Tectum Leseprobe Henkel Irrtum

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Aus der betrüblichen Erfahrung, dass ein ernsthafter Dialog über den Kern des Gottesglaubens mit den Amtsträgern fast nie zugelassen wird, zieht Peter Henkel die Konsequenz – und richtet sein Augenmerk vornehmlich auf die "verstockten" Anhänger. Auf ihre Verweigerungen und Ausweichmanöver, auf ihren Hang zum Ausblenden des Unbequemen, auf eine Motivation durch Wunsch- und Nützlichkeitsdenken. Oder darauf, wie beispielsweise Margot Käßmann sich schwärmend verirrt und sie und andere Theologen Ressentiments gegen die Vernunft schüren. Und welche fatalen Parallelen zwischen Religion und z. B. Astrologie bestehen. „Glaube“, schreibt der Autor, „das ist und bleibt Paradieren in der Sackgasse“: Vom Aus- und Aufbruch in eine Welt ohne Gott, ohne die Krücken und Mythen des religiösen Irrtums, sind wir noch himmelweit entfernt.

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Peter Henkel

Irrtum Unser! oder

Wie Glaube verstockt macht

Tectum Verlag

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Peter HenkelIrrtum Unser! oder Wie Glaube verstockt macht

© Tectum Verlag Marburg, 2012ISBN: 978-3-8288-3025-7

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Inhalt

Prolog 9

I – Warum der Mensch der Torheit des Glaubens erliegt 19Das Oasen-Dilemma 22Kodex für die Gruppe 25Die Angst vorm Aus 31Gott und seine Kinder 38Die Fantasien der anderen 43Die angelehnte Hintertür 47Positive Thinking 51Der tabuisierte Glaube: Affekt und Abwehr 53Gründe? Keine. Aber Beweggründe reichlich 59

II – Wohin fromme Illusion sich verirrt 63Jesus mal ganz anders 68Glaube als Absage an Toleranz 71Skandal Erlösung 75Zum Beispiel Margot Käßmann 82Vom Umschiffen des Bösen 86Missbrauchter Urknall 92Alles nur Chemie? 98Kein Pferd ist ein Vogel 102Gott, Berg und Herdentrieb 105

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III – Vernunft und Wissenschaft – Feindbild der Gläubigen 111Von absoluten und anderen Wahrheiten 116Der Papst und die Hoffart 122Zwischen Himmel und Erde 132Vertrauen ja – aber wem und wozu? 136Glauben heißt nicht wissen! 144Das kannst du nicht beweisen! 148

IV – Sternenkunde als verwandtes Musterbeispiel spekulativer Projektion 153

Mars, Venus, Luftschloss 157Intuition und Herzklopfen 165Von Rhythmen, Uhren und Brüdern 171

V – Wie Theologie am Neuen Atheismus scheitert 175Quod licet Jovi 180Goldenes Kalb Freiheit 189Amen, so sei es! 194

VI – Zehn Gründe, warum so etwas wie Gott nicht existiert 201

Literaturempfehlungen 209

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„Als Radbod, der Friese, sich nach jahrzehntelangem Widerstand aus politischen Gründen endlich entschloß, Christ zu werden, und bereits mit dem Fuße im Taufwasser stand, fragte er vorher vorsichtshalber noch den Bischof Wulfram von Sens, wo denn ihre beiderseitigen Vorfahren nach dem Tode hingekommen wären? Als der Bischof selbstbewußt antwortete: seine in den Himmel, die Radbods in die Hölle, sprang dieser sogleich aus der Taufwanne und rief: ‚Wo so viele tapfere Männer sind, da will auch ich sein!‘ – There’s a good fellow!“

Arno Schmidt

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Prolog

„Ich bin überzeugt, dass die Frage, ob es einen Gott gibt oder nicht, vernünftig erörtert werden kann und sollte, und zwar in dem Sinn, dass klare Antworten möglich sind.“

John L. Mackie

Eigentlich ist die Sache ganz einfach: So etwas wie Gott existiert nicht. So etwas wie Gott gibt es nur als Gedachtes, als Eingebil-detes in den Köpfen von Menschen.

Nichts existiert tatsächlich, was sinnvoll mit dem Namen Gott zu belegen wäre. Da gibt es kein übernatürliches Wesen, das ir-gendwie zu tun gehabt hätte mit dem Entstehen des Universums; mit deinem oder mit meinem Schicksal; mit dem Wachsen des Korns und mit der Flut, die es vernichtet; mit dem Wanderpre-diger, der vor zwei Jahrtausenden dem jüdischen Establishment unbequem wurde und den römischen Besatzern.

Unzählige drücken sich vor dieser Einsicht. Sie ist ihnen zu un-bequem, zu schmerzlich, sie verlangt den Mut zur kritischen Prüfung überkommener, lieb gewordener Vorstellungen. Lieber richten sie sich ein in einem vagen Gebilde aus Wunschdenken,

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Ängsten und Mitläufertum, wie würdelos das auch sein mag. Lieber leisten sie sich auf dem Felde der Religion Verhaltens-weisen, die sie sich und anderen sonst schwerlich durchgehen ließen: das Ignorieren und Verdrängen von Widersprüchen, das reflexhafte Wegwischen von Einwänden, den Verzicht auf eigen-ständiges Nachdenken.

Woher die Kühnheit des Leugners? Der entrüstete Gläubige, der so fragt, tut so schon das, was Gläubige immer tun, um ihren Glauben zu retten: Er stellt Logik und Reihenfolge auf den Kopf, und er lässt sich fortreißen von seinen Bedürfnissen und Hoff-nungen, seinen Gewohnheiten und Befürchtungen.

Ihm hilft die Allianz mit den Zaudernden, jenen vielen, die den Schritt in den Unglauben scheuen. Wenn der Gottlose sagt: Da ist kein Gott, so sind sie unangenehm berührt und erwidern, das könne doch niemand wissen. Wenn aber der Priester sagt: Da ist ein Gott, so hört man von diesen Furchtsamen dergleichen nie.

