Talmudisten vs. Kabbalisten. Der Streit um die Hermeneutik der Gebote im mittelalterlichen...

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 Talmudisten versus Kabbalisten? Der Streit um die Hermeneutik der Gebote im mittelalterlichen Judentum S C (Paris) Seine Geburt war unordentlich, darum liebte er leidenschaftlich Ordnung, das Unverbrüchliche, Gebot und Verbot .  Thomas Mann 1 Glaubt man den ersten christlichen Kabbalisten der Renaissance, kennzeichnet die Dichotomie von Talmudisten und Kabbalisten das Judentum. Die luzidesten  Ausführungen zu diesem Thema, die die Erbschaft von Maimonides und Nach- manides in einem durchaus christlichen Sinne verarbeiten, stammen aus der Feder  von Johannes Reuchlin und wurden von seinen Nachfolgern immer wieder aufge- nommen und weiterentwickelt. In seinem ‚De arte cabalistica‘ (1517 2  ) spricht Reuchlin von zwei Schulen (  facultates  ) im Judentum: Die Talmudisten und die Kabbalisten entsprächen dem Diesseits ( ha-‘olam ha-zeh  ) und dem Jenseits ( ha-olam ha-ba’  ) oder, um die Artikulation des Maimonides zu wiederholen, dem ma‘aseh bereshit (der Naturphilosophie) und dem ma‘aseh merkavah (der Metaphysik), was sich wiederum mit dem herkömmlichen Paar Aktion und Kontemplation decken  würde. Reuchlin übernimmt die Ausführungen des Maimonides 3 und instrumen- talisiert die Parallele zum Wohlergehen des Körper und der Seele, um zu zeigen, daß die Talmudisten sich nur um den Körper kümmern (das ist die Bedeutung der pharisäischen Buchstabentreue der „Juden“) während sich die Kabbalisten vor- rangig der Seele widmen. Dies würde widerum ihren Spiritualismus erklären,den man als quasi-christlich oder mindestens mit dem Christentum nicht inkompatibel beschreiben könne. Die ursprüngliche Alternative zwischen Buchstabe und Geist, oder, wenn man  will, zwischen Hebräern und Juden erhält somit am Anfang der Renaissance eine neue, aber nicht unerwartete Facette. Die Kabbala wird in diesem Zusammen- hang als die Dimension des Judentums gedacht, die von dem Joch des Gesetzes zu befreien und seine Inhalte für das Christentum als unbedenklich assimilierbar 1  Th. Mann, Das Gesetz, Bermann-Fischer Verlag, Stokholm 1944, 9. 2  J. Reuchlin, De arte cabalistica libri tres, Thomas Anshelm, Hagenau 1517, XIVv–XVv. 3 Moreh nevukim 3, 26–27. S 263_278 MM 38 Campanini 04.07.2014 12:15 Uhr Seite 263

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  • Talmudisten versus Kabbalisten? Der Streit um die Hermeneutik der Gebote

    im mittelalterlichen Judentum

    S C (Paris)

    Seine Geburt war unordentlich, darum liebte er leidenschaftlich Ordnung, das Unverbrchliche, Gebot und Verbot.

    Thomas Mann1

    Glaubt man den ersten christlichen Kabbalisten der Renaissance, kennzeichnetdie Dichotomie von Talmudisten und Kabbalisten das Judentum. Die luzidestenAusfhrungen zu diesem Thema, die die Erbschaft von Maimonides und Nach-manides in einem durchaus christlichen Sinne verarbeiten, stammen aus der Federvon Johannes Reuchlin und wurden von seinen Nachfolgern immer wieder aufge-nommen und weiterentwickelt. In seinem De arte cabalistica (15172) sprichtReuchlin von zwei Schulen (facultates) im Judentum: Die Talmudisten und dieKabbalisten entsprchen dem Diesseits (ha-olam ha-zeh) und dem Jenseits (ha-olamha-ba ) oder, um die Artikulation des Maimonides zu wiederholen, dem maasehbereshit (der Naturphilosophie) und dem maaseh merkavah (der Metaphysik), wassich wiederum mit dem herkmmlichen Paar Aktion und Kontemplation deckenwrde. Reuchlin bernimmt die Ausfhrungen des Maimonides3 und instrumen-talisiert die Parallele zum Wohlergehen des Krper und der Seele, um zu zeigen,da die Talmudisten sich nur um den Krper kmmern (das ist die Bedeutung derpharisischen Buchstabentreue der Juden) whrend sich die Kabbalisten vor-rangig der Seele widmen. Dies wrde widerum ihren Spiritualismus erklren, denman als quasi-christlich oder mindestens mit dem Christentum nicht inkompatibelbeschreiben knne.

    Die ursprngliche Alternative zwischen Buchstabe und Geist, oder, wenn manwill, zwischen Hebrern und Juden erhlt somit am Anfang der Renaissance eineneue, aber nicht unerwartete Facette. Die Kabbala wird in diesem Zusammen-hang als die Dimension des Judentums gedacht, die von dem Joch des Gesetzeszu befreien und seine Inhalte fr das Christentum als unbedenklich assimilierbar

    1 Th. Mann, Das Gesetz, Bermann-Fischer Verlag, Stokholm 1944, 9.2 J. Reuchlin, De arte cabalistica libri tres, Thomas Anshelm, Hagenau 1517, XIVvXVv.3 Moreh nevukim 3, 2627.

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  • zu machen vermag. Bei einigen Gelegenheiten habe ich versucht, zwei Aspektedieser Konstellation zu erhellen: Einerseits entspricht das Ziel, das sich die christ-lichen Kabbalisten bei der Einfhrung dieser unerhrten Unterscheidung gesetzthatten, einem wohlbekannten Reflex des Christentums, der das gute Judentumvor dem bsen retten und so seine zwiespltigen Gefhle gegenber dem Juden-tum, nmlich Neugier und Geringschtzung, erhalten will 4. Neu ist in diesemZusammenhang, da die Unterscheidung dem nachbiblischen Judentum gilt.Obwohl die ersten christlichen Kabbalisten berzeugt waren, da die Kabbala soalt wie die Offenbarung oder sogar wie die Schpfung sei, wuten sie sehr wohl,da die meisten Texte der literarischen Gattung Kabbala doch fast zeitgenssischwaren.

    Obwohl man heute die These von Heinrich Graetz ber den Zohar alsSchokind des Papsttums nicht mehr ohne Weiteres akzeptieren kann, wurden dieVerffentlichung des Zohar, des Sefer Yetzira und womglich auch des Seferha-Bahir 5, d. h. der wichtigsten Klassiker der mittelalterlichen kabbalistischenLiteratur, unter anderem auch durch die Intervention von Christen (als Drucker,Zensoren, Bibliographen usw.) ermglicht, wie ich an anderer Stelle zu zeigen ver-suchte6. Man hat sogar die These vertreten, da der Talmud, der im Jahre 1553auf ppstliche Anordnung ffentlich verbrannt wurde, in seinem zentralen Stellen-wert fr das Judentum durch den Zohar ersetzt wurde7. Was am Anfang des 16. Jahrhunderts eine Strategie war, um jdische Inhalte unter Christen zuschmuggeln, wurde somit ein Hilfsmittel zur selektiven Verfolgung und trugdazu bei, den Kanon der jdischen Literatur zu gestalten, wie Amnon Raz-Kra-kotzkin schrieb8.

