Tagebuch einer Genesung

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Buch-Exposé 32.000 Zeichen, 03.10.2010 Das Buchmanuskript hat insgesamt ca. 170 Seiten Ronald Engert, Wriezenerstr. 38, 13359 Berlin Tel. 0177-8485810, [email protected] Blog: http://ronaldengert.wordpress.com Ronald Engert Schön, dass es mich gibt Tagebuch einer Genesung Zum Buch Bei dem Buch handelt es sich um die Tagebuch-Aufzeichnungen einer stationären Therapie in der psychosomatischen Klinik Bad Herrenalb. Diese Klinik vertritt einen ganzheitlichen Ansatz. Es ist ein sehr persönlicher Bericht über Schmerz, Angst, Wut und Heilung. Die Tagebuchaufzeichnungen sind unverändert wiedergegeben, manchmal fast roh, aber sehr authentisch und direkt. Dazwischen sind Anmerkungen aus späterer Zeit eingefügt, als Erläuterung und als Metaebene der übergeordneten psychischen und spirituellen Zusammenhänge. Die therapeutischen Ereignisse steigern sich bis zu einem Höhepunkt und kulminieren in einer Grenzerfahrung, die die emotionalen Abwehrstrategien der Hauptperson zum Zusammenbruch bringt. Darauf folgt ein spirituelles Erwachen. Im folgenden das Vorwort von Dr. Dr. Klaus von Ploetz und ein Auszug aus dem Buch. »Ein gefährlicher Bericht! Ein Spiegel! Lesen Sie es nur, wenn Sie bereit sind, einen Blick auf Ihre eigenen Geheimnisse werfen zu müssen. Nichts für gemütliche Stündchen am Ofen. Sie öffnen das Buch und begnen sich selbst und werden nach dem Lesen nicht der Gleiche sein wie vorher – und schlimmstenfalls eine unbändige Sehnsucht nach Weite, Luft, Liebe und Befreiung verspüren!« Gabi Happe, Ufa-Fabrik, Berlin 1

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"Schön, dass es mich gibt" - Tagebuchaufzeichnungen einer ganzheitlich-emotionalen Therapie in der Klinik Bad Herrenalb

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Page 1: Tagebuch einer Genesung

Buch-Exposé

32.000 Zeichen, 03.10.2010Das Buchmanuskript hat insgesamt ca. 170 SeitenRonald Engert, Wriezenerstr. 38, 13359 BerlinTel. 0177-8485810, [email protected]: http://ronaldengert.wordpress.com

Ronald Engert

Schön, dass es mich gibtTagebuch einer Genesung

Zum Buch

Bei dem Buch handelt es sich um die Tagebuch-Aufzeichnungen einer stationären Therapie in der psychosomatischen Klinik Bad Herrenalb. Diese Klinik vertritt einen ganzheitlichen Ansatz. Es ist ein sehr persönlicher Bericht über Schmerz, Angst, Wut und Heilung. Die Tagebuchaufzeichnungen sind unverändert wiedergegeben, manchmal fast roh, aber sehr authentisch und direkt. Dazwischen sind Anmerkungen aus späterer Zeit eingefügt, als Erläuterung und als Metaebene der übergeordneten psychischen und spirituellen Zusammenhänge.Die therapeutischen Ereignisse steigern sich bis zu einem Höhepunkt und kulminieren in einer Grenzerfahrung, die die emotionalen Abwehrstrategien der Hauptperson zum Zusammenbruch bringt. Darauf folgt ein spirituelles Erwachen.Im folgenden das Vorwort von Dr. Dr. Klaus von Ploetz und ein Auszug aus dem Buch.

»Ein gefährlicher Bericht! Ein Spiegel! Lesen Sie es nur, wenn Sie bereit sind, einen Blick auf Ihre eigenen Geheimnisse werfen zu müssen. Nichts für gemütliche Stündchen am Ofen. Sie öffnen das Buch und begnen sich selbst und werden nach dem Lesen nicht der Gleiche sein wie vorher – und schlimmstenfalls eine unbändige Sehnsucht nach Weite, Luft, Liebe und Befreiung verspüren!«Gabi Happe, Ufa-Fabrik, Berlin

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Vorwort von Dr. Dr. Klaus von PloetzChefarzt in der Klinik Bad Herrenalb

Die stationäre Psychotherapie der Klinik Bad Herrenalb ist von vielen ehemaligen Patienten der Klinik rückblickend eine Lebensschule genannt worden. Lebensschule ist hier als die Möglichkeit gemeint, in einer vollkommen anderen Form, als das die übliche sprechende Psychotherapie eigentlich vorsieht, einen neuen Weg zu sich selber zu finden. Die meisten Menschen haben Schubladen voll mit Wünschen nach persönlicher Änderung, ohne dass diese Änderung bisher eintreten konnte.

Wie in der Schule bedeutet dies, wenn wir nicht lernen mit dem Leben anders umzugehen, bleiben wir sitzen. Wenn wir nicht gelernt haben Beziehungen zu schützen und uns einzulassen, mag zwar jede Scheidung uns vorgaukeln, mit einer neuen Liebe beginne ein neues Glück, aber das weitere wird zeigen, ewige Wiederkehr des gleichen Musters und der gleichen Schwierigkeiten.