Angst und Furcht sind in Glaubensdingen schlechte Ratgeber. Sie verleiten dazu, sich zu ducken vor dem vermeintlichen Herrn des Himmels und der Erde. Der, um es paradox zu formulieren, gut daran tut, nicht zu existieren. Denn, allen Klimmzügen der Theologen zum Trotz: Sonst wäre es der Allmächtige, der in je-der Sekunde unzähligen Menschen und Tieren unsägliches Leid geschehen lässt. Er wäre es, der die Folterer nicht hindert und nicht die Kriegsherren und der nichts unternimmt gegen Dürre und Wirbelsturm. Er wäre es, der Milliarden seiner Geschöpfe in Kriegen durch ein Meer von Blut und Tränen waten lässt. Und doch soll er es gut meinen mit ihnen. Und jede Sekunde wird ihm dafür gedankt, dass er dieses und jenes getan, da und dort helfend, schützend, rettend eingegriffen habe. „Ohne Got-

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11Prolog

tesglauben“, hat einst Joachim Kahl geschrieben, „ist die Wirk-lichkeit bitter. Mit Gottesglauben ist sie bitter und absurd.“

Vor alledem verschließen gläubige Menschen beharrlich die Au-gen. Es gebe nun mal dieses religiöse Bedürfnis, sagen sie, ein Bedürfnis nach Sinn und Halt und Teilhabe am ewigen Großen und Ganzen, ein Bedürfnis, das trockene Wissenschaft nicht zu stillen vermag. Die Botschaft dahinter heißt: Das Bedürfnis nach Gott bejaht schon die Frage nach seiner Existenz. Oder macht sie zumindest überflüssig.

Was auch immer vorgebracht wird zugunsten religiöser Fantasi-en, es läuft auf dies hinaus: An so etwas wie Gott glauben, das ist nützlich und hilfreich auf die verschiedenste Weise. Glaube verschafft Orientierung, Wohlgefühl, spirituellen Schauer, Mo-ral. Deshalb scheint er seinen Anhängern unentbehrlich.

Jedoch ist diese Haltung von Willkür bestimmt und kontami-niert vom Prinzip des Rosinenpickens: Fixierung auf das irgend-wie Positive, Ausblenden des Störenden, Sperrigen, Negativen. Es geht nicht um redliches Erkennen dessen, was ist. Es geht diesem Denken, das weit eher ein Fühlen ist, um etwas ganz anderes: um Glaubensverwertung, um den individuellen wie ge-sellschaftlichen religiösen „Nutzbetrieb“. Ein kritischer Begriff von Papst Benedikt, mit dem er natürlich nicht auf religiöse Pra-xis zielt, sondern auf das alltägliche Schielen des Menschen auf seinen meist materiellen Vorteil. Den Balken im eigenen Auge bemerkt der Großtheologe Ratzinger nicht, so wenig wie der gewöhnliche Gläubige: dass nämlich ihr Klammern an Religion und Glaube motiviert ist von eben jenem Nützlichkeitsdenken. Unzählige Aussagen und Taten zeugen von den Erwartungen der Gläubigen, was alles Glaube und Religion „liefern“ sollen.

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Alles Beschwören, Bitten und Beten, alles Hoffen und Preisen, Deuten und Sichängstigen geht diesen beiden zentralen Fragen aus dem Wege: Wieso dieses göttliche Gegenüber denn über-haupt existieren sollte; und ob etwa die Beschaffenheit der Welt tatsächlich auf jenen „lieben Gott“ der Alltagssprache als ihre Ursache schließen lässt.

Stattdessen machen es sich die allermeisten Gläubigen nur allzu bequem mit ihrer „religiösen Neurose“ (Nietzsche). Weil Glau-be gut tut, muss er sich nicht rechtfertigen, und deshalb sind Einwände überflüssig und unerwünscht. Ausgelebt wird statt-dessen der Hang zur Affirmation, zur Selbstbestätigung in der Endlosschleife. Dazu gehört, dass die Gläubigen sich einer hö-heren Weisheit rühmen: Glaube verhelfe zu tieferen Einsichten. Da soll gepunktet werden mit einem Insidergeraune wie diesem:

„Nichts spricht gegen die tiefe Gewissheit, dass alle Erfahrung und alles Wissen nicht der Weisheit letzter Schluss ist.“

Was da so bedeutend tönen soll, ist doch nur das hohle Schep-pern einer Leerformel. Natürlich wird sie nicht umsonst er-sonnen. Wer nimmt schon für sich in Anspruch, „der Weisheit letzten Schluss“ zu kennen, was immer das sein mag? Eine Aus-nahme machen aber gerade jene, die das gewöhnliche Wissen herabsetzen wollen, um alsdann mit ihren „tiefen Gewissheiten“ aufzutrumpfen, also ein sehr spezielles, ein ungewöhnliches Wissen für sich zu reklamieren. Ein äußerst beliebtes Manöver, durchsichtig, aber viel zu selten durchschaut.

Weil den meisten Anhängern die „Gotteshypothese“ (Laplace) zu schön ist, zu wertvoll, zu praktisch, zu ehrwürdig, um sie zu hinterfragen, reagieren sie rat- und verständnislos auf Gottes-leugnung. Die eingangs zitierte Überzeugung des australischen Philosophen Mackie ist ihnen fremd. Und aus dem Umstand,

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13Prolog

dass Glauben selbstverständlich eine Sache persönlicher Ent-scheidung ist und sein soll, ziehen sie den falschen Schluss, sie sei jeglichem Belieben anheimgestellt. Und zu denken, zu prü-fen, geschweige zu debattieren gebe es da nichts.

Über all das wird in unserer pluralistischen Gesellschaft so gut wie nie offen gesprochen. Freuds Wort von der „Denkhemmung“ in Glaubensfragen wird bestätigt von einer stillschweigenden kollektiven Übereinkunft, öffentlichen Diskurs über Elemen-tarfragen des Glaubens tunlichst zu vermeiden.

Befördert wird sie durch den Schlachtruf „Glaube ist privat!“. Seltsamerweise ist er von vielen Gläubigen zu hören und zu-gleich von vielen Ungläubigen. Erstere wollen so ihr Bekenntnis vor kritischer Kontroverse bewahren. Eine Strategie, die überaus erfolgreich war und ist, erst recht, wenn man bedenkt, welch herausragende Stellung Religion und Kirche in der bundesdeut-schen Gesellschaft nach wie vor einnehmen. „Privater“ Glaube will nicht passen zum schulischen Religionsunterricht, der über-wiegend eine staatlich gewollte und organisierte Erziehung zum Glauben darstellt, zu theologischen Fakultäten an Universitäten, zum Kirchensteuereinzug durch den Arbeitgeber, zur eklatanten Bevorzugung von Religion, Glaube und Kirche in den Medien im Vergleich zu säkularen Strömungen.

