Teleologische Ergebnisse der harmonikalen Forschung

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BerWissGesch 5,97-105 (1982) Rudolf Haase Berichte zur WISSENSCHAFTS- GESCHICHTE © Akademische Verlagsgesellschaft 1 lJH2 Teleologische Ergebnisse der harmonikalen Forschung* Summary: The Ham1onical Fundamental Researchleads to teleolgical results in a twofold respect. On one side, both historically and methodically, it ties up with J ohannes Kepler's proof of harmonicallaws in the orbits of the planets, in which respect the researchalso extends it's formulation of the question to other sciences. Becoming evident, the present findings, that is, the occurance of interval proportions, appear predominately in end results of developments, not however in the origin of facts. They are related to forms, shapes, and entireties which cannot be explained analytically and behave more comple- mentary to a causal type of approach. On the other side with respect to teleological consequences, an area of the Harmonical Research leads to another very special aspect. It deals with the investigation (begun about thirty years ago) of the psychophysical effectiveness of the human hearing; in this investi- gation it was made clear that important fundamental elements of music are traceable to the corresponding dispositions of hearing. For example, there are the following elements: the difference between consonances and dissonances, the preference of simple numerical proportians in the construction of an interval, the twelve numerals of music, especially the occidental, progressed teleologically in an unconscious manner, namely with the goal of pleasing the inclinations of hearing aesthetically as much as possible. Schlüsselwörter: Analogien, Harmonikale Forschung, Harmonikale Naturgesetze, Musikdis- position des Gehörs; Johannes Kepler. A.IP'rinzipien der harmonikalen Forschung Obwohl die harmonikale Grundlagenforschung ftir unser Thema als beka1mt vorausgesetzt oder allenfalls auf vorhandene Einführungsliteratur verwiesen werden muß/ müssen einige ihrer Grundprinzipien an den Anfang gestellt werden, da sonst die nachfolgenden Ausführungen unklar bleiben würden. Insofern die Harmonik - wie sie meist kurz genannt wird - sich mit Naturforschung befaßt (was keineswegs ihre einzige Aufgabe ist), liegt der Schwerpunkt ihres Interesses auf der Ermittlung von Proportionen, und zwar von solchen Proportionen, die auch * Vortrag auf dem XIX. Symposium der Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte ("Die Idee der Zweckmäßigkeit in der Geschichte der Wissenschaften"), 28.-30. Mai 1981 in Bamberg.

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BerWissGesch 5,97-105 (1982)

Rudolf Haase

Berichte zur WISSENSCHAFTS­GESCHICHTE © Akademische Verlagsgesellschaft 1 lJH2

Teleologische Ergebnisse der harmonikalen Forschung*

Summary: The Ham1onical Fundamental Researchleads to teleolgical results in a twofold respect. On one side, both historically and methodically, it ties up with J ohannes Kepler's proof of harmonicallaