Tanisha M. Fazal Brüchige Wahrheit Brüchige Wahrheit

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Tanisha M. Fazal Brüchige Wahrheit Myriam Revault d‘Allonnes Zur Auflösung von Gewissheiten in demokratischen Gesellschaften Brüchige Wahrheit

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Tanisha M. Fazal

Brüchige WahrheitMyriam Revault d‘ Allonnes

Zur Auflösung von Gewissheiten

in demokratischen Gesellschaften

Brüchige Wahrheit

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Myriam Revault d’Allonnes

BrüchigeWahrheitZur Auflösung von Gewissheiten

in demokratischen Gesellschaften

Aus dem Französischen vonMichael Halfbrodt

Hamburger Edition

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbHVerlag des Hamburger Instituts für SozialforschungMittelweg 3620148 Hamburgwww.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2019 by Hamburger EditionISBN 978-3-86854-970-6E-Book Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde

© 2019 by Hamburger EditionISBN 978-3-86854-337-7

© der Originalausgabe 2018 by Editions du SeuilTitel der Originalausgabe: »La Faiblesse du vrai. Ce que la post-vérité fait ànotre monde commun«

Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras

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»Es ist schwer, die Wahrheit zu sagen, dennes gibt zwar nur eine, aber sie ist lebendig undhat daher ein lebendig wechselndes Gesicht.«

Franz Kafka, Briefe an Milena

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Inhalt

Einleitung 9

1 Im Zeitalter des »Post«: Bestandsaufnahme 19

Die Ära des »Post« 21Umstände 26

2 Wahrheit und Politik, eine bewegte Geschichte 33

Episode 1: Der Tod des Sokrates und die Folgen … 33Macht und Wissen 36Meinung und Wahrheit: Die doxa der Griechen 42Der politische Diskurs und seine Zweideutigkeiten 44Episode 2: Der Name Machiavelli oder der Einbruch des Bösen 55

3 Die Wahrheit des Politischen 66

Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten 67Die Brüchigkeit der Tatsachenwahrheiten 71Lüge, Handlungsvermögen und Freiheit 75Massenhafte Lügen und Sichtbarkeit des öffentlichen Raumes 81Politik und Wahrheitsregime 85Politik und Wahrsprechen: Zurück zur parrhesia 91

4 Fiktion und Tun-Können 102

Macht der Fiktion 103Die Imagination der praktischen Möglichkeiten:Eine zu erschaffende Wahrheit 109Postfaktisches und Weltverlust 115

Bibliografie 125

Zur Autorin 129

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Einleitung

Durch das ständige Auftauchen von Begriffen im Hier und Jetzt,die, kaum erschienen, obsolet machen, was noch tags zuvor als un-umstößliche Norm galt, wird die Gegenwart selbst unwirksam: Sieliefert keinerlei Anlass zum Handeln. Also gibt es nur zwei Möglich-keiten: Entweder man macht sich, von einem Gefühl des Schwindelsergriffen, daran, wie die Chronisten des Alltäglichen den Anstiegder Bedeutungslosigkeit in seinem Fortgang zu begleiten; oder derHang zur Philosophie, der – wie seit den Griechen bekannt – darinbesteht, vor dem Seienden zu staunen, lässt uns bei Sinn oder Un-sinn dessen verweilen, was sich in den Vordergrund der Weltbühnedrängt. Die Anforderung ist gewiss nicht neu. »Denken, was uns zu-stößt«, unter diesem Motto standen die Überlegungen HannahArendts. Auf dem Prüfstand der Ereignisse, sagte wiederum Mer-leau-Ponty, begegnen wir dem Unannehmbaren und wird diese »in-terpretierte Erfahrung« zu These und Philosophie. Doch ihre stän-dige Anwesenheit im Realen war nicht zu trennen von einemEingebettetsein in das Tragische der Geschichte: den totalitären Er-fahrungen, dem Bankrott des Kommunismus, dem Sinnlosen alsHintergrund, vor dem sich jeder Wille zu absoluter und universellerSinngebung abzeichnet.

Gleichwohl scheint es heute so, als hätte sich diese Anforde-rung umgekehrt: Ist das, was uns zustößt, noch des Nachdenkenswert? Angesichts des Lächerlichen neigen wir zum Misstrauen ge-genüber dem, was sich als Denkereignis mit einer realen Macht zurErschütterung präsentiert. Mittlerweile sind wir mit der »Post-wahrheit« konfrontiert, ein Begriff, der die politische Szene und dieMedienlandschaft derart durchdrungen hat, dass post-truth 2016vom ehrwürdigen Oxford Dictionary zum internationalen »Wortdes Jahres« erklärt wurde.

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Offenkundig stellt der Gedanke, dass wir uns in einem Augen-blick, wenn nicht einer Epoche »nach« der Wahrheit befinden,einen signifikanten Bruch hinsichtlich eines der Grundbegriffe derwestlichen Metaphysik dar, auf dem obendrein, für den gesundenMenschenverstand, die Selbstverständlichkeit des Realen beruht:Ein Satz gilt dann als »wahr«, wenn er durch seine Übereinstim-mung mit dem Seienden verbürgt ist. Zwar äußerte sich das Strebennach Wahrheit auf vielfältige, gegensätzliche, mehr oder mindergelehrte Weise in vielen Bereichen, doch hat die Vielzahl der An-sätze niemals dazu geführt, das »Existenzielle« des Bezugs auf dasWahre infrage zu stellen.

Als seine Geltung und seine Macht von den drei großen Den-kern des Argwohns, Nietzsche, Marx und Freud, frontal in Zweifelgezogen wurden, ging es zwar darum, die großen klassischen Pro-blematiken zu verabschieden, die von der unumstößlichen Wahr-heit eines zum Fundament erhobenen Subjekts, eines sich selbsttransparenten, gegen jede illusorische Sicht der Welt gefeiten Be-wusstseins ausgingen. Doch diese radikalen Infragestellungen be-seitigten nicht den Wert der Wahrheit, sie attackierten die Illusio-nen nur, um zu entziffern, was sie verbargen. Sie entmystifiziertenzwar »die Wahrheit als Lüge«, aber sie zerstörten nur, um neuaufzubauen. Nicht nur indem sie die Perspektive auf ein neuesWahrheitsverständnis eröffneten, sondern indem sie eine Kunstder Interpretation, des Sinnzugangs erfanden.1 Nietzsches Formel,»Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen«, beseitigt oder zer-setzt die Wahrheit nicht, sie bringt zum Ausdruck, dass reine Tatsa-chen nichts bedeuten. Sie müssen geordnet werden und ergebennur unter der Voraussetzung Sinn, dass sie entziffert und interpre-tiert werden. Anders ausgedrückt: Es geschah gerade um der Machtdes Wahren willen, dass diese Übung in Argwohn ihre Verfälschun-gen entlarvte.

1 Über diese Übung in Argwohn, siehe Ricœur, Die Interpretation. EinVersuch über Freud, S. 45–49, und Le Conflit des interprétations,S. 148–151.

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Anders verhält es sich mit der »Postwahrheit«, derzufolge –wenn man dem Oxford Dictionary glauben will – die objektiven Tat-sachen eine geringere Bedeutung haben als ihre subjektive Ein-schätzung. Die Fähigkeit des politischen Diskurses, die öffentlicheMeinung durch Appelle an die Gefühle zu modellieren, hat Vorrangvor der Realität der Fakten. Es ist nicht wichtig, ob Letztere die Mei-nungen prägen oder nicht, das Wesentliche ist die Wirkung derWorte. Die Unterscheidung in Wahr und Falsch wird also bedeu-tungslos angesichts der Wirksamkeit des »Glaubenmachens«. DasZeitalter der Postwahrheit ist auch das des Postfaktischen.

Viel ist gesagt worden über diese »postfaktische Politik«, diemit dem Brexit und der Wahl Donald Trumps zum US-PräsidentenEinzug in die Alltagssprache hielt, insbesondere über ihren Zusam-menhang mit der Erzeugung und viralen Verbreitung von fake newsüber die neuen Medien (Internet, soziale Netzwerke usw.).

Das ist nicht das Thema des vorliegenden Werkes. Denn das,was sich als Erstes aufdrängt, ist eine symptomale Lektüre. Der Be-griff ist keineswegs ein Einzelphänomen, sondern Teil einer Kon-stellation, die sich durch den massiven Gebrauch der Vorsilbe»Post/post« auszeichnet: Postmoderne, Postpolitik, Postdemokra-tie, Postkapitalismus usw. Es bietet sich also zunächst einmal an,sich über die Bedeutung des Präfixes Gedanken zu machen: Es ver-weist nicht nur auf den Gedanken einer zeitlichen Reihenfolge (et-was kommt nach dem Vorherigen), sondern beabsichtigt, einenqualitativen Bruch zu markieren, der, nach dem Vorbild des Aus-gangsbegriffs der Postmoderne, einem neuen Zeitalter, einer neuenOrdnung der Geschichte den Weg bereitet. Doch ist diese Inflationauch Zeichen einer Schwierigkeit, die Gegenwart, in der wir leben,zu verorten, sie in ihrer Einzigartigkeit zu benennen, Indiz einerKrise, die im »Post« gewissermaßen ihren lexikalischen Ausdruckfindet.

Insofern die Postwahrheit aufgrund zweier politischer Ereig-nisse in den Blickpunkt geraten bzw. insofern von »postwahrheit-licher« oder »postfaktischer Politik« die Rede ist, fragt man sich so-fort, ob diese Begriffe nicht auf Umwegen einen uralten Konflikt

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fortführen, ob man es nicht mit einer neuen Erscheinungsformeines vermeintlich unüberwindbaren Gegensatzes zu tun hat.Wahrheit und Politik sind bekanntlich noch nie gut miteinanderausgekommen. Nicht nur weil allgemein angenommen wird, dassdie Ausübung der Macht nicht auf den Einsatz von Lüge und Mani-pulation (was gemeinhin als »Machiavellismus« bezeichnet wird)verzichten kann, sondern auch weil alles darauf hindeutet, dass dieSuche nach der Wahrheit mit der politischen Alltagspraxis unver-einbar ist. Das wird bestätigt durch die platonische Version desSchicksals von Sokrates, der von einem demokratischen, der Machteines unwissenden und unbeherrschten demos ausgelieferten Ge-meinwesen zum Tode verurteilt wurde. Daher die wiederkehrendeVersuchung, die Aufgabe des Regierens den »Wissenden« anzuver-trauen: vom platonischen Philosophenkönig über Saint-Simon (dieVerwaltung von Sachen ist weniger riskant als die Regierung vonMenschen) bis zur »epistemokratischen« oder »epistokratischen«Tendenz, die heute unter der Ägide der ökonomischen Rationalitätdominiert. Man darf vermuten, dass das Auftauchen der Postwahr-heit im Zusammenhang steht mit dem Aufstieg der Populismen,die auf das Ressentiment gegen die Macht der Eliten (der »Wissen-den«) setzen. Im Gegenzug wird man versucht sein, da das Volknicht aufgeklärt genug ist, um rationale Entscheidungen zu treffen,auf die Kompetenz der Experten zu vertrauen …

So richtig diese beiläufige Analyse sein mag, sie berührt nochnicht den Kern des Problems. Die Fragte lautet vielmehr: Was beein-trächtigt die Postwahrheit? Das ist die Perspektive, die dieses Werk zuentfalten versucht, indem es zunächst eine historisch-begrifflicheGenealogie entwirft, die ihren Ausgang nimmt von der Ursprungs-debatte zwischen Platon und Aristoteles über das der Politik ange-messene Wahrheitsregime.

Es ist keineswegs anachronistisch, herauszustellen, was seitder griechischen Antike eine gewisse Art von Beziehung zwischender Sphäre der rationalen Wahrheit und der der menschlichen An-gelegenheiten, die den Wechselfällen des Unvorhersehbaren unter-worfen ist, bestimmt hat. Der aristotelische Ansatz geht davon aus,

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dass eine »Wahrheit« des Politischen, sofern sie existiert, den Wegüber die Aufwertung der doxa und des geteilten, in der öffentlichenDebatte entstandenen Urteils nimmt. Er schließt sich mitnichtender platonischen Verdammung der Meinung an, sondern konzen-triert das Denken auf die Analyse der Bedingungen der praxis unddes gemeinsamen Bodens, auf dem die politische Existenzweise be-ruht. Er offenbart ferner, dass die politische Sprache eine unüber-windliche Ambivalenz in sich trägt: Die Politik hat ihre eigene Artdes Sprachgebrauchs, die weder mit der der Wahrheit noch der derPhilosophie identisch ist, denn im öffentlichen Raum stehen sichviele unterschiedliche und konfligierende Standpunkte gegenüber.Pluralität – nicht zu verwechseln mit dem Relativismus der Meinun-gen – ist mit dem Horizont menschlicher Angelegenheiten unauf-löslich verbunden.

