Technicher Fortschritt Und Globalisierung

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Herausforderung Zukunft – Technischer Fortschritt und Globalisierung Michael F. Jischa Verantwortungsvoller Umgang mit Ressourcen“: So lautete der Titel der GVC/DECHEMA- Jahrestagungen 2006. Im Folgenden soll das Thema in einen größeren Rahmen gestellt werden, bezeichnet als Herausforderung Zukunft. So lautet der Titel meines gleichnamigen Buches mit dem Untertitel Technischer Fortschritt und Globalisierung [1], dem die hier gezeig- ten Bilder und Tabellen entnommen sind. Interessant ist zunächst die Frage, warum und seit wann wir darüber nachdenken. 1 Die Bewusstseinswende der sechziger Jahre Bis vor gut drei Jahrzehnten war der Fort- schrittsglaube überall in der Welt ungebro- chen. Insbesondere die Aufbauphase in unse- rem Land nach dem Zweiten Weltkrieg wurde davon getragen. Die Erde schien über nahezu unerschöpfliche Ressourcen zu verfügen, und die Aufnahmekapazität von Wasser, Luft und Boden für Schadstoffe und Abfälle schien un- begrenzt zu sein. Die Segnungen von Wissen- schaft und Technik verhießen geradezu para- diesische Zustände. Alles schien machbar zu sein, und man glaubte, dass Wohlstand für alle – und damit auch für die Entwicklungsländer – nur eine Frage der Zeit sei. Die Entwicklungsländer und die Länder des ehemals kommunistischen Teils der Welt huldigen nach wie vor uneinge- schränkt dem Fortschrittsglauben, während dieser in der industrialisierten Welt zuneh- mend ins Wanken geriet. Ironischerweise be- durfte es erst des Wohlstands, damit die im Wohlstand lebenden Gesellschaften die Tech- nik und deren Segnungen zunehmend skep- tisch beurteilten. 1969 landeten zwei US-Astro- nauten als erste Menschen auf dem Mond. Dies markierte einerseits einen Höhepunkt der Technikeuphorie. Andererseits wurde über die Fernsehschirme die Botschaft zu uns ge- tragen, dass unser Raumschiff Erde endlich ist und dass wir alle in einem Boot sitzen. In den Wohlstandsgesellschaften der west- lichen Welt wurde in den sechziger Jahren eine Bewusstseinswende sichtbar [2]. Mit dem Kürzel „1968er Bewegung“ bezeichnen wir in unserem Land eine Reihe von ineinander grei- fenden gesellschaftlichen Prozessen, die in hohem Maße von studentischen Aktivitäten getragen wurden. Dazu gehörten Friedens- bewegungen, Frauenbewegungen, massive Proteste gegen die Kernenergie, gegen die Or- dinarienuniversität („unter den Talaren Muff von 1000 Jahren“) und nicht zuletzt gegen die Umweltzerstörungen. Aus den ökologischen Bewegungen ist mit den „Grünen“ eine offen- kundig stabile politische Kraft hervorgegan- gen. Die Bewusstseinswende manifestierte sich in unterschiedlicher Weise. Zum einen wurde 1968 der Club of Rome gegründet. Die Initia- tive hierzu ging von dem Fiat-Manager Aurelio Peccei und dem OECD-Wissenschaftsmanager Alexander King aus. Sie setzten sich zum Ziel, gleich gesinnte Persönlichkeiten aus Wirt- schaft und Politik zu gewinnen, um gemein- sam über die für die Zukunft der Menschheit entscheidenden Herausforderungen zu disku- tieren. Hierfür prägten sie die Begriffe „World Problematique“ und „World Resolutique“. Ihre erste Analyse war erstaunlich weitsichtig, sie betraf drei Punkte: . die Bedeutung eines holistischen Ansatzes zum Verständnis der miteinander vernetz- ten Weltprobleme, . die Notwendigkeit von langfristig angeleg- ten Problemanalysen und . die Aufforderung „global denken und lokal handeln“. Das bedeutete eine Vorwegnahme des Leit- bildes Nachhaltigkeit. Schon 1962 hatte die amerikanische Bio- login Carson mit ihrem inzwischen zum Kult- Ironischerweise bedurfte es erst des Wohlstands, damit die im Wohl- stand lebenden Gesellschaften die Technik und deren Segnungen zu- nehmend skeptisch beurteilten. Sustainable Development 29 Chemie Ingenieur Technik 2007, 79, No. 1-2 © 2007 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.cit-journal.de DOI: 10.1002/cite.200600142

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Technischer Fortschritt undGlobalisierung

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  • Herausforderung Zukunft Technischer Fortschritt undGlobalisierungMichael F. Jischa

    Verantwortungsvoller Umgang mit Ressourcen: So lautete der Titel der GVC/DECHEMA-

    Jahrestagungen 2006. Im Folgenden soll das Thema in einen greren Rahmen gestellt

    werden, bezeichnet als Herausforderung Zukunft. So lautet der Titel meines gleichnamigen

    Buches mit dem Untertitel Technischer Fortschritt und Globalisierung [1], dem die hier gezeig-

    ten Bilder und Tabellen entnommen sind. Interessant ist zunchst die Frage, warum und

    seit wann wir darber nachdenken.

    1 Die Bewusstseinswende dersechziger Jahre

    Bis vor gut drei Jahrzehnten war der Fort-schrittsglaube berall in der Welt ungebro-chen. Insbesondere die Aufbauphase in unse-rem Land nach dem Zweiten Weltkrieg wurdedavon getragen. Die Erde schien ber nahezuunerschpfliche Ressourcen zu verfgen, unddie Aufnahmekapazitt von Wasser, Luft undBoden fr Schadstoffe und Abflle schien un-begrenzt zu sein. Die Segnungen von Wissen-schaft und Technik verhieen geradezu para-diesische Zustnde.

    Alles schien machbar zu sein, und manglaubte, dass Wohlstand fr alle und damitauch fr die Entwicklungslnder nur eineFrage der Zeit sei. Die Entwicklungslnderund die Lnder des ehemals kommunistischenTeils der Welt huldigen nach wie vor uneinge-schrnkt dem Fortschrittsglauben, whrenddieser in der industrialisierten Welt zuneh-mend ins Wanken geriet. Ironischerweise be-durfte es erst des Wohlstands, damit die imWohlstand lebenden Gesellschaften die Tech-nik und deren Segnungen zunehmend skep-tisch beurteilten. 1969 landeten zwei US-Astro-nauten als erste Menschen auf dem Mond.Dies markierte einerseits einen Hhepunktder Technikeuphorie. Andererseits wurde berdie Fernsehschirme die Botschaft zu uns ge-tragen, dass unser Raumschiff Erde endlich istund dass wir alle in einem Boot sitzen.

    In den Wohlstandsgesellschaften der west-lichen Welt wurde in den sechziger Jahreneine Bewusstseinswende sichtbar [2]. Mit demKrzel 1968er Bewegung bezeichnen wir in

    unserem Land eine Reihe von ineinander grei-fenden gesellschaftlichen Prozessen, die inhohem Mae von studentischen Aktivittengetragen wurden. Dazu gehrten Friedens-bewegungen, Frauenbewegungen, massiveProteste gegen die Kernenergie, gegen die Or-dinarienuniversitt (unter den Talaren Muffvon 1000 Jahren) und nicht zuletzt gegen dieUmweltzerstrungen. Aus den kologischenBewegungen ist mit den Grnen eine offen-kundig stabile politische Kraft hervorgegan-gen.

    Die Bewusstseinswende manifestierte sichin unterschiedlicher Weise. Zum einen wurde1968 der Club of Rome gegrndet. Die Initia-tive hierzu ging von dem Fiat-Manager AurelioPeccei und dem OECD-WissenschaftsmanagerAlexander King aus. Sie setzten sich zum Ziel,gleich gesinnte Persnlichkeiten aus Wirt-schaft und Politik zu gewinnen, um gemein-sam ber die fr die Zukunft der Menschheitentscheidenden Herausforderungen zu disku-tieren. Hierfr prgten sie die Begriffe WorldProblematique und World Resolutique. Ihreerste Analyse war erstaunlich weitsichtig, siebetraf drei Punkte: die Bedeutung eines holistischen Ansatzes

    zum Verstndnis der miteinander vernetz-ten Weltprobleme,

    die Notwendigkeit von langfristig angeleg-ten Problemanalysen und

    die Aufforderung global denken und lokalhandeln.Das bedeutete eine Vorwegnahme des Leit-

    bildes Nachhaltigkeit.Schon 1962 hatte die amerikanische Bio-

    login Carson mit ihrem inzwischen zum Kult-

    Ironischerweisebedurfte es erstdes Wohlstands,damit die im Wohl-stand lebendenGesellschaften dieTechnik und derenSegnungen zu-nehmend skeptischbeurteilten.

    Sustainable Development 29Chemie Ingenieur Technik 2007, 79, No. 1-2

    2007 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.cit-journal.de

    DOI: 10.1002/cite.200600142

  • buch der kologiebewegung avancierten BandDer stumme Frhling [3] ein aufrttelndesSignal gesetzt. Zehn Jahre spter schockierteder erste Bericht an den Club of Rome DieGrenzen des Wachstums [4] die ffentlich-keit; das Buch erreichte eine Auflage von ber10 Mio. Exemplaren. Knapp zehn Jahredanach wurde der von James Carter, dem da-maligen Prsidenten der USA, initiierte Be-richt Global 2000 [5] vorgestellt. Im Jahr1987 erschien der Brundtland-Bericht derWeltkommission fr Umwelt und Entwick-lung mit dem Titel Our Common Futureund kurz darauf die deutsche Version Unseregemeinsame Zukunft [6]. Dieser Bericht hatentscheidend dazu beigetragen, das LeitbildSustainable Development einer greren ffent-lichkeit nahe zu bringen. Die Diskussion er-reichte einen vorlufigen Hhepunkt mit derAgenda 21, dem Abschlussdokument der Rio-Konferenz fr Umwelt und Entwicklung 1992[7].

    Die Rio-Konferenz hat die Situation in dras-tischer Weise deutlich gemacht. Gelingt es denEntwicklungslndern, das Wohlstandsmodellder Industrielnder erfolgreich zu kopieren(was sie mit unserer Hilfe mehr oder wenigererfolgreich versuchen), so wre das der kolo-gische Kollaps des Planeten Erde. Davon kannman sich leicht berzeugen, wenn man denderzeitigen Verbrauch an Primrenergie undRohstoffen der Industrielnder sowie die da-mit verbundenen Umweltprobleme auf dieEntwicklungslnder hochrechnet. Somit lautetdie schlichte Erkenntnis, dass die Dritte Weltnicht mehr so werden kann, wie die Erste jetztist, und die Erste zwangslufig nicht mehr sobleiben kann, wie sie noch ist. Kurz formuliert:Das Wohlstandsmodell der Ersten Welt istnicht exportfhig.

    Offenbar befinden wir uns am Ende desBaconschen Zeitalters [8], wobei wir die neu-zeitliche Wissenschaft als die Epoche Baconsbezeichnen. Denn in unserem Verhltnis zurWissenschaft ist eine Selbstverstndlichkeit ab-handen gekommen, nmlich die Grundber-zeugung, dass wissenschaftlicher und techni-scher Fortschritt zugleich und automatischhumanen und sozialen Fortschritt bedeuten.Die wissenschaftlich-technischen Errungen-schaften bewirken neben dem angestrebtenNutzen immer auch Schden, die als Folge-und Nebenwirkungen die ursprnglichen Ab-sichten konterkarieren.

    Der Begriff Nachhaltigkeit ist keine Erfin-dung unserer Tage. Konzeptionell wurde ererstmals im 18. Jahrhundert in Deutschlandunter der Bezeichnung des nachhaltigen Wirt-schaftens eingefhrt, als starkes Bevlkerungs-wachstum und zunehmende Nutzung des

    Rohstoffes Holz als Energietrger und als Bau-material eine einschreitende Waldpolitik erfor-derlich machten. Als deutsche Rckberset-zung des Begriffs Sustainable Development hatsich die Kurzform Nachhaltigkeit (= Sustainabi-lity) eingebrgert.

    Die berzeugungskraft des Leitbildes Sus-tainability = Nachhaltigkeit ist offensichtlichgro. Mindestens ebenso gro scheint jedochdie Unverbindlichkeit dieses Leitbildes zusein, da die verschiedenen gesellschaftlichenund politischen Gruppen jeweils ihrer Sule,also entweder der Wirtschaft, der Umwelt oderder Gesellschaft, eine besonders hohe Priorittzuerkennen. Zielkonflikte sind vorprogram-miert, politische und gesellschaftliche Ausei-nandersetzungen belegen dies. Als Fazit seifestgehalten: Das Leitbild Nachhaltigkeit istallseits akzeptiert, aber diffus formuliert. Diefllige Umsetzung leidet sowohl an stndigenZielkonflikten als auch an fehlender Operatio-nalisierbarkeit.

    Es kann heute nicht mehr darum gehen, wieNachhaltigkeit definiert wird. Entscheidend istdie Frage, wie Nachhaltigkeit in wirtschaft-liches und politisches Handeln umgesetzt wer-den kann, um der Herausforderung Zukunft zubegegnen. Welches sind nun die traditionel-len Faktoren der Herausforderung Zukunft?Der Zusatz traditionell soll andeuten, dassdurch den Prozess der Globalisierung neueProblemfelder hinzugekommen sind, auf diespter eingegangen wird.

    2 Zentrale Faktoren derHerausforderung Zukunft

    Zu den traditionellen Faktoren der Herausfor-derung Zukunft zhlen die Bevlkerungs-, dieVersorgungs- und die Entsorgungsfalle. Mit demBegriff Falle soll die Dramatik verdeutlichtwerden. In Abb. 1 sind wesentliche Elementeder drei Fallen dargestellt.

    Bevlkerungsfalle: Die Weltbevlkerung istzunchst sehr langsam gewachsen. Schtzun-gen ergeben fr die Zeit um 10 000 v. Chr.etwa 5 Mio. Menschen. Von Christi Geburt andauerte es 1600 Jahre, bis die Bevlkerungs-zahl von 250 auf 500 Mio. zunahm, sich alsoverdoppelte. In der Folgezeit nahm die Ver-dopplungszeit deutlich ab. 1830 lebten 1 Mrd.Menschen, 2 Mrd. waren es 1930, 4 Mrd. 1974und 6 Mrd. waren 1999 erreicht.

    Anhand konkreter Daten aus dem Weltbe-vlkerungsbericht 2004 [10] werden regionaleUnterschiede deutlich. Dazu werden in Tab. 1dargestellt: Die Bevlkerungszahlen 2004sowie 2050 (mittlere Prognose) in Millionen,sowie die fr den Zeitraum 2000 bis 2005

    Gelingt es den Ent-wicklungslndern,das Wohlstandsmo-dell der Industrie-lnder erfolgreichzu kopieren, sowre das der kolo-gische Kollaps desPlaneten Erde. DasWohlstandsmodellder Ersten Welt istnicht exportfhig.

    Die wissenschaft-lich-technischenErrungenschaftenbewirken nebendem angestrebtenNutzen immer auchSchden, die alsFolge- und Neben-wirkungen dieursprnglichenAbsichten konter-karieren.

    Das Leitbild Nach-haltigkeit ist allseitsakzeptiert, aberdiffus formuliert.Die fllige Umset-zung leidet sowohlan stndigen Ziel-konflikten als auchan fehlender Opera-tionalisierbarkeit.

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  • prognostizierten Wachstumsraten r und Ge-burtenraten b in Prozent. Nach diesen Zahlenwird die Weltbevlkerung von etwa 6,4 im Jahr2004 bis 2050 auf etwa 8,9 Mrd. Menschen an-wachsen, also um 40 %. Der letzte Weltbe-vlkerungsbericht von 2005 geht fr das Jahr2050 von 9,1 statt von 8,9 Mrd. aus.

    In der oberen Hlfte der Tabelle ist die Welt-bevlkerung in zwei Regionen unterteilt. DieMore Developed Regions (MDR) werdenauch als Industrielnder und die Less Develo-ped Regions (LDR) als Entwicklungslnderbezeichnet. Danach wird in den nchstenknapp 50 Jahren der Anteil der Bevlkerungder derzeitigen Industrielnder von 18,9 auf13,7 % abnehmen und korrespondierend dazuder Anteil der Bevlkerung der derzeitigenEntwicklungslnder von 81,1 auf 86,3 % zu-nehmen. Dieses Verhltnis lag 1990 bei 23 zu77, es betrug 1970 etwa 30 zu 70, es lag 1900bei 35 zu 65 und 1750 bei 25 zu 75. In diesenZahlen spiegelt sich der Modernisierungspro-zess wider, der im 19. Jahrhundert zu demauerordentlich starken Bevlkerungszuwachsin den heutigen Industrielndern gefhrt hat.Whrend schon seit einigen Jahren die Bevl-kerung in den Industrielndern stagniert,findet der Bevlkerungszuwachs der Welt nun-mehr ausschlielich in den Lndern der Drit-ten Welt statt.

    Eine Unterteilung der Entwicklungslnderwurde 1971 von den Vereinten Nationen vor-genommen. Aus der Gruppe der Lnder derDritten Welt (LDR) wurden die rmsten Ln-der abgegrenzt, die teilweise auch als VierteWelt bezeichnet werden. Diese Abgrenzungsttzt sich auf drei Indikatoren: Bruttoinlands-produkt pro Kopf, Anteil der industriellen Pro-duktion am Bruttoinlandsprodukt und Alpha-betisierungsrate. Diese Lndergruppe ist inTab. 1 mit Least Developed Regions (LLDR)gemeint, und deren Anteil an der Weltbevlke-rung wird von 11,5 auf 18,7 % bis 2050 anstei-gen.

    In der unteren Hlfte der Tabelle sind unsvertraute Regionen aufgefhrt. Europa ist dereinzige Erdteil, dessen Bevlkerung nicht nurin relativen, sondern auch in absoluten Zahlenin den nchsten 50 Jahren deutlich abnehmenwird, der relative Anteil an der Weltbevlke-rung geht von 11,4 auf 7,1 % zurck. Der rela-tive Anteil Amerikas wird mit 8,6 % gleichbleiben und derjenige Asiens geringfgig zu-rckgehen, von 60,7 auf 58,5 %. Afrika wirdderjenige Kontinent sein, dessen Anteil an derWeltbevlkerung deutlich zunehmen wird, von13,6 auf 20 %.

    Versorgungs- und Entsorgungsfalle: Die Res-sourcenfrage sei auf die Diskussion des Wel-tenergieverbrauchs beschrnkt, der in Abb. 2

    gemeinsamen mit der Entwicklung der Welt-bevlkerung seit der industriellen Revolutiondargestellt ist.

    Whrend die Weltbevlkerung von 1900 bis2000 von 1,65 auf gut 6 Mrd. nur um das gut3,5-fache angewachsen ist, ist der Primrener-gieverbrauch in dem gleichen Zeitraum umfast das 13-fache gewachsen! Er betrug 1900etwa 1 Mrd. t SKE, im Jahr 2000 lag er beiknapp 13 Mrd. t SKE.

    Fr den Vergleich der Heizwerte von Ener-gietrgern werden neben der Steinkohlenein-heit SKE als Vergleichsma auch die Rohlein-heit RE und die physikalische EnergieeinheitJoule verwendet. Dabei entsprechen 1 kg SKE

    Abbildung 1. Zentrale Faktoren der Herausforderung Zukunft [1, 9].

    Bev. 2004 in Mio. Bev. 2050 in Mio. r in %2000 2005

    b in %2000 2005

    Welt total 6378 8919 1,2 2,69

    MDR 1206 (18,9 %) 1220 (13,7 %) 0,2 1,56

    LDR 5172 (81,1 %) 7699 (86,3 %) 1,5 2,92

    LLDR 736 (11,5 %) 1675 (18,7 %) 2,4 5,13

    Europa 726 (11,4 %) 632 (7,1 %) 0,1 1,38

    Amerika 551 (8,6 %) 768 (8,6 %) 1,3 2,55

    Afrika 869 (13,6 %) 1803 (20 %) 2,2 4,91

    Asien 3871 (60,7 %) 5222 (58,5 %) 1,4 2,53

    Tabelle 1. Demografische Indikatoren 2004 und 2050, mittlere Prognose nach [10].

    Abbildung 2. Weltbevlke-rung und Weltenergiever-brauch seit der industriellenRevolution [1, 9].

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  • = 0,7 kg RE = 29,309 MJ. Es wird angenom-men, dass der Weltenergieverbrauch in 20 Jah-ren um 50 % hher sein wird als heute, alsobei etwa 20 Mrd. t SKE liegen wird. Ergnzenddazu ist in Abb. 3 die Energiegeschichte derMenschheit dargestellt.

    Bis zur industriellen Revolution lebte dieMenschheit in einer ersten solaren Zivilisa-tion. Als Energie standen die menschliche unddie tierische Arbeitskraft, das Feuer durch Ver-brennen von Holz und Biomasse sowie Wind-und Wasserkraft zur Verfgung. In gro-technischem Mastab wird Kohle seit Beginnder industriellen Revolution, also seit gut 200Jahren genutzt. Mit dem zweiten groen fossi-len Primrenergietrger, dem Erdl, begannvor gut 100 Jahren der Aufstieg zweier Indus-triezweige, die mageblich an unserem heuti-gen Wohlstand beteiligt sind: Automobilindus-trie und Grochemie. Erdgas trgt als dritterfossiler Primrenergietrger erst seit gut 50 Jah-ren, zeitgleich mit der Nutzung der Kernener-gie, zum Energieangebot bei. Auf die drei ge-nannten fossilen Primrenergietrger entfallenderzeit knapp 90 % und auf die Kernenergie gut5 % der Weltenergieversorgung. Die restlichen5% werden imWesentlichen durchWasserkraftgedeckt. Wind- und Sonnenenergie spielenheute noch eine untergeordnete Rolle.

    Seit Beginn der industriellen Revolution ver-halten wir uns nicht wie ein seriser Kauf-mann, der von den Zinsen seines Kapitals lebt.In geologischen Zeitrumen hat die Erde Son-nenenergie in Form von Kohle, Erdl und Erd-gas akkumuliert. Die Menschheit wird zumVerfeuern der gesamten Vorrte nur wenigeJahrhunderte oder gar Jahrzehnte bentigen.

    Ohne an dieser Stelle auf genaue Definitio-nen von Ressourcen, wahrscheinlichen undsicheren Reserven einerseits sowie auf stati-sche und dynamische Reichweiten anderer-seits einzugehen, sei kurz gesagt: Kohle, Erdlund Erdgas stehen nur noch fr einen Zeit-raum zur Verfgung, der etwa der bisherigenNutzungsdauer entspricht. Es ist daher berech-tigt, das erst gut 200 Jahre whrende fossileZeitalter als Wimpernschlag in der Zivilisa-tionsgeschichte zu bezeichnen. Die Frage wirdsein, ob die Menschheit nach der langen ers-ten solaren Zivilisation, unterbrochen durcheine sich dem Ende zuneigende fossile Ener-giephase, in eine zweite intelligente solareZivilisation einsteigen wird, oder ob sie einenmassiven Ausbau der Kernenergie, die eineBrtertechnologie sein msste, betreiben wird.

    In der Diagnose sind sich alle Experten ei-nig: Die Welt befindet sich in einem bergangvon dem heutigen Energiesystem, basierendauf den fossilen Primrenergietrgern Kohle,Erdl und Erdgas, hin zu einem neuen Welt-energiesystem. Wie dieses aussehen knnte,darber gehen die Meinungen auseinander,was vor allem die zuknftige Rolle der Kern-energie betrifft.

    In Abb. 4 ist unser heutiges Energiesystemdargestellt. Wir gewinnen Kohle, Erdl undErdgas sowie Uran aus der Erde, der Umwelt.ber entsprechende Aufbereitungs- undWandlungsprozesse wird daraus Sekundr-energie fr die verschiedenen Verwendungs-zwecke. Anschlieend werden die Rest- unddie Schadstoffe (hierzu zhlen Abwsser, Ab-luft, Staub, Aschen, Abwrme) nach einer ge-eigneten Weiterbehandlung wieder in die Um-welt (in Boden, Luft und Wasser) abgegeben.Es handelt sich um ein offenes System, daskeine Zukunft haben kann, mit einem Versor-gungsproblem auf der Inputseite und einemEntsorgungsproblem auf der Outputseite. Da-mit wird deutlich, dass unser derzeitiges Ener-giesystem sowohl aus Versorgungs- als auch ausEntsorgungsgrnden nicht zukunftsfhig ist.

    Viele Grnde sprechen dafr, dass wir, wiein Abb. 3 angedeutet, in eine zweite solareZivilisation einsteigen werden. Hierfr stehenviele Optionen offen zum einen die Um-wandlung von Sonnenenergie in elektrischenStrom mittels solarthermischer Kraftwerkeund (als Insellsungen) durch Fotovoltaik.

    Abbildung 3. Energiegeschichte der Menschheit [1, 9], in Anlehnung an Hubbert(s. C.-J. Winter, Die Energie der Zukunft heit Sonnenenergie, Droemer Knaur,Mnchen 1993).

    Abbildung 4. Heutige Energieversorgung [1, 9, 11].

    Es ist berechtigt,das erst gut200 Jahre whrendefossile Zeitalter alsWimpernschlag inder Zivilisationsge-schichte zu bezeich-nen.

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  • Hinzu kommt die vielfltige indirekte Nut-zung der Sonnenenergie in Form von Wind,Laufwasser und insbesondere Biomasse.

    Neue Problemfelder sind durch den Prozessder Globalisierung deutlich geworden. Er wur-de durch die enorme Beschleunigung destechnischen Fortschritts in den Informations-technologien ausgelst.

    3 Technischer Fortschritt undGlobalisierung

    Aus philosophischer Sicht beschreiben zweiAussagen unsere heutige Situation plastisch:

    Wir leben in einer Zeit der Gegenwarts-schrumpfung [12]. Denn wenn wir wie LbbeGegenwart als die Zeitdauer konstanter Le-bens- und Arbeitsverhltnisse definieren, dannnimmt der Aufenthalt in der Gegenwart stn-dig ab. Als eine Folge der unglaublichenDynamik des technischen Wandels rckt dieunbekannte Zukunft stndig nher an dieGegenwart heran. Gleichzeitig wchst in derGesellschaft die Sehnsucht nach dem Dauer-haften, dem Bestndigen. Der Handel mitAntiquitten, Oldtimern und Repliken blht,weil diese das Dauerhafte symbolisieren.

    Zugleich gilt eine fr Entscheidungstrger,ob in Wirtschaft oder Politik, ernchterndeErkenntnis, die kurz das Popper-Theoremgenannt werden kann [13]: Wir knnen immermehr wissen, und wir wissen auch immermehr. Aber eines werden wir niemals wissenknnen, nmlich was wir morgen wissen wer-den, denn sonst wssten wir es bereits heute.

    Das bedeutet, dass wir zugleich immer kl-ger und immer blinder werden. Mit fortschrei-tender Entwicklung der modernen Gesell-schaft nimmt die Prognostizierbarkeit ihrerEntwicklung stndig ab. Niemals zuvor in derGeschichte gab es eine Zeit, in der die Gesell-schaft so wenig ber ihre nahe Zukunftgewusst hat wie heute. Gleichzeitig wchst dieZahl der Innovationen stndig, die unsereLebenssituation strukturell und meist irrever-sibel verndert.

    Technische Innovationen haben stets Aus-wirkungen auf die Gesellschaft gehabt. VieleAuswirkungen waren und sind zunchst kaumwahrnehmbar, da sie schleichend die Gesell-schaft durchdringen. Von entscheidender Be-deutung sind radikale Innovationen, die zumassiven Vernderungen gesellschaftlicherStrukturen fhren knnen. In der Geschichtehat sich die Menschheit stets dynamisch ent-wickelt, ein Prozess, der als Zivilisationsdyna-mik bezeichnet werden kann. Diese ist bislangdurch zwei fundamentale Revolutionen ge-prgt worden, die zu gewaltigen Steigerungen

    der Produktivitt und zu massiven Vernde-rungen der Gesellschaft gefhrt haben: dieneolithische Revolution sowie die wissenschaft-liche und industrielle Revolution. Wir erlebenderzeit den Beginn einer neuen Epoche derMenschheitsgeschichte, die digitale Revolution,und befinden uns im bergang von der Indus-triegesellschaft in die Informationsgesell-schaft.

    Abb. 5 zeigt diese Entwicklung in qualita-tiver Form, in Anlehnung an ein internesPapier von P. Johnston, Europische Kommis-sion, mit dem Titel Technology driving Change:Perspectives for a Global Information Society.Auf der horizontalen Achse ist die zentraleQuelle (die Ressource) der jeweiligen Gesell-schaftstypen aufgetragen. Sie kann auch alseine Zeitachse interpretiert werden, denn diebergnge erfolgten in zeitlicher Abfolge. Aufder vertikalen Achse ist die Wertschpfungaufgetragen, in heutiger Terminologie alsBruttoinlandsprodukt (BIP) in der EinheitEuro pro Kopf (capita) und Jahr.

    Die Abbildung beschreibt den starkenAnstieg der Wertschpfung (der Produktivitt)bei den drei revolutionren bergngen, vonder Jagd- zur Agrargesellschaft, von der Agrar-zur Industriegesellschaft und von der Indust-rie- zur Informationsgesellschaft. Die Begriffein Klammern geben die vorherrschende gesell-schaftliche Struktur wieder, wobei aus Grn-den der Prgnanz und bersichtlichkeit dieenglischen Begriffe verwendet werden. Siesind bis auf das Wort Tribal (von tribe =Stamm) mit den deutschen Begriffen iden-tisch. Die Bezeichnung Global bedeutet nicht,dass die Informationsgesellschaft aus denNationalstaaten einen Globalstaat machenwird, sondern es soll angedeutet werden, dassdie Informationsgesellschaft globale Struktu-ren erzwingt. Der Begriff Informationsgesell-schaft wurde gewhlt, weil hierzu das hufigverwendete englische Pendant InformationSociety existiert. Es wird sich herausstellen, obdieser Begriff Bestand haben wird. AlternativeBezeichnungen lauten Dienstleistungs-, Ser-

    Abbildung 5. Technischer Wandel als Motor fr gesellschaft-liche Vernderungen [1], in Anlehnung an Johnston (Europ-ische Kommission).

    Mit fortschreitenderEntwicklung dermodernen Gesell-schaft nimmt diePrognostizierbarkeitihrer Entwicklungstndig ab. Niemalszuvor in der Ge-schichte gab es eineZeit, in der die Ge-sellschaft so wenigber ihre naheZukunft gewussthat wie heute.

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  • vice-, Wissens-, Wissenschafts- oder auch Wis-senstechnologiegesellschaft.

    Ein Beleg dafr, dass die digitale Revolutionzu einer neuen Epoche in der Zivilisations-geschichte fhrt, ist die Berufswelt. Sie ist eintypischer Indikator fr gesellschaftliche Um-brche. Vor der neolithischen Revolution be-stand die vorherrschende Ttigkeit im Sam-meln und Jagen. In der Agrargesellschaft lagdas Schwergewicht der Beschftigung in derLandwirtschaft, im Ackerbau und in der Vieh-zucht. Beim bergang von der Agrar- indie Industriegesellschaft verschob sich derSchwerpunkt der Ttigkeit von der landwirt-schaftlichen Produktion hin zur industriellenFertigung.

    Abb. 6 zeigt die Vernderungen in der Be-rufswelt in Deutschland seit 1882, der Blte-

    zeit der industriellen Revolution, entnommender Broschre Maarbeit statt Massenware,Deutschland im globalen Strukturwandel desInstituts der deutschen Wirtschaft (IW). DieAbbildung zeigt zum einen, wie sich der relati-ve Anteil der Erwerbsttigen in den drei Berei-chen Landwirtschaft, Industrie und Dienstleis-tungen in den letzten 120 Jahren verschobenhat, und zum anderen, welcher Anteil derWertschpfung in diesen drei Bereichen seit1970, dem Beginn der Digitalisierung der In-formationstechnologien, erbracht wurde.

    Vor der industriellen Revolution haben um1750 mehr als 80 % der Erwerbsttigen in derLandwirtschaft gearbeitet. Ihr Anteil ist von43,4 (1882) auf 2,5 % (2003) zurckgegangen.Durch einen massiven Einsatz von Materialund insbesondere Energie ist die Nahrungs-

    Abbildung 6. Vernderungenin der Berufswelt in Deutsch-land [1], aus Deutscher Insti-tuts-Verlag, 2004.

    Ein Beleg dafr,dass die digitaleRevolution zu einerneuen Epoche inder Zivilisationsge-schichte fhrt, istdie Berufswelt.Sie ist ein typischerIndikator fr ge-sellschaftliche Um-brche.

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  • mittelproduktion in unserem Land so hoch,dass dieser geringe Anteil unserer Erwerbstti-gen eine Eigenversorgung unseres Landes er-mglichen wrde. Die Abnahme der landwirt-schaftlichen Ttigkeit korrespondierte in derBltezeit der Industriegesellschaft mit einerallerdings schwcheren Zunahme der indust-riellen Beschftigung. Deren Anteil lag zwi-schen 1920 und 1970 bei knapp 50 %. Seitetwa 1970 nimmt letzterer Anteil deutlich ab.

    Dieser Abfall wurde seit jener Zeit durcheine steile Zunahme im Dienstleistungssektoraufgefangen einem sehr heterogenen Sektor.Darunter fallen einerseits traditionelle Ttig-keiten, z. B. aus dem Bildungsbereich sowieaus den sozialen, pflegerischen und medizini-schen Bereichen, die wegen der beralterungunserer Gesellschaft angewachsen sind. Weitergehren die Bereiche Verwaltung, Polizei undMilitr dazu. In jngerer Zeit neu hinzu-gekommen ist ein deutlicher Anteil in den Be-reichen Touristik und Sport, charakteristischfr unsere Freizeitgesellschaft. Die entschei-dende Zunahme rhrt jedoch von dem Ein-stieg in die Informationsgesellschaft her, diezu neuen Ttigkeitsfeldern, den symbolanaly-tischen Diensten gefhrt hat, wie Reich [14]sie nennt. Abb. 6 enthlt eine weitere bemer-kenswerte Botschaft: In dem durch neue Ttig-keitsfelder stark angewachsenen und vernder-ten dritten Sektor der Erwerbsttigkeit liegtder Anteil der Wertschpfung deutlich berdem Anteil der Beschftigten. In den traditio-nellen Bereichen Landwirtschaft und Industrieliegt der Anteil der Wertschpfung darunter.

    Trotz aller Definitions- und Abgrenzungs-probleme ist die zentrale Botschaft unstrittigund eindeutig: Unser realer und durch Wer-bung erzeugter vermeintlicher Bedarf an land-wirtschaftlichen und industriell erzeugtenProdukten kann von einem geringen Prozent-satz unserer Erwerbsttigen vollstndig ge-deckt werden. Ob der dritte Sektor, als Infor-mations-, Dienstleistungs- oder Service-Sektorbezeichnet, den starken Rckgang in der land-wirtschaftlichen und industriellen Produkti-onsttigkeit auch nur annhernd auffangenkann, erscheint mehr als fraglich.

    Was folgt daraus, wenn der Einzelne nachwie vor seinen Wert innerhalb der Gesellschaftdurch seine Ttigkeit definiert? Es gibt seiteinigen Jahren Berufsfelder neuer Art, die eszuvor in der Gesellschaft kaum gegeben hat.Sie knnen als dissipative oder parasitreTtigkeiten bezeichnet werden, deren Haupt-zweck darin besteht, an dem zu viel erzeugtenWohlstand zu partizipieren. Beispiele sindGolf-, Reit-, Ski-, Segel- und Surflehrer; Ani-mateure und Personal in Ferienclubs undHotels einschlielich des Flugpersonals in der

    florierenden Tourismus- und Freizeitbranche;Stars und Sternchen in der Show-, Musik-,Kunst-, Sport-, Funk- und Fernsehszene; So-zialpdagogen und Psychologen, staatlicheoder halbstaatliche Umverteiler in den FeldernArbeit, Soziales und Gesundheit; Analysten so-wie Konflikt- und Kommunikationsberaterund vieles mehr. Die Erlebnisgesellschaft[15] schafft sich offenbar ihre eigenen spezifi-schen Ttigkeitsfelder. Ein Indikator dafr,dass wir in der Freizeitgesellschaft angekom-men sind, ist der Individualverkehr. Mehr alsdie Hlfte aller mit dem Auto zurckgelegtenPersonenkilometer ist durch Freizeit undFerien bedingt, hat also mit der beruflichenTtigkeit nichts zu tun.

    Auf diesen Wegen partizipieren die dissipa-tiven Ttigkeiten nicht nur an dem Wohlstand,sie erzeugen durch neue Ttigkeitsfeldergleichzeitig neuen Wohlstand. Es ist offenbarein Geheimnis des Kapitalismus, dass er nichtnur Wandel selbst erzeugt, sondern gleich-zeitig Mechanismen zur Lsung der neuentstandenen Probleme findet. Ob diese Me-chanismen etwas mit Nachhaltigkeit zu tunhaben, ist eine andere Frage.

    Erst die Digitalisierung der Informations-technologien hat jenen Prozess in Ganggesetzt, der seit den 1990er Jahren als Global-isierung bezeichnet wird. Globalisierung istdas Verdichtungssymbol der heutigen Zeitschlechthin. Globalisierung ist ebenso un-scharf wie der Begriff Nachhaltigkeit, aberweitaus emotionsgeladener. Kaum ein anderesVerdichtungssymbol wird mit derart unter-schiedlichen Deutungsmustern belegt wie dieGlobalisierung. Bedeutet Globalisierung einbesseres Leben fr alle, ein besseres Leben frwenige, den Terror der konomie [16], denAbschied vom sozialen Konsens, den endglti-gen Triumph oder die Selbstzerstrung des Ka-pitalismus oder gar den Untergang des Abend-landes? Laufen wir mit unseren politischenund sozialen Systemen in eine Globalisie-rungsfalle [17], in eine neue Zivilisationsfalle?Ist Globalisierung Chance oder Bedrohung,schicksalhaft und unvermeidbar oder gestalt-bar, nur ein konomisches Phnomen, nureine Neuauflage der Standortdebatte oder letzt-lich ein Synonym fr die eigentliche Frage: Wiewerden und wie wollen wir morgen leben?

    Fr alle uerungen lassen sich Belege inder stark angewachsenen Literatur zum The-ma Globalisierung finden. Angesichts desMegathemas Globalisierung, das in vielfltigerWeise unsere Arbeits- und Lebenswelt vern-dern wird und schon verndert hat, ist es nichtverwunderlich, dass sich hierzu neben kono-men auch Vertreter anderer Disziplinen wieder Soziologie, Politologie, Philosophie und

    In dem durch neueTtigkeitsfelderstark angewach-senen und vern-derten drittenSektor der Erwerbs-ttigkeit liegt derAnteil der Wert-schpfung deutlichber dem Anteilder Beschftigten.

    Erst die Digitali-sierung der Infor-mationstechnolo-gien hat jenen Pro-zess in Gang ge-setzt, der seit den1990er Jahren alsGlobalisierungbezeichnet wird.

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  • Theologie sowie verschiedene gesellschaftlicheGruppierungen aus dem Kreis der NGOs(Non-Governmental Organizations, z. B. attac)uern.

    Eine Zusammenstellung einschlgigerLiteratur ist in [1] zu finden. Aufgrund derdivergierenden Auslegungen und unter-schiedlichen Deutungsmuster verlangt dieBehandlung dieses Themas eine besondereSensibilitt. Daher habe ich mich jeweils anmir charakteristisch erscheinenden Darstel-lungen orientiert. Das sind die Geschichte derGlobalisierung [18], einer abgewogenen undneutralen Beschreibung aus historischer Sicht.Bei der Fragestellung Was ist Globalisie-rung? [19] erfolgte eine Anlehnung an einesozialwissenschaftliche Analyse. Sozialwissen-schaftler haben die Globalisierung vor denHistorikern thematisiert, und sie neigen zukraftvollen Formulierungen. Danach folgteeine philosophische Betrachtung zu dem Prob-lem Demokratie im Zeitalter der Globalisie-rung [20]. Fr die Behandlung der Facettender Globalisierung [21] und der Frage Glo-balisierung gestalten [22] stand die konomi-sche Sichtweise im Vordergrund. Bei derBesprechung der kritischen Literatur (der Glo-balisierungsgegner) und der weniger kriti-schen Literatur (der Globalisierungsbefrwor-ter) lag mir daran deutlich zu machen, worindie Autoren bereinstimmen (in den Fakten,teilweise auch in den Folgen) und dass dieAntworten auf die Frage nach der Gestaltungvon Globalisierung in extremer Weise ausein-ander klaffen. Von zentraler Bedeutung istdabei die Frage, wer die handelnden Akteuresind und welchen Handlungsspielraum siehaben. Darauf werde ich am Schluss des Bei-trages eingehen, s. Abb. 7.

    Eine weitgehende bereinstimmung zeigtdie Antwort auf die Frage, was das spezifischNeue an der Globalisierung ist. Von Globalisie-rung wird erst nach der weltweiten Totalver-netzung in Echtzeit gesprochen, denn erst dieDigitalisierung der Informationstechnologienhat zu einer Raum-Zeit-Verdichtung gefhrt.Dieser Prozess setzte etwa 1970 ein, wie Abb. 6erkennen lsst. Es erfolgte dann ein steilerAnstieg der Beschftigtenzahlen und der Brut-towertschpfung im Dienstleistungssektor, an-getrieben durch die digitalen Informations-technologien. Der Prozess der Globalisierungist durch wesentlich mehr Faktoren geprgt alsfrhere Entwicklungsstadien. Es ist die Wirt-schaft, die diesen Prozess antreibt, der das ge-samte soziale und institutionelle Gefge in derGesellschaft betrifft. Globalisierung bedeuteteine neue Art des Wandels, eine vernderteVernderung. Das hat zu einem Umschlag vonQuantitt in Qualitt gefhrt.

    Stellvertretend fr die groe Schar der Glo-balisierungsgegner soll an dieser Stelle auf dieDarstellung Die Globalisierungsfalle mitdem bezeichnenden Untertitel Der Angriffauf Demokratie und Wohlstand der Spiegel-Redakteure Martin und Schumann [17] einge-gangen werden. Das Buch stand lange Zeit aufden Bestsellerlisten (nicht nur des Spiegels),es ist eher im Stil eines Pamphlets als einersachlichen Analyse geschrieben. Damit weichtes von den oben angefhrten weitgehend neut-ralen Darstellungen ab. Der Zusatz weitge-hend soll bedeuten, dass eine analytische, eherdiagnostisch geprgte Beschreibung des Ph-nomens Globalisierung stets neutraler gehal-ten werden kann als der Versuch einer Thera-pie.

    Die Zusammenzufassung eines Pamphletsist immer schwieriger als die einer sachlichenAnalyse. Deshalb beschrnke ich mich hierauf eine Auswahl pointierter Aussagen, welchedie Autoren gleichwohl belegen. Am Beginnsteht die (Horror-)Vision einer 20:80-Gesell-schaft, diskutiert von der Machtelite derWelt im Herbst 1995 in San Francisco. DieEinschtzung lautete, dass im 21. Jahrhundert20 % der arbeitsfhigen Bevlkerung ausrei-chen wrden, um die Weltwirtschaft inSchwung zu halten. Mehr Arbeitskraft wirdnicht gebraucht. Die restlichen 80 % werden(als Produzenten) in Zukunft nicht mehr be-ntigt. Das Problem besteht darin, sie bei Launezu halten, mit einer Mischung aus Entertain-ment und Ernhrung (am Busen, englisch tits),kurz tittytainment genannt. Das gab es schonim alten Rom und hie seinerzeit Brot undSpiele. Die Industriegesellschaft wird das glei-che Schicksal erleiden wie die Agrargesell-schaft. Nur ein geringer Anteil der Beschftig-ten wird ausreichen, alle erforderlichenProdukte, bei einem hohen Einsatz an Ener-gie, Material und somit Kapital, herzustellen.

    Die pessimistische Prognose lautet, dassdie Informationsgesellschaft auch nicht an-nhernd so viele neue Jobs bereitstellen wird,um den Stellenabbau im industriellen Bereichkompensieren zu knnen. Das Ergebnis wirdeine neue Gesellschaftsordnung sein, reicheLnder ohne einen nennenswerten Mittel-stand. Die Brsenkurse und die Konzernge-winne steigen, whrend Lhne und Gehltersinken. Parallel damit wachsen die Defizite derffentlichen Haushalte. Das Industriezeitaltermit seinem Massenwohlstand wird in derMenschheitsgeschichte nicht von Dauer sein.Der Turbo-Kapitalismus [23] scheint sichunaufhaltsam durchzusetzen. Er zerstrt dieGrundlagen seiner eigenen Existenz, denfunktionsfhigen Staat und demokratischeStabilitt. Die bisherigen Wohlstandslnder

    Die Industriegesell-schaft wird das glei-che Schicksal erlei-den wie die Agrar-gesellschaft. Nur eingeringer Anteil derBeschftigten wirdausreichen, alleerforderlichen Pro-dukte, bei einemhohen Einsatz anEnergie, Materialund somit Kapital,herzustellen.

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  • verzehren die soziale Substanz ihres Zusam-menhalts noch schneller als ihre kologischeSubstanz.

    In Ergnzung zu den Darstellungen vonMartin und Schumann sei auf die in Tab. 1dargestellte Entwicklung der Bevlkerung hin-gewiesen. Europa ist der einzige Kontinent,dessen Bevlkerung nicht nur relativ, sondernauch absolut abnehmen wird. Die gleiche Aus-sage gilt fr Japan und Russland und in naherZukunft gleichfalls fr China. Das stellt unse-re Gesellschaft vor vllig neue Herausforde-rungen. Wie wir darauf reagieren knnen, hatMiegel krzlich in dem Buch Epochenwende[24] dargelegt: In dieser historischen Situationwird von den Europern nichts Geringereserwartetet als eine verallgemeinerungsfhigeAntwort auf die Frage: Welchen Weg knnenund sollen Vlker einschlagen, die an Zahlabnehmen und stark altern, die ein mehr oderminder hohes Versorgungsniveau erreichthaben und deren sozialer Zusammenhaltschwach geworden ist? Bisher hatte dieMenschheit keinen Grund, sich mit dieserFrage zu befassen. Die Europer betrifft sie alsErste. Deshalb stellen sie mit ihren AntwortenWeichen weit ber das 21. Jahrhundert hinaus.Wieder sind sie es, die wenn sie ihrer neuenRolle gerecht werden eine globale Entwick-lung einleiten. Vielleicht gehrt auch das zuden Ironien der Geschichte.

    4 Globale Problemfelder

    Durch den Prozess der Globalisierung sindneue Herausforderungen zu den traditionellenFaktoren der Herausforderung Zukunft, derBevlkerungs-, der Versorgungs- und der Entsor-gungsfalle (s. Abb. 1) hinzugekommen. Andieser Stelle whlen wir zur Benennung derWeltprobleme eine an dem Leitbild Nachhal-tigkeit orientierte Einteilung. Die drei Faktorender Weltprobleme betreffen die kologische,die soziokulturelle und die konomische Suledes Leitbildes Nachhaltigkeit.

    Das erste globale Problem betrifft die Um-welt, sie ist in weiten Teilen ein ffentlichesGut. Dazu gehren die Ozeane mit ihremFischbestand und das Wasser im Allgemeinen,die Luft, die Wlder und der Boden. Bei ffent-lichen Gtern gilt die Tragdie der Allmende(The Tragedy of the Commons), wie Hardin es1968 in einem Artikel in Science genannt hat.Die Allmende war im Mittelalter ein gemein-sames Weideland fr die Bewohner eines Dor-fes. Es durfte nicht bernutzt werden, alsowurde jedem Bewohner gestattet, eine be-grenzte Anzahl von Schafen darauf zu weiden.Wenn ein Bauer ein Schaf mehr als die ande-

    ren auf die Weide bringt, so verschafft er sichdadurch einen Vorteil, aber den Nachteil tra-gen alle gemeinsam. Denn jedes zustzlicheTier trgt zur berweidung bei.

    Darin liegt die Tragdie der Allmende. JederNutzer hat den Anreiz, ein zustzliches Schafnach dem anderen auf die Weide zu bringen.Das geht so lange gut, bis das Land berweidetist, sodass sich die Schafhaltung nicht mehrlohnt. Die Dorfgemeinschaft hat nicht er-kannt, dass das individuelle Interesse des Ein-zelnen zum Konflikt mit den Interessen derGemeinschaft fhrt. Die Dorfgemeinschaft hatversumt, die Allmende im Sinne eines ber-geordneten Interesses zu verwalten. Die ent-scheidenden globalen Umweltprobleme hn-gen mit eben diesem Versagen zusammen.Dazu gehren der anthropogene Treibhaus-effekt und damit die Erwrmung der Atmo-sphre und das Ansteigen des Meeresspiegels,die Verschmutzung der Umwelt, die ber-fischung der Weltmeere, das Abholzen derWlder und die Brandrodung, die zuneh-mende Wasserknappheit sowie das Artenster-ben und der Verlust an Biodiversitt.

    Das zweite globale Problem betrifft dieWeltgesellschaft, die Frage nach der Solida-ritt Fremden und Fernen gegenber. Bereits1784 hatte Kant den Begriff Weltbrgergesell-schaft geprgt, der im Zeitalter der Globalisie-rung Realitt geworden ist. Zu dem Problem-feld Solidaritt gehren der Kampf gegen dieArmut, gegen mangelnde Bildung, gegen In-fektionskrankheiten, gegen Terrorismus alswesentlichen Beitrag zur Friedenssicherung,gegen die konomische und die digitale Spal-tung der Welt sowie die Probleme der inter-und intragenerationellen Gerechtigkeit.

    Das dritte globale Problem betrifft die Welt-wirtschaft, genauer die Frage nach den Regelnfr wirtschaftliches Handeln. Zu ihnen geh-ren Rahmenbedingungen und Rechtssetzungebenso wie Infrastrukturen und informelleStrukturen. Regeln betreffen das Welthandels-recht, internationale Finanzarchitekturen (z. B.Tobin Tax), die Vermeidung von ko- und So-zialdumping, den internationalen Wettbewerbsowie vergleichbare Steuersysteme.

    Im Hinblick auf denkbare Manahmen sindgenerelle Schwierigkeiten offenkundig. DasProblemfeld Umwelt ldt stets zum Trittbrett-fahren ein. Es entspricht wirtschaftlicher Lo-gik, die Gewinne eines Unternehmens zuprivatisieren (zu internalisieren) und die Kos-ten zu sozialisieren (zu externalisieren). Dabeimsste es genau umgekehrt sein. Die externenkologischen und sozialen Kosten mssteninternalisiert werden, die Preise mssten diekologische und soziale Wahrheit sagen. DasProblemfeld Solidaritt bedeutet, dass zu der

    Durch den Prozessder Globalisierungsind neue Heraus-forderungen zuden traditionellenFaktoren derHerausforderungZukunft, derBevlkerungs-,der Versorgungs-und der Entsor-gungsfalle hin-zugekommen.