Ungläubige wiederum wollen den Glauben schwächen, indem sie ihn aus dem öffentlichen Raum hinauszudrängen suchen, zurück ins stille Kämmerlein. Diese Strategie ist in Deutschland, siehe oben, bislang kläglich gescheitert. Und es ist sehr zu be-zweifeln, ob sie eine richtige Strategie darstellt. Zudem verrät eine Gesellschaft, die aus ganz gegensätzlichen Interessenlagen und Überlegungen zu dem Konsens gelangt, über ihre bis in die Gegenwart höchst bedeutsamen religiösen Wurzeln und Traditi-

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onen am besten nicht offen zu reden und zu streiten, ihren An-spruch an Transparenz und Offenheit. Und will nicht wirklich erwachsen werden.

Gläubige, die nicht immer nur als stumme Diskursverweigerer dastehen wollen, schätzen kurze Zurufe. Da werden vom Got-tesleugner Respekt und Toleranz gegenüber dem Glauben einge-fordert; als ob Religion und Glaube sich beklagen dürften über einen Mangel daran. Mal mahnt der Gläubige zu Demut und Bescheidenheit; als ob seine eigenen Behauptungen über Dasein und Willen des Herrn nicht einen Extremfall von Selbstüber-schätzung darstellten. Mal belehrt er den Widersacher über An-maßungen und Beschränktheiten der Wissenschaft oder kreidet dem Gottesleugner an, dass der keine finalen Beweise vorzubrin-gen vermag – als ob es nicht hier wie auch sonst auf die besseren Argumente ankäme. Gern wird die Frömmigkeit namhafter klu-ger Köpfe ins Feld geführt, von Autoritäten der Theologie und der Wissenschaft; als ob dergleichen nicht auf ein Nullsummen-spiel hinausliefe angesichts zahlreicher unfrommer Prominenz. Beliebt ist der Hinweis, gottlosen Individuen und Gesellschaf-ten drohe moralisches Elend; als ob nicht immer wieder gläubi-ge Einzelne und fromme Kollektive größte Not gebracht hätten über sich und andere. Schließlich gibt – ausgerechnet! – der Re-ligionsanhänger dem Ketzer zu verstehen, gottloses Bekennen sei nah am Bekehrenwollen, und das wiederum stelle eine inak-zeptable Grenzüberschreitung dar, eine gefühllose Anmaßung – als ob er, wenn schon, eine solche Anklage nicht weitaus heftiger gegen sich und seinesgleichen erheben müsste.

Eine sehr spezielle Stufe gedanklicher Anstrengung erklimmen Gläubige gern mit der Frage, wieso der Atheist sich so ausdau-ernd mit einem Gott befasst, den es doch angeblich gar nicht

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gebe. Ähnlich „anspruchsvoll“ ist das „Argument“, auch der Ungläubige glaube ja an etwas. Und nicht selten wird dem Ket-zer entgegengehalten, er werde nach seinem Tode ja sehen. Für viele Religionsanhänger ist diese hellseherische Vorhersage – un-zugänglich jeder Evaluation, deshalb kostenfrei für den Prognos-tiker – schier unwiderstehlich. So wie die beliebte These, ohne Gott sei wahlweise das Leben ohne Sinn oder alle Ethik ohne Fundament. Oder beides.

Alle diese Argumente sind leicht zu widerlegen und zu entkräf-ten. Und sie sind Ausdruck einer Hilflosigkeit, der jedes Mittel recht ist, um sich nicht offenbaren zu müssen.

Idyllischer Glaubensverwertung, wie wir sie in Deutschland seit Langem gewohnt sind, ist nicht beizukommen durch Pädophi-lieskandale, Kirchenaustritte oder Besucherschwund bei Gottes-diensten. Der Glaube an eine höhere Macht, wie vage auch im-mer er skizziert wird und wie weit er inzwischen entfernt ist von kirchlicher Dogmatik, er hält sich hartnäckig. Nach Umfragen sind noch immer zwei Drittel der bundesdeutschen Bevölke-rung als irgendwie religiös einzustufen in dem Sinne, dass sie an so etwas wie „Gott“ glauben. Es ist töricht und irreführend, wenn manche Atheisten hierzulande die Nichtkirchenmitglie-der einfach dem Lager der Glaubenslosen zuschlagen.

Ökonomisch gesprochen: Die Nachfrage nach dem Transzen-denz-Angebot ist stabil auf hohem Niveau. Auch sie ist Kon-junkturen unterworfen, aber im Großen und Ganzen hält sie sich weitaus zäher, als viele im kleinen Häuflein der entschiede-nen Widersacher wahrhaben wollen. Leere Kirchen sagen noch nichts darüber aus, wie die Menschen in dieser existenziellen und doch verdrängten Frage denken und fühlen; erst recht, so-lange Gotteshäuser zu Weihnachten oder nach Anschlägen im-

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mer noch überrannt werden. Eher deuten solche Symptome auf zigfach beschriebene Erscheinungen wie Distanz von der Amts-kirche und Entdogmatisierung des persönlichen Bekenntnisses hin, als dass sie von einer um sich greifenden Abkehr von über-natürlichen Vorstellungen zeugten.

Ein verständiger Atheismus muss einräumen: Der Transit in eine religionslose Moderne wäre keineswegs ohne gravierende Risiken. Dass die übergroße Mehrheit der sieben Milliarden Planetenbewohner religiösen Vorstellungen anhängt und dass diese von großem Gewicht für den Einzelnen wie für ihre Ge-sellschaften sind, ist nicht wegzuleugnen. Ein Niedergang der Religionen, zumal wenn er sehr rasch stattfände, d. h. im Laufe weniger Generationen, könnte zutage fördern, dass eine große Zahl Menschen überfordert wäre mit einem solchen Prozess der Ernüchterung, der Sachlichkeit, der Entleerung des Himmels. Unvermeidlich würde er die mentale, die kulturelle und damit die politische Statik der Welt dramatisch verändern.

