Tectum Leseprobe Rebe Luther

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Wie soll man sich dem Lutherjubiläum stellen? Bernd Rebe setzt sich in diesem Buch mit den verschiedenen Sichtweisen auf die Reformation und ihren Wirkungen auseinander.

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  • Bernd Rebe Die geschnte Reformation

    Warum Martin Luther uns kein Vorbild mehr sein kann. Ein Beitrag zur Lutherdekade

    Tectum Verlag

  • Bernd Rebe Die geschnte Reformation. Warum Martin Luther uns kein Vorbild mehr sein kann. Ein Beitrag zur Lutherdekade Tectum Verlag Marburg, 2012 ISBN: 978-3-8288-3016-5 Umschlagabbildung: Martin Luther, Portrt von Lucas Cranach d.., bearbeitet (upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b0/Martin_Luther_by_ Lucas_Cranach_der_ltere.jpeg) Druck und Bindung: CPI buchbcher.de, Birkach Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten Besuchen Sie uns im Internet www.tectum-verlag.de

    Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet ber http://dnb.ddb.de abrufbar.

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    Den Menschen gewidmet, die freundlich sorgend und umsorgt

    in der Evangelischen Stiftung Neuerkerode oder in vergleichbaren Einrichtungen

    Orte zum Leben schaffen. Die Beitrge Was drfen wir glauben? und Luther als Reformator katholischen Glaubens sind in einer komprimierten Fassung im MERKUR. Deutsche Zeitschrift fr europisches Denken erschienen, und zwar der letztgenannte Beitrag in Heft 722 vom Juli 2009 unter dem Titel Die Reformation ein unvollendetes Projekt. Von der dunklen Seite des D. Martin Luther und der erstgenannte Beitrag in Heft 754 vom Mrz 2012 unter dem Titel Was drfen wir glauben? Vom Umbruch der Religi-onen und den Herausforderungen des Christentums. Der Nachdruck in erweiterter Fassung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Redaktion des MERKUR.

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    Inhalt

    Einleitung: Im Glauben geht es um unsere Orientierung in der Welt 9

    Was drfen wir glauben? 19

    Vom Umbruch der Religionen und den Herausforderungen des Christentums 19

    1. Zeichen des Umbruchs 19

    2. Ursachen des Umbruchs 28

    2.1 Lebensweltliche Krisenursachen 28

    2.2 Ideenpolitische Krisenursachen 28

    2.3 Folgen der wissenschaftlichen Aufklrung 29

    3. Religionen als komplexe Kulturphnomene 34

    4. Die Herausforderungen des Christentums 37

    5. Die irreale Glaubensbotschaft des Jesus aus Galila 41

    6. Notwendige Abschiede 46

    7. Das Reformdilemma der christlichen Kirchen 49

    Luther als Reformator katholischen Glaubens 53

    Kann die mittelalterliche Glaubenslehre des groen Reformators uns noch als Orientierung dienen? 53

    1. Von der dunklen Seite des D. Martin Luther 53

    2. Das verborgene Luther-Dilemma des deutschen Protestantismus 56

    3. Luthers Glaubensenge 60

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    4. Luther, in Teufelsangst und Hexenwahn 64

    5. Luther, hitzig und lstig in der heiligen Schrift 67

    6. Luther und die Unausweichlichkeit der Snde 69

    7. Luthers demtigender Gott 70

    8. Luthers spter Antijudaismus und seine schlimmen Folgen 72

    9. Die Nachkriegsmhen der deutschen Protestanten im Umgang mit Luthers Antijudaismus 76

    10. Von der berschtzten Reformation zur verschtteten Praeformation: Das Glaubenswagnis der Goethezeit 85

    10.1 Die philosophische Umbildung der Religion 85 10.2 Die Ablehnung der anthropomorphen Enge des

    Christentums 88 10.3 Der Toleranzgedanke der Aufklrung und die von ihr

    propagierte Eigenverantwortung im Glauben 91 10.4 Die erkenntniskritischen Einsichten der

    Kantischen Philosophie 92 10.5 Das neue Naturverstndnis in Literatur und

    Naturphilosophie 94

    Anmerkungen 99

  • Warum Martin Luther uns kein Vorbild mehr sein kann

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    EINLEITUNG: IM GLAUBEN GEHT ES UM UNSERE ORIENTIERUNG IN DER WELT

    Die Spitze und Krnung der menschlichen Kulturpyramide wird von der R e l i g i o n gebildet. Alles andere ist nur der massive Unterbau, auf

    dem sie selbst thront, hat keinen anderen Zweck, als zu ihr hinanzufhren. In ihr vollendet sich die Sitte, die Kunst, die Philosophie. Die Religion, sagt

    Friedrich Theodor Vischer, ist der Hauptort der geschichtlichen Symptome, der Nilmesser des Geistes.

    (Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit1)

    In einer Zeit, in der alle gewohnten Orientierungen in dramatischen Umbrchen begriffen sind, stellt sich umso strker auch die Frage nach der Orientierungsverlsslichkeit im Glauben. Immanuel Kant hatte den hier-bei unterstellten Zusammenhang in der Fragendreiheit formuliert: Was kann ich wissen? Was darf ich hoffen? Was soll ich tun?, die wir nun aktua-lisieren und generalisieren drfen in: Was knnen wir wissen? Was drfen wir glauben? Was sollen wir tun?

    Die tiefere Wahrheit oder doch Weisheit dieser Fragentrias liegt in der Erkenntnis, dass Voraussetzung fr unser Handeln nicht nur unser Wissen und unsere Erfahrung sind, sondern auch unser Glaube: Was wir tun sollen, hngt nicht nur davon ab, was wir wissen (knnen), sondern auch davon, was wir glauben (drfen). Das Drfen beim Glauben bezieht sich hierbei nicht auf eine glaubenspolizeiliche Begren-zung dessen, was uns zu glauben erlaubt ist, sondern dieses Drfen ist bezogen auf den Zusammenhang von Glauben und Orientierung in der Lebenswirklichkeit in dem Sinn, dass ein wirklichkeitsgerechter Glaube fr uns ergnzend zu unserer Vernunft und Erfahrung hilfreich sein kann bei unserem Verstndnis von Leben, Welt und Sterben und jeden-

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    falls bei den schweren und grundlegenden Entscheidungen, vor die wir gestellt werden. Damit ist zugleich die Frage von Franz-Josef Paulus be-antwortet, ob denn moderne Gesellschaften auf die soziokulturelle Fundie-rung durch religise berzeugungen verzichten (knnen), die sich ihm in Anbetracht der Konzentration auf das Glaubensthema stellt.2

    Glauben im Sinn des Glaubendrfens ist damit konstitutiv wirklich-keitsbezogen, und hierin liegt der Hauptunterschied zu den berkomme-nen Religionen, die in ihrem Grundcharakter fr uns heute kulturhistori-sche Erzhlungen sind. Als solche sind sie durch folgende Wesens-merkmale gekennzeichnet:

    (1) Sie haben ihren Ursprung in Jahrtausende zurckliegenden, zum erheblichen Teil spter hinzuerfundenen und in ihrem wirklichen Ge-schehen weitgehend ungewissen Ereignissen.