    Hier sollte allerdings eine andere Frage im Zentrum stehen. Wir haben festge-stellt, da es im Interesse der christlichen Kabbalisten der Renaissance lag, eineDichotomie oder sogar einen Streit zwischen Talmudisten und Kabbalisten zusehen, um dem Talmud allein all die Merkmale und Eigenschaften zuzuschreiben,die man traditionell mit dem Judentum verband. In einem Zusammenhang, indem das Gesetz thematisiert wird, scheint mir die Frage angebracht, ob diese

    Saverio Campanini

    4 S. Campanini, Talmudisti e cabbalisti. Unimmagine dellebraismo alle origini della qabbalah cristiana, in: D. Felice A. Cassani (ed.), Civilt e popoli del Mediterraneo: immagini e pregiudizi,Bologna 1999, 119135. Siehe auch B. Roling, Aristotelische Naturphilosophie und christlicheKabbalah im Werk des Paulus Ritius, Tbingen 2007, bes. 213239 und 305371.

    5 S. Campanini (ed.), The Book of Bahir. Flavius Mithridates Latin Translation, the Hebrew Text,and an English Version, Nino Aragno Editore, Turin 2005.

    6 S. Campanini, On Abrahams Neck. The Editio Princeps of the Sefer Yetzirah (Mantua 1562)and Its Context, in: G. Veltri/G. Miletto (eds.), Rabbi Judah Moscato and the Jewish IntellectualWorld of Mantua in the 16th17th Centuries, LeidenBoston 2012, S. 253278.

    7 Vgl. G. Busi, Materiali per una storia della qabbalah a Mantova, in: Materia Giudaica 2 (1996),5056 und S. Campanini, Anima in itinere. Unorazione funebre di Abraham da SantAngelo, in:M. Perani (ed.), La cultura ebraica a Bologna tra medioevo e rinascimento, Firenze 2002,129168, bes. 135136.

    8 A. Raz-Krakotzkin, The Censor, the Editor and the Text. The Catholic Church and the Shapingof the Jewish Canon in the Sixteenth Century, Philadelphia 2007.

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  • Unterscheidung eine reine ideologische Projektion darstellt oder ob es dochirgendein fundamentum in re, irgendeine Verwurzelung in der Realitt gibt. Hat estatschlich eine Auseinandersetzung zwischen der Halaka, d. h. dem Gesetz in sei-ner rabbinischen Interpretation, und der Kabbala gegeben? Das Thema an sich istnicht neu und wurde bereits von Gershom Scholem9, Jacob Katz10 und MeirBenayahu11 unter verschiedenen Gesichtspunkten behandelt. Allerdings konzen-trierten sich die meisten Autoren auf die halakische Gltigkeit oder den Vorrangeines gewissen kabbalistischen Usus (minhag12) oder aber auf den halakischenWert bestimmter kabbalistische Traditionen. Sie blieben somit innerhalb der hala-kischen Logik und machten aus der Kabbala im uersten Fall eine mgliche,umstrittene Quelle der Halaka. Von einem radikalen Gegensatz, wie er bei denchristlichen Kabbalisten der Renaissance angedeutet wird, ist aber so gut wie niedie Rede.

    Bevor man den Grund dafr errtern kann, sollte man festhalten, da dasGesetz oder die Tora, im Zentrum, d. h. im innersten Wesen aller Formen desJudentums steht und die Kabbala hierin keine Ausnahme bildet. Die Kabbalistenerkennen die zentrale Rolle des Gesetzes fr die geistige Physiognomie des Juden-tums an und stellen seine Wichtigkeit fr die theologische Konstitution desJudentums in keiner Weise in Frage. Darber hinaus verweist die meist impliziteSelbstdarstellung der Kabbala auf eine zustzliche Offenbarung, die der schrift-lichen Offenbarung der Tora nicht im Geringsten entgegengesetzt ist. Hier aberliegt die Wurzel eines potentiellen Konflikts. In der Tat werden auch die Mishnaund der Talmud im klassischen rabbinischen Judentum als mndliche Tora, d. h.als zustzliche Offenbarung dargestellt. So verwendeten einige Christen dasModell einer zustzlichen Offenbarung, das die Kabbalisten von den Talmudistenbernahmen, als Legitimationsstrategie, um der ursprnglichen, esoterischen,spirituellen Deutungsoffenbarung der Tora eine wegen der falschen, materia-listischen, diesseitigen, unmetaphysischen rabbinischen Hermeneutik illegitimeDeutung gegenber zu stellen.

    Die zentrale Stellung des Gesetzes wird durch die legitimationsbedrftigeKabbala gar nicht in Frage gestellt und die einzigen Andeutungen in Richtungeines mglichen kabbalistischen Antinomismus kommen aus einer ganz besonde-ren Ecke, nmlich aus der explosiven Mischung von Kabbala und Messianismus,die erst im 17. und 18. Jahrhundert im Sabbatianismus und im Frankismus sicht-bar wird. Hier kann diese sptere Entwicklung der Kabbala nicht gebhrendbehandelt werden, aber es sei die Anmerkung erlaubt, da auch in ihr, wie im

    Talmudisten versus Kabbalisten?

    9 G. Scholem, Kabbalah, Jerusalem 1974, in: Encyclopaedia Judaica; im Allgemeinen kann man aufG. Scholem, The Meaning of the Torah in Jewish Mysticism, in: Diogenes 4 (15) (1956), 6594verweisen.

    10 J. Katz, Halakah and Kabbalah. Studies in the History of Jewish Religion, Its Various Faces, andSocial Relevance (Hebr.), Jerusalem 1984.

    11 M. Benayahu, Wikkuach ha-qabbalah im ha-halakah, in: Daat 5 (1980), 61115.12 Siehe D. Sperber, Minhage Israel. Meqorot w-toledot III, Mosad ha-Rav Kook, Jerusalem 1994.

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  • Falle des Christentums, die subversive Kraft des Messianismus den Rahmen desGesetzes zu sprengen droht.

    Da die Zentralitt des Gesetzes nicht bedroht ist, kann der Punkt, ber den diefacultates streiten, notwendigerweise nur in der Hermeneutik liegen, d. h. in derjuristischen und meta-juristischen Deutung des Gesetzes und der Einzelgebote, indenen sich das Gesetz manchmal sehr enigmatisch manifestiert. Es wre aber ent-schieden falsch, die Kabbala, die eine tiefgreifende Erneuerung des Judentumsmit sich brachte, mit einer heterodoxen Sekte wie den Karern zu verwechselnoder auch nur zu vergleichen. Letztere diskreditierte die rabbinische Literatur,weil sie sie als zu spt und daher illegitim brandmarkte, und begrenzte von daherdie Tora als einzige Legitimationsquelle. Da die Offenbarung als punktuelles Er-eignis einen begrenzten Korpus generiert, verursacht die Offenbarung als Gesetzzwei eng miteinander verbundene Phnomene: einerseits eine breite juristischeHermeneutik und andererseits ein konstantes Legitimationsproblem, da alles, wasnotwendigerweise in der Zeit stattfindet, einen wachsenden Abstand zu demUrsprung jeder Legitimitt verzeichnet. Die Paradoxie der jdischen Hermeneutikist der chiddush, die Erneuerung oder Innovation, die in der Regel positiv bewertetwird, wenn sie zu einer tieferen, besseren, ausfhrlicheren, durchsichtigeren Aus-fhrung der Gebote fhrt.