Allerdings: Jene Statik ist schon heute höchst zweifelhaft. Wäh-rend dieses Buch geschrieben wird, sind zwölf Millionen Men-schen am Horn von Afrika vom Tode bedroht infolge eines Mangels an Wasser, Lebensmitteln und Medikamenten. Zehn-tausende sind bereits gestorben. Eine Tragödie, die sich seit Langem abgezeichnet hatte und der vorzubeugen die reiche westliche Staatenwelt, basierend auf christlich geprägten Wer-ten, angeführt von bekennenden Christen wie Barack Obama, Angela Merkel und David Cameron, sich nicht aufraffen konnte. Die abgründigen Ambivalenzen einer Religion, auf deren Fah-nen das Wort von der Nächstenliebe weht, zeigen sich auch hier.

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Fazit: Niemand weiß, wie eine Welt ohne Religionen aussähe; erst recht nicht, ob sie eine bessere oder eine schlechtere wäre als die heutige.

Deshalb muss es am Ende doch bei der Hoffnung bleiben, dass die Menschheit mit dem mühsamen und langwierigen Versuch beginnt, ohne Fantasien von Göttern und Geistern auszukom-men, ohne Träume vom Jenseits und ohne das krampfhafte Be-mühen, dem eigenen Leben eine höhere Bedeutung zu verleihen, eine spirituelle Dimension durch die Erfindung von Transzen-denz. Dass sie aus der „Gottesfinsternis“, die der gegenwärti-ge Papst beklagt, die Morgendämmerung der Vernunft werden lässt. In deren Zentrum Wahrhaftigkeit und Humanität stehen und die Erkenntnis, dass die Natur und er selbst des Menschen Schicksal bestimmen.

Jedoch ist die kühne Hoffnung das eine, die betrübliche Realität der Gegenwart das andere. Der Gottesglaube, diese fromme Fik-tion und feierliche Fabel, die so viele Bedürfnisse bedient, macht seine Anhänger nur allzu oft blind und taub. Verstockt nennt die Bibel den, der die unbequeme Wahrheit nicht hören will. Dieses Buch nimmt nicht die üblichen Rücksichten. Sondern versucht zu beschreiben, woher es rührt und wie es sich zeigt: das Versagen der Gläubigen. Irrtum unser!

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I – Warum der Mensch der Torheit des Glaubens erliegt

„Hier stehen wir vor dem eigentlichen Kern der religiösen Problema-tik: Hilfe! Hilfe!“

William James

Bei aller Verschiedenheit der Motive für ein Ja zum Glauben – es gibt doch so etwas wie einen roten Faden, der sich durch das bunte Muster hindurchzieht. Denn sie alle handeln davon, was sich der Mensch von Gott und vom Glauben an ihn verspricht. Immer geht es ihm um Beistand, Trost und Schutz, um eine Letztbegründung für Gerüste der Ethik, um den Wunsch, sich einen Reim machen zu können auf Welt und Existenz, oder im Gegenteil um den Versuch, sich mit der Beschwörung des Ge-heimnisvollen, des Rätselhaft-Magischen in andere Dimensio-nen hinaufzuschwingen als die erdnahen.

Denn diese empfinden viele religiöse Menschen als banal und dürftig, jedenfalls im Vergleich zu dem, was ihnen als das Ei-gentliche erscheint, als das Wesentliche. Der Erfurter Religions-philosoph Eberhard Tiefensee spricht von einem „Grundbedürf-nis des Menschen, sich mit etwas zu konfrontieren, das über ihn

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selbst hinausgeht“. Seit der frühere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde anno 1964 den Aphorismus präg-te, es lebe der freiheitliche säkulare Staat „von Voraussetzungen, die er nicht selber garantieren“ könne, wird dieser Satz nur zu gern mit leuchtenden Augen und vielsagendem Blick nach oben auf Akademietagungen zitiert. Und als sich der „Spiegel“ 2007 – sehr parteiisch – mit dem von ihm sogenannten „Kreuzzug der Neuen Atheisten“ befasste, da brachte der Autor der Titelge-schichte die pro-religiösen Ressentiments im flotten Magazinstil so auf den Punkt:

„Bisweilen scheint es, als würde auf alles eingeschlagen, was sich dem Messbaren entzieht, ohne dem Geheimnis einen Raum zu lassen, als wäre unsere Zeit nicht schon ausgenüchtert genug. Als gäbe es nicht jede Menge Dinge, die sich nicht beweisen lassen, an die Zeitgenos-sen aber ohne Schaden fürs Gemeinwohl glauben: Liebe, Homöopa-thie, Astrologie, den Wetterbericht, den Reformwillen der Kanzlerin. Gibt es in diesem erklärten Kulturkampf Platz zwischen den Fronten? Lässt sich vom Glauben überhaupt etwas retten, ohne damit zu-gleich zu Komplizen der Gotteskrieger und Kreationisten zu werden?“

Zu loben ist die Kompaktheit der Aussage. Im Übrigen: reich-lich Unfug und Verräterisches, das nur ein einziges Ziel verfolgt, nämlich den unverhofft aufgetretenen Widersachern zum Trotz die Dominanz der Religion zu erhalten. So sind die bewuss-ten Atheisten viel zu sehr in der Unterzahl, um einen Zeitgeist blind-militanter Religionskritik hervorzubringen. Von Geheim-nissen, denen ein Raum gelassen werden soll, wüsste man zuvor gern Näheres; sonst gibt es eben keinen Riegel mehr, der irgend-einer Sorte Spuk, Gespenstern und Dämonen, allesamt fraglos geheimnisvoll, vorzuschieben wäre. Auch ist unsere Gegenwart alles andere als ausgenüchtert: Das Irrationale blüht wie eh und je. Und es ist hochproblematisch, Unfug nur deshalb einen Frei-fahrtschein auszustellen, wenn er „ohne Schaden fürs Gemein-

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wohl“ geglaubt wird. Denn der scheinbar harmlose kleine Un-fug schafft dem nächstgrößeren, schon etwas weniger harmlosen die Legitimation, insofern die Anhänger des einen wie die des anderen darauf bestehen, eine Prüfung durch Erfahrung, Ver-nunft und Logik sei ihm nicht zuzumuten, ja sogar: es gebe gar keine Standards, die einzuhalten wären. Und so geht es fort, bis am Ende metaphysischer Wahn oder politische Paranoia erst auf Widerstand treffen, wenn sie unübersehbare Opfer fordern. Womit beileibe nicht nach Gesinnungspolizei und orwellschem Staat gerufen wird, sondern nach der Entschlossenheit mög-lichst vieler, sich jenem „Anything goes“ zu verweigern, das Ver-nunft und Mündigkeitsanspruch des Menschen beleidigt. Die aber sind dem Autor der zitierten Zeilen offenbar gleichgültig. Was sich darin zeigt, dass er die Erfahrungstatsache Liebe in ei-nem Atemzug nennt mit dem Unsinn Astrologie.