Diese Denkform hat zwar bis heute ihre ganze Gültigkeit be-wahrt, doch genügt sie nicht, um den besonderen BedingungenRechnung zu tragen, die dafür sorgen, dass die Postwahrheit vor al-lem den Tatsachenwahrheiten (hinsichtlich zufälliger Ereignisseoder solcher, die sich ohne zwingende Notwendigkeit zugetragenhaben) abträglich ist, weniger wissenschaftlichen oder rationalenWahrheiten, die in der Moderne kaum noch infrage gestellt werden.

Hannah Arendt hat mit unvergleichlicher Subtilität und Kraftdie zahlreichen Paradoxien herausgearbeitet, die das Verhältniszwischen Politik, Meinung und Tatsachenwahrheiten bestimmen.Während Tatsachenwahrheiten und Meinung gemein haben, an derStruktur der Öffentlichkeit zu partizipieren und menschlicher Plu-ralität zu entspringen, unterscheiden sie sich insofern, als die – fak-tische oder rationale – Wahrheit sich mit zwingender Notwendig-keit aufdrängt. Über die Tatsache, dass »zwei plus zwei gleich vier«ist, lässt sich ebenso wenig diskutieren wie darüber, dass DonaldTrump im November 2016 zum US-Präsidenten gewählt wurde. Fak-tische Wahrheiten drängen sich auf und stehen gewissermaßen»über« der Zustimmung. Und doch sind sie, trotz dieser scheinbarunwiderlegbaren Evidenz, anfällig, und man musste nicht erst biszum Auftreten des »Postfaktischen« warten, um zu dieser Einsicht

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zu gelangen. Wir kennen die Praktiken totalitärer Regime, die dieNamen entmachteter Führer aus den Geschichtsbüchern entferntenoder Fotos retuschierten, um unliebsam gewordene Personen ver-schwinden zu lassen.

Es wäre allerdings ein Irrtum, anzunehmen, dass die Post-wahrheit und die Erzeugung »alternativer Fakten« in demokrati-schen Gesellschaften denselben Mechanismen entspringen wie dietotalitäre Ideologie. Tatsächlich wird in beiden Fällen ein Ersatzfür die Realität angeboten, eine Neuordnung der gesamten Fakten-struktur, sodass eine fiktive Welt an die Stelle der Welt unserer ge-meinsamen Erfahrungen und Beziehungen tritt, die der »Boden«ist, auf dem wir stehen.

In den totalitären Regimen ruft eine »im phantasmatischenSinne fiktive« Ideologie eine ebenso verlogene wie kohärente Weltins Leben, die sich durch Erfahrung nicht widerlegen lässt. Dasideologische Denken befreit sich von der Erfahrung und entledigtsich des Realen, indem es die Existenz einer Realität behauptet, die»wahrer« ist als die, die wir begreifen und wahrnehmen. Es ordnetdie Tatsachen nach einem vollkommen logischen Verfahren: Ausge-hend von einer Prämisse mit axiomatischen Wert, von der sich allesÜbrige ableitet, gelangt man zu einer Kohärenz, wie man sie in derWirklichkeit niemals antrifft.

Auch wenn diese Vorgehensweise auf den ersten Blick man-chen Charakteristika der Postwahrheit nicht unähnlich ist (Faktenals »Artefakte« zu betrachten, durch die Verbreitung von fake newsdie Existenz »alternativer Fakten« zu behaupten), lässt sich die Wir-kung totalitärer Mechanismen nicht pauschal auf demokratischeGesellschaften übertragen, in denen sich die Frage anders stellt.Störende oder unbequeme Wahrheiten werden in »Meinungen«verwandelt, die man vertreten kann, als wären sie nicht direkt in un-bestreitbaren Fakten verankert. Die Leugnung des Holocaust ist indieser Hinsicht ein exemplarischer Fall, denn sie verfälscht und be-seitigt das Reale unter den Augen derer, die es erlebt haben. DieserProzess – begünstigt durch den Hang zum »Anything-goes«-Relati-vismus – ermöglicht es, sich von der Tatsachenevidenz zu befreien