    Wenn man einen Konflikt zwischen Halaka und Kabbala sehen will, mteman ihn in den Fllen suchen, in denen man eine Diskrepanz zwischen den Nor-men der kodifizierten Halaka und den Traditionen beziehungsweise der Offen-barungen der Kabbalah findet. Man knnte sich auf die nicht seltenen Flle kon-zentrieren, in denen sich eine offene anti-halakische Animositt unter einigenkabbalistischen Autoren bemerkbar macht. Zu dieser Kategorie gehrt zweifels-ohne der Kabbalist Abraham Abulafia, in dem das Phnomen des Enthusiasmus,d. h. der direkten persnlichen Offenbarung als (anti-)halakische Quelle typisiertwerden kann. Bei Abulafia13 addieren sich allerdings zwei weitere, ineinander ver-wobene Faktoren von nicht unerheblicher Wichtigkeit: der Konflikt mit der hala-kischen Autoritt, verkrpert durch Shelomoh Ibn Adret, und eine akute messia-nische Identifizierung, die sowohl seine ungemein scharfen Attacken gegen dieAutoritt und sein, fr Mystiker nicht untypisches, berlegenheitsgefhl gegen-ber dem rabbinischen Establishment begrndet. Ein weiterer Fall ist ohne Zwei-fel die anti-rabbinische Animositt der Tikkune ha-Zohar, die aber innerhalb derzoharischen Literatur eher eine bloe Episode bleibt. Der Zohar an sich polemi-siert in seiner programmatischen (pseudepigraphischen) Gleichzeitigkeit mit derMishna selbstverstndlich nicht gegen den (der Fiktion nach spteren) Talmud,sondern ignoriert ihn eher und weist in bestimmten Fllen im Vergleich zu derrabbinischen Tradition divergierende halakische Merkmale und Gebruche auf,worin sich ein polemisches Potential verbirgt, das dem zoharischen Korpus aber

    Saverio Campanini

    13 E. R. Wolfson, Mystical Rationalization of the Commandments in the Prophetic Kabbalah ofAbraham Abulafia, in: A. Ivry/A. Arkush/E. R. Wolfson (eds.), Perspectives on Jewish Thoughtand Mysticism, Amsterdam 1998, 311360.

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  • gleichzeitig eine Patina von Autentizitt verleiht. Im 17. Jahrhundert, als die Auto-ritt des Zohar enorm gestiegen war, kompilierte Isaac Beer ben Petachia in sei-nem Yesh Sakhar (Prag 1609) sogar ein Kompendium der Stellen, in denen derZohar von der traditionellen Halaka divergiert. Die Autoren wie die Rezipientenhaben aber keine polemische Absicht, sondern wollen innerhalb des halakischenParadigmas entscheiden, ob der Zohar eine gltige Quelle des rabbinischen Rech-tes sei. Die Frage wurde durch die normative und weithin akzeptierte Entschei-dung des groen Halakisten Joseph Karo geregelt, nach dem der Zohar als hala-kische Autoritt gilt, so lange er nicht in offenem Konflikt mit einer verbindlichenhalakischen Autoritt von hherem Rang steht. Erst das Erscheinen der Min-hagim von Isaak Luria stellte (und stellt noch immer) alles noch einmal in Frage.

    Nicht in den Anfangszeiten der Kabbala, in denen letztere noch ein ernsthaf-tes Legitimationsproblem hatte, sondern in der Mitte des 14. Jahrhunderts findetman wenigstens einen Fall offener kabbalistischer Feindlichkeit gegenber denTalmudisten (Baale ha-Talmud). Aus dieser Zeit stammen die Joseph Gikatillazugeschriebenen streng kabbalistischen Responsa14, die die Struktur, die Spracheund die Prozeduren der rabbinischen Literatur nachahmen, aber von letzter weit-gehend unabhngig sind. Diese echte, wenn auch vollkommen implizite Ausein-andersetzung mit der Ordnung und den Normativittskriterien der halakischenLiteratur blieb aber ziemlich isoliert und wre fr einen christlichen Leser unver-stndlich geblieben, selbst wenn er auf sie aufmerksam geworden wre, was nichtder Fall gewesen zu sein scheint. Sollte die rabbinische Autoritt auf sie aufmerk-sam geworden seien, sah sie sich nicht zu einer offenen Widerlegung dieses Ver-suchs veranlasst.

    Viel interessanter sind zwei umfangreiche Kompilationen aus derselben Epochemit reichen Exzerpten aus den Werken von Abulafia, Gikatilla und Recanati, diejenseits der plagiierten Werke ein eigenes kabbalistisches Profil haben und denTitel Sefer ha-Peliah und Sefer ha-Qanah tragen. Letzteres expliziert auf syste-matische Weise das metaphysische Fundament des Gesetzes mit einem kabbalisti-schen Kommentar der Gebote. Der hufig sehr polemische Ton richtet sichgegen die rein legalistische Deutung der Gebote von Seiten der Talmudisten.Bereits auf den ersten Seiten15 des verwandten Werkes Sefer ha-Peliah, eineskabbalistischen Bibelkommentars, liest man ein Pldoyer gegen die Halaka, wennsie als der Kabbala berlegen oder auch nur unabhngig von ihr prsentiert wird.Hier wird nicht der absolute Wert der Halaka radikal in Frage gestellt, sondern dieVorstellung, da letztere mit dem nigleh, d. i. mit dem exoterischen, expliziten,buchstblichen Sinn der Offenbarung, die ganze Tiefe der Offenbarung erschpfe

    Talmudisten versus Kabbalisten?

    14 G. Scholem, Teshuvot ha-meyuchasot le-R. Yosef Gikatilla, in: Festschrift Dr. Jakob Freimannzum 70. Geburtstag gewidmet von der Jdischen Gemeinde zu Berlin und dem Rabbinerseminarzu Berlin sowie einem Kreise seiner Freunde und Verehrer, Rabbinerseminar, Berlin 1937,163170.

    15 Vgl. Sefer ha-Peliah, Nezer Shraga, Jerusalem 1998, 4. Eine wissenschaftliche Ausgabe des Wer-kes bleibt ein Desideratum der Forschung.

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  • oder da sie zur vollstndigen Verwirklichung der Gebote ausreichen knne. Esist denkwrdig, da der anonyme Autor des Sefer ha-Peliah die zentrale Stelle desesoterischen Sinns mit einem Vergleich (mashal) begrndet:

    Xvh lykXh ,i xyrh tlvz ,iuvm vtlykX ]yX> vxyr >vx ,tcn> ,dXl dhml l>m ?l l>mXv.,iuh dylvm

    Um den Zusammenhang mit einem Vergleich zu verdeutlichen: Die Sache gleichteinem Mann ohne Geruchssinn. Das Essen hat fr ihn keinen Geschmack, weil derGeruchssinn zusammen mit dem Essen den Geschmack entstehen lt.

    Interessanterweise verbindet sich das Bild vom Geschmack mit der vorher-gegangenen Diskussion ber den mystischen Sinn der Vokalzeichen, die zusam-men mit den Akzenten (teamim) den unsichtbaren, aber bestimmenden Teil desSefer Torah darstellen. Das Gesetz hat wie alle Texte einen unsichtbaren oder unge-schriebenen Teil und die Diskussion kreist um den Status und den Rang diesesungeschriebenen Gesetzes, das eine entscheidende Rolle spielt, weil es bestimmt,wie man den Text, in diesem Fall den Text der Offenbarung, ausspricht, d. h. wieman den Text mit Sinn erfllt. Wenn man die berhmte Dichotomie, die Ferdi-nand de Saussure in den Aufzeichnungen des Cours de linguistique gnrale hinterlie, bernehmen mchte: Das Gesetz ist die langue und seine Verwirk-lichung, sei es halakisch oder kabbalistisch, entspricht dem Gebiet der parole.Obwohl in den Sefer ha-Peliah und Sefer ha-Qanah nicht wenige polemische Aus-fhrungen gegen die Halaka vorkommen, soll die Halaka nicht delegitmiert odergar ersetzt werden. Selbst in dem genannten sensoriellen Beispiel kann der Ge-ruchssinn alleine ohne das Essen keinen Geschmack erzeugen.