Die Struktur religiöser Motivation ist zu skizzieren als Antwort auf die Frage: „Was nützen Gott und Glaube?“ Natürlich stellt sie so niemand; in dieser Formulierung würde das ihr innewoh-nende Verwertungsdenken nur allzu offenbar. Die diversen Antworten indessen verschleiern dieses Interesse bei Weitem ge-schickter. Denn sie sind für gewöhnlich getränkt von so vielen Elementen aus der Sphäre von Gemüt und Gefühl, von so viel Wünschen und Sehnen, von so viel Respekt für ehrfurchtgebie-tende, jahrtausendealte Tradition und von so viel nicht unbe-rechtigtem Misstrauen gegenüber dem Menschen, diesem Ge-schöpf aus „krummem Holz“, dass auch mancher Gottesleugner nicht unbeeindruckt bleibt. Und spürt, wie sehr sein nüchterner Naturalismus wirkt wie schäbiges Kleingeld, während der Gläu-bige frohlockend auf dem mächtigen Berg des ganzen religiösen Goldes zu thronen meint. Glaube, auch das räumt ein vernünf-tiger Atheismus ein, der weiß, wie dürr, trostlos und unsinnlich

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er daherkommt, hat ja tatsächlich eine Menge zu bieten: Ru-heraum und Wärmestube, Knautschzone und Wegweiser, Mo-ralfabrik und sozialer Kitt, Durchblick und Zutritt zu höheren Sphären und womöglich ins Jenseits – dies und mehr, alles in einem.

Eben deshalb entfaltet ja die religiöse Illusion so viel zähe Kraft. Ihr erliegen viele auch deshalb, weil sie gemeint sein, das heißt sich selbst weder blindem Zufall verdanken noch der Sinnlosig-keit ausgeliefert sehen wollen. Und sie wollen sich stützen lassen durch die Gemeinschaft der Gleichgesinnten.

Das Oasen-Dilemma

Auch deshalb befindet sich der Ungläubige in dem, was als „Oa-sen-Dilemma“ zu bezeichnen wäre. Es handelt von Reisenden in der Wüste, denen durch widrige Ereignisse die Wasservor-räte ausgegangen sind. Als die Silhouette einer rettenden Oase erscheint, entfaltet sich das ganze üppige Szenario kultureller Kommunikation. Die einen sprechen Dankgebete, schreiben Gedichte oder philosophieren über das „Der Weg ist das Ziel“-Mantra, die etwas praktischer denkende Fraktion schwelgt in Gedanken an frugale Orgien oder verabredet eine Studie über die Standards touristischer Stützpunkte in der Sahelzone. Die Annahme, dort vorne warte die Oase, gebiert Kreativität, weckt die Lebensgeister, produziert Hoffnung, fordert Intelligenzleis-tung ab, schafft neuen Zusammenhalt und stiftet persönliches Glücksgefühl. Und wird schließlich, als Voraussetzung all dieser erfreulichen Effekte, in den Rang einer Gewissheit erhoben, an der es keine Zweifel mehr geben darf, ganz zu schweigen von offenem Bestreiten. Und doch hegen zwei unter den Expediti-onsteilnehmern den begründeten Verdacht einer Fata Morgana.

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Sie stehen vor einer ganzen Reihe von Problemen. Sie müssten das unausgesprochene Gelübde der anderen durchbrechen, sich ausschließlich auf die positive, ermutigende Oasen-Hypothese zu konzentrieren; indem die Neinsager die Indizien für ihre Vermutung einer optischen Täuschung ausbreiten, würden sie zusammen mit der Illusion auch existenzielle Hoffnungen und Glücksgefühle zerstören; womöglich brächten sie die ganze Kommunikation mit allen ihren kulturellen und sozialen Ele-menten zum Erliegen; und, was wohl das schlimmste Ergebnis ihres kritischen Einspruchs wäre, sie würden dem einen oder anderen den Willen und die Kraft zum Weitergehen rauben, so-dass sie es zu verantworten hätten, wenn er es womöglich nicht mehr schafft bis zur nächsten real existierenden Oase.

In analoger und ähnlich verzwickter Lage steckt die kleine Min-derheit der bewussten religiösen Dissidenten in einer Gesell-schaft, die sich nach wie vor an den Strohhalm transzendenter Vorstellungen klammert.

Und doch: Die erhebendsten Auskünfte über Nutz und From-men von Religion ändern nichts daran, dass dabei die Frage „Wie verhält es sich tatsächlich mit Gott und Glaube?“ entschieden zu kurz kommt. Genauer: beiseitegeschoben wird. Für Gläubige ist sie höchst unbequem, und sie ist erkennbar ganz anders geartet als jene nach dem Nutzen. Statt wie sie auf unterschiedlichs-ten individuellen und gesellschaftlichen Bedarf zu zielen und dessen Befriedigung zum entscheidenden Kriterium zu machen, verfolgt sie allein ein Erkundungsinteresse. Wer diese Frage ins Zentrum rückt, wohin sie gehört, weiß, dass er sich jene Bedürf-nisse, so bedeutsam und verständlich sie sind, vom Leibe halten muss, damit sie das Resultat der Prüfung nicht verfälschen.