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und zu einer Art undifferenzierten Vielfalt zu gelangen, bei der dasÄußern von Meinungen nicht mehr durch Fakten gestützt oder legi-timiert zu werden braucht. Sind Meinungen nur insofern begrün-det, als sie sich auf faktische Wahrheiten stützen, schafft die Post-wahrheit diese Beglaubigung ab, was dazu führt, dass dieUnterscheidung in Wahr und Falsch hinfällig wird. Es ist nichtmehr nötig, dass Fakten Meinungen gestalten. So waren währendder Amtseinführungszeremonie von Donald Trump weniger Zu-schauer anwesend als bei derjenigen von Obama 2009. Das schertedas Team des neuen Präsidenten wenig, da seine Beraterin bei dieserGelegenheit behauptete, ungeachtet der Fotos und Dokumente,dass man eine Menge nie wirklich »quantifizieren« könne und dasses folglich »alternative Fakten« gäbe. Wie die Chefredakteurin desGuardian in ihrem Kommentar zur Brexit-Kampagne und ihremAusgang bemerkte: wenn Fakten ein »Zahlungsmittel« wären,käme man an der Feststellung nicht vorbei, dass sie gerade stark anWert verloren hätten.

Das Problem wird noch komplizierter, wenn man die Art desProzesses analysiert, der den Tatsachenwahrheiten entgegenläuft:nämlich die Lüge, genauer gesagt, die Fähigkeit, die faktische Wirk-lichkeit zu leugnen, zu negieren oder zu entstellen. Sie ist verwandtmit der Möglichkeit, das Wirkliche handelnd zu verändern, andersgesagt, sich vorzustellen, dass das Wirkliche anders sein könnte, alses ist. Arendt vertritt diese irritierende, wenn nicht provokanteThese, indem sie die Nähe zwischen der Fähigkeit des Lügens, dervorsätzlichen Leugnung der Realität, und der Fähigkeit des Han-delns, der Veränderung der Welt, betont. Beide entspringen der Vor-stellungskraft und der Ausübung einer Freiheit, die imstande ist,Neues und Unvorhergesehenes zu erzeugen. Diese Verwandtschaftmacht der Lügner sich zunutze, indem er heimlich von der Verände-rung zur Verfälschung des Wirklichen übergeht. Doch tut er nichtsanderes, als die menschliche Freiheit zu entstellen oder zu verfäl-schen, diese ursprüngliche Fähigkeit, die die Macht besitzt, die be-stehende Ordnung der Welt zu ändern.

Diese Verflechtung gilt es zu berücksichtigen, will man das der

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Politik immanente Paradox verstehen, das sich nicht in den Mittelnerschöpft, die man traditionell der politischen Praxis zuschreibt.Das »Wahrsprechen« unterhält eine schwierige Beziehung zur im-manenten Ambiguität der politischen Sprache: Aristoteles war sichdessen bewusst, als er versuchte, die Regeln des wahrscheinlichenDiskurses aufzustellen, in einem Kontingenzbedingungen entspre-chenden logischen System, das nicht das des »Wahren« ist. So er-hellend Foucaults Analysen der parrhesia (des Wahrsprechens, derUnverblümtheit, der freien Meinungsäußerung) im Hinblick aufeine Geschichte der Subjektivität und der Herausbildung des ethi-schen Subjekts auch sind, er war wahrscheinlich noch zu sehr Plato-niker, um das Paradox des Politischen – und vielleicht seine Zerris-senheit – bis zum Ende durchzuhalten, ohne zu versuchen, es in denNachweis des Ethischen aufzulösen. Wenn die Welt nur existiert,weil ein »Selbst« sich in ihr befindet und handelt, gilt umgekehrt,dass es kein Selbst geben kann »ohne eine in irgendeiner Weisepraktikable Welt«.2

Aristoteles stand vor einem Problem, auf das Arendt zurück-kam: das des Imaginären. Anders ausgedrückt, die Verwandlungvon Tatsachenwahrheiten in Meinungen ist mit der prekären, umnicht zu sagen pervertierten Ausübung der Urteilskraft verbunden,die heutzutage durch die virale Informationsverbreitung noch in-tensiviert wird. Doch die Verwandtschaft zwischen Lügenkönnenund Freiheit, die Nähe zwischen Lüge und der Fähigkeit zur Verän-derung des Bestehenden führt uns dazu, die Frage nach der Fiktionund ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit, zu ihrer Produktivität und/oder ihrem Missbrauch zu stellen oder vielmehr neu zu stellen.

Wie steht es um die Macht der Fiktion? Unter welchen Voraus-setzungen ist sie ein Tun-Können3? Was unterscheidet eine ohn-mächtige Fiktion, die nur ein Ersatz für das Reale ist, von einerimaginativen Neugestaltung, deren heuristische Kraft es uns er-

2 Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, S. 373.3 Im Original pouvoir-faire, siehe Ricœur, Das Selbst als ein Anderer,

S. 266 [AdÜ].