    Der Terminus, auf den ich die Aufmerksamkeit lenken mchte, ist taam. Erhat eine breite Palette semantischer Nuancen, da er Akzent, Geschmack und,als Erweiterung davon, auch Sinn bedeutet. Es gibt in der Tat einen ganzenZweig der kabbalistischen Literatur, der als Taame ha-Mitzwot bezeichnet wirdund viel lter als das bereits erwhnte Sefer ha-Qanah ist. Dazu gehrt unteranderen auch das Sefer Taame ha-Mitzwot, das frher Isaac Ibn Farchi zuge-schrieben wurde, aber als dessen Autor in den letzten Jahrzehnten (aufgrund derArbeiten von Alexander Altmann16 und Menachem Meier17), Joseph von Hama-dan gilt. Zu demselben Genre gehrt auch das Sefer ha-Rimmon von Moshehde Len18 und das Sefer ha-Orah von Yaaqov ha-Kohen. Meiner Meinung nachgehrt es zum typischen Mainstream und gestattet uns deshalb, die rhetorischeund argumentative Strategie der frheren Kabbalisten, vor allem des Kommentars

    Saverio Campanini

    16 A. Altmann, On the Question of the Authorship of Sefer Taamey Mizvot Which Is Attributedto R. Isaac Ibn Farhi, in: Kiryat Sefer 40 (1965), 256276; 405412.

    17 M. Meier, A Critical Edition of the Sefer Taamey Ha-Mitzwoth (Book of Reasons of the Com-mandments Attributed to Isaac Ibn Farhi. Section I: Positive Commandments with Introductionand Notes (PhD Brandeis University 197475), University Microfilms, Ann Arbor 1989.

    18 Vgl. E. R. Wolfson, The Book of the Pomegranate. Moshe De Lens Sefer ha-Rimmon, Atlanta1988.

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  • zu den Geboten des italienischen Kabbalisten Menachem Recanati besser zu ver-stehen, dem hier einige kurze Bemerkungen gewidmet seien. Das Sefer Taameha-Mitzwot von Menachem Recanati ist von dem sehr hufig zitierten Zohar tiefbeeinflut und knnte die Frage beantworten, ob die Kabbalisten, von einigenmomentanen polemischen Ausbrchen abgesehen, sich nicht eher in den Schat-ten der Halaka stellen wollten, indem sie die prinzipielle halakische Auffassungder Tora vollkommen akzeptierten und ihr nur eine weitere Dimension hinzufg-ten, ohne die Offenbarung als Gesetz an sich in Frage stellen zu wollen. Dadurchhtten sie einen Stempel der rabbinischen Legitimierung erhalten, der fr eineneuere oder erst vor kurzem aufgetauchte Lehre wie die Kabbala geradezulebensnotwendig war. Diese Hypothese kann man im Nachhinein strken, wennman bedenkt, da das polemische Hauptargument der Anti-Kabbalisten unterden Vertretern des rabbinischen Judentums im 17. Jahrhundert gerade das No-vum der kabbalistischen Parallelen zur Offenbarung darstellen wird. Diese sptereAnimositt der Rabbinen, am prominentesten von Leone da Modena gegen dieKabbala19, weist eine signifikante Parallele mit der Diskussion ber die Echtheit(d.i. Antiquitt) der Vokalzeichen und der Akzente auf, in der gerade die kabba-listischen Bcher eine zentrale Rolle spielen werden.

    Um meine These zu verdeutlichen und ein allgemeineres Prinzip zu gewinnen,das fr die meisten Kompilatoren der frhen Kabbala, insbesondere fr Bachyahben Asher und seinen einflureichen Torakommentar, gilt, werde ich ein Beispielprsentieren. Die Kabbala wird nicht als radikale Alternative, sondern als einmglicher Weg zum Kern des Gesetzes als Offenbarung durch den Buchstabenverstanden20. Das Gebot, den Vater und die Mutter zu ehren, wird kurz prsen-tiert und als Teil des Dekalogs biblisch begrndet, mit dem Verweis auf Lev. 19,3;Num. 5,16; Lev. 20,9. Darauf folgt die exoterische Begrndung, eingefhrt mitder Formel Ha-Taam Ha-Nigleh (hlgnh ,iuh), also der offenbarte oder ex-plizite Sinn. Dies wird aus der rabbinischen Literatur21 gerechtfertigt: JederMensch hat als mittelbare und unmittelbare Ursachen drei Shutafin, d. h. Asso-ziierte, nmlich Gott, den leiblichen Vater und die Mutter. Somit erreicht Recanatibereits in diesem ersten Teil seines Kommentars das eigentliche Ziel seiner Exe-

    Talmudisten versus Kabbalisten?

    19 Siehe aber Y. Dweck, The Scandal of Kabbalah. Leon Modena, Jewish Mysticism, Early ModernVenice, PrincetonOxford 2011 und meine Rezension, in: Materia Giudaica 15/16 (2010/2011),589592.

    20 Ich zitiere aus der zweiten Ausgabe des Werkes, Basel 1581, 5v: ,tvX dbklv ,Xv bXm hXryl hvjmvmX tXv vybX tX llqy r>X bytkv ?mX tXv ?ybX tX dbk bytkv vXryt vybXv vmX >yX Xn> ,llql Xl>v]tvn ]ydh .,dXb >y ]yptv> h>l> lzr v>rd> vmk hryjyb ]yptv> ,h> ynpm Xvh ,hb> hlgnh ,iuh vgvyk rmXn hlbqh ?rd li . vllql Xl>v vnmm Xrylv dbkl Xvh ]ydh vtvXyjm tbc Xvh bXh> rxXm yk ?kty hbqh lzvg vlyXk hkrb Xlb hzh ,lvih ]m hnhnh lk vkrbb vrmXv lXr>y cnkv ty hbqh tmgvd ,hvgv ?yq ?ybX Xvh Xlh rmXn> hbqh XlX vybX ]yX vgv i>p ]yX rmvXv vmXv vybX lzvg rmXn> lXr>y tcnkv?mXv ?ybX xm>y ?k ytXjm Xlpvmh rhvzh rpcbv .hlim l> ,l>vry Xyh hlim l> lXr>y tcnk yk idtvvhyX ?tdlvy lgtv lXr>y tcnk Xd ?mXv hbq Xd ?ybX xm>y XlX ,Xygc ?mX Xhd ?tdlvy lgtv yXmX

    .Xttld ?tdlvy 21 Talmud Bavli, Traktat Kiddushin, 30b.