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Dass die meisten Menschen, auch in unseren vermeintlich auf-geklärten europäischen Regionen, bei der Glaubensthematik und den sogenannten letzten Fragen weniger jenes Erkundungs- als vielmehr ein funktionales Interesse verfolgen, kommt nicht von ungefähr. Die Evolutionsbiologie hat uns gelehrt, die Ent-wicklungsgeschichte nicht nur des pflanzlichen und tierischen, sondern eben auch des menschlichen Lebens auf dem Planeten unter diesem Aspekt zu begreifen. Dass Religion für die Men-schen evolutionär von Vorteil war – und partiell bis heute ist –, muss nicht geleugnet werden, sondern stellt eine überaus plau-sible Vermutung dar. Der Glaube an Götter und andere dämo-nische Wesen lieferte unseren Vorfahren vermutlich seit etwa 150 000 Jahren scheinbare Erklärungen für das, was sie erleb-ten: vom Regenbogen bis zum Unwetter, vom Tod bis zu vie-len anderen Vorgängen und Phänomenen, die am ehesten zu verstehen und zu ertragen waren, wenn sie gedeutet wurden als Wirken geheimnisvoller, übernatürlicher Mächte.

Die Bedeutung solcher Welterklärungen für das sonst Unbe-greifliche ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. Hier seien nur zwei Elemente genannt: das der Gemeinschaftsbildung, zu der eine für Stamm und Horde verbindliche Religion erheblich beitrug, selbst in noch so primitiver Form, sowie das Entstehen eines Weltverständnisses, das die Menschen bewog, hinter den Erscheinungen Ursachen zu sehen, diese Ursachen zu personali-sieren und diesen vermeintlichen Agenten schließlich Absichten zuzuschreiben.

Diese intentionale Weltsicht, die zugleich im Kausalitätsprinzip den entscheidenden Wirkungsmechanismus erkennt, steuerte unendlich viel zum Fortschritt unserer Art bei. Jedoch hat sie auch ihre Schattenseiten. Sie kommen zum Vorschein nicht nur

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in den abenteuerlichsten religiösen Konstrukten, in grotesken Formen von Aberglaube und Esoterik, sondern beispielswei-se auch in der Unfähigkeit, dem Zufall den Rang zuzuerken-nen, der ihm tatsächlich zukommt. Die verbreitete Vorstellung, nichts einigermaßen Bedeutendes geschehe einfach so, allent-halben seien Schicksalsmächte – oder gar, in negativem Kon-text, finstere und womöglich verschworene Kräfte – am Werk und Freitag der 13. sei tatsächlich ein Tag mit erhöhtem Risiko, sind der okkulte Nachlass aus weit zurückliegenden Epochen der Menschheit. Und ein Beispiel dafür, dass eben nicht jedes Erbe dankbar und respektvoll anzunehmen ist, sondern das eine oder andere höflich, aber bestimmt ausgeschlagen werden sollte. Es sei denn, homo sapiens wolle sich dümmer stellen, als er ist oder sein könnte, wolle sich selbst verraten als vernunftbegabtes Wesen und strebe eigentlich zurück in die Kindheit der Gattung. Schlag nach bei Voltaire: Der verhöhnte solch magisches Den-ken mit der Sottise, höhere Mächte hätten die menschliche Nase genau so geformt, dass ein Brille darauf passt.

Kodex für die Gruppe

Für ein positives religiöses Bekenntnis gibt es eine enorm breite Skala von Beweggründen. Wie schon gesagt: Als sicher darf gel-ten, dass Religionen entstanden, weil sie – nicht anders als heute

– unseren Vorfahren als Erklärungsmuster dienten. Und zugleich als hilfreich erschienen bei der Bewältigung konkreter Alltags-probleme ebenso wie elementarer Existenzfragen und -nöte. Überall, wo Menschen sich niederließen oder die Kontinente durchstreiften, galt es ja etwa, Naturphänomene zu verstehen, das Jagdglück zu befördern, Missernten fernzuhalten, Kriege zu bestehen oder die Seelen der Toten zu besänftigen. Es liegt also

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nur allzu nahe, dass überall auf dem Planeten Dämonen und Götter erdacht wurden, deren Beistand sich zu sichern inmitten all der Kämpfe, Gefahren und Bedrohungen ein Gebot persön-licher Lebensklugheit war und zudem im Rahmen überkomme-ner Einstellungen der Stammes- oder Volksgemeinschaft lag.

Wolf Singer, der weltweit führende Hirnforscher, der sich selbst übrigens nicht als Atheist bezeichnet, hat den Sachverhalt so for-muliert:

„Wir haben unsere Religionssysteme alle selbst erfunden. Dafür spre-chen schon die kulturspezifischen Ausprägungen. Wir sind aufgrund des Soseins unseres Gehirns darauf festgelegt, Ursachen für Phäno-mene zu suchen. Und da es viele Wirkungen in der Welt gibt, deren Ursachen wir nicht ergründen können, liegt es nahe, sie einem hö-heren Wesen zuzuschreiben. Das erlaubt eine weitere hochwirksame Projektion: Denn nun kann man Verhaltensweisen, die sich in der Erfahrung als sinnvoll herausgestellt haben (nicht zu töten, zu lügen, zu stehlen), als Verordnung dieser höheren Instanz deklarieren. Da-durch entzieht man sie der menschlichen Verfügbarkeit. Alles, was man nicht ständig diskutieren möchte, kann man nun diesem un-sichtbaren Verursacher zuschreiben – und das ist ein sehr effizientes Mittel, um Gruppen auf einen gleichen Kodex einzuschwören. Das hat sich offenbar im Laufe der kulturellen Evolution enorm bewährt.“ (Aus: Ulrich Schnabel, „Die Vermessung des Glaubens“, 276)

Deshalb geht in die Irre, wer aus dem Umstand, dass Religionen doch so alt und in jeder Weltgegend entstanden sind, schluss-folgert, es müsse also in der Sache etwas an ihnen dran sein, weil es dieses menschheitsgeschichtliche, Zeiten und Regionen über-greifende Phänomen, diese ganz „eigene Provinz im Gemüthe“, wie einst Friedrich Schleiermacher sagte, sonst nicht gäbe. Da waren eben hinlänglich objektive Ursachen, die zum Entstehen so vieler und so unterschiedlicher Religionen führten. Dabei ist bemerkenswert, wie sich jedenfalls in unserem europäischen und