    (2) Sie sind damit geprgt durch Glaubensannahmen ihrer Entstehungs-zeit, die sich ihrerseits schon durch Jahrhunderte, wenn nicht in Jahrtau-senden herausgebildet hatten. So sind im Christentum Elemente alt-gyptischer und persischer Religionen unbersehbar, die bei aller Unterschiedlichkeit eines gemeinsam hatten: Sie propagierten die Exis-tenz jenseitiger Mchte (in welcher Form auch immer), denen sie Ein-fluss auf das Leben der Menschen zusprachen. Nicht nur diese im Grunde archaische Vorstellung hat auch das Christentum geprgt, son-dern es sind auch gesellschaftliche berzeugungen und tradierte soziale Riten und Regeln in das Christentum eingegangen, wie insbesondere die Minderbewertung der Frau, die zu seiner Entstehungszeit und in seinem Entstehungsumfeld galten.

    (3) Sie beziehen sich alle auf Stifterpersonen, denen eine besondere Legi-timation bei der Glaubensbegrndung zugesprochen wird (Moses Je-sus Mohammed).

    (4) Sie Entwicklung der berkommenen Religionen folgt einem Prozess, der dem der Kosmogonie entspricht: Auf den Urknall der Glaubensof-fenbarung folgt eine Zeit der Ausbreitung des jeweiligen Glaubens, die zugleich eine Zeit der Herausbildung bestimmt-unbestimmter Glau-bensannahmen und Heilsversprechen ist.

    (5) Jede dieser berkommenen Religionen erhebt fr sich einen Aus-schlielichkeitsanspruch in dem Sinn, dass die jeweilige Religion die Alleingltigkeit des von ihr vertretenen Glaubens in Anspruch nimmt und die Bejahung eines anderen Glaubens oder die Ablehnung aller etablierten Glaubensangebote als Unglubigkeit ablehnt.

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    Ein konstitutiv wirklichkeitsverbundener Glaube hat einen anderen Grund-charakter als die berkommenen Religionen und nimmt in jeder der fnf Positionen eine andere, zum Teil diametral entgegengesetzte Position ein:

    In seinem Grundcharakter ist er keine kulturhistorische Erzhlung, sondern lebt als tagtglich neuer Versuch, mit der Unfassbarkeit der Schpfung in dankbarer Teilhabe und freundlichem Respekt gegen alle anderen umzugehen. In Kapitel 10 von Luther als Reformator katholischen Glaubens habe ich einen skizzenhaften, unvollstndigen und vorlufi-gen Bericht ber das Glaubenswagnis der Goethezeit gebracht, der das Bild der eigentlichen, aufklrungsgeprgten deutschen Religion im Ge-gensatz zur glaubensemanzipatorischen berhhung der Reformation wieder in Erinnerung bringen soll (unten S. 85ff).

    Damit zu den Unterschieden zwischen einem wirklichkeitsverbundenen Glauben und den berkommenen Religionen in den fnf aufgezhlten Gesichtspunkten:

    Zu (1): Der wirklichkeitsverbundene Glaube hat seinen Ursprung nicht in einem Jahrtausende zurckliegenden Geschehen mit allen Ungewisshei-ten und Unschrfen in seiner Weitergabe und allen spteren Hinzu-dichtungen, sondern seine konstitutive Wirklichkeitsverbundenheit zeigt sich in seiner unverlierbaren Gegenwrtigkeit an jedem Tag und in jedem Augenblick, in dem an einem verantwortbaren Verhltnis zur Unbegreiflichkeit der Schpfung in Dankbarkeit und Demut gearbeitet wird.

    Zu (2): Ein wirklichkeitsverbundener Glaube schleppt nicht die berlebten, unaufgeklrten Glaubensannahmen unendlich ferner Zeiten mit sich herum, sondern sucht sich in der Aufnahme aller begrndeten neuen Erkenntnisse und aufgeklrten Einstellungen stndig weiterzuentwi-ckeln, ohne modischen Verbiegungen des Zeitgeistes oder der pseudo-wissenschaftlichen Reduktion auf einen im Grunde wissenschaftlich nicht mehr haltbaren Agnostizismus zu erliegen.

    Zu (3): Ein wirklichkeitsverbundener Glaube beruft sich nicht auf die Lehre einer angeblich hierzu besonders legitimierten Stifterperson, die vor Jahrtausenden gelebt hat (und der ber die unvorstellbaren Zeitdistan-zen alle guten Eigenschaften dieser Welt angedichtet werden knnen), sondern ruft jeden Einzelnen von uns in die Glaubensverantwortung, anstatt ihn mit einem vorgegebenen Glaubenskanon zu entmndigen.

    Zu (4): Ein wirklichkeitsverbundener Glaube kennt keinen geistigen Ur-knall in seinem Entstehen, sondern geht von der aufgeklrten ber-

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    zeugung aus, dass sich dieser Glaube zusammen mit der geistigen Ent-wicklung der Menschheit und ihrem wachsenden Einsichtsstand in die Konstitution von Welt und Kosmos langsam herausbildet.

    Zu (5): Einem wirklichkeitsverbundenen Glauben ist jeder Ausschlielich-keitsanspruch fremd, denn er sieht jeden Einzelnen mit dem gleichen Recht ausgestattet, seine Glaubensverantwortung wahrzunehmen, und er respektiert im Rahmen der gleichen Grundrechtsgeltung fr alle und der Wahrung des friedlichen Umgangs miteinander die Ergebnisse die-ser Glaubensbemhungen in aller denkbaren Unterschiedlichkeit. Auch verbietet ihm der Ausschlielichkeitsanspruch der anderen Religionen, selbst einen solchen zu erheben.

    Nun ist Kritik am Christentum nichts Neues, sondern ein treuer Beglei-ter seiner Existenz seit Jahrhunderten. Und vielleicht hat diese perennie-rende Kritik als Ventil des berdrussdrucks und Korrekturen bewir-kendes Element mehr zu seinem berleben beigetragen, als die affirmative Beschwrung der alten Formeln. Ohne die atheistische, die nihilistische, die skeptische Herausforderung gibt es keine gute Theologie, das kann man ohne bertreibung sagen hat selbst die evangelische Theologin Petra Bahr, die Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutsch-land, eingestanden.3 Allerdings befrchtet sie, dass die Eventisierung und Infantilisierung der ehrwrdigen abendlndischen Religionskritikin vollem Gange sei. Wenn es auch einige populistische Erscheinungsfor-men der Religionskritik geben mag, die eine solche Befrchtung nahele-gen, so ist doch fr jeden, der die Auseinandersetzung um den christli-chen Glauben verfolgt, erkennbar, wie virulent die anschwellende Intensitt des Fragens nach der Tragfhigkeit seiner Grundlagen ist. Die Ernsthaftigkeit dieses Fragens zeigt sich nicht nur in einschlgigen Dis-kussionen, die immer wieder die existenzielle Betroffenheit vieler Teil-nehmer durch Glaubensfragen erweisen, sondern auch in der Qualitt und differenziert-kundigen Argumentation einschlgiger kritischer Lite-ratur, auf die ich noch zu sprechen kommen werde. Allerdings muss man drei Kritikfelder unterscheiden, nmlich die Religionskritik, die Kir-chenkritik und die Reformationskritik, und das heit eben auch Lutherkritik.

    Kirchenkritische Stellungnahmen gibt es zuhauf, und zwar in religi-onsverneinendem wie in religionsbejahendem Zusammenhang. Sie sind von begrenztem Wert, denn wie es etwa Parteienkritik, Gewerkschafts-kritik, Bankenkritik und Kritik an sonstigen etablierten Institutionen gibt, so gibt es eben auch Kirchenkritik so what?

