« beruhend, in dem kein Platz für das Ver-gängliche war.

Während ich über meine imaginäre StadtAmbra schrieb, änderte sich all das. Um alsSchauplatz glaubwürdig zu sein, war es nötig,die Stadt mit umfassenden Details auszustat-ten. Ich war dazu gezwungen, auf allen mög-lichen Ebenen über Politik nachzudenken. EineStadt kann nicht gleichzeitig stilisiert und realsein – das wäre, als würde man einer Personden Sauerstoff vorenthalten oder als würdeman alle Figuren mitten in der Bewegung er-starrt darstellen. Außerdem kann sich eineStadt nicht über die Politik erheben, denn diePolitik ist ihr Herz – ihre Institutionen, ihre Re-gierung und die persönlichen politischen An-sichten ihrer einzelnen Bürger, ihr persönlichesMit- und Gegeneinander.

Ich erinnere mich, dass Brian Stablefordeinmal über Angela Carter gesagt hat, ihr Werkwürde Gefahr laufen, in rein mechanischenSymbolismus zu verfallen, bevor die darin un-ternommene Erforschung der Geschlechter-politik mit dem Fantasy-Schauplatz eine engeVerbindung eingeht. Sie riskiere, in ihrem Werknicht genug Luft zu lassen, damit die Leser at-men können.

Was mich angeht, ließ die Sekundärwelt vonAmbra mehr von der realen, unstilisierten Weltin mein Schreiben einfließen – und das beinhal-tete auch jene Teile der realen Welt, die politischwaren. Auf einmal dachte ich darüber nach, wiesich Konflikte im großen und im kleinen Rah-men anbahnen. Wie entstehen herrschende Eli-ten? Wie bleiben sie an der Macht? Welche Kon-

PolitikJ e f f V a n d e r M e e r

P o l i t i ki n d e r F a n t a s y

Kann und soll ein Schriftsteller seine politischen Ansichten in seinen Tex-ten zur Schau stellen und aktuelle Ereignisse in ihnen reflektieren? Diephantastische Literatur ist auf den ersten Blick nur bedingt politisch, undviele Leser legen sogar großen Wert auf die »Abgelöstheit« der Fantasyvon den Ereignissen und Zwängen ihrer Lebenswelt. Jeff VanderMeer, US-amerikanischer Schriftsteller, Kritiker und Verleger, macht sich Gedankenüber die Wechselwirkung zwischen Phantasie und Realität.

Deutsch vonKlaas Ilse

sequenzen ziehen Kolonialismus und Pogromenach sich, sowohl beim Unterdrücker als auchbei den Unterdrückten? Wer füllt ein Macht-vakuum, wenn es entsteht, und warum?

In Ambra dienen die Kaufmannsfamilien alsErsatz für die großen Konzerne unserer Welt.Eine Elite aus Kaufleuten herrscht mehr oderweniger über Ambra, unterstützt durch einSammelsurium von angesehenen Künstlernund anderen kreativen Leuten. Dies sind dieMenschen, die den Herrschern Legitimität ver-leihen oder vorenthalten.

Natürlich ist Ambra auch eine sehr anarchi-sche Stadt. Man hat das Gefühl, sie könne jeder-zeit und von einem Moment zum andern imChaos versinken, auch wenn das alljährlicheFestival als ein Ventil für die Gewalt dient unddazu beiträgt, die alltägliche Anarchie unterKontrolle zu halten.

Unterscheidet sich das so sehr von der Welt,in der ich als US-Amerikaner lebe? Ich glaubenicht.

Wir haben unsere eigenen Feste, um Aggres-sionen abzubauen, zum Beispiel in Form vonSportveranstaltungen, und wenn sich so etwaswie der Hurrikan Katrina ereignet oder Unregel-mäßigkeiten bei den Wahlen, oder – wie vorkurzem in Florida geschehen – miteinander ri-valisierende Behörden im Kampf um das Schick-sal einer vor sich hinvegetierenden Person zuden Waffen greifen, dämmert uns langsam,dass wir uns viel dichter am Abgrund befinden,als uns eigentlich lieb wäre – betäubt durchunsere technischen Gerätschaften und unsereegoistische Jagd nach dem leiblichen Wohl.