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Mittelmeerraum der Himmel in den vergangenen Jahrtausen-den langsam, aber stetig wieder entvölkert und das dort veror-tete göttliche Personal sowohl Struktur als auch Charakter dra-matisch verändert hat. Wenn überhaupt, glaubten alte Griechen und Römer und ebenso etwa die alten Germanen an eine große Zahl verschiedenster Götter und Gottheiten. Ihnen wurden klar eingegrenzte Kompetenzen zugeschrieben wie für Liebe, Krieg, Handel oder Wetter, ferner sehr eingegrenzte Macht, moralische Leere und ein starkes Bedürfnis, sich unentwegt gnädig stim-men zu lassen durch Gebet, Opfer und anderes gefälliges Tun. Jüdischer, christlicher und islamischer Monotheismus machte dieser bunten Vielzahl den Garaus, setzte an ihre Stelle ein ein-ziges übernatürliches Wesen und schraubte dafür die Anforde-rungen an diesen einen Gott beträchtlich höher: Sowohl seine Macht als auch seine Zuständigkeiten wurden grenzenlos, und als Ausdruck davon tauchte das Konzept eines Schöpfers auf, der Erde und Universum geschaffen hatte und jedenfalls alle Mittel in der Hand hält, jegliches irdische Geschehen zu lenken nach seinen Vorstellungen. Jedenfalls hat speziell die christliche Lehre das Konzept überwunden, im Himmel herrsche göttliche Willkür, fernab von irgendwelchen ethischen Verpflichtungen, die nur für Menschen Geltung besäßen. Stattdessen warb sie überaus erfolgreich um Gefolgschaft mit der Idee göttlicher Lie-be zu Mensch und Schöpfung, verkörpert im gekreuzigten Jesus Christus als Erlösungsverheißung.

Indessen setzt sich der Prozess der Ausdünnung religiöser Vor-stellungen in unseren Tagen fort. Ein längerfristiger Trend, an dem auch das Aufkommen bedrohlicher fundamentalistischer Tendenzen sowohl im Islam wie im Christentum nichts zu än-dern vermag. Nicht nur, dass jedenfalls im modernen Europa eine Minderheit den Gottesglauben ablehnt oder ihm zumin-

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dest so gleichgültig und fremd gegenübersteht, dass es nahezu auf das Gleiche herauskommt. Sondern: Das gedankliche Bild von Gott verschwimmt immer mehr, immer undeutlicher wer-den seine Konturen, Begriffe wie „Religion à la carte“ haben in einschlägigen Studien bekanntlich längst ihren festen Platz erobert.

Halten sich die einen noch in Anlehnung an Bibel und kirchli-che Verkündung an eher traditionelle Vorstellungen, so nehmen am anderen Ende der Skala immer mehr Menschen, eben weil sie vom Glauben doch nicht lassen wollen, Zuflucht zu Äuße-rungen wie dieser: „Ich glaube, dass es da etwas gibt.“

Auch ein derart verschwiemeltes Bekenntnis, das gleichwohl oft mit bemerkenswerter Entschiedenheit daherkommt, lockt mit zahlreichen und beileibe nicht zu unterschätzenden Vorteilen. Es erspart jeglichen theoretischen Aufwand und die Mühe, sich mit den Überlieferungen von Volksglauben und theologischer Dogmatik näher vertraut zu machen oder gar auseinanderzu-setzen. Auch dass diese leichenblasse Aussage Streit auslöst oder womöglich Kritik, muss niemand befürchten. Zugleich aber lässt sie die Option offen, sich bei Bedarf und passender Ge-legenheit problemlos in christliche Traditionskompanien ein-zureihen, wovon bekanntlich immer noch Unzählige weidlich Gebrauch machen. Und die aus Kindertagen vertraute Angst, dermaleinst wegen Unglaube den Böcken zugeteilt zu werden und damit ewiger Verdammnis anheimzufallen, erscheint vielen durch dieses vage Credo offenbar hinreichend gebannt. Nicht zu unterschätzen ist schließlich, dass auch hier ein spiritueller Durchblick reklamiert wird, eine Vogelperspektive, die mehr zu sehen erlaube als Niederungen oder bloße Fassaden. Und, ganz wichtig für die Beschwörungen von den Kanzeln herab und die

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Traktate unserer Prediger: Die religiöse Sichtweise bewahrt da-vor, die materielle Welt schon für das Ganze zu halten.

Es ist dieses Gefühl der Nähe zu etwas Erhabenem, der persön-lichen Teilhabe an etwas Großem und Unbesiegbaren, das ein überaus starkes Motiv für ein religiöses Bekenntnis darstellt. In der Rhetorik des Theologen Gregor Maria Hoff: „Die anthropo-logische Unruhe erfindet immer neue Geschichten. Sie präparie-ren den unabschaffbaren Gedanken, dass nicht alles ist, was in der Welt aufgeht.“ So soll auf einer intellektuellen Ebene Raum und Legitimität entstehen für das Festhalten an Mythen und Riten:

„Auch andere einschneidende Ereignisse (neben dem Tod, P. H.) – eine Heirat, die Geburt des ersten Kindes – lassen heutzutage in vielen Menschen die Frage laut werden, wie man diese Marksteine des Lebens aus dem Alltagseinerlei heraushebt. Wirkt nicht eine Hochzeit allein auf dem Standesamt schnöde und glanzlos? Lässt nicht ein kirchlicher Rahmen, mit Orgelmusik, Predigt und dem Ver-sprechen vor Gott – ‚bis dass der Tod euch scheidet‘ –, ganz andere Saiten in der menschlichen Seele anklingen? Bei solchen Gelegenhei-ten kommt eben noch etwas Drittes ins Spiel zweier Menschen, eine schwer fassbare transzendente Qualität, die eine Zeremonie zum Sakrament transformiert und auf eine neue Bedeutungsebene hebt. ‚Denn was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden.‘ Weil viele das Bedürfnis nach einer solch spirituellen Dimension spü-ren, erleben die Kirchen bei Hochzeiten, Begräbnissen oder Taufen einen Ansturm auch derjenigen, die sonst nie auf den Kirchenbänken zu finden sind. Manche fühlen dabei vielleicht sogar einen religiösen Schauer, erinnern sich an Kindheitserfahrungen oder lassen sich von den ungewohnten Worten einer Predigt kurzzeitig ergreifen. Andere, abgebrühtere Zeitgenossen sehen das heilige Sakrament lediglich als stilvolle Dekoration, die einfach dazugehört. Danach drängt man schnell wieder ins Freie. Jetzt wird aber gefeiert!“ (Ulrich Schnabel,