    Bei den religionskritischen uerungen gibt es dagegen in neuerer Zeit eine bisher nicht beachtete Besonderheit, die allerdings alle Alarm-

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    glocken im kirchlichen Umfeld zum Schrillen bringen sollte: Diese Kriti-ken werden nicht nur von der Basis der Glubigen artikuliert, nicht nur von innerhierarchischen Amtstrgern vorgebracht (und dann, jedenfalls in der katholischen Kirche, als Ungehorsam abgebgelt), sondern die eigentlich nachdenkenswerte Kritikurheberschaft findet man im Kernbe-reich der (evangelischen) Theologie (worauf ich noch wiederholt und differenziert eingehen werde, s. unten ). Das bedeutet aber nicht weniger und nicht mehr als die Erkenntnis, dass die zur Pflege, Deutung und Erklrung des christlichen Glaubens von Amts wegen Berufenen selbst zur Notwendigkeit eines Glaubenswandels gefunden haben. Die christliche Kirche steht damit nicht nur und nicht einmal in erster Linie in der Bewahrung ihres Glau-bens gegen atheistische, nihilistische und agnostische Zweifler, sondern in der Auseinandersetzung mit ihrer eigenen geistigen Bewahrungsin-stanz, der Theologie. Dieser Kritikstand markiert wohl eine qualitativ vllig neue Herausforderung fr den christlichen Glauben, der sich die hierzu Berufenen stellen mssen.

    Schlielich geht es um die Reformations- und Lutherkritik. Im Unter-schied zur Kirchen- und Religionskritik, die wie schon festgestellt den christlichen Glauben seit Jahrhunderten begleitet und die in hunder-ten von Schriften und sonstigen Stellungnahmen ihren Niederschlag gefunden hat, findet man in Untersuchungen zur Reformation und in Luther-Biografien mit noch zu behandelnden, neueren Ausnahmen eine bemerkenswerte Kritikverhaltenheit. Problematische Aspekte wer-den zwar nicht vllig unterschlagen, aber eher in Nebenstzen und un-tergeordneten Darstellungsteilen verharmlost und relativiert. Dort, wo man an manifesten Fehlorientierungen des groen Reformators nun gar nicht mehr vorbeikommt (wie etwa bei seinem beienden Judenhass, hierzu unten S. 72), hat man Zuflucht zu der palliativen Zauberformel der historischen Kontextualisierung genommen: Luther war eben ein Kind seiner Zeit und man war damals eben antijdisch eingestellt.

    Versuche, Luthers unmigen Judenhass aus der zeitgeschichtlichen Situation heraus zu entschuldigen, zu mildern, zu entschrfen und da-mit fr die evangelische Tradition ertrglich zu machen, hat es immer wieder gegeben. Dieses Verfahren der historischen Kontextualisierung in beschnigender Absicht hatte schon der evangelische Theologe Wal-ther Bienert in seinem 1982 erschienenen Quellenbuch mit Einfhrungen und Erluterungen Martin Luther und die Juden angewandt.4 Allerdings hatte Bienert sein Programm, Luther aus der zeitgeschichtlichen Situati-on heraus verstehen zu wollen, in die hinein Luther sprach und die an noch Schlimmeres gewhnt war, derart berstrapaziert, dass dieser Um-wertungsversuch von Luthers antijdischen Hasstiraden fehlschlagen

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    musste. So hatte Bienert Luthers treuen Rat, die Synagogen anzuzn-den, durch den Hinweis zu relativieren versucht, dass die meisten Syna-gogen in der Zeit nach 1349 (dem Jahr, in dem die Judenverfolgung in Straburg und anderen groen deutschen Stdten sich in besonders gnadenlosem Morden austobte) schon verbrannt worden waren.5 Karl-heinz Deschner stellt hierzu in Band 8 seiner Kriminalgeschichte des Christentums sarkastisch fest: Somit kann da der Rest wohl gar nicht mehr so gro, Luther wieder nicht so schlimm gewesen sein? Jedenfalls, beruhigt sein kundiger Gefolgsmann, war Luthers Rat, die Synagogen zu verbrennen, da-mals nichts Auergewhnliches, er war von vielen Kirchenmnnern vorher und gleichzeitig erteilt worden und er kam, Herz, was wnschst du mehr, der Volksstimmung entgegen.6

    Ebenso relativiert Bienert Luthers Aufforderung zur Bcherver-brennung mit dem Hinweis auf bereits geschehene Bcherverbrennun-gen, selbst an damals renommierten Universitten, und auch Luthers Aufforderung zur Judenvertreibung zeigt Luther in Anbetracht der al-lerorten bereits durchgefhrten Judenexilierungen (auch) in Deutsch-land nach Bienert auch hierin (als) ein Kind seiner Zeit und im politischen Bereich weitgehend vom Zeitgeist irregefhrt. Bienert versucht hier eine doppelte Relativierung von Luthers ausgeprgtem Judenhass: Einmal durch die von Luther befolgte blichkeit von Judenverfolgungen und zum Zweiten durch die Abdrngung seiner Verirrungen ins Politische wo doch Luther selbst immer wieder betont hatte, dass sein Judenhass theologisch motiviert war, also im Kernbereich seiner Kompetenz wur-zelte, und nicht nur auf einem ihm fremd gebliebenen Nebenfeld irdi-scher Intrigen seinen Ursprung hatte.

    Karlheinz Deschner (a.a.O., S. 425) hat gegen die Relativierungsver-suche von Luthers Vorschlgen zur Judenverfolgung als Befangenheit in vorreformatorischen Haltungen darauf hingewiesen, dass mit der ber-nahme der tradierten Judenfeindschaft durch Luther diese Judenfeind-schaft eben nicht mehr nur vorlutherisch (war), sie war eben auch lutherisch. War sie nicht mehr nur vorreformatorisch, sie war auch reformatorisch. War sie nicht mehr nur sptmittelalterlich, sie war auch frhneuzeitlich. Sie ge-hrte eben jetzt nicht nicht zur reformatorischen Theologie, sie gehrte jetzt dazu!7

    Neuestes Beispiel fr den Versuch, durch historische Kontextuali-sierung Luthers antijdische Giftigkeiten auch reformationsgeschichtlich hoffhig zu machen, ist die 2011 erschienene Untersuchung des renom-mierten Gttinger Reformationsgeschichtlers Thomas Kaufmann ber Luthers Judenschriften, die schon in ihrem Untertitel Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung in schner Offenheit ihr historisch-

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    wertendes Verniedlichungsprogramm bekennt.8 Es ist geradezu span-nend, in dieser Schrift den Kampf des Autors um die Bewahrung von Luthers Vorbildstellung fr uns Heutige vor dem Hintergrund seines differenzierten reformationsgeschichtlichen Detailwissens nachzuvoll-ziehen. Freilich kann er Luthers Judenfeindschaft nicht unter den Tisch kehren, ja, er betont sogar die antijdische Kontinuitt von Luthers mil-deren antijdischen Frhschriften zum ungezgelten Judenhass in der drei Jahre vor seinem Tod im Jahr 1543 verfassten Sptschrift Von den Juden und ihren Lgen (hierzu unten S. 72ff), aber er streut doch immer wieder verstehende und Luther exkulpierende Passagen oder Begriff-lichkeiten ein, so etwa dort, wo er Luther als Wittenberger Prophet oder als Propheten Gottes bezeichnet.9 Dieselbe Tendenz ist bei Kauf-manns Behandlung von zwei zentralen Aspekten von Luthers Juden-feindschaft erkennbar, nmlich bei der Aufhellung ihrer Folgen und bei ihrer Rechtfertigung durch die historische Kontextualisierung.

    Die Letztere wrde ja an berzeugungskraft verlieren, wrde man die nicht-judenfeindlichen Strmungen in der damaligen gelehrten und ffentlichen Meinung benennen, denn dann wrde die Rechtfertigung von Luthers (angeblich zeitgebundenem) Judenhass arge Kratzer be-kommen. Und hier waren es vor allem die Humanisten, die ber Luther hinausgehend Elemente der Aufklrung vorwegnahmen und den Juden zumindest neutral gegenberstanden. Kaufmann aber erklrt ganz am Ende seiner Schrift (auf S. 180) sachlich falsch selbst Erasmus als in ei-nem tief verwurzelten Judenhass gefangen.10 Tatsache ist, dass Erasmus lediglich im Zusammenhang mit der Reuchlin-Affre gegen Pfefferkorn einige (unglckliche) antijudaistische uerungen getan hatte, aber im Grundtenor gegen den Antijudaismus Stellung bezogen hatte.11 Kauf-mann reiht auch Philipp Melanchthon gegen ganz andere Stimmen in die Phalanx der Judengegner ein. Merke: Luther war eben wie alle. Diese entschuldigende Sichtweise ist schon deshalb nicht haltbar, weil Luther eben kein bloer Judengegner war, sondern (in seiner Sptzeit) einen exterminatorischen Judenhass predigte.

    Die Auseinandersetzung mit der Rezeptions- und Wirkungsge-schichte von Luthers Judenhass verbietet sich Kaufmann angesichts des gegenwrtigen Forschungsstandes.12 Hier ist also besonders dringend auf-klrende Nacharbeit erforderlich, wie ich sie im 8. und 9. Kapitel von Luther als Reformator katholischen Glaubens in zugegeben kursorischer Weise zu leisten versuche. Kaufmanns bis an die Grenze des wissen-schaftlich Vertretbaren gehende Lutherfreundschaft wofr man wohl auch wegen seiner Vorsitzendenposition im Verein fr Reformationsge-schichte Verstndnis haben knnte lsst befrchten, dass das Luther-

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    jubilum, jedenfalls in der Grundtendenz, zu einer mglichst affirmati-ven, aber eigentlich unwahrhaftigen Jubelfeier verkommen wird. Und ob die aufrichtige Margot Kmann als EKD-Beauftragte fr das Refor-mationsjubilum hieran etwas ndern kann, wird sich zeigen. Denn fr den protestantischen Teil des Christentum hat das Jahr 2017, in dem sich der (wohl nur in der Legende geschehene) Luthersche Thesenanschlag als das die Reformation auslsende Ereignis zum fnfhundertsten Mal jhrt, eine geradezu magische Bedeutung. Ist nicht durch die Reformati-on, in der Egon Friedell in seiner epochalen Kulturgeschichte der Neuzeit den Begrndungsakt der deutschen Religion (eine sehr nachdenkens-werte berschrift ber das Reformationskapitel!) sieht, die mittelalterli-che, Rom-orientierte Verstocktheit des Christentums samt damaligem Ablasshandel ein fr allemal berwunden? In der Tat gibt es und hat es seit Jahrhunderten immer diese Sicht gegeben, dass Martin Luther mit der Reformation etwas ganz Neues geschaffen und den alten Glauben von seiner Rckstndigkeit befreit habe. Ja, bei manchen wird die Re-formation sogar in ein Flair von Aufklrung gehllt. Und in der Tat hat ja Luther mit seiner Lehre vom Laienpriestertum den Einzelnen gegen die Bevormundungsansprche der Kirchenhierarchien in eine hchst moderne Glaubensverantwortung gerufen aber in einen Glauben wo-ran? Die Freiheit eines Christenmenschen war fr ihn keine wirkliche Glaubensfreiheit, sondern nur Freiheit von den Behelligungen der Welt und vor allem von der Snde in der festen Einbindung in den christlichen Glauben, und zwar mit den Inhalten, wie er Luther sie aus seinem absolut gesetzten Bibelverstndnis verkndete. Und da muss man nun mal genau hinschauen und sich mit Luthers dunklen Seiten und der Unbedingtheit seines ganz und gar mittelalterlich gebliebenen Glau-bensverstndnisses auseinandersetzen wie es denn berhaupt bei dem Semimillennium des Reformationsbeginns nicht in erster Linie um die erneute Nachzeichnung der Historie des damaligen Geschehens gehen sollte das ist inzwischen hundertfach geschehen und hat freilich sein eigenes geschichtswissenschaftliches Recht , sondern es muss vor allem um die Frage gehen, ob Luthers Glaubenslehre fr uns Heutige und fr zuknf-tige Generationen noch eine Leitbedeutung haben kann.

    Da Luther ja keine neue Religion wollte, sondern mit seinem zu Recht Re-Formation genannten Wirken den alten Glauben reinigen und in seiner neu freigelegten Ursprnglichkeit alleinige Geltung verschaffen wollte, sind in der Lutherdekade zwei Fragenkreise zu behandeln, nm-lich einmal die Haltbarkeit der Grundlagen des christlichen Glaubens berhaupt (hierzu der erste Beitrag: Was drfen wir glauben?) und zweitens die Auseinandersetzung mit Luthers reformierter Glaubensleh-

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    re (hierzu der zweite Beitrag: Luther als Reformator katholischen Glau-bens). In diesem Zusammenhang geht es nicht nur um die Auseinan-dersetzung mit Luthers Glaubenslehre selbst, sondern auch um die ver-strenden Wirkungen, die insbesondere seine wuterfllte Judenfeind-schaft ber die Jahrhunderte hatte und untergrndig wohl auch weiterhin hat: Gerade hierin zeigt sich aber, dass es beim Luther-Semimillennium nicht um eine besttigende Rckbesinnung gehen soll-te, sondern vor allem um die aktuelle Bedeutung von Luthers Glaubens-verstndnis und damit, wie schon bemerkt, natrlich auch um die Frage, ob Luther uns noch Glaubensvorbild sein kann.

    Wie sehr dieses Thema in der Lutherdekade an Aufmerksamkeit gewinnen wird, zeigt auch die neueste, hochkritische Verffentlichung des Philosophen, Theologen und Kirchenkritikers Hubertus Mynarek hierzu.13 Mynarek entmythisiert, entmystifiziert, entdivinisiert ohne alle Einschrnkungen und Verschleierungen Martin Luther, zeigt seine vergesse-nen, verdrngten, ffentlich tabuisierten und totgeschwiegenen Aspekte, um jedem an der vollen Wahrheit Interessierten die Mglichkeit zu geben, sich ein Gesamtbild von ihm als Charakter, Lehrer und Tter zu machen. (Es sei) hchs-te Zeit, nach 500 Jahren die ganze Wahrheit ans Licht zu bringen, den unge-schminkten, ungeschnten Luther in seiner ernchternden, befremdenden, ja auch erschreckenden Realitt der ffentlichkeit zu prsentieren, die kirchlich produzierte, staatlich gefrderte Licht- und Kultgestalt des Reformators auf ihr wahres, weit geringeres Ma zurckzufhren.14