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  • gese: Wie auch der Talmud sagt, ist die Ehre der Eltern ein Symbol fr die Ehre,die Gott gebhrt. Genau das hat er bereits in seinem Vorwort fr alle Gebote imAllgemeinen formuliert: Der Sinn der Gebote liegt in dem Gebieter, d. h. in ihremgeheimen oder esoterischen Sinn, so wie die Wesen auf der Erde von den oberenWesen (Planeten, Engeln, ) abhngig sind oder wie der Mond fr sein Lichtvon der Sonne abhngt. Mit dieser Umkehrung der Paradigmen der Evidenz (dasEsoterische beleuchtet und erfllt das Exoterische, dem eine falsche, illusorischeund im besten Fall sekundre Evidenz anhaftet, mit Sinn) ist die Intention seinesKommentars bereits illustriert. Taam kann tatschlich auch als Ursache zwarnicht bersetzt, aber doch verstanden werden. Wenn der Sinn als Grund (causa)interpretiert wird, ist auch verstndlich, da alle Gebote durch ihren Gebieter zuerklren sind; nicht durch eine explikative Erweiterung, sondern durch einereduktive Zurckfhrung der Einzelstrme zur ihrer einzigen Quelle. Es folgtdann die kabbalistische Erklrung, explizit bezeichnet als solche mit der FormelAl Derek ha-Kabbala, d.h. nach dem Weg der Kabbala. Dieser ist in Recanatisrhetorischer Strategie nur einer von mehreren mglichen Wegen, wie er mit Bravur zeigt, indem er den Talmud22 verwendet, um die kabbalistische Deutungdieses Gebotes zu erlutern: Al derek ha-Kabbala, also nach dem Weg derKabbala, der ein Weg unter anderen ist, symbolisieren die Eltern zwei mystischeFiguren, nmlich Gott und die Keneset Israel, das heit die Synagoge. Recanatisagt nicht explizit, sondern spielt blo fr Eingeweihte darauf an, da KenesetIsrael23 keine einfache Typisierung der Synagoge darstellt, sondern eine Dimen-sion der Gottheit, und zwar die Sefira Malkut, die gttliche Anwesenheit, seineweibliche Seite ist. Wie wir gleich sehen werden, verwenden andere Autoren ein-deutigere Termini, aber es ist eben die rhetorische Strategie Recanatis, Innovatio-nen sehr behutsam hinzuzufgen. Er rundet den Kommentar mit ein Zitat ausdem Zohar24 ab (vgl. III; 156r), aus dem wieder nicht ganz explizit entnommenwerden kann, da es zwei Mtter, die obere und die untere, gibt: In dem Vers ausden Sprchen (23,25) liest man: So mgen sich denn Vater und Mutter [ber dich]freuen; es mge frohlocken, die dich geboren hat. Der biblische Text scheintredundant: Vater ist Gott, Mutter ist die Keneset Israel, wer ist aber diejenige diedich geboren hat? Im ursprnglichen Zusammenhang im Zohar spielt die For-mel auf die leibliche Mutter des Moses an, aber in Recanatis Text ist das Zitatleicht verndert, um die zwei weiblichen Dimensionen in der Gottheit anzudeu-ten. Wir knnen uns hier nicht in diese komplizierte Auslegung vertiefen, aber esscheint klar, da die Exegese der Gebote nicht nur dazu dient, die Gebote symbo-lisch zu verstehen, sondern auch die Geheimnisse der Kabbbala rckwirkend ausdem Buchstaben des Gesetzes zu erleuchten.

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    22 In diesem Fall Berakot 35b.23 Heute ein skularisierter Begriff.24 III 156r.

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  • Die Unterschiede, die bei genauer Betrachtung grundlegend sind, werden nichtverwischt, aber auch nicht unterstrichen. Durch die Harmonie zwischen dem exoterischen Weg der Halaka und dem esoterischen Weg der Kabbala werden sieeher geglttet. Die zwei Wege sind selbstverstndlich nicht identisch, sonst httedie Unterscheidung auch keinen Sinn, aber sie erscheinen als vollkommen kom-patibel.

    Ein kurzer Vergleich mit einem Werk desselben literarischen Genres knnteverdeutlichen, da diese Strategie der Harmonisierung durch eine Gestaltung derexegetischen Inhalte stattfand. Obwohl das Werk Meah Shearim, das in Salonikiim Jahre 1543 erschien und wie bereits erwhnt Isaak ibn Farchi (und auch JosephGikatilla) zugeschrieben wird, aber aus der Feder von Joseph von Hamadanstammt, stark von Recanati beeinflut ist, finden wir im Kommentar zum glei-chen Gebot eine parallele Erklrung, die auch theologisch viel weniger unproble-matisch erscheint. In Wirklichkeit sind die Unterschiede marginal, aber dieAkzente werden anders gesetzt25. Auf einen kurzen Kommentar, der eine tal-mudische Stelle zitiert und aus ihr die genauen Inhalte und Grenzen des Gebotesdefiniert26, folgt die kabbalistische Auslegung, die mit der Formel Al derek ha-emet (nach dem Weg der Wahrheit) eingefhrt wird. Diese klassische Formelwird verstndlicherweise nur von Kabbalisten verwendet, weil nur fr sie geltenkann, da das Esoterische das einzig Wahre ist. Unmittelbar im Anschlu wirdgesagt, da der Vater und die Mutter eine Anspielung auf den Du-Partzufimsind, d. h. auf die zwei Aspekte der Gottheit: Mnnlich und Weiblich. Es handeltsich um einen zentralen Punkt der kabbalistischen Theosophie, der aber von einerrein monotheistischen Perspektive aus nicht unproblematisch ist. Die VorsichtRecanatis bei der Behandlung des gleichen Motivs erscheint im Vergleich umsodeutlicher. Nichtsdestoweniger bleibt bei beiden Autoren die Praxis, der Vollzugdes Gebotes unabhngig von seiner hheren oder hchsten Bedeutung. Derwahre Schibbolet der Halaka wird nicht in Frage gestellt.

    Um feststellen zu knnen, ob tatschlich und nicht nur in den Augen derchristlichen Beobachter des Judentums ein radikaler Disput zwischen Kabbalaund Halaka stattgefunden hat, ist es meiner Einschtzung nach nicht unange-bracht, ein Tertium, eine dritte Instanz einzufhren, oder besser anzuerkennen.Fragen wir uns, wer in der Dialektik zwischen Kabbala und Halaka als Tertiumauftreten kann, ist die Philosophie der beste Kandidat. Das heit noch lange

    Talmudisten versus Kabbalisten?

    25 Sefer Meah Shearim, Soloniki 1543, n.p., Kap. 36: tXv ?ybX tX dbk Xn> ,Xh tXv bX dbkl hvjmrbd ,v>v vl>m vybXl ]yX ,Xv vXyjvmv vcynkm vlyinmv v>yblm vhq>mv vlykXm dvbk vhz yX l zr vrmXv ?mXli ryzxhl buym vmji ryb>hl Xjm Xl ,Xv vlyb>b vmji ry>khl byyx vl ]yX vlypXv vl>m vnyzl byyx vl >yv,Xv bX tmXh ?rd liv ,Xv bX dybk lvdg yXxvy ]b ]vim> ybr yntd vdvbk lyb>b vybXm rtvy Xvh ,yxtphhliml zmvr hrymx vz hvjmb> yplv rmvgv vmXv vybX lzvg zmr ,hyliv ,dbkl yvXr ]k li ]ypvjrp vydl zmr

    .?ymy ]vkyrXy ]iml bytkd Xvh Xdh ?vrX vlvk> ,lvil zmdh ,ymy tvkrX bvtkh hb rykzh ]k li humlv26 Talmud Bavli, Kidduschin, 31b.

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  • nicht, da man bereits im Voraus entschieden hat, welche dieser Instanzen dieFunktion des Richters ausbt. Dies hngt, wie der Kabbalist Abraham Abulafiaschrieb27, selbstverstndlich von unseren Prferenzen ab: Neigen wir zu einer derParteien oder dazu, den Richter als parteiisch zu sehen und seine Funktion des-halb nicht anzuerkennen. Alexandre Kojve postulierte in seiner Esquisse dune phnomnologie du droit 28 die Notwendigkeit eines Dritten als das, was das Recht alsPhnomen erscheinen lt. Andererseits knnte, wie Warren Zev Harvey29 krz-lich erwhnte, laut Shem Tov Ibn Shaprut30 die Kluft zwischen Philosophie undKabbala nicht tiefer sein. Dieser sieht zwischen den beiden Disziplinen einenKontrast, der nicht aufgehoben werden kann31: Wahrlich die Philosophie unddie Kabbala stellen zwei Gegenstze dar und keine Vermittlung zwischen den bei-den ist mglich und gerade dieser Gegensatz verursache Verwirrung unter denLernenden (sibbat bilbul la-talmidim be-iyyun).