„Die Vermessung des Glaubens“, 470)

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Jedenfalls: Der phraseologische Charakter eines Bekenntnisses zu einem angeblich „da“ existierenden „Etwas“ schreckt nie-manden mehr. Was nicht erstaunen muss, denn bei näherem Hinsehen deckt ja selbst dies noch jene elementaren Bedürfnisse und Interessen ab, die menschheitsgeschichtlich an der Wiege der Religion gestanden haben dürften: Auch dieses so undefi-nierte „Etwas“, das es an diesem ebenfalls nicht näher beschrie-benen Ort namens „da“ geben soll, wird gedacht als schützende Hand, verfügt in der Fantasie seiner Anhänger über erhebliche Steuerungspotenziale und ist jederzeit ohne jede Anstrengung und aus nahezu beliebigem Anlass ins Feld zu führen, wenn nach Erklärungen gesucht wird: etwa für Schönheit und Zielge-richtetheit in der Natur oder für eine schicksalhafte Begegnung. Der deutsche Anthropologe Volker Sommer hält es für nützlich, auch einem falschen Glauben anzuhängen, denn es sei „schwie-riger, an nichts zu glauben, als irgendeiner Ansicht anzuhängen, und sei sie noch so absurd“. Um hier nicht einem übertriebenen Kulturpessimismus das Wort zu reden, sei hinzugefügt: Das gilt für viele, aber glücklicherweise keineswegs für alle Menschen; und die Hoffnung, dass ihre Zahl auf lange Sicht wächst, muss der Ketzer nicht heute schon fahren lassen.

Neben den schon erwähnten Bedürfnissen nach Schutz und Beistand, nach Trost und Erklärung dürften noch wesentlich kompliziertere Zusammenhänge eine erhebliche Rolle spielen. Feuerbach, Freud und Nietzsche im deutschen Sprachraum ha-ben hier komplexe Überlegungen angestellt, David Hume oder William James im angelsächsischen. So hat Religion ganz offen-kundig auch sehr direkt zu tun mit Macht. Man lese beispiels-weise in der Bibel und in den nicht enden wollenden Beschwö-rungen, die in den Texten der Gesangbücher beider christlicher Konfessionen zu finden sind, man staune über die vom Geis-

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te des Kotau bestimmten Anrufungen Allahs durch Muslime, die sich nicht genug tun können, die grenzenlosen Optionen ihres Gottes zu rühmen, der immerzu als der Barmherzige zu preisen ist – und oft genug das Gegenteil verkörpert. Auch his-torisch und bis in unserer Gegenwart übt Macht eine enorme Anziehungskraft aus, etwa auf Priesterkasten, die sich materielle und politische Pfründe sicher(te)n, dazu theologische Monopo-le und Exklusivrechte bei der Aufführung einschlägiger Prak-tiken. Auf verschlungene Weise ist Macht aber selbst für den unprivilegierten Durchschnittsbürger oder gar für den, der am Ende der gesellschaftlichen Leiter steht, wesentlich. Nicht allein wegen des Glanzes, der von Höherrangigen für sie abfällt, son-dern durch den Akt der Unterwerfung. Zumal wenn sie nicht erzwungen wird, sondern freiwillig erfolgt, enthält sie oft genug den Wunsch, gewissermaßen hinterrücks an etwas Großartigem, nämlich Herrschaft, teilzuhaben.

Die Angst vorm Aus

Der Wunsch, irgendwie dem Verhängnis der eigenen Endlich-keit zu entkommen, gehört im religiösen Motivgebäude zum Fundament. Das bleibt auch angesichts der unbestreitbaren Erfahrung richtig, dass viele Menschen dem eigenen Ende mit einer gewissen Gelassenheit, ja sogar Gleichgültigkeit entgegen-sehen. Andere müssen den Gedanken an den Tod nach Kräften verdrängen, um leben zu können. Im Unterbewusstsein beglei-tet sie dennoch ständig die Bedrohung durch den letzten, ra-dikalen, irreparablen Verlust des eigenen Ich. Deshalb nimmt in den fünf Weltreligionen der Glaube, nach dem physischen Tode gehe es auf irgendeine Weise mit dem Individuum wei-ter, einen zentralen Platz ein. Freilich bestehen zwischen ihnen

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denkbar große Differenzen darüber, wie man sich diese jenseiti-ge Existenz vorzustellen habe; schon allein das entlarvt die oft zu hörende Behauptung, irgendwie sagten und meinten doch alle Religionen dasselbe, als oberflächlichen Unfug.

Jedenfalls ist auch hier das Interesse am Werk, Religion aufzu-werten und gegen Kritik abzuschirmen, indem man sie hinstellt als etwas Großes, woran die Gattung Mensch nicht vorbei-kommt. Hinduismus und Buddhismus gehen davon aus, dass eine unsterbliche Seele sehr verschiedene leibliche Hüllen an-nimmt und sowohl als Mensch wie auch als Tier auf der Erde lebt, und das womöglich unzählige Male. Ganz anders die drei Monotheismen aus dem Mittelmeerraum mit ihren Mythen von Jüngstem Gericht, Paradies und Hölle, bei denen bekannt-lich so etwas wie Seelenwanderung nicht vorkommt und nur eine einzige irdische Station vorgesehen ist. Der Gedanke, der Mensch müsse seine Reinkarnation womöglich erleben als Ochs oder Regenwurm, erscheint ihnen zu Recht fremd, wenn nicht lächerlich.

Wie beim Glauben an Gott liegen beim Glauben an ein Leben nach dem Tode keinerlei Anhaltspunkte für die Richtigkeit die-ser exzentrischen Annahme vor. Für Unzählige ist sie jedoch ge-nau das Gegenteil und die Überzeugung, man werde drüben seine Lieben wiedersehen, das Normalste von der Welt und zu-gleich eine unabdingbare Stütze im Leben:

„Nein, ich habe in diesem Leben zu viel gelitten, um nicht ein anderes zu erwarten, ich fühle es, ich glaube es, ich will es, ich hoffe darauf, ich werde es bis zum letzten Atemzug verteidigen.“ (Jean-Jacques Rousseau)