    Whrend Mynarek in dieser Zielformulierung seiner Luther-Recherchen im Vorwort seiner Schrift noch ausgesprochen zurckhal-tend ist, findet er in seinem Text zu apodiktisch formulierten Verurtei-lungen des Wittenbergers von geradezu lutherscher Wucht: So im Zu-sammenhang mit Luthers Verunglimpfung der Tufer, die er Wieder-tufer nannte, als Ketzer. Luther habe ganz im Stil der katholischen Inquisitoren des Mittelalters die Brger zum allgemeinen Denunziantentum auf(gerufen) und damit in geradezu klassischer Weise die Planken fr den modernen Obrigkeits- und berwachungsstaat im Sinne Orwells bereitet. Und weiter: Luther ist kein (tief-)religiser Reformator, sondern ein von tau-send Teufeln Besessener und Gerittener. Luther ist nach Mynarek also auch nicht blo irgendein Sektenjger, sondern geradezu der von tausend Teu-feln des Hasses und der Mordlust getriebener klassischer Typ des Ketzer- und Sektenvernichters, ein Groinquisitor neuen Stils, das Beispiel eines der belsten und eifrigsten Sektenjger aller Zeiten15

  • Die geschnte Reformation

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    Das Fazit zu Luthers Bedeutung fr die evangelischen Kirchen heu-te ist nach Mynarek:

    Luthers Initialzndung hat unabsehbare Folgen. Eine Kirche, die sich von solch einer Gestalt wie derjenigen Luthers herleitet, trgt eine riesen-schwere, fatale Hypothek mit sich. Der dstere, blutrnstige, bluttriefen-de Schatten des Reformators lastet unheilschwanger ber dieser Kir-che und ihren Verkndern wie Anhngern. Luther erfllt ja auch fast jeden kriminellen Tatbestand i n p u n c t o fnftes Gebot. Er msste nach allgemeinem heute propagierten Rechtsbewusstsein und empfinden, wenn dieses keine parteilichen Ausnahmen einbaut, ins Gefngnis oder in die Psychiatrie. Er ist das klassische, unberbietbare Musterbeispiel grenzenloser Intoleranz. An sich msste jeder evangelische Christ, der sich das klarmacht, aus seiner Kirche austreten. An sich msste auch eine Kirche wie die evangelisch-lutherische, die derart magebend von Luther als ihrem Stifter und Lehrer abhngt, als verfassungsfeindlich und krimi-nell eingestuft werden, nicht nur ihrer nie ausdrcklich widerrufenen Grundaussagen und Loyalitten wegen, sondern auch deshalb, weil ihre Sektenbeauftragten weiterhin ganz praktisch das Handwerk der totalen Diffamierung und Diskriminierung ihnen nicht genehmer Bewegungen ausben und fortsetzen.16

    Damit sehe ich meine Hauptaufgabe darin, zwischen historischer Schn-frberei und schrankenloser Verdammung der Reformation und des Reformators einen Weg einzuschlagen, der durch Aufhellung wesentli-cher Aspekte des Reformationsgeschehens und seiner Folgen den Wis-sens- und Bewusstseinsstand verbessern und eine eigene, mglichst un-abhngige Beurteilung von beiden mglich machen soll.

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    WAS DRFEN WIR GLAUBEN?

    Vom Umbruch der Religionen und den Herausforderungen des Christentums

    Ich mchte an dieser Stelle noch einige Anmerkungen zu einigen bisherigen Reaktionen auf das hier in berarbeiteter Ausgabe neu vorgelegte Buch machen, weil sie den vllig unbefriedigenden Stand der gegenwrtigen intellektuellen

    Auseinandersetzung mit den tradierten, immer noch sehr einflussreichen Religi-onen deutlich machen knnen. Diese Auseinandersetzung ist immer noch ge-

    prgt von einem so nicht mehr erwarteten Ausma an Verdrngung, Desinfor-mation, Inkonsequenz, Dialogverweigerung, aber auch Konfliktscheu, Feigheit

    und Anpassung an mchtige und reiche Institutionen.

    Das kaum zu berschtzende Ausma an Halb- und Unwissen ber grundle-gende Glaubenstatsachen, biblische und andere klassische Texte, historische Be-

    gebenheiten, eine schizoide Spaltung zwischen fachtheologischer Relativierung und nach wie vor gepredigter und immer noch ziemlich ungebrochener volks-

    kirchlicher) Glubigkeit (vgl. auch Ldemann zur entsprechenden Schizoidie der Pfarrerausbildung, besonders in der evangelischen Kirche) sind weiter kenn-

    zeichnend fr die gegenwrtige religise Situation. (Franz Buggle in seiner Streitschrift Denn sie wissen nicht, was sie glauben17)

    1. Zeichen des Umbruchs

    Die religise Situation der Zeit ist durch eine verwirrende Unber-sichtlichkeit gekennzeichnet, in der sich aber dennoch zwei vordergrn-dig entgegen gesetzte Strmungen beobachten lassen: Da ist einmal ein rasanter Bedeutungsverlust von Religionen und Religiositt zu beobach-

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    ten, andererseits aber auch eine fast erschreckende Zunahme an religis motivierten, sogar politisch wirksamen Positionen und Verhaltenswei-sen, durch die unser friedliches Zusammenleben und die bisher fraglose Geltung grundrechtlicher Freiheiten bedroht werden. Die Bedeutungs-zunahme des Religisen zeigt sich nicht nur an den fundamentalisti-schen Rndern der drei Groreligionen, nicht nur in der Inanspruch-nahme religiser Jenseitsgewissheiten fr Terrorakte, sondern sie zeigt sich in ihrer eigentlich bedrohlichsten Erscheinung im evangelikalen Fundamentalismus vor allem in den USA. Hartmut Heuermann hat in seiner grundlegenden Studie Religion und Ideologie. Die Verfhrung des Glaubens durch die Macht18 schon auf das Entstehen des Fundamentalismus in den USA hingewiesen, wo ein Autorenkollektiv protestantischer Theo-logen zwischen 1910 und 1915 ein zwlfbndiges Manifest The Funda-mentals: A Testimony to the Truth verffentlicht hatten. Nach Heuermann war das Opuseine aus Sorge um Glaubensverfall und Unbehagen am Sku-larismus verfasste Denkschrift zur Erneuerung christlichen Glaubens durch Festigung biblischer Fundamente, und wirkt der Fundamentalismus als ein Politikum erster Ordnung notwendig in die Gesellschaft hinein.

    Einen neuen Hhepunkt in der fundamentalistischen Verirrung hat im ersten Halbjahr 2012 der republikanische Vorwahlkampf markiert, in dem zwei (zum Glck nur vorbergehende!) Kandidaten jedes irgend-wie gehaltvolle Programm oder auf die pressenden realen Probleme des Landes bezogenen Aussagen vermieden und fast ausschlielich nationa-listisch-fundamentalistische Phrasen und religise Scheingewissheiten popularisiert haben.

    Whrend nun dieser (hoch problematische) Bedeutungszuwachs des Religisen durchaus aggressive und messianische Zge trgt, vollzieht sich sein Bedeutungsverlust mehr im Stillen und in der Erstarrung tradi-tionalistischer Riten und Formeln. Wer jemals eine brgerlich-christliche Trauerfeier miterlebt hat und mit zunehmendem Alter macht man diese Erfahrung immer hufiger , der muss als empfindsamer Mensch der Erfahrung zustimmen, dass das eigentlich Deprimierende dieser Leichenbegngnisse die leere Theatralik der Rituale und die Zuflucht zu den alten Leerformeln ist, die keinerlei Trost mehr spenden knnen.

    Aber nun kommt meine eigentliche These, die auch das vorder-grndig entgegengesetzt im Eingangssatz erklrt: Beides, der Bedeu-tungszuwachs des Religisen und sein Bedeutungsverlust, sind Ausdruck derselben Malaise, nmlich dem Fehlen eines wirklichkeitsverbundenen Glau-bens, der den Menschen Halt und Orientierung geben und ihnen nachvollzieh-bare Hinweise auf die Beantwortung der Fragen geben kann, die fr sie in ihrem Leben und Erleben wirklich wichtig sind. Die Fundamentalisten klammern

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    sich mangels einer ihnen erreichbaren Alternative an die Scheingewiss-heit der alten Glaubensformeln; und fr die aus der Religionsglubigkeit Hinausgleitenden sind diese alten Glaubensformeln berlebt: Beide verweigern sich der (zugegeben schweren) Aufgabe, zu einem Glauben zu finden, der alle Erkenntnisse und verbliebenen Ungewissheiten, zu denen die Menschheit gelangt ist, in sich aufnimmt und der dennoch fr ihr Leben hilfreich ist.

    Dabei kommt den Religionen als Nilmessern des Geistes und ihrem Umbruch vielleicht die fr unsere zivilisierte Orientierungsfhigkeit eigentlich entscheidende Bedeutung zu. Es ist eine notwendige geistige Orientierungsleistung gefragt, der wir uns bisher verweigern aus Grnden, die Franz Buggle im Eingangszitat zu diesem Beitrag zutref-fend gekennzeichnet hat. Nun kann man bei Schrfung der Aufmerk-samkeit im bildmchtigen Rauschen der medialen Informationsstrudel unbersehbare Zeichen des Bedeutungszuwachses und zugleich des Umbruchs der Religionen erkennen. Diese Zeichen sind entsprechend der komple-xen Natur von Religionen (hierzu mehr im 3. Kapitel) in allen ihren Er-scheinungsformen auszumachen. Und sie sind vor allem bei den drei Weltreligionen dem Judentum, dem Christentum und dem Islam zu finden (auf die ich mich aus Grnden der besonderen Betroffenheit und der mangelnden Vertrautheit insbesondere mit asiatischen Religionen beschrnken will). In allen drei Religionen regt sich zunehmend Unzu-friedenheit mit den in verfestigten Riten erstarrten Glaubensbungen, mit den nur aus dem abgelebten Zeitgeist ihrer weit entfernten Entste-hungszeit erklrbaren Fehlorientierungen und ihren in so manchem aufklrungsfeindlichen Verhaltensanweisungen. Es ist deshalb nur zu verstndlich, dass sich in allen drei Religionen zunehmend Unzufrie-denheit mit ihren als Mythen und schnen Mrchen erkannten Grund-annahmen, mit ihren theologischen Konstrukten und zu Glaubensge-schichten und Glaubensbildern geronnenen Erwartungshoffnungen regt und dass der Ruf nach Glaubenserneuerung unberhrbar wird, wenn-gleich er bei den etablierten Glaubenswchtern noch immer auf taube Ohren stt.

    Unter den strksten Vernderungsspannungen steht wohl der Islam: Wenn eine Religion mit ihren Jenseitsversprechungen Menschen dazu bringt, sich und andere in die Luft zu sprengen, zeigt sich ein zutiefst menschenfeindlicher Zug in dieser Religion. Ebenso menschenfeindlich sind die Einschchterungspraktiken und barbarischen Exekutionsriten nach den Gesetzen der Scharia, nicht nur in den sogenannten Gottesstaa-ten, sondern auch in den autoritr-patriarchalisch regierten Staaten des Mittleren Ostens. So wird berichtet, dass etwa in Saudi-Arabien weiter-

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    hin die Steinigung von Frauen wegen (angeblichen) Ehebruchs prakti-ziert wird. Necla Kelek19 und Ayaan Hirsi Ali20 haben eindringliche Belege fr die Diskriminierung von Mdchen und Frauen in islamisch geprg-ten Gesellschaften gebracht. Diese und andere Verkrustungen in den islamischen Staaten haben einen ausgewiesenen Kenner der islamischen Welt wie den gypter Hamed Abdel-Samad zu der Prognose gebracht: Die islamischen Staaten werden zerfallen, der Islam wird als eine politische und gesellschaftliche Idee, er wird als Kultur untergehen. 21

    Aber selbst im europisch-westlichen Umfeld und gerade hier! zeigt der islamische Glaube ein auch ihn kennzeichnendes Oszillieren zwischen fundamentalistischen und liberal-glubigen Orientierungen. Da existieren in Deutschland auf der einen Seite die vier groen Islam-verbnde Ditib, Islamrat, VIKZ und ZMD, die im Zweifelsfall fr das Alte stehen und damit ganz im Geiste des traditionellen Denkens als natr-liche Vertreter der Muslime gelten, allzumal sie die Glubigen auch nicht auf den anstrengenden Weg der Vernderung und der Selbstkritik fhren wol-len, wie die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor in einem Artikel in der Sddeutschen Zeitung feststellt.22 Diese rckwrtsgewandte Geistes-haltung findet nun Untersttzung bei den jungen Konservativen, die Kaddor dort folgendermaen kennzeichnet:

    Sie sind 20 bis 40 Jahre alt, hier geboren oder in jungen Jahren nach Deutschland gekommen, selbstbewusst, gebildet, in der Regel studiert, mit starkem Interesse fr Religion. Die jungen Konservativen sind keine Fundamentalisten. Sie sind keine Salafisten mit Backenbart, langem Ge-wand und Hkelkppi. Sie folgen einem diffusen, von theologischem Halbwissen gezeichneten Bild von Religion, das sich vorwiegend auf die Vorstellungen der eigenen Familien grndet und an die Traditionen aus deren Herkunftslndern anknpft. Durch ihr Auftreten versuchen sie, ih-rem Gedankengebude einen modernen Anstrich zu geben.

    Theologisches Halbwissen: Hiermit ist auch fr die jungen Konservati-ven im Islam ein Zentralproblem der Glaubenserneuerung benannt, das allerdings in allen drei Buchreligionen das Haupthindernis jeder Glau-benserneuerung kennzeichnet, nmlich die geistesgeschichtliche Unter-bilanz im Wissen der jeweiligen Religionsanhnger um die Entwicklung ihrer Religion und ein mangelndes Bewusstsein vom Weltbild ihrer Re-ligion. Diese Defizite hat nach Kaddor bei den jungen Konservativen eine mangelnde Selbstvergewisserung zur Folge, die sich in einer Dage-genhaltung manifestiert: Die jungen Konservativen sind dagegen, dass sich der Islam verndertDas Praktische an der Dagegenhaltung ist: Man muss sich nicht mit eigenen Positionen befassen, und der Schein des Einvernehmens bleibt gewahrt.