    Die Konfiguration der gegenseitigen Beziehungen zwischen den drei Elemen-ten, die Jacob Katz32 Dreieck (von Halakah, Philosophie und Kabbala) genannthatte, kann am besten mit Hilfe eines hervorragenden Halakisten und Kabba-listen dargestellt werden, der alles andere als unphilosophisch veranlagt war:Moses ben Nachman oder Nachmanides. Der Ausgangpunkt ist die lange Exe-gese von Dtn. 22,26 in Nachmanides Kommentar zum Pentateuch. Wir werdendie dort zitierten Texte, den Talmud und Maimonides, kurz zusammenfassenmssen.

    Eine Prmisse ist an dieser Stelle erforderlich: Der Talmud33 prsentiert eineausfhrliche Diskussion einer Vorschrift der Mishna34, in der verordnet wird, daderjenige zum Schweigen gezwungen werden mu, der betet: Mge sich DeineBarmherzigkeit bis zum Vogelnest erstrecken. Im Talmud liest man, die Meisterseien ber die Ausdeutung dieses Verbotes uneinig gewesen. Andere Verbote ausder gleichen Stelle der Mishna sind weitgehend unproblematisch. Es ist z. B. klar,da man die Formel modim, modim (wir sagen Dank, wir sagen Dank) ver-meiden sollte, um dem Verdacht des Dualismus zu entkommen. Deutlich schwie-riger ist die Frage, warum man diejenigen zum Schweigen zwingen sollte, die Gottloben, weil er seine Barmherzigkeit bis zum Vogelnest ankommen lt, besondersweil es zwei Gebote gibt, die die gesetzestreuen Juden auffordern, die Nester,die man auf dem Lande findet, mit besonderer Vorsicht zu behandeln. Zwei

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    27 S. Campanini, Talmud, Philosophy, Kabbalah: A Passage from Pico della Mirandolas Apologiaand Its Source, in: M. Perani (ed.), The Words of a Wise Mans Mouth are Gracious. Festschriftfor Gnter Stemberger on the Occasion of His 65th Birthday, BerlinNew York 2005, 429447.

    28 A. Kojve, Esquisse dune phnomnologie du droit, Paris 1982 (1943).29 W. Z. Harvey, Why Philosophers Quote Kabbalah. The Cases of Mendelssohn and Rosenzweig,

    in: Studia Judaica *16 (2008), 118125, hier 118, Anm. 1.30 S. Ibn Shaprut, Pardes Rimmonim, Sabbioneta 1554, 2r.31 In Ibn Shapruts Worten: yXjmX ,hynyb ]yX> ,ykph yn> tmXh ypl ,hv hlbqhv Xypvcvlyph.32 J. Katz, Divine Law in Human Hands. Case Studies in Halakhic Flexibility, Jerusalem 1998, 64.33 Tb Berakot, 33b.34 Berakot, V,3.

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  • Amoraim lieferten sehr unterschiedliche Erklrungen: Laut Rabbi Jose ben Abinliee dieses Gebet Eifersucht unter den anderen Tieren entstehen. Rabbi Jose benZebida setzte entgegen, das Gebet unterstelle, da Gottes Gesetz durch Barm-herzigkeit motiviert sei, whrend es sich in Wahrheit um reine Erlasse (gezerot )handle.

    Moses Maimonides, der bei Nachmanides als zweite Autoritt evoziert wird,vertrat in dieser talmudischen Frage unterschiedliche Positionen. In seinem arabi-schen Kommentar zur Mishnah und am prominentesten in seinem MishnehTorah35, whlt er zwischen den Alternativen und spricht sich eindeutig fr dieMeinung von Rabbi Jose ben Zebida aus. Er betont, da die Gebote der Aus-druck von Gottes reinem Willen seien. In seinem philosophischen Traktat unter-sttzt er andererseits die entgegengesetzte Lsung und pldiert fr die Ratio-nalitt der Gebote oder mindestens dafr, da die Gebote einen vernunftmigenGrund haben, wenn uns dieser auch in manchen Fllen unzugnglich sein mag36.Hier folgen hintereinander die zwei Texte des Maimonides. Zuerst die relevanteStelle aus dem Mishneh Torah:

    Wer in seinen Gebeten sagt: Er, der seine Barmherzigkeit bis zu dem Vogelnesterstreckt, da er [nicht zult], da man die Mutter mit den Kken nimmt oder da manden Vogel und die Kken nicht an einem einzigen Tag schlachtet, wird Sich uns erbar-men oder hnliches mu zum Schweigen gezwungen werden. Diese Gebote sind, inWahrheit, reine Erlasse der Schrift und nicht [Zeichen] der Barmherzigkeit. Wren siees, dann htte uns der Ewige nicht erlaubt, [Tiere] zu schlachten37.

    Im Dritten Buch des Fhrers der Unschlssigen38 liest man:

    Du darfst aber gegen mich nicht einwenden, da unsere Lehrer verboten haben zubeten: Sogar bis auf ein Vogelnest erstreckt sich dein Erbarmen, denn dies ist dieeine der beiden Glaubensmeinungen, die wir erwhnt haben, nmlich die Meinung der-jenigen, die glauben, da es bei den Geboten der Heiligen Schrift auf den Grund nichtankomme, da diese vielmehr ausschlielich durch den Willen Gottes bedingt sind. Wiraber folgen der zweiten Meinung39.

    Die allgemeine Diskussion des Prinzips, da die Gebote nicht nur einenGrund in Gott, sondern auch einen uns theoretisch zugnglichen Sinn haben, ist

    Talmudisten versus Kabbalisten?

    35 Hilkot Tefillah, Kap. 9.36 Dies hat auch der Philosoph Chasdai Crescas in seine Kommentar zum Moreh Nevukhim

    zurecht unterstrichen.37 Mishneh Torah, Buch II sefer Ahavah, hilkot Tefillah, Kap. 9, Par. 7: ]q li ,xyr> ym ,ynvnxtb rmX> ym

    . vtvX ]yqt>m hz ]ynib Xjvykv vnyli ,xry dxX ,vyb vnb tXv vtvX uvx>l Xl> vX ,ynbh li ,Xh xqyl Xl> rvpyj.rqyi lk huyx> vnl rytm hyh Xl ,ymxr ynpm vyh vlyX> .,ymxr ]nyXv ]h bvtkh trzg vlX tvjm> ynpm

    38 Moreh nevukim III,48. Es handelt sich allerdings um die bersetzung von Ibn Tibbon. Wenn ichmich nicht tusche, fehlt die Stelle in der bersetzung von Jehudah Al-Charizi.

    39 Hier folgt der arabische Originaltext: ]Xl vgv ?ymxr viygy rvpj ]q li rmvXh lz ,hlvqb ynjrtit XlvXmnX ]xnv hdXrlX drgm XlX hiyr>ll hli Xl ]X yry ]m yXr yniX XmhXnrkd ]ydlX ]yyXrlX dxX ?ldynXtlX yXrlX Xnibt. Die bereits erwhnte hebrische bersetzung des Ibn Tibbon lautet:lr ,,vnrkz r>X tvidh yt>m txX ypl Xvh yk vgv ?ymxr viygy rvpj ]q li ,rmXb yli h>qt Xlv

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  • im More nevukhim III,26 ausgefhrt. Interessanterweise haben zwei verschiede-ne Kommentatoren, Salomon Munk einerseits und Eliyahu Touger andererseits,zwei entgegengesetzte Erklrungen fr den offensichtlichen Widerspruch ge-ussert. Munk schreibt: Maimonide, dans son Mischn Tor sexprime dans lemme sens que la Mischn40, et contrairement ce quil dit dans notre passage, oil manifeste son opinion personelle41. Touger bemerkt seinerseits: It is signifi-cant that in the Guide to the Perplexed, the Rambam explains that these prohibi-tions were instituted as expressions of Divine Mercy. He notes that one of theopinions in Berachot disagrees with the approach of giving reasons for the mitzvot,and states that he favors the other opinion. In his Commentary on the Mishnah,the Rambam mentions the reason he states here. This lends credence to the viewthat certain statements in the Guide to the Perplexed were made with the intentof attracting those who had become involved with secular thought systems anddo not necessarily reflect the Rambams genuine feelings42.