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  • uns gelufigen Nchstenliebe eine rumlicheund zeitliche Fernstenliebe hinzukommenmuss. Bislang galten Identitt und Loyalittallein in dem Nationalstaat, der durch die Glo-balisierung einem Erosionsprozess ausgesetztist. Wie soll diese Loyalitt auf die Weltgesell-schaft bertragen werden?

    Beim Problemfeld Regeln sind die Schwie-rigkeiten mindestens genauso gro. Denn dieglobal agierenden Unternehmen ziehen Vor-teile daraus, die Rahmenbedingungen in deneinzelnen Lndern bezglich Rechtsvorschrif-ten, Genehmigungsverfahren und Steuern zuihrem Vorteil zu nutzen und gegeneinanderauszuspielen. Wie sollten sie an einheitlichenRahmenbedingungen interessiert sein?

    Wer sind eigentlich die handelnden Akteu-re? Diese Frage fhrt zu Strukturen und Mus-tern, die als Global-Governance-Architekturbezeichnet wird (s. Abb. 7). Die Abbildunglehnt sich an eine Darstellung in [25] an, inder neun Akteursgruppen aufgefhrt sind.Zur besseren bersichtlichkeit haben wirdiese in sechs Akteursgruppen zusammenge-fasst. Sie sollen kurz diskutiert werden, umihren Einfluss und Handlungsspielrumedeutlich zu machen.

    Entscheidende internationale Organisationensind erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstan-den, und sie haben stndig an Einfluss gewon-nen. Das gilt in besonderer Weise fr die UN,

    aber auch fr die Weltbank, den Internationa-len Whrungsfonds IMF und die Welthandels-organisation WTO. Auch entscheidende undheute besonders machtvolle internationaleNichtregierungsorganisationen (NGOs) sindnach dem Zweiten Weltkrieg und insbesonde-re durch die Bewusstseinswende der sechzigerJahre entstanden. In ihnen artikuliert und or-ganisiert sich die Zivilgesellschaft, die Welt-gesellschaft. Von den NGO-Akteuren sind injngerer Zeit die mit Abstand strksten Im-pulse fr eine bessere Welt ausgegangen. Eswird spannend sein zu erleben, welche Grup-pierungen sich noch bilden werden und wel-chen Einfluss sie auf weltpolitischer Ebenenoch erlangen werden. Demokratietheore-tische und kritische Bemerkungen zu ihrermangelnden demokratischen Legitimationsind wenig berzeugend, wenn die NGOs inden Augen der ffentlichkeit eine sehr vielhhere Glaubwrdigkeit und damit faktischeLegitimation genieen als Regierungsorgani-sationen.

    Die Europische Union ist gleichfalls einKind des Zweiten Weltkriegs. Sie ist das Para-debeispiel fr eine erfolgreiche supranationaleOrganisation. Die Zukunft wird zeigen, ob die-ses Modell auch auf andere relativ lockere undrein wirtschaftliche Verbnde bertragbar seinwird. Es ist ein historisch einmaliger Vorgang,dass Nationalstaaten freiwillig Kompetenzenbezglich Gesetzgebungen und bestimmterPolitikfelder nach und nach an die supranatio-nale Instanz EU abgegeben haben und mg-licherweise weiter abgeben werden. Der Sog,den die EU in der Vergangenheit auf (nochNicht-)Mitglieder ausgebt hat, scheint unge-brochen zu sein. Das spricht fr das Erfolgs-modell, birgt jedoch auch die Gefahr einerwirtschaftlichen, sozialpolitischen und kultu-rellen berdehnung. Dies belegen die Diskus-sionen ber einen mglichen Beitritt der Tr-kei.

    Zwischenstaatliche Politikbereiche (Regime)sind solche, die sich weder internationalennoch supranationalen Organisationen direktzuordnen lassen. Sie sind jedoch gleichwohl inverschiedener Weise mit ihnen verzahnt. So istsowohl das Montreal- als auch das Kyoto-Proto-koll ein Resultat von UN-Konferenzen. Ebensowurde von der UN gemeinsam mit der Weltor-ganisation fr Meteorologie die Zwischenstaat-liche Kommission fr KlimavernderungenIPCC (Intergovernmental Panel on ClimateChange) ins Leben gerufen, die sich regel-mig zu Fragen des Klimawandels uert.

    Ergnzt wird die Akteursvielfalt durch zweiweitere Partner. Mit Private Governance werdenprivatwirtschaftliche Aktivitten bezeichnet,die hufig unterschtzt werden. So hat die

    Die EuropischeUnion ist ist dasParadebeispiel freine erfolgreichesupranationaleOrganisation.

    Abbildung 7. Akteursvielfalt in einer Global-Governance-Archi-tektur [1], in Anlehnung an [25].

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  • Normung schon weit vor der Globalisierungden weltweiten Handel enorm erleichtert undweltweite Technik nicht nur sicherer, sondernberhaupt erst mglich gemacht. Russlandhatte bei der Einfhrung seiner Eisenbahneine andere Spurweite als die Lnder des euro-pischen Kontinents gewhlt, um sich damitbesser vor einer europischen Invasion scht-zen zu knnen. Eine solche Strategie wreheute angesichts der weltumspannendenInformations- und Kommunikationstechnikenvollends ruins. Weltweite Systeme bedingeneine weltweit gltige Normung. Alle haltensich daran, weil es fr alle von Vorteil ist. Aufglobaler Ebene wird die internationale Nor-mung von der ISO (International Organizationfor Standardization) betrieben.

    Gleichfalls zu diesem Bereich gehrt die In-ternationale Handelskammer ICC (Internatio-nal Chamber of Commerce). Sie ist die einzigeweltumspannende Organisation des privatenUnternehmertums aller Wirtschaftszweige.Zu ihren Zielen gehren die Frderung derliberalen Weltwirtschaftsordnung durch freienund fairen Wettbewerb, das Erarbeiten vonRichtlinien zur Harmonisierung der Handels-praktiken, die Schlichtung internationalerStreitigkeiten und die Vertretung gegenberinternationalen Organisationen wie der UN.Auf seiner zweiten Weltkonferenz fr Umwelt-management, die 1991, ein Jahr vor der Rio-Konferenz stattfand, verkndete der ICC eineBusiness Charta for Sustainable Development,die mageblich von dem Brundtland-BerichtUnsere gemeinsame Zukunft [6] geprgtworden ist. Die Agenda 21, das Abschluss-dokument der Rio-Konferenz fr Umwelt undEntwicklung 1992, nimmt direkten Bezug aufdie Charta.

    Der letzte Bereich kann mit Club-Governancebezeichnet werden. Damit sind Zusammen-schlsse einzelner Staaten gemeint, die einganz spezifisches gemeinsames Interesse ver-bindet. Sie bilden entweder einen Club derReichen wie die G 8 oder der Armen wie dieGruppe der 77, einen Club der Industrieln-der wie die OECD oder einen der Erdl fr-dernden Lnder wie die OPEC. Sowohl zu denletzteren wie auch zu allen anderen Akteurs-gruppen in Abb. 7 wurden nur einige wenigeAkteure aufgefhrt und beschrieben. Fr de-taillierte Informationen bieten sich regelmigerscheinende Lexika und Handbcher an. DieAkteure wurden unter dem Aspekt der L-sungsmacht und der Lsungskompetenz imHinblick auf die Weltprobleme ausgewhlt.

    Folgende Frage drngt sich auf. Wo bleibendie Nationalstaaten, insbesondere die derzeiteinzige Supermacht USA? Handeln die Natio-nalstaaten etwa nur noch im Rahmen einer

    oder mehrerer Akteursgruppen? Das ist in derTat in zunehmendem Mae der Fall.

    Abschlieend sei betont, dass das ThemaVerantwortungsvoller Umgang mit Ressourcennur einen wenngleich wesentlichen Teil-aspekt der Herausforderung Zukunft darstellt.Dies soll anhand der in Abb. 8 dargestelltenNachhaltigkeitsmatrix diskutiert werden. Diedrei Achsen der Matrix symbolisieren die dreiSulen des Leitbildes Nachhaltigkeit. Dabeisteht die Achse (3) fr die kologische Sule,die Achse (1) fr die soziale Sule und die Ach-se (2) fr die konomische Sule.

    An dieser Stelle soll nur auf die Achse (2)eingegangen werden: die Frage nach den Stra-tegien. Es ist ein empirischer Befund, dasseine Verbesserung der Ressourceneffizienz inder Vergangenheit stets durch eine gleichzeiti-ge Zunahme der Ansprche und damit desVerbrauchs kompensiert, oft gar berkompen-siert worden ist. Dies wird als Bumerang-Effekt bezeichnet, fr den sich zahlreiche Bei-spiele finden lassen. Niemals zuvor wurde soviel Papier verbraucht, obwohl die Informa-tionstechnologien ein papierloses Bro ermg-lichen wrden. Die Erhhung der Transport-geschwindigkeiten auf der Schiene, der Straeund in der Luft hat nicht zu einer Zeiterspar-nis gefhrt, sondern dazu, dass wir in der glei-chen Zeit grere Distanzen zurcklegen. Diestndige Verbesserung der Wirkungsgrade vonOtto- und Dieselmotoren hat zu immer niedri-geren spezifischen Verbruchen gefhrt. DerFlottenverbrauch ist jedoch nicht gesunken, dadie Fahrzeuge schwerer und leistungsstrkerwurden.

    Somit kann eine Verbesserung der Ressour-ceneffizienz auch um einen Faktor zehn nicht die alleinige Antwort sein. Sie mussdurch eine Suffizienzstrategie ergnzt werden,fr die es zwei Ansatzpunkte gibt: zum einen

    Abbildung 8. Nachhaltigkeitsmatrix [1, 9, 26].

    Es ist ein empiri-scher Befund, dasseine Verbesserungder Ressourcen-effizienz in derVergangenheit stetsdurch eine gleich-zeitige Zunahmeder Ansprcheund damit desVerbrauchs kom-pensiert, oft garberkompensiertworden ist. Dieswird als Bumerang-Effekt bezeichnet.

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  • eine fiskalische Verteuerung des Produktions-faktors Ressourcen bei gleichzeitiger Entlas-tung des Produktionsfaktors Arbeit. Zum an-deren wird ein anderes Verstndnis vonGemeinwohl und Eigennutz erforderlich sein.Die Effizienzstrategie ist eine notwendige Vor-aussetzung dafr, dem Leitbild Nachhaltigkeitnahe zu kommen. Aber notwendig und hin-reichend ist erst die Verbindung von Effizienz-strategien mit Suffizienzstrategien.

    Fr die vor uns liegenden Probleme ist nichtweniger, sondern mehr Technik ntig. Die ent-scheidende Frage lautet, welche technischenLsungen in Richtung zu mehr Nachhaltigkeitfhren knnen. Dazu muss eine ganzheitlicheBewertung erfolgen, zu der die Disziplin Tech-nikbewertung den entscheidenden Beitrag leis-ten kann. Ich untersttze die Forderung desVDI vehement, das Fach Technikbewertung inLehre und Forschung an den Hochschulen zuverankern. Ingenieure haben Technik schonimmer bewertet, wobei bislang nur zwei Krite-rien den Ausschlag gegeben haben: die techni-sche Bewertung im Hinblick auf Funktio-nalitt, Sicherheit und Qualitt sowie die(betriebs-)wirtschaftliche Bewertung. Das Leit-bild Nachhaltigkeit verlangt mehr. TechnischeLsungen mssen zustzlich umwelt- undsozialvertrglich sein. Nachhaltigkeit bedeutetZukunftsvertrglichkeit. Das Konzept Technik-bewertung kann das entscheidende Instru-ment sein, um das diffuse Leitbild Nachhaltig-keit zu operationalisieren [26, 27].

    Wie knnen wir in der Jugend (wieder) Be-geisterung fr diese Themen wecken? Wieknnen wir deutlich machen, welch spannen-de und faszinierende Aufgaben die angehen-den Ingenieure und Naturwissenschaftler er-warten? Der Aufbruch ins All, 1961 von JohnF. Kennedy als mission to the planet moonverkndet, hatte seinerzeit eine gewaltige Be-

    geisterung fr Technik entfacht und bewun-dernswerte technische Leistungen ermglicht.Der Herausforderung Zukunft kann nur miteiner mission to the planet earth begegnetwerden. Damit sollte es gelingen, bei derJugend (erneut) Begeisterung fr die Technikund die Naturwissenschaften zu entfachen.Diese Begeisterung muss im Studium vermit-telt werden. Und die Botschaft muss lauten:Wir brauchen knftig Ingenieure mit mehrWeitblick [28].

    Eingegangen am 23. November 2006

    Prof. (em.) Dr. Ing. M. F. Jischa([email protected]),Institut fr Technische Mechanik,TU Clausthal, A.-Roemer-Strae 2a,D-38678 Clausthal-Zellerfeld, Germany.

    Literatur

    [1] M. F. Jischa, Herausforderung Zukunft;Technischer Fortschritt und Globalisierung,Elsevier/Spektrum Akademischer Verlag,Heidelberg 2005.

    [2] H. von Lersner, Die kologische Wende, CORSObei Siedler, Berlin 1992.

    [3] R. Carson, Der stumme Frhling, Beck,Mnchen 1962.

    [4] D. Meadows, D. Meadows, Die Grenzen desWachstums, Rowohlt, Reinbek 1973.

    [5] Global 2000 Der Bericht an den Prsidenten,Zweitausendeins, Frankfurt 1980.

    [6] Unsere gemeinsame Zukunft, Der Brundtland-Bericht der Weltkommission fr Umwelt und Ent-wicklung (Ed: V. Hauff), Eggenkamp, Greven1987.

    [7] Konferenz der Vereinten Nationen fr Umwelt undEntwicklung 1992 in Rio de Janeiro, BMU Agenda21, Bundesumweltministerium, Bonn 1992.

    [8] G. Bhme, Am Ende des Baconschen Zeitalters,Suhrkamp, Frankfurt 1993.

    [9] M. F. Jischa, Ingenieurwissenschaften, Reihe Stu-dium der Umweltwissenschaften, Springer, Berlin2004.

    [10] State of World Population 2004, UNFPA, NewYork 2004.

    [11] M. F. Jischa, Herausforderung Zukunft; Techni-scher Fortschritt und kologische Perspektiven,Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg1993.

    [12] H. Lbbe, Im Zug der Zeit, 2. Aufl., Springer,Berlin 1994.

    [13] K. Popper, Das Elend des Historizismus, Mohr,Tbingen 1987.

    [14] R. B. Reich, Die neue Weltwirtschaft, Ullstein,Frankfurt 1993.

    [15] G. Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, Campus,Frankfurt 1992.

    [16] V. Forrester, Der Terror der konomie, PaulZsolnay, Wien 1997.

    Michael F. Jischa, geboren 1937 in Ham-burg, lernte, forschte und lehrte an denUniversitten Karlsruhe, Berlin (TU),Bochum, Essen und Clausthal in denBereichen Strmungsmechanik, Thermo-dynamik, Mechanik, Systemtechnik undTechnikbewertung. 2002 wurde er emeri-tiert. Er ist Prsident der Deutschen Gesell-schaft Club of Rome sowie Mitglied desKuratoriums der Hanns-Lilje-Stiftung, derBereichsvertretung Gesellschaft und Tech-nik im VDI, des Programmbeirats Nachhal-tigkeit und Technik im Forschungszentrum

    Karlsruhe und des Wissenschaftlichen Beirats der Clausthaler Umwelt-technik-Institut GmbH.

    Fr die vor uns lie-genden Problemeist nicht weniger,sondern mehr Tech-nik ntig. Die ent-scheidende Fragelautet, welche tech-nischen Lsungenin Richtung zu mehrNachhaltigkeit fh-ren knnen.

    Das Konzept Tech-nikbewertung kanndas entscheidendeInstrument sein, umdas diffuse LeitbildNachhaltigkeit zuoperationalisieren.

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  • [17] H.-P. Martin, H. Schumann, Die Globalisie-rungsfalle, Rowohlt, Reinbek 1996.

    [18] L. Osterhammel, N. P. Petersson, Geschichte derGlobalisierung, 2. Aufl., Beck, Mnchen 2004.

    [19] U. Beck, Was ist Globalisierung? Suhrkamp,Frankfurt 1997.

    [20] O. Hffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisie-rung, Beck, Mnchen 1999.

    [21] Facetten der Globalisierung (Ed: U. Steger),Springer, Berlin 1999.

    [22] Globalisierung gestalten (Ed: U. Steger), Springer,Berlin 1999.

    [23] E. Luttwak, Weltwirtschaftskrieg, Rowohlt,Reinbek 1994.

    [24] M. Miegel, Epochenwende, Propylen, Berlin2005.

    [25] Globale Trends 2004/2005, Fischer, Frankfurt2004.

    [26] M. F. Jischa, Das Leitbild Nachhaltigkeit unddas Konzept Technikbewertung, Chem. Ing.Tech. 1997, 69 (12), 1695.

    [27] M. F. Jischa, Technikfolgenabschtzung in Leh-re und Forschung, in Technikfolgen-Abschtzungin Deutschland (Eds: T. Petermann, R. Coenen),Campus, Frankfurt 1999, 165.

    [28] M. F. Jischa, Standpunkt: Wir brauchen knftigIngenieure mit mehr Weitblick, VDI-Nachrichten1999, Nr. 46 (19. Nov.), 2.

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    2007 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.cit-journal.de