Entgegen dem Programm von über hundert psychosomatischen Kliniken in Deutschland setzt die Herrenalber Klinik vermehrt auf menschliche Begegnung, nicht auf das Auswendiglernen von pathologischen Geschichten, die selber wieder Kontrolle über diese Menschen erreichen und die man nur angeblich in Einzelgesprächen wieder loswerden könnte.

Die erste Klasse in dieser »Schule« bedeutet, das eigene Bindungskonzept zu erfahren. Bindung bedeutet hier meine Möglichkeiten, mich auf Menschen einzulassen und sie in aller Offenheit zu erfahren. Eine gute Bindung gibt mir Stand in der Welt und meine Neugier auf Menschen zurück. Mit dieser sicheren Bindung gebe ich mir die Freiheit zurück, es mit dem Leben anders aufzunehmen. Wenn ich mir jetzt die Hand eines Menschen nehme, meldet mir mein ganzer Körper meine Einstellung zu emotionaler Offenheit und körperlicher Nähe zurück. Mein Misstrauen und meine Angst können in der Berührung aber auch mein eingeschränktes Bindungskonzept akut alarmieren. Die alten Muster werden nicht so schnell weichen und oft wird es erst möglich sein, von diesem alten Muster loszukommen, wenn ich kapituliere, wie dies der erste Schritt im 12 Schritte-Programm beschreibt.

Oft aber ist neben der Angst und dem Misstrauen auch eine Sehnsucht nach einem anderen Leben spürbar. Wenn es gelingt, dieses Grundbedürfnis nach Bindung, emotionaler Offenheit und körperlicher Nähe zu stillen, kann die nächste Klasse beginnen.

In der zweiten Klasse geht es darum, mit diesem neuen Verhältnis zu Dir und anderen Menschen die alten Geschichten anzugehen. Viele von uns haben ihr altes Kopfkino, ihre Videoclips über all die erfahrenen Verletzungen und Zurückweisungen in ihren Köpfen und Herzen. Immer wieder sehen sie die alten Situationen, erleben die alten Gefühle. Da es immer wieder die alten Gefühle sind, die auftauchen, könnte man sie auch wiederholte Gefühle nennen. So als ob Du einen Knopf hättest, den Du nur zu drücken bräuchtest, mit dem Ergebnis, alles ist von neuem da. So als ob Du es von neuem erlebst. Diese Geschichten beginnen Dich zu kontrollieren, aber Du bist es, der diesen Knopf drückt. Diese alten Filme enden damit, dass Du Dich schlecht fühlst, Du bist unschuldig und wehrlos. Da Du der Regisseur dieser Filme bist, ist die Tendenz gegeben, diesen Film noch dramatischer und krasser zu schneiden, mit dem Ergebnis Selbstmitleid mit Dir selber und Deinem Leben zu bekommen. Dir entgeht zunehmend, dass es eventuell auch einen eigenen Anteil in diesen Geschichten geben könnte.

Der vierte Schritt im 12 Schritte-Programm lädt Dich ein, durch eine Inventur Deine Ressentiments, Deine Wiedergefühle, den Blick und die Gefühle überhaupt freizubekommen. In einer anderen Art, mit diesen Verletzungen umzugehen und sie auch loslassen zu können. Du erfährst von Deinen Grundbedürfnissen nach emotionaler Offenheit und körperlicher Nähe, von Deinem Grundbedürfnis nach Sicherheit und auch nach Selbstachtung. Vor allem erfährst Du auch von Deinem Grundbedürfnis nach Achtsamkeit und Spiritualität. Erst wenn Du Dich in diesem Erwachen zu einer neuen Ganzheit erleben kannst, wird es Dir gelingen, im

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Heute zu leben. Dein Leben lässt sich nur durch den Augenblick leben, nicht durch eine schmerzliche Vergangenheit und eine sorgenvolle Zukunft.

Genau dies ist mit Ronald in der Klinik Bad Herrenalb passiert. Er hatte die Gelegenheit in der Klinik Bad Herrenalb zu einer neuen Einstellung, »Es ist schön. Dass es mich gibt«, aufzuwachen. Dieser Satz war ihm kognitiv lange bekannt, aber er brauchte dafür einen Ort und auch eine Gelegenheit, dies auch in allen Körperzellen als Genesung erleben zu können. Dieses kleine Geheimnis seiner Genesung hat er mit diesem Buch vor all unsere Sinne gelegt.

DAS BUCH (Auszug)

Einführung von Ronald Engert

Dies ist die Tagebuchaufzeichnung meiner stationären Therapie in einer »12 Schritte-Klinik«1. Diese Therapie arbeitet auf der non-verbalen Ebene. Schmerz, Wut und Angst sind Teil meines Lebens. Sie sind Teil meines Selbst. In dieser Therapie lernte ich, in diese Gefühle hineinzugehen und diesen Teil in Liebe anzunehmen. Nur in dieser Annahme kann ich zu emotionaler und spiritueller Reife gelangen.

Die Abspaltung des Egos als schlecht im dualistischen Gegensatz zum idealen Selbst ist die Krankheit. Ich bin dieser Schmerz, diese Wut, diese Angst. Das sind meine Gefühle. Gefühle sind niemals schlecht, Gefühle bringen mich nicht um.