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    Auf der anderen Seite gibt es durchaus aufklrerische Strmungen im europischen Islam, wie sie etwa in der Grndung des Verbands demokratisch-europischer Muslime, des Liberal-Islamischen Bundes und der Fraueninitiative skularer Musliminnen zum Ausdruck kommen. Diesem Aufklrungsspektrum ist auch Navid Kermanis Koranverstnd-nis nach der Igaz-Lehre zuzurechnen, wonach der Wundercharakter des Koran sich aus seiner stilistischen Unnachahmlichkeit, also aus seiner poetischen Ausnahmequalitt, ergibt.23 Es wird deutlich, welche Span-nungsbreite der Islam zu berbrcken hat und welche Eruptionen des-halb mglich sind. Auch bleibt abzuwarten, welche Auswirkungen die revolutionren Befreiungsbewegungen in mehreren arabischen Staaten auf die kulturelle Prgekraft und die politische Legitimationskraft des Islam haben werden. Ebenso ist die Auseinandersetzung mit der europ-ischen Kultur, dem Christentum und dem Judentum fr den Islam eine noch nicht bestandene Herausforderung. Und man kann wohl nicht aus-schlieen, dass ein in diesen Auseinandersetzungen modernisierter Is-lam eines nicht allzu fernen Tages dem petrifizierten Islam in seinen Stammlndern den Rang ablaufen wird. So hat der Kulturanthropologe Werner Schiffauer eine Ethnographie der Milli-Grus-Bewegung unter dem Titel Nach dem Islamismus24 vorgelegt, in der er in dieser Gemein-schaft, die in Deutschland meist nur als mglicher Verfassungsfeind wahrgenommen wird, die Herausbildung einer neuen Generation von Intellektuellen beschreibt, die den Islamismus berwinden und den Is-lam von der politischen Instrumentalisierung befreien knnte. Jedenfalls fehlt schon wegen dieses prekren Zustandes des Islam jeder angstvol-len Prognose, Deutschland werde in soundso vielen Jahrzehnten ein islamisches Land sein, das reale Unterfutter. Allerdings ist Wachsamkeit geboten! Die scheint etwa in Nordrhein-Westfalen nicht gegeben zu sein. NRW plant als erstes Bundesland, zum Schuljahr 2012/13 den islami-schen Religionsunterricht flchendeckend als ordentliches Lehrfach ein-zufhren. Dieses Lehrangebot soll durch einen achtkpfigen Beirat be-gleitet werden, in den die vier groen Islamverbnde Ditib, Islamrat, VDKZ und ZDM je ein Beiratsmitglied delegieren sollen. Die anderen vier Pltze werden von der Landesregierung besetzt allerdings nur im Einvernehmen mit diesen vier Islamverbnden: Andersdenkende haben damit schlechte Karten, wie Lamya Kaddor zu Recht feststellt. Offenbar ist man sich in Dsseldorf bei aller gutartigen Kooperationsbereitschaft mit den offiziellen Islamverbnden nicht bewusst, in welche Richtung damit langfristig die Weichen fr die Entwicklung des Islam gestellt werden.

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    In besonderer Weise zeigt auch das Judentum Zeichen des Um-bruchs. Ich spreche hier in pauschalierender Ausdrucksweise von dem Judentum, obwohl doch auch diese Religion zahlreiche Facetten auf-weist, insbesondere die Unterschiede zwischen der Orthodoxie und der Praktizierung eines aufgeklrt-kultivierten Glaubensverstndnisses zu sehen sind. Und ich bin mir bewusst, dass bei der herrschenden und historisch verstndlichen berempfindlichkeit gegenber kritischen Stimmen aus Deutschland (das Missverstehen von Gnter Grass Was gesagt werden muss ist nur das neueste Beispiel hierfr) sehr schnell das Verdikt des Antisemitismus zur Abwehr der Kritik genutzt wird, aber: Gerade wir judenfreundlich Eingestellten sollten insofern einen norma-len Umgang mit der Politik der israelischen Regierungen und mit ande-ren Erscheinungsformen jdischen Lebens pflegen, als wir uns auch hier die Freiheit zur Kritik nehmen, die wir auch gegenber anderen Ln-dern und gegenber unseren eigenen Regierungen und Lebensformen in Anspruch nehmen. Und die jdische Religion ist ja die Mutter der semiti-schen Religionen; von ihr zu schweigen, sie von der Kritik an den ber-kommenen Religionen auszunehmen, ist schon deshalb nicht mglich.

    Ein grundlegender Unterschied im Verstndnis des Judentums be-steht zwischen seiner Bedeutung als Religion in der Diaspora und als staatsideologischer Legitimationsgrundlage: Whrend der in der Diaspora von Menschen jdischen Glaubens praktizierte Glaube im Wesentlichen der Rckversicherung kultureller Gemeinsamkeit dient (und nicht so sehr der Glaubensversicherung), hat das Judentum nach dem vorherr-schenden politischen Selbstverstndnis im Staat Israel eine staatsideolo-gische Legitimationsfunktion erhalten. Und hier baut sich ein Span-nungsverhltnis auf, dessen Sprengkraft sowohl fr den Staat Israel, fr sein politisches Leben und fr seine Anerkennung in der Welt, aber auch fr das Judentum als Religion eine subversive Kraft entfalten knnte. Whrend nmlich der Staat Israel als ein multiethnisches, demokratisch-freiheitliches Gemeinwesen mit hochentwickelter Zivilisation einer der modernsten Staaten der Welt ist (wenn nicht sogar der modernste!), ver-liert sich sein staatsideologischer Legitimationsanspruch aus der Religi-onsgeschichte als eines jdischen Staates in nicht mehr fassbaren, my-thologischen Erzhlungen weit entfernter Frhzeiten, die das Produkt der Imagination spterer Epochen sind. (Shlomo Sand25) Kann ein hoch entwickelter, auf wissenschaftliche Rationalitt angewiesener Kultur-staat zur Begrndung seines hchst realen Existenzrechts in feindlicher Umwelt wirklich auf die Beweiskraft mythologischer Erzhlungen bau-en?

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    Ein weiterer, hchst problematischer Aspekt fr die lebensprakti-sche Bedeutung des jdischen Glaubens ist sein Charakter als einer Er-wartungsreligion. Sieht man von der imaginierten Verleihung der Zehn Gebote an Moses durch Gott auf dem Berg Sinai als Grndungsakt der jdischen Religion vor undenklichen Zeiten ab, ist das Kernstck des jdischen Glaubens die Erwartung, dass erst mit der Ankunft des messia-nischen Knigs aus dem Stamme Davids die ersehnte Rettung mit der all-gemeinen Rckkehr nach Jerusalem (kommt). Zur Erlsung gehrt bekanntlich auch die Auferstehung der Toten, denn auch sie sollen in die Heilige Stadt zu-rckkehren. (Sand26) Das bedeutet, dass die in der Dauererwartung einer so vorgestellten Erlsung lebenden Menschen jdischen Glaubens das Leben im Hier und Jetzt nur als bergangsexistenz begreifen kn-nen, quasi ein Leben in der Wartehalle: Diese Glaubensberzeugung muss zu einer Haltung prekrer Distanz zu den Anforderungen des rea-len Lebens fhren, wie sie ja in der Tat beim orthodoxen Judentum zu beobachten ist. Israelische Regierungen knnen denn auch seit jeher ein leidvolles Lied von den Privilegien singen, die die der Orthodoxie ver-pflichtete politische Partei ihnen abgerungen hat und stndig neu ab-ringt.