Nicht nur, dass wir dem totalen oder zu-mindest teilweisen Zusammenbruch der Zivili-sation viel näher sind, als wir denken, wir be-greifen nicht einmal, wie dicht wir davor ste-hen, Gräueltaten zu begehen. In Ambra ereig-nen sich Pogrom und Gegen-Pogrom als Resul-tat von Gier, Ignoranz und Furcht. Die Grauhüte– Eingeborene, die von den Stadtgründern un-ter die Erde vertrieben wurden – existieren injener Form von Dynamik, die alle Unterdrückerund Unterdrückten teilen. (Der Ablauf solcherEreignisse unterscheidet sich in Einzelheiten –

ob in Ruanda oder dem Balkan, in Kambodschaoder Deutschland –, doch die Folgen sind diegleichen: eine Massenpsychose und individuel-le Gleichgültigkeit gegenüber jeglichem Leid,die zu einem gewaltigen Blutvergießen führen.)

Doch bei der »Politik« in der Literatur geht esnicht allein darum, Kriege, Gräueltaten oder dieDynamiken einer Stadt auf einer übergeordne-ten Ebene als Hintergrund zu verwenden, umFragen zu stellen, die uns auf lange Sicht allebetreffen. Es geht auch darum zu begreifen,dass alle Menschen in gewisser Hinsicht poli-tisch sind, selbst jene, die teilnahmslos zu seinscheinen. Denn in der Politik geht es um Ge-schlechter, Gesellschaft und Kultur. Jeder As-pekt unseres Lebens ist in gewisser Hinsichtpolitisch. Wenn wir uns beim Schreiben alsonicht an einem bestimmten Punkt bewusst da-mit auseinandersetzen – wenn wir lediglichunserem Instinkt als Schriftsteller vertrauen –,könnte es sein, dass wir unabsichtlich Klischees,Stereotype und Vorurteile weitertransportie-ren.

Carol Bly liefert in ihrem eindrucksvollenBuch über das Schreiben – The Passionate,Accurate Story – überzeugende Argumentedafür, das Politische – und damit ethische undmoralische Themen aus der realen Welt – beimErschaffen von Figuren einzubeziehen. Sie führtals Beispiel einen Protagonisten an, den leiten-den Angestellten einer Firma, die ein schädli-ches Produkt herstellt oder deren Fabriken dieUmwelt verschmutzen. Die Geschichte musssich nicht unbedingt in erster Linie um den Jobdieses Protagonisten drehen, aber der Autormuss sich dennoch fragen: Welche Beziehunghat dieser Protagonist zu seinem Beruf? Denkter über die ethischen Aspekte seiner Tätigkeitnach – dass er mit dazu beiträgt, anderen Scha-den zuzufügen, wenn vielleicht auch nur indi-rekt? Welche politischen Ansichten vertritt derProtagonist und wie spiegeln diese sein tat-sächliches Handeln wider? Oder tun sie dasnicht? Wie rechtfertigt der Protagonist seinepersönlichen und politischen Entscheidungen?

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rezensionenAus den waldigen Weiten Kana-das tönt’s wie Donnerhall: Mittenins Herz der abgedroschenenFantasy-Meterware stürmt derRomanerstling des Tabakpflan-zersohnes R. Scott Bakker mit un-widerstehlicher Gewalt.

Im ersten Teil der Trilogie DERKRIEG DER PROPHETEN ruft der Vor-steher der Tausend Tempel alleRechtgläubigen zu einem Kreuz-zug gegen die Fanim auf – einungeheures Vorhaben, dem nichtalle Streiter nur aus Frömmigkeitfolgen. So erhofft sich der Kaiserder Nansur die Rückgewinnunglängst verlorener Gebiete und be-ginnt ein gnadenloses Taktieren,das schon bald zahlreiche Opferfordert.

Der Magierorden der Mandatisendet, von bösen Ahnungen ge-plagt, seinen Agenten DrusasAchamian aus, der im Zentrumder Ereignisse nach den gefürch-teten »Rathgebern«, den Botender Zweiten Apokalypse, Aus-schau halten soll. Aufgemischtwird die gespannte Situation durch den geris-senen und brutalen Barbarenhäuptling Cnaiür.Dessen Verbündeter und gleichzeitig größterFeind ist der undurchschaubare KriegermönchAnasûrimbor Kellhus, der mit Worten ebensotödlich treffen kann, wie er Pfeile aus der Luftgreift. Beide sind, aus unterschiedlichen – aberkeinesfalls karitativen – Gründen, auf der Suchenach Anasûrimbors Vater.

R. Scott Bakker erschafft für seine vielschich-tige, von religiösem Fanatismus und persönli-chem Ehrgeiz der Figuren getriebene Handlungeine differenzierte, raue Welt, deren Parallelenzum Europa im Zeitalter der Kreuzzüge unver-kennbar sind. Sie verleihen dem Hintergrund

einen hohen Grad an Plausibilität und »histori-scher Fundiertheit«, ohne dabei den Eindruck zuerwecken, der Autor hätte lediglich aus derrealen Geschichte abgekupfert.

In dieser Welt voll Krieg und Fanatismus lässtBakker faszinierende Figuren agieren, allesamtgestandene Männer und Frauen, die ihre Hand-lungen nach den Maßstäben ihrer eigenen Re-alität beurteilen – ohne Rücksichten auf Gutund Böse oder neuzeitliche Moralvorstellungen.Was diese Helden tun und was sie zu erleidenhaben, das verlangt nach Lesern, die auch maldie eine oder andere Härte verkraften.

Der gelungene Handlungsaufbau, das er-staunliche Weltenkonzept und die packende

R. Scott Bakker

Schattenfall[The Darkness That Comes Before · 2003]

R. Scott BakkerFoto: Cathy Aitken

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Klett-Cotta (Stuttgart, 2006) |

Pappband, 656 Seiten |Deutsch von Andreas Heck-mann | Umschlaggestaltung

von Dietrich Ebert

Darstellung der Figuren machen deutlich, dassBakker in einer Liga mit George R. R. Martinoder Steven Erikson spielt. Es gibt zwar Momen-te, wo er noch nicht ganz den Dreh raus zu ha-ben scheint – die Beschreibung der Intrigen amKaiserhof büßt durch aufgezwungene Übertrei-bung ein wenig an Überzeugungskraft ein –,aber im Großen und Ganzen findet man einetadellose Erzählung vor.

Vorgetragen wird diese Erzählung mit vielIntelligenz und erschütternder Sprachmacht,vertieft und angereichert mit vielen philosophi-schen Bei- und Untertönen. Doch neben diesenphilosophischen Tönen brummt immer auchder Donnerhall: Ohne Scheu zeichnet er seineHauptprotagonisten überlebensgroß und ver-leiht ihnen einen Hauch Superheldentum. Vorallem Cnaiür und Kellhus stecken den Krieger-barbaren Conan spielend in die Tasche.

Und dann gibt es Abschnitte, in denen plötz-lich alles kracht und scheppert, und wo manden Begriff »epische Fantasy« sofort neu defi-

nieren muss: Bakker. Ehrfurcht macht sich breit,wenn Cnaiür auf Bergen erschlagener Feindewütet, obwohl dergleichen hinreichend be-kannt ist. Doch bei Bakker geraten sie so vieleindrucksvoller als bei vielen anderen Autoren.Oder wenn schwarzes Sperma fließt ... Das sinddie Szenen, wo dem Leser eine Tür oder einLicht auf geht, und er steht plötzlich fassungs-los im Fantasy-Himmel.

Bakkers Schattenfall ist eine mächtige Breit-seite bester Fantasy, mit Lesebändchen undSchutzumschlag schön ausgestattet. Nüchternbetrachtet sind Erikson und Martin wahrschein-lich die besseren Autoren auf diesem Gebiet.Aber ihre Bücher liest man. Von Bakkers Schatten-fall dagegen wird man überrannt. Reines Glück,dass der Übersetzer Andreas Heckmann die un-bekümmerte, urtümliche Gewalt des Originalsohne Rücksicht auf philologische Feinheiten insDeutsche überträgt. Dem Vernehmen nach sollenBände zwei und drei noch mal jeweils eine Stei-gerung draufsetzen. Na dann, her damit!

• Simon Weinert

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Tobias O. Meißner

Traumtänzer[Originalausgabe · 2006]

Hiob Montag lebt als abgebrannter Kunstmalerim Berlin der 90er, ist Mitte zwanzig und einMagier. Er spielt gegen das höchste WesenNuNdUuN, das zugleich Gott und Teufel ist, einbizarres Spiel – das Spiel. 78 Punkte muss er er-ringen, um NuNdUuNs Platz einzunehmen unddadurch die Welt menschlicher zu machen,freundlicher, um sie – klischeehaft ausgedrückt –zu retten! Punkte erhält er, indem er sich spezi-ellen Aufgaben stellt, Dämonen, Wahnsinnigen,den eigenen Ängsten und Schwächen usw. Sie-ben Punkte hat er in Frauenmörder, dem erstenBuch von HIOBS SPIEL errungen, und nun steigter mit Hilfe eines alten nachtmahrgetränktenTeddys in die Alptraumwelt eines im Koma Lie-genden hinab oder bekämpft zu Weihnachtenin den verschneiten Alpen bösartige Pelzmärtelaus Knecht Ruprechts Gefolge, wobei ihm eineüber die Feiertage Abgeschiedenheit suchendeFamilie versehentlich in die Quere kommt.

Plot und Aufbau von HIOBS SPIEL erinnern anein Computerspiel, der Held muss einzelne Auf-gaben (Levels) lösen und erhält dafür Punkte, jenach Schwierigkeitsgrad. Wo man nun eineAneinanderreihung simpler Action erwartenkönnte, geht Tobias O. Meißner stilistisch undinhaltlich ganz andere Wege. Auf sprachlichhöchstem Niveau – ohne dass die SpracheSelbstzweck ist, sie steht immer im Dienst derGeschichte und ist doch ein Genuss für sichselbst – legt er die Schattenseiten unserer Ge-genwart offen, leuchtet die finsteren Ecken un-serer Gesellschaft aus. Hier gibt es keine heileWelt, in die die Dämonen aus einer fremdenDimension eindringen, sondern das Dunklewird meist aus der Welt geboren, selbstloseFiguren sucht man fast vergebens.

Dabei beobachtet Meißner genau, trifft malmit einer kleinen, scheinbar mühelos formulier-ten Bemerkung exakt ins Schwarze und seziertdann wieder über mehrere Sätze hinweg eineFigur und ihr Verhalten. Besonderes Augenmerkliegt dabei natürlich auf der Hauptfigur Hiob;einen Helden mag man ihn nicht nennen. Stär-ker noch als im ersten Band werden seine Ge-fühle und Gedanken dargelegt, die Entwick-lung, die er im Lauf des Spiels durchmacht, sei-ne Bereitschaft, (mehr oder weniger) Unschul-

dige sterben zu lassen oder zu töten, sofern esdem Ziel dient, das Spiel zu gewinnen. Und dasBuch fragt zugleich: Ist das der Weg in eine bes-sere Welt?

Die HIOBS SPIEL-Bände tragen zurecht die War-nung »explicit lyrics« auf dem Cover. Doch es sindnicht Worte wie »Scheiße« oder »Schwanz«, vordenen gewarnt werden muss, sondern der ab-gründige, albtraumhafte Inhalt, den die Wortetransportieren. Der außergewöhnlich, abwechs-lungsreich und einfach brillant gestaltete undgesetzte Roman ist wahrlich das Gegenteil vondem, was sonst als »leichte Kost« bezeichnet wird– er ist gewichtig. Wenn Traumtänzer auch immerwieder humorvoller als der erste Band von HIOBSSPIEL daherkommt, so ist er dennoch dunkel,dicht, intensiv und aufwühlend. Ein außerge-wöhnliches, zorniges Meisterwerk, zugleich Gen-re- und Gegenwartsliteratur.

• Boris Koch

Eichborn (Berlin, 2006) |

Pappband, 411 Seiten |Titelbild von Reinhard Kleist

2 5 6 P A N D O R A · S C I E N C E F I C T I O N & F A N TA S Y · F R Ü H J A H R 2 0 0 7

vorschauIn der zweiten Ausgabe von PANDORA erwarten Sie

die Erzählungen

ted chiang · Die Wahrheit vor Augen: Eine Dokumentationtim powers · Hügelabwärtsleigh brackett & edmond hamilton ·

Stark und die Sternenkönigetobias o. meißner · Der Tag am Uferkelly link · Verschwindezauberjustina robson · Einsame Inselelizabeth a. lynn · Der Silberdrache

und viele weitere!

Darüber hinaus Essays von Stephen Baxter, John Clute,

Patrick Charles, Markolf Hoffmann, S. T. Joshi,

Hardy Kettlitz, Adam Roberts, Jakob Schmidt, Dave Truesdale

und anderen; sowie ein umfangreicher Rezensionsteil.

PANDORA 2 erscheint im September 2007.

Impressum

1. Jahrgang, Frühjahr 2007

Redaktion Hannes Riffel (V.i.S.d.P.) | Jakob SchmidtMitarbeiter Frank A. Dudley | Bernhard Kempen | Sara RiffelBeirat John Clute | Hardy KettlitzKorrektur Uwe SchlegelLayout & Satz Hardy KettlitzDruck FINIDIR s.r.o.Anzeigen Hannes RiffelVertrieb Ronald Hoppe

PANDORA erscheint zweimal jährlich,jeweils im März und im September.

Preise (Inland)Einzelausgabe EUR 14,90Jahresabonnement (zwei Ausgaben) EUR 20,00[Versandkostenfreie Lieferung innerhalb Deutschlands abeinem Bestellwert von EUR 12,00 | Versandkostenfreie Liefe-rung innerhalb der EU und in die Schweiz ab einem Bestell-wert von EUR 20,00 | Darunter berechnen wir eine Versand-kostenpauschale von EUR 3,00 | Bei Bestellungen aus demübrigen Ausland erfragen Sie bitte die Versandkosten.]

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