    Der Widerspruch erlaubt keine Vermutung darber, was Maimonides wirklichdachte, oder ob er, was durchaus mglich ist, seine Meinung gendert hat. OhneZweifel ist die Versuchung einer Exegese la Leo Strauss43 mchtig. Maimonideszitiert den Gegensatz, aber nicht dessen Auflsung aus einer Talmudstelle, in dersich Rabba kurioserweise verstellt, um Abbaye zu testen oder seinen Verstand zuschrfen:

    Ein Beter ging [vor die Bundeslade] in Anwesenheit von Rabba und sagte: Du hastDeine Barmhezigkeit bis zum Vogelnest erstreckt, zeige uns auch Dein Erbarmen.Rabba sagte: Dieser Schler wei beileibe, wie man den Herrn besnftigt. Abbayeerwiderte: Aber wir haben gelernt: Er soll zum Schweigen gezwungen werden!. Rabbahandelte nur so, um Abbaye zu testen44.

    In anderen Worten scheint Rabbas Bemerkung ironisch oder halb scherzhaft.Die Verstellung betrifft aber nicht die Frage, ob die Gebote einen Sinn habenoder nicht, sondern bezieht sich nur darauf, ob man eine Vorschrift der Mishnabrechen darf. Der Sinn der Gebote wird nicht weiter errtert.

    Saverio Campanini

    40 Ich erlaube mir anzumerken, da Munks Kommentar an dieser Stelle ein wenig berraschend ist:Maimonides nimmt weder hier noch andernorts Stellung gegen oder fr die Meinung der Mishnaber diesen spezifischen Punkt, da es sich um eine Diskussion handelt, die erst im Talmud stattfindet. Auch M. Zonta, in seiner italienischen bersezung des Moreh Nevukhim, vielleicht in Anlehnung auf S. Munk, verweist auf die Mishna und nicht auf die relevante Talmudstelle(Berakot, 33b); vgl. M. Maimonide, La guida dei perplessi, Torino 2003, 717, Anm. 2.

    41 Le Guide des gars. Trait de thologie et de philosophie par Mose ben Maimoun dit Mamo-nide, traduit pour la premire fois sur loriginal arabe et accompagn de notes critiques, littraireset explicatives par S. Munk, T. III, A. Franck, Paris 1866, S. 400, Anm. 2.

    42 Maimonides, Mishneh Torah. Hilchot Tefilah II and Birkat Kohanim. The Laws of Prayer andthe Priestly Blessing. A New Translation, with Commentaries, Notes and Diagrams by R. EliahuTouger, New YorkJerusalem 1989, 7374.

    43 L. Strauss, Persecution and the Art of Writing, Glencoe (Ill.) 1952, gerade in einem sehr hnlichenZusammenhang erwhnt von G. Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Zrich 1960, 72.

    44 ]nbrm Xbrvj yXh idy hmk hbr rmX vnyli ,xrv cvx htX rvpj ]q li tcx htX rmXv hbrd hymq tyxnd. yibd Xvh yybXl ydvdxl ymn hbrv ]nt vtvX ]yqt>m Xhv yybX lX hyrml yyvjrl

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  • Diese lange Prmisse war ntig, um die Ausfhrungen des Nachmanides imTorakommentar (zu Dtn. 22,6) in ihrem Zusammenhang zu verstehen. Derkatalanische Exeget zitiert Maimonides in einer Formulierung, die von der klassi-schen bersetzung des Ibn Tibbon abweicht und die Sache auf den Punkt bringt:

    Der Meister [Maimonides] sagte: Du darfst nicht das einwenden, was die Weisengesagt haben, derjenigen, der von der Barmherzigkeit den Nestern gegenber spricht,es handelt sich nmlich um eine von zwei Erklrungen, die derjenigen, die meinen, dieGebote haben keinen Sinn [oder: Ziel] auer dem, was dem Schpfer gefllt. Wir aberneigen eher zu der zweiten Erklrung, nach der jedes Gebot einen Sinn hat45.

    Auf diese Art und Weise wird Maimonides ein Vorfahre des Nachmanides,und die Philosophie gehrt de facto46 in den genealogischen Baum der Kabbala.Wenige Zeilen spter zitiert Nachmanides die meiner Meinung nach entscheidendeStelle aus einem anderen Talmudtraktat47, die die Grundfrage stellt: Warum wurden die Motivationen fr die Gebote nicht offenbart (vlgtn Xl hm ynpmhrvt ymiu)? Der ursprngliche Zusammenhang bemerkt, da die einzigen Ge-bote, die ausdrcklich motiviert wurden, Salomon zu Fall brachten. Der biblischeKnig dachte, er knne die Substanz der Gebote einhalten, aber dadurch brach erdie Form oder genauer die Norm. Hier liegt dem narrativen Modus des Talmudentsprechend die Antwort auf die Frage, warum die Halaka den Sinnes der Ge-bote, ob geheim oder offenbar, nicht hinterfragt, nmlich weil letztere diese Fragenicht stellt, so lange die Motivation der Mitzwot kein expliziter Teil der Offen-barung ist. Die Frage stammt, wie Gershom Scholem in einem verwandten Zu-sammenhang wie der biblischen Exegese einmal bemerkte, aus der Allegorese desPhilo von Alexandrien und, allgemeiner, aus der mittel- und neuplatonischenAllegorese, vermittelt durch die arabische Tradition. Andererseits erweist sichNachmanides auch hier als groer Kabbalist, wenn er unmittelbar im Anschludie Mglichkeit erffnet, da die noch nicht offenbarten teamim (Grnde) derGebote in der Zukunft durchaus offenbart werden knnten. In der Flle der Zei-ten (typischerweise in der messianischen Zeit) kann die Bedeutung der Geboteenthllt werden. Gleichzeitig hlt er auch die andere, von den Philosophen favori-sierte Mglichkeit offen, da die Gebote dem ganzen Volk zugnglich seien,whrend ihre Bedeutung nur fr Eingeweihte sei. Typischerweise erwhnt er, daMoses die Bedeutung des obskuren Rituals der roten Kuh kannte, whrend dasgemeine Volk an die Orthopraxie gebunden war und nicht eingeweiht wurde. Cre-scas sprach noch von einer Kluft zwischen dem Erklrten (rXvbm) und dem[Noch-Nicht]-Erklrten (rXvbm ytlb). Diese wird fr Nachmanides der Eingang

    Talmudisten versus Kabbalisten?