    Aber auch im Christentum sind die Zeichen des Umbruchs unber-sehbar, und sie zeigen sich sowohl in der Religionskritik wie in der Kir-chenkritik:

    So reklamieren im katholischen Christentum nicht nur aufgeklrte Glaubensanhnger in der Wir-sind-Kirche-Bewegung das Eigenrecht der Glubigen gegen rmische Bevormundung, sondern in ihrem Memo-randum Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch fordern sogar 143 Theo-logen tiefgreifende Reformen der katholischen Kirche. Und auch im Pro-testantismus erwchst eine noch unsicher tastende Glaubenserneuerung aus dem Kern der Glaubenslehre, nmlich aus der evangelischen Theo-logie und darber hinaus durch ein sehr ernsthaftes, wissenschaftlich fundiertes Schrifttum, auf das ich noch zu sprechen kommen werde.

    Die Missbrauchsflle in konfessionellen Heimen, Schulen und an-deren kirchlichen Einrichtungen haben nicht nur der Unzufriedenheit mit der berkommenen Vertuschungsstrategie der Kirchen im Interesse des fr sie vorrangigen Schutzes ihrer Institutionen und Funktionstrger neue Nahrung gegeben, sondern hngen auch mit der Aufgabe der Glaubenserneuerung, wenngleich nur in subtil aufsprbarer Weise, zu-sammen: Die ihre Vertrauenspositionen insbesondere gegenber Ju-gendlichen missbrauchenden Priester, Pfarrer und kirchlichen Hilfs-personen sind sich ihrer eigenen Glaubensverantwortung offenbar nicht

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    bewusst bzw. bewusst gewesen, sondern sehen und sahen die im Zwei-fel vergebensbereite Kirche als verantwortliche Glaubensverwalterin an.

    Schlielich zeigt sich der Bedeutungsverlust jedenfalls der etablier-ten Religionen auch in der hohen Zahl der seit Jahren anhaltenden Kir-chenaustritte. Kirchenaustritte und Konfessionslosigkeit, die ja auch Zeichen des Rckgangs von Kirchenbindung und christlicher Glubig-keit sind, stimmen nicht nur durch ihre schiere Zahl (ber sechs Millio-nen in etwa zwanzig Jahren in Deutschland) nachdenklich, sondern ge-winnen dadurch besondere Indikationskraft, dass sie berdurchschnitt-lich unter den Gebildeten und unter grostdtischen Verhltnissen zunehmen: Einigermaen intakte konfessionelle Milieus existieren berwie-gend in konomisch zurckgebliebenen Regionen. (F. X. Kaufmann27)

    Soviel skizzenhaft zu den krisenhaften Symptomen in und auer-halb des Christentums. Die prekre Situation der christlichen Kirchen zeigt sich aber eigentlich erst darin, dass die kirchliche Glaubensbot-schaft in einer Zange steckt, nmlich zwischen den angedeuteten Auf-klrungsstrmungen einerseits und fundamentalistischen Orientierun-gen andererseits. berflssig, hier noch einmal an die Opus-Dei-Bewegung und andere ultrakonservative Sekten und Untergliederungen der katholischen Kirche zu erinnern; viel realer und vor allem politisch viel bedrohlicher ist der bereits eingangs erwhnte evangelikale Funda-mentalismus besonders in den USA. Da sich dieser evangelikale Fun-damentalismus in unglcklicher Weise mit dem realittsverneinenden Rigorismus der politisch erwiesenermaen durchsetzungsfhigen Tea-Party-Bewegung paart, ergeben sich hieraus fr Amerika und damit fr die Welt durchaus beunruhigende Perspektiven. Dies zumal, da sich mit evangelikalem Fundamentalismus und Tea-Party-Bewegung in gefhrli-cher Weise zwei Trumertruppen zusammentun: Whrend der evange-likale Fundamentalismus das von den Grndungsvtern der Union flankierend gemeinte Gottvertrauen zum Ausschlielichkeitstraum er-hht, will die Tea-Party-Bewegung nicht aus dem alten amerikanischen Traum des stndigen Fortschritts und der stndigen Wohlstandssteige-rung erwachen, der inzwischen lngst zum Albtraum geworden ist. Es zeigt sich hieran sehr eindeutig, welch hohen, auch realpolitischen, Stel-lenwert die Klrung von Glaubensfragen hat.

    Allerdings zeigt sich die Verdichtung der Kirchen- und Religions-krisen nicht nur in solchen problematischen Entwicklungen, sondern auch in der deutlich erhhten Intensitt der Diskussion dieser Krisen und in dem erkennbaren Verlangen nach neuer Glaubensgewissheit. Wenn renommierten Zeitungen und Zeitschriften neue Rubriken zu diesem Thema einrichten (wie die Rubrik Glauben und Zweifeln in der

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    ZEIT), wenn kirchen- und religionskritische Bcher auf Bestsellerlis-ten ressieren (wie Helmut Schmidts Religion in der Verantwortung. Ge-fhrdungen des Friedens im Zeitalter der Globalisierung, Berlin 2011) und wenn etwa bei den evangelischen Kirchentagen die Suche nach neuer Glaubensgemeinsamkeit sogar bei Jugendlichen unbersehbar ist, so sind dies deutliche Zeichen fr eine sogar zunehmende Bedeutung von Glaubensfragen, auf die die etablierten Amtskirchen keine befriedigen-den Antworten mehr finden, vielleicht nicht mehr finden knnen, weil sie eben im Kern Glaubensinhalte aus einer anderen, lngst vergangenen Zeit verwalten.

    Dies besttigt auch Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. in seinem zwei-bndigen Werk Jesus von Nazareth28, das als eine voluntative Rekon-struktion des Gttlichen die Geschichte von Jesus Leben und Wirken erneut mit den bekannten Inhalten und Begleitannahmen erzhlt und so als Fnftes Evangelium gelten knnte. Religionswissenschaftliche und historische Erkenntnisse baut Benedikt/Ratzinger nur an den Stellen und nur in der Weise ein, wie sie in seinen Rekonstruktionsduktus passen. In schner Ehrlichkeit setzt er als Zugang zu seinem Jesusverstndnis einen Glaubensentscheid voraus, nmlich dass das Factum historicum nicht eine auswechselbare historische Chiffre (ist), sondern konstitutiver Grund: Et incarnatus est mit diesem Wort bekennen wir uns zu dem tatschlichen Hereintreten Gottes in die reale Geschichte.29 Mit anderen Worten: Wer diesen Glaubensentscheid (unausgesprochen: durch Bejahung allein des katholisch-christlichen Glaubens) nicht trifft, bleibt drauen vor. Die erneuerte Jesus-Geschichte von Benedikt/Ratzinger rotiert damit in der Immanenz der katholischen Glaubenslehre und kann alle jene Menschen nicht erreichen, die diese Glaubenslehre nicht teilen. Und wenn Bene-dikt/Ratzinger in seiner Regensburger Vorlesung zum Thema Glaube und Vernunft von 2006 einen tiefen Einklang zwischen christlichem Glauben und den Standards der antiken griechischen Philosophie von Wissenschaft und Rationalitt behauptet hat, so muss doch klar sein, dass (insbesondere: wissenschaftliche) Rationalitt von ihm immer nur als Magd des Glaubenszeugnisses verstanden wird (so Matthias Dobrinski in seiner Rezension des zweiten Bandes von Benedikt/ Ratzingers Jesus-Buch30) und nicht als glaubensunabhngiges Verfahren der rationalen Wahrheitssuche: Vernunft und Wissenschaft knnen aber nicht mehr als Mgde des Glaubens verstanden werden, sondern als seine ebenbrti-gen Partner (hierzu noch unten, S. 29ff).