Die Seele hat eine Kraft der Selbstheilung, man kann es auch Verdauung nennen. Die angenommenen und akzeptierten Gefühle können verdaut werden und in Kraft umgewandelt werden. Wie in der richtigen Verdauung wird der nicht weiter brauchbare Rest ausgeschieden. »Open your asshole, the shit must go out«, soll Dr. Walther Lechler, der Begründer des Bad Herrenalber Modells, gesagt haben.

Dieses Buch dient nicht dazu, beim Leser gut anzukommen, sondern dazu, bei mir gut anzukommen. Es ist ein sehr ehrliches und offenes Buch. Ich zeige mich. Meine Hoffnung ist, dass sich meine Leserinnen und Leser gerade deshalb mit meinen Gefühlen und Erfahrungen identifizieren können. Indem sie nämlich das Gleiche bei sich wieder finden. Wir sind alle Menschen, und uns verbindet die menschliche Erfahrung. Wir sind auf der Suche nach uns selbst. Dieses Selbst ist keine ideale Vorstellung, keine Fantasie und kein Traum. Dieses Selbst ist unsere Realität im Hier und Jetzt. Es geht um das reale Selbst, nicht um das ideale Selbst.

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1 Der Begriff »12 Schritte-Klinik« ist ein inoffzieller Begriff, denn die 12 Schritte-Gruppen betreiben keine Kliniken und unterstützen auch keine verwandten Einrichtungen oder außenstehende Unternehmen, noch finanzieren sie solche oder stellen ihren Namen zur Verfügung. Im offiziellen Sinn handelt es sich um eine psychosomatische Klinik. Die Therapie wurde von der Rentenversicherung bezahlt. Die Klinik stellt lediglich Räume für die Meetings der 12 Schritte-Gruppen zur Verfügung. Das 12 Schritte-Programm stellt gleichwohl den spirituellen Hintergrund des Bad Herrenalber Modells dar, des in der Klinik angewendeten Therapieansatzes, der von Dr. Walther Lechler in den 70er Jahren entwickelt wurde. Näheres zu dem 12 Schritte-Programm und zum Bad Herrenalber Modell im Glossar im Anhang.

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Jeder von uns kennt die Gefühle von Schmerz, Angst, Wut, Freude und Liebe. Weil es jedoch in unserer Gesellschaft nicht erwünscht ist, die angeblich negativen Gefühle von Schmerz, Angst und Wut zu zeigen, verdrängen wir sie. Dadurch werden wir krank.

Mein Weg durch diese Therapie brachte mich in Kontakt mit meinen Gefühlen. Ich wusste bis dahin nicht, was es heißt zu fühlen, wirklich zu fühlen. Ich konnte denken, und ich konnte über meine Gefühle nachdenken, das heißt ich konnte denken, ich würde fühlen. Aber alle diese gedachten Gefühle waren Gedanken. In die Welt der Gefühle einzutauchen und den Unterschied zum Denken zu erfahren und zu spüren, ist für mich eine ganz neue Welt. Dies ist wirklich der Austritt aus dem Bereich des Denkens. Der Unterschied zwischen Denken und Fühlen ist von grundsätzlicher Natur. Beides hat seine Berechtigung, aber sehr oft geschieht es, dass das Fühlen unterdrückt wird. Immer dann, wenn uns als Kind das Fühlen zu schmerzhaft geworden wäre, fingen wir an, die Gefühle zu unterdrücken, indem wir in strategische Konzepte des Denkens, der krankhaften Abgrenzung oder Entgrenzung, der Erstarrung und Isolation gingen.

Das Fühlen ist jedoch für das menschliche Lebewesen so essenziell wie das Wasser. Das Gefühl drückt unsere vitalsten Lebensprozesse aus. Es verbindet unserem Körper mit unserer Seele und weist darauf hin, dass wir ein ganzheitliches Wesen sind, dessen vollständiger Wirklichkeit eine Spaltung in Körper, Geist und Seele nicht gerecht wird. Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile, denn es ist ein eigenes und eigenständiges Ding. Das Fühlen stellt die Verbindung zur Außenwelt wie auch zur inneren Welt dar.

Das Gefühl der Angst entsteht, wenn eine reale Gefahr droht, dass uns etwas verletzt und Schmerz bereitet. Wut und Angst sind die beiden primären Gefühle, die in einer Situation von Gefahr oder Bedrohung unmittelbar auftreten. Das Leben ist nicht von diesen Gefühlen zu trennen, und wenn wir uns von diesen Gefühlen trennen, trennen wir uns von unserem Leben. So werden wir zu gefühlskalten, leblosen Maschinen, die funktionieren, die arbeiten gehen können, die lächeln können, die sogar in Beziehungen erfolgreich sein können, aber dies sind alles nur Fassaden, Gesichter, die wir zeigen, die aber nicht unserer inneren Wahrheit entsprechen. Im Inneren fühlen wir uns leer, hoffnungslos, sinnlos. Wir leiden ein stilles und zähes Leiden, oft, ohne es zu merken.

Die Befreiung und Erlösung von Leiden und Depression geschieht dann, wenn wir den Zugang zu diesen verschütteten und verdrängten Gefühlen wieder finden und sie ehrlich ausdrücken. Dann kann die Energie wieder fließen, denn die Blockaden werden aufgehoben. Dieser Prozess verläuft jedoch nicht über das Denken. Wir können darüber nachdenken, wie auch dieser Text, den ich gerade schreibe, den Versuch darstellt, das, was wirkt, bewusst zu machen und zu beschreiben. Ich be-schreibe, was auf der Gefühlsebene passiert. Das ist der wahre Sinn des Schreibens wie auch des Sprechens. Hier ist die Sprache an ihrem Ort. Sie reicht ins Denken und ins Fühlen, in unserer Kultur meist überwiegend ins Denken. Nicht ersetzen kann sie die non-verbale Erfahrung, die in der Bonding-Therapie gemacht wird.

In der Gruppensituation, in der therapeutischen Gemeinschaft mit vielen Menschen und in den Paarübungen wie dem Bonding oder der Körpergestalttherapie laufen die emotionalen Prozesse von selbst ab. Wir gehen in Beziehung zu einem anderen Menschen oder zu einer Gruppe von Menschen und erleben hier das ganze Spektrum der Gefühle. Auch die dysfunktionalen Symptome treten hier unmittelbar an die Oberfläche. Im Kontakt mit anderen Menschen, auch und gerade im körperlichen Kontakt, werden die Gefühle ausgelöst. Der Sinn des menschlichen Lebens und der Kern unseres spirituellen Wesens ist das Gefühl. Wir suchen nach Frieden, Glück,

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Selbstverwirklichung und vor allem nach Liebe. Dies sind Gefühle. Auch unsere Beziehung zu Gott, wie wir ihn verstehen, ist entweder eine gefühlte oder sie existiert nicht. Wenn wir jedoch unsere ungeliebten Gefühle der Angst, des Schmerzes und der Wut ablehnen, bezahlen wir einen hohen Preis, denn dann verlieren wir auch den Zugang zu Glück, Freude und Liebe.

Die Menschen hier im Westen haben die Tendenz, im Denken zu verweilen und ihre Gefühle zu vermeiden. Sie definieren sich im und über das Denken. Ihr Leben spielt sich weitestgehend im Denken ab, ihre Entscheidungen, Handlungen und Strategien resultieren aus dem Denken. In der Abspaltung von den Gefühlen wird das Leben jedoch krank und zu einem Siechtum. Siechtum führt zu Sucht, und so ist unsere Gesellschaft zu einer süchtigen Gesellschaft geworden.

AUS DEM TEXT

Mittwoch, 27.5., 18:30 Uhr:Heute Morgen habe ich kapituliert. Ich erkannte, dass ich die Droge im Kopf habe. Es ist mein kritisches Denken. Das ist wie Tablettensucht. Für jeden Fall habe ich die richtige Tablette in meinem Kopf. Um meine Schuld, meinen Fehler weg zu machen. Ich kann ja so gut denken. Ich kann mir wirklich alles zurechtlegen. Das ist wie eine ganze Apotheke.

Gestern Abend auf der Fahrt zurück vom NA-Meeting in Karlsruhe habe ich mir alles zurechtgelegt. Warum ich im Recht bin. Warum ich wütend bin. Welche Bedürfnisse ich habe. Siehe den Eintrag oben. Ich halte mich jetzt nicht mehr an die Regeln, gehe nie mehr zur Meditation und Frühsport und überhaupt: ich mache, was ich will. Sitze die Zeit noch ab, damit ich keine Reha-Sperre bekomme, aber ich bin alleine, gegen den Rest der Welt. Meine GfK-Bitte war eher eine Waffe: Doris soll mir doch mal erklären, warum Sibylle sich nicht an die Regeln halten muss und was überhaupt ihr Therapieerfolg war. Das war natürlich eine rhetorische Frage, denn Professor Ron wusste ja schon, es gibt keinen. Usw. usw.

Ich wachte heute Morgen um 3:30 Uhr auf. Ich war verzweifelt und aufgelöst. Ich suchte nach Frieden und Gelassenheit. Da begann ich, den Fall mit Sibylle in Form einer moralischen Inventur meinerseits durchzugehen. Ich war ja für mich. Es kriegte ja keiner mit. Also beschloss ich, die unerhörte Frage zu stellen, was denn mein Fehler an der Sache war.

Es fiel mir schwer. Ok. Ich habe das im Aufzug zu Sibylle gesagt: »Musst du wegen einem Stockwerk den Aufzug nehmen?« War das der Anfang, der Auslöser? Ja. Was habe ich da getan, was Unrecht war? Ich habe Sibylle negativ bewertet (sie schwänzt eh alles und macht keine Therapie), Du-Botschaft, Wolfs-Sprache. Ich habe sie auch verachtet, weil sie fett ist. Ich bewertete die Tage zuvor praktisch alle negativ. Das ist mein Hochmut. Hochmut kommt vor dem Fall. Ich war hochmütig. Wer hochmütig ist, wird gedemütigt.

Jetzt bin ich demütig, heute. Lieber Gott, gib mir Demut, nur für heute. Hochmut: vergleiche den Eintrag zur Herberge der Kunst: »meine Leute«. Das ist leider elitär. Mit dieser Inventur erkannte ich die Droge: mein Denken. Ich habe einen Fehler gemacht, ich habe mir eine Schuld aufgeladen. Aber mein multidimensionales Denken fand die erlesensten Argumente, Versteckspiel, Tarnung, Ablenkung, Leugnung, Rationalisierung, Opferhaltung, moralische Überlegenheit. Lauter nette bunte Pillen. Einfach einwerfen, intra-psychisch, und den Schmerz der Schuld nicht mehr spüren. Der Preis: Isolation, Krieg, Entfremdung, Grollsucht.

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Ich war verzweifelt. Ich hatte eine Seite bei Lechler gelesen, unsere Schuld.2 Ich konnte nicht mehr weiter lesen. Ich griff zum ersten Mal hier zur Bibel. Ich ließ die Seiten durch die Finger schnellen, spürte genau hin und schlug eine Seite auf und deutete mit dem Finger ohne hinzuschauen auf eine Stelle: Johannes 8, 8: »… und bückte sich wieder nieder und schrieb auf die Erde.« Was schrieb er? Johannes 8, 7: »Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.«

Wow, das passte. Meine Bewertung der Menschen. Diese Bewertungen sind die Steine. Und ich begann früh, Steine zu werfen. Echte Steine in meiner Zeit als Autonomer.

So fing das an. Das wurde mir klar. Die politischen Lager propagieren die Bewertung und machen daraus ihre Erklärung der Welt. Ich lernte die Bewertung. Es ist meine Schuld, dass ich es tat. Aber ich bin nicht alleine. Es ist eine Kollektivsünde, eine Erbsünde. Warum schrieb Jesus mit dem Finger auf den Boden? Ist doch eine krasse Frage. Vielleicht soll es heißen, schreibe es auf.

Ich machte den vierten Schritt und den ersten, ich kapitulierte.3 Ich ging auf die Knie. Ich weinte.(Anmerkung August 2010: Dieser Prozess ging ca. zwei Stunden, von 3.30-5.30 Uhr in der Früh.

Ich weinte, ich war verzweifelt, ich war völlig aufgelöst. Es war der intensivste Prozess der ganzen Therapie. Der 4. Schritt, die »furchtlose moralische Inventur« brachte mich an den Punkt, wo ich meine Fehler sehen konnte. Sich diese Fehler einzugestehen ist sehr schmerzhaft. Mir einzugestehen, dass ich selbst mich falsch verhalten und egoistisch gedacht habe, dass ich selbst mich entschuldigen muss, dass ich selbst im Irrtum war, ist demütigend. Aber genau das ist der Lernschritt. Es ist demütigend, weil ich hochmütig bin, weil ich stolz bin. Aber für den anderen ist es berührend und erlösend, wenn sich jemand entschuldigt bzw. um Entschuldigung bittet. Da entsteht Mitgefühl und Berührung. Um Entschuldigung zu bitten bedeutet, sich verletztbar zu machen. Sich auszuliefern. Aber genau da ist Berührung und Liebe möglich. Ohne das, solange ich auf meinem Recht beharre und stur bleibe, gibt es nur Isolation und Entfremdung.)

Um 5:30 Uhr ging ich zur Waschmaschine und holte meine Wäsche. Auf dem Rückweg begegnete ich Doris. Sie pflaumte mich wieder an und schaut böse, weil ich ihr auf der Treppe zu wenig Raum ließ.

(Anmerkung August 2010: Doris sagte, ich hätte sie gerade abgedrängt und ob ich das nicht gemerkt hätte. Ich verneinte. Sie erwiderte, ich solle mir das mal anschauen, das könne der Grund dafür sein, warum ich bei diesen Frauen in Konflikte gerate. Ich war geschockt. Das war gerade noch ein Schlag ins Kontor. Bin ich denn ein Arschloch? Aber ich war schon weich genug, es anzunehmen.)

Ich hätte im Normalfall böse zurück geschaut. Doch ich dankte ihr und war echt dankbar. Ich lächelte ihr zu, mit Augen von echter Demut und Vergebung. Ich sah ihre ernste Miene, ihre Härte und Auszehrung. Ihren Schmerz und ihren Dienst für mich. Ihr Bemühen und ihren Ernst. Ihr Ringen um die Wahrheit. Ich war in Demut und blickte ihr in die Augen und lächelte. Ich glaube, es verwirrte sie. Diese Reaktion war möglicherweise unerwartet für sie. Ja, ich nahm zu viel Raum ein auf der Treppe und merkte nicht, wie ich sie abdrängte. Vielleicht war es das, was mit Sibylle passiert ist. Dann wäre das noch ein Charakterfehler von mir.

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2 »Schuld! Sie muss akzeptieren, dass sie Schuld auf sich geladen hat und dass dadurch ein Teil ihres Schmerzes verursacht wurde. Sie muss der Tatsache ins Auge sehen, dass sie während ihrer Schwangerschaften Tabletten genommen hat. Das ist ein Schritt, den Jackie tun muss. Sie muss sich über die ganze Tragweite ihres Tablettenmissbrauchs klar werden und über die Rolle, die ihre Sucht in ihrem Leben gespielt hat. Dann muss sie es beiseite schieben und etwas tun, was ihr noch schwerer fällt. Sie muss sich selbst vergeben. Das fällt den Menschen unendlich schwer. Wir können uns nur selbst vergeben, wenn wir voll zu dem stehen, was wir getan haben. Es ist hart, aber sie muss es tun, oder sie wird daran zu Grunde gehen.« (Lair/Lechler, S. 273)

3 1. Schritt: »Wir gaben zu, dass wir unserer Sucht gegenüber machtlos waren und unser Leben nicht mehr meistern konnten.« 4. Schritt: »Wir machten eine erforschende und furchtlose moralische Inventur von uns selbst.« Siehe auch Glossar.

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Ich duschte und ging zur Meditation. Es war seltsam. Das Hingehen fiel mir sehr schwer. Nach zwei Tagen Aussetzen. Aber es wurde höchste Zeit, wieder in die Gemeinschaft zu gehen, um nicht für immer draußen zu bleiben.

Es fühlte sich gut an. Frisch, hell, ruhig. Ich saß entspannt. Ich weinte. Ich betete still das Vaterunser. Das hatte ich oben schon in der Kapitulation gebetet. Es war so intensiv. Jeder Vers war echt, so gemeint, gefühlt. Vergib mir meine Schuld … Walther Lechler schreibt, das Schwerste ist, uns selbst zu vergeben. Ja, das ist so. Ich vergebe mir selbst. Gott vergibt mir auch.

Den Spaziergang machte ich mit Veit, mit einem Mann. Das Handhalten war angenehm. Nicht so heiß wie mit den Frauen.

Dann Kerngruppe mit Doris. Es ging um meine Arbeit. Ich kam gut mit Doris klar. Sie ist halt sehr genau. Da hat sie Recht. Sie lässt keine schrägen Interaktionen zu, und es gibt viele schräge Interaktionen. Jemanden übersehen, überhören, missverstehen, nicht verstehen, an jemandem vorbei reden, unterbrechen, Widerstand, Attacken, reden über Dritte, Du-Botschaften, Wolfssprache, nicht um Erlaubnis fragen.

Nach dem Mittagessen rief sie mich an. Ich solle nochmal runterkommen. Sie sprach mich auf meine Sexualität an. Wie die bei mir sei. Worauf sie hinaus folgte: sie ist bei mir negativ besetzt. Was mit meinem Vater sei? Er war emotional abwesend. Ich musste weinen. Ich spürte den Schmerz. Es war echt. Es war der Kammerton A. Ja, meine Sexualität ist total negativ besetzt. Mir wurde das Ausmaß klar an dem Schmerz und den Tränen, die dabei hoch kamen. Ich hatte das die ganze Zeit bagatellisiert, so hingenommen, als gemütliches Elend. Es war mir nicht klar, welche verheerenden Folgen das hat. Die Ablehnung durch die Frauen in der Vollversammlung hat hier ihre Ursache.

Übrigens hatte ich Mittagessen mit Naomi. Das war auch eine tolle Rückmeldung. Ich stand in der Schlange vor ihr. Wir unterhielten uns und ich bat sie um Rückmeldung. Sie fragte dann, ob wir zusammen essen und wir taten das. Ihr Fazit: Ich fahre auf diese weichen, verletzten Frauen ab. Will sie retten. Ich stoße auf Ablehnung. Dadurch werde ich böse und verhalte mich dann wie ein Täter. Das macht den Frauen Angst. Sie fühlen sich bedroht. Meine Co-Abhängigkeit macht mich zum mitfühlenden Retter, der aber dafür Zuwendung will. Und ich ende als bedrohlicher Täter. Das konnte ich auch an die Therapeuten Doris und Klaus weitergeben, die das wohl nachvollziehen konnten. Ich hatte nämlich kurz danach noch einen Termin bei Klaus. Haben die gewollt. Das war auch stark.

Klaus befragte mich auch noch mal zu meiner Sexualität. Er nahm mir dann wohl die negative Besetzung. Er fragte mich, was mein Therapieziel sei, welche Einstellsätze ich hätte. Dann machte er die Trauma-Arbeit mit dem Klopfen etc. Ich darf eine Erektion haben. Das ist meine Männlichkeit. Das ist gut so. Ich darf Sexualität erleben, denn das bedeutet es, Mann zu sein. Sex ist gut!!! Ich habe nach dem Termin im Zimmer meinen Brief an meine Mutter geschrieben: Ich liebe es, mit Frauen Sex zu machen, ihre Brüste zu streicheln, ihre Muschi usw. Dann habe ich onaniert und mein Glied fotografiert und gefilmt. Als ein Feiern meiner Männlichkeit. Schau her, wie potent ich bin! Schau, mein Penis! Der ist schön und stark. O Mann, tut das gut.

(Anmerkung: Jetzt, fünf Monate später, spüre ich wieder, oder immer noch diese Scham und Angst. Es sind immer noch Teile einer negativen Besetzung meine Sexualität vorhanden. Ich schäme mich, das zu schreiben.)

Die Trauma-Arbeit: die wunde Stelle »Teich des Himmels«. Mein Satz: »Ich habe Schwierigkeiten mit meiner Sexualität, und nehme mich dennoch ganz und liebevoll an.«

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Ich war heute so rücksichtsvoll, so demütig, so bescheiden, einfach und rein. Ich nahm den Satz meiner Mutter wieder an mich, auf einer neuen Ebene. Ja, sie wollte und tat das Beste, was sie konnte.

Ich war heute wertfrei. Ich fragte anständig. An Karin: »Darf ich dich was fragen?« an Isabel: »Darf ich fragen, welche Aufgabe du von Doris bekommen hast?« Das ist respektvoll.

Ich war wertfrei, gelöst und freundlich. Ich konnte jeden sehen. Ich sehe ihre Augen, ihr Lachen. Ich höre ihre Worte. Ich spüre ihr Leben. Jeder ist ok, ich bin ok. O Mann, tut das gut. Bitte, Höhere Macht, vergib mir und lass mich für immer in diesem Sehen sein. Nicht denken, sondern sehen. Das ist verschieden. Völlig verschieden.

Sehen ist wertfrei. Sehen, was ist. Da wird jeder Mensch wertvoll und zugleich tritt er nicht mehr als zu bewertender in Szene. Es ist egal, mit wem ich rede. Mit wem ich gehe. Jeder ist gleich. Und paradoxerweise wird er dadurch einzigartig und erkennbar, als der, der ist. In der Bewertung sind es nur Projektionen, elendig. Der Mensch ist. Punkt.

Ich lasse los. Ich warte und lasse ES kommen. Ich bin. Ich muss nichts tun.Bei Naomi: Ich versuchte nicht, das Gespräch in Gang zu halten. Ist nicht mein Problem. Und sie

kam mit ihrem Anliegen raus. Nach einer Weile. Sie kann gut für sich selber sorgen. Sie kann sich melden. Ich muss sie nicht retten. Ich bleibe bei mir. Wenn sie will, bleibt sie. Egal, was ich tue. Ich muss nichts tun, um geliebt zu werden. Ich kann auch nichts tun, um geliebt zu werden. Ich tue einfach, was ich will.

Die Begegnungen: Wie Fügungen, wie ineinander greifende Zahnräder.Dass Power-Walking mit Birgit, Carla und der Berlinerin. Sie sind einfach. Ich sah sie, ich hörte

sie. Ich weiß nicht, wie das geschah. Das ist Higher Power. Ich redete zwanglos. Es war interessant, nichts Weltbewegendes. Es ging um die Regelmäßigkeit ihrer Mahlzeiten zu Hause, zum Beispiel.

Das Schritte-Meeting um 16:00 Uhr. Ich hörte die Frauen, sah sie, ohne Bewertung, ohne Kritisieren. Oder: vollwertig. Ich hörte ihre Fragen und ich war präsent. Es war so gut.

Abendessen bei Tisch: Im Gespräch mit Isabel und Stefanie sagte ich: ich ging durch die Hölle, durch das Inferno (Montag und Dienstag). Es war Tod und Wiedergeburt. Der schamanische Tod.

Heute Morgen in der Kerngruppe. Ich: »Ich habe Angst vor Verletzungen und Lieblosigkeit. Ich brauche liebevollen Rücksicht und achtsame Unterstützung.« Doris: »Möchtest du mal fragen, ob dich in der Gruppe jemand unterstützen möchte?« Ich fragte die Gruppe und alle meldeten sich!

Ich traf nach Doris oben Carola, die Chefsekretärin, im Flur. Sie fragte mich, wie es mir geht. Ich sagte: »Schlecht, ich wäre am liebsten nicht hier.« Sie sagte: »Mir geht es auch so.« Das überraschte mich. Zu dem Zeitpunkt war ich noch nicht erlöst.

Die Erlösung kam mit Klaus. Erstaunlicherweise. Vielleicht auch ein Stück weit mit dem Schreiben des Briefes.

Der Anfang war im NA-Meeting. Die Broschüre (der Taschen-Sponsor Nr. 2) mit dem Eigenbericht über den 4. Schritt. Da kam mir die Idee, den 4. Schritt dazu zu machen. Hier heute Morgen nach dem Frühstück mit Stefanie machte ich den 5. Schritt. Heute Nachmittag mit Theresa machte ich den 9. Schritt. (Anmerkung: Mit Theresa fing alles an, siehe den Eintrag vom 21.4.2009) Jetzt bin ich wieder ganz selig. Heute Morgen um 4:00 Uhr dachte ich, ich bin tot. Gestern und vorgestern auch. Ich war total erschüttert. Aber seltsamerweise war ich keinen einzigen Moment depressiv. Der Schmerz, die Wut, die Verzweiflung, die Ohnmacht, die Irritationen waren voll da, aber ich war immer gefasst, bei mir. Ich ging ganz langsam. Ich saß irgendwo, ganz lange, ohne etwas zu tun. Ich nahm es hin und nahm alles an, sogar meinen Widerstand.

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Ich hatte kapituliert. Ich habe kapituliert. Ich habe aufgegeben. Ich habe surrendert. Jetzt bin ich weich, fließend, rücksichtsvoller, gehe aus mir raus, gehe zum Gegenüber, zu seinen Sorgen und Schmerzen. Und zu seinen Freuden.

Oh bitte Gott, lasse es so bleiben! Bitte!

Sonntag, 31.5., 22:00 UhrMein Trockenrausch: Ich schimpfe auf die Köche, weil diese Idioten keine anständige vegetarische Küche hinkriegen. Aber ich vergesse dabei, dass es meine Entscheidung ist, vegetarisch zu leben. Ich habe das entschieden, nicht die Köche. Ich setze Bedingungen und dann verurteile ich andere Leute dafür, dass sie sie nicht einhalten. Sie können aber gar nichts dafür. Das richtige Gefühl wäre Dankbarkeit.

Meine Erleuchtung:Seit Freitag sind die ehemaligen Patienten in Bad Herrenalb zum Pfingsttreffen. Gestern und

heute war viel Programm und überall sind die Ehemaligen, im Speisesaal, im Foyer, in den Meetings, im Kurhaus, in der Stadt, in der evangelischen Akademie.

Und es geht! Ich kann sie SEHEN! Ich bewerte sie nicht, ich verurteile sie nicht. Ich werfe keine Steine. Ich liebe sie. Ich sehe das Äußere nicht mehr, wie alt oder dick oder hässlich sie sind, wie ihre Kleidung oder ihre Erscheinung ist. Es sind alles Menschen, sie sind alle berechtigt. Ich sehe in die Augen, sehe die Freude und die Sorgen und ihr Bedürfnis angenommen zu werden, wie auch ich angenommen werden will. Ich will geliebt werden. Und alle anderen wollen auch geliebt werden. Also liebe ich sie und werde dafür von ihnen geliebt. Dann fließt die Beziehung. Ich muss niemanden beurteilen, ich kann sie alle so nehmen, wie sie sind. Kann mit ihnen reden und lachen.

Was ist passiert?Seit der Kapitulation am Mittwochmorgen vor meiner Bewertungssucht, meinem Trockenrausch,

geht es. Ich bete jeden Morgen auf den Knien zu Gott. Ich dusche, mach mich schön, zieh mich an und dann kniee ich nieder und bete: »Lieber Gott, vergibt mir und erlöse mich von dem Bösen. Nimmt das Bewerten von mir. Ich will es nicht mehr. Ich vergebe mir selbst und meinen Mitmenschen ebenso. Ich möchte Liebe für alle Menschen. Lasse mich deinen Willen erkennen und gibt mir die Kraft, in auszuführen. Hilf mir! Beschütze mich! Steh mir bei!«

Ich habe viel mit den Ehemaligen geredet und immer gefragt: »Wie ging es euch nach der Therapie? Welche Erfahrungen habt ihr gemacht?« So sind viele schöne, wesentliche Gespräche entstanden.

Ich spüre diese Freude, wenn »die Seelen sich küssen« (Walther Lechler). Ich brauche die menschliche Begegnung. Und ich bin so dankbar, dass ich sie nun zulassen kann. Ich werde reich beschenkt, indem ich alle annehmen kann, ohne Unterscheidung. Nur die alten Mitpatienten, die meine alten Muster noch mitbekommen haben, hadern noch, Rezo z.B.

(…)

Gestern EKS4-Meeting auf dem Pfingsttreffen:Erst kamen meine alten Muster: was für komische, kranke, hässlichen Menschen. Die Muster

sind noch ganz nah. Ich denke sie noch. Aber mir war gleichzeitig bewusst, dass es die kranken Muster der Bewertung sind.

94 EKS: Erwachsene Kinder suchtkranker Eltern, ein 12 Schritte-Programm

Page 10: Tagebuch einer Genesung

Ich blieb offen. Ich sehe das Äußere dann nicht mehr, nur die Seelen, könnte ich vielleicht sagen. Alle teilten. Es war ein starkes, ehrliches Meeting. Ich spürte mehr und mehr Annahme und Liebe in mir. Ich hörte ihre Geschichte, ihre Gefühle, ihr Leiden, EKS – ihre Vergangenheit. Sie wurden zu ganz normalen Menschen, zu Wesen, die Liebe suchen und geliebt werden wollen, die existieren, brauchen und berechtigt sind. Sie haben alles Recht der Welt, meine Liebe zu bekommen, meinen Respekt, meine Achtung und Achtsamkeit. Am Ende umarmten wir uns alle. Alle waren froh und glücklich. Ich hatte mit den Umarmungen begonnen. Eine Frau hatte mich schon vorher ein paar Mal angeschaut (das Frauenthema!) und sie kam dann auch auf mich zu und umarmte mich und schmiegte sich richtig an mich, sie blickte mir dann noch tief in die Augen und hielt meine Hände. Da wäre vielleicht was gegangen. Aber typisch: Sie war nicht mein Beuteschema. Ich hätte sie mir selbst nie ausgesucht. Die Frauen, die ich mir raussuche, wollen mich nicht. Und die, die mich wollen, die gefallen mir nicht. Echt klassisch bekloppt. Anstatt zu nehmen, anstatt mein SEHEN auch darauf auszudehnen.

Da wird mir gerade klar, wie eine gesunde Beziehung anfängt: Ich bin im SEHEN, ich nehme jeden an, sehe jeden mit gleichen Augen. Dann kommt eine Frau. Ich würde nicht im Traum daran denken, diese Frauen als Freundin auszuwählen. Aber durch das wertfreie SEHEN entdecken wir einander die wirklichen uns verbindenden Qualitäten, die ganz überraschend für uns sind. Ohne Kick, ohne Thrill, ohne Suchtdruck, ganz gelassen vertieft sich der Kontakt. Ohne Eile, ohne Gier, ohne Anhaftung, ohne Kopfkino wächst die Beziehung. Und dann, nach etlichen Treffen, guten Erfahrungen, Freundschaft usw. kommt als Krönung die Liebesbeziehung.

Nur eine echte Liebesbeziehung wird diese ganzen Fügungen durchlaufen, die nötig sind, um so weit zu kommen und zusammen zu bleiben. Das kann nur die Höhere Macht arrangieren. Gott vergibt die Beziehungen.

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