    45 trbc ,tvrbc yt>m txX vz yk ?ymxr viygy rvpj ]q li rmvXh ,ymkxh rmXmm yli by>t lXv brh rmXv.,iu tvvjmh lkb hyhy> hyn >h Xrbcb ,yqyzxm vnxXv ,Xrvbh /px XlX tvvjml ,iu ]yX yk hXry> ym

    46 Er lt die problematische Stelle aus dem Mishneh Torah weg, um der Schwierigkeit des Wider-spruchs zu entgehen.

    47 Sanhedrin, 22b.

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  • zur esoterischen Erklrung. Letztere steht dadurch nicht im Gegensatz zur Ha-laka, sondern stellt sich im Gegenteil in ihren Schatten. So erscheint die Kabbala,um eine bekannte Formel zu variieren, als eine bloe Fortsetzung der Halaka mitanderen Mitteln. Nachmanides schliet seinen langen Exkursus mit einemobskuren Zitat aus dem Bahir48, der das Gebot ber die Kken und ihre Muttererklren sollte:

    Nun in dem Midrasch von Rabbi Nechunja ben Ha-Kana ber das Gebot Freilassensolltest du im Nest. Es gibt eine Ausdeutung, die zeigt, da es in dem Gebot einGehemnis (sod) gibt: Rabbi Rehumaj sagte: Was bedeutet der Vers: Freilassen solltestDu die Mutter, [und die Kinder magst du an dich nehmen], und es heit nicht und denVater? Es heit die Mutter freilassen in der Herrlichkeit, diejenige Einsicht (Binah),die Mutter der Welt heit, von der es heit: denn Mutter nenne die Einsicht. Wasbedeutet und die Kinder magst du an dich nehmen? Rabbi Rechumaj sagte: jene Kin-der, die sie erzogen hat. Und welche sind das? Die sieben Tage des Sukkotfestes unddie Gesetze der sieben Tage der Woche usw. Siehe diese Mitzwah (Gebot) spielt auf eingroes Geheimnis an, deshalb ist ihre Belohnung gro, [wie es heit] damit es dir wohlergehe und du deine Tage verlngern magst49.

    Wir knnen die Details dieser Auslegung hier unmglich erklren, aber esscheint klar, da die Mutter in diesem Zusammenhang eindeutig mit einer gtt-lichen Dimension identifiziert wird. Ohne von einer Zweigeschlechtligkeit Gotteszu sprechen, erreicht Nachmanides zwei Ziele. Er redet den Konflikt mit derHalaka klein, ohne die Philosophie offen zu diskreditieren, und es gelingt ihmgleichzeitig auch, die spezifischen Inhalte der Kabbala als ein Midrash, eine alteTradition zu prsentieren: Nur die Eingeweihten werden wohl verstehen, worumes hier geht.

    Die Kabbala, die von ihren Koryphen hufig mit der Formel Al derek ha-emet (secundum viam veritatis) eingefhrt wird, stellt sich in einen exegetischenRaum, der wie die Philosophie durchaus mit der Halaka kompatibel erscheint. Diekonfliktreichen Dimensionen, die sich aus diesem Dreieck ergeben, werden voneinem erfahrenen Halakisten wie Nachmanides ebenso sorgfltig geglttet wie inden Texten eines erfolgreichen Kompilators wie Menachem Recanati. Die Aus-einandersetzung mit den Halakisten, die im Fall Abulafias oder im Sefer ha-Peliahalles andere als virtuell war, wurde hier systematisch vermieden. Die Idee, da dasGesetz im Allgemeinen und die Gebote im Einzelnen eine causa finalis haben, istder halakischen Betrachtung des Gesetzes nicht ganz fremd, aber ihr nicht un-problematischer Ursprung liegt, wie ich zu zeigen versucht habe, eher in der jdischen Religionsphilosophie oder spezifischer in dem schwierigen Weg der

    Saverio Campanini

    48 Bahir 104105 (Margalioth).49 Nachmanides, Torahkommentar zu Dtn. 22,6: >rdm ]qh xvl>b hnqh ]b Xynvxn ybr l> v>rdmb lbX

    xl>t xl> XlX ,bXh tX rmX Xlv ,Xh tX xl>t xl> bytkd yXm yXmxr ybr rmX ,dvc hvjmb >y>rmX ,?l xqt ,ynbh tXv yXm .Xrqt hnybl ,X yk bytkd ,,lvih ,X tXrqn> hnyb htvX dvbkb ,Xh tXtXzh hvjmh hnhv .vkv ivb>h ymy tib> ynydv hkch ymy tib> vhyn yXmv ,hldyg> ,ynb ,tvX yXmxr ybr

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  • Selbstbehauptung eines philosophischen Rationalismus innerhalb des Judentums.Unter den Gefahren, die dieser Rationalismus in sich birgt, erkannten auch diemeisten Philosophen den Reduktionismus, d.h. die Reduzierung des Gesetzes aufihre Vernunftmigkeit, die in letzter Konsequenz sogar zur Erklrung der ber-flssigkeit der Tora, d. h. zu ihrer Aufhebung fr alle Vernunftwesen fhren knnte.Aus diesem Grund wurde die Bedeutung der Gebote, wie man im Traktat San-hedrin liest, meistens nicht offenbart, um zu vermeiden, da man die vermeint-liche Substanz des Gesetzes ber die Form stellt. Deshalb betont Nachmanides,man msse die Autoritt des Gebieters zuerst anerkennen, bevor man die Geboteerhalten knne. Ein anderes Risiko lauert aber: Wenn der Sinn (oder die Inten-tion) der Gebote nicht explizit offenbart wurde, und gerade hier ffnet sich dieKluft zwischen den Religionen oder der Konflikt der Interpretationen, neigt maneher dazu, das Gesetz in eine ihm fremde Logik zu transponieren, als ob ihmetwas fehlen wrde. Braucht man tatschlich den Sinn der Gebote, um sie einzu-halten, wie man die Worte ohne Akzent nicht aussprechen kann?

    Die Kabbala versucht, den Sinn des Gesetzes durch Formen und Inhalte zuerhellen, die der jdischen Tradition konformer waren als die universalistischenTendenzen der philosophischen Sprache, die von den Gegnern der Philosophievor allem in der Kontroverse ber die Werke des Maimonides scharf kritisiertwurden, aber sie kann nicht umhin, die Problematik als Ausgangspunkt zu neh-men und die Funktionsweise der philosophischen Tradition zu bernehmen, d. h.genuin jdische Inhalte doch in einem fremden Medium, klassischerweise in derAllegorisierung der Gesetze, zur Geltung zu bringen. Gerade auf diesem Wegzeigt die Kabbala ihre konstitutive belatedness50, nicht weniger als ihren apo-logetischen Charakter.

    Der Versuch einer perfekten Kompatibilitt, wenn nicht Koinzidenz der Kab-bala mit der Halaka gegen die Philosophie, konnte die Christen, die Erfahrung imBereich der belatedness hatten, nicht davon abhalten, den potentiell universa-listischen und deshalb katholisch beanspruchbaren Charakter der Kabbala zusehen. Dies wrde erklren, warum noch vor den christlichen identificationesz. B. zwischen den ersten drei Sefirot und der Trinitt oder zwischen der Shekina(Malkut) und der Jungfrau Maria, einige Christen seit ihrem ersten Kontakt mitkabbalistischen Materialien ein dauerhaftes und immer wieder aufflammendesInteresse fr die Kabbala hatten, und den Talmud dagegen weiterhin verachteten,indem sie ihn, wohl zu Recht, mit der Hrde identifizierten, die es nicht zult,da die Juden zu Christen wurden. In anderen Worten ist der Talmud in denAugen der Christen, aber auch in den Worten zahlreicher Konvertiten, die denTalmud angeprangerten, die einzige Garantie, da man innerhalb des Judentumsvon der Intention der Gebote nicht versucht wird und deren Sinn aufgibt.Der Streit um das Gesetz erweist sich als keine bloe Frage der Akzentuierung.

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    50 Cf. H. Bloom, Kabbalah and Criticism, New York 2005 (1975), bes. 4, 14 und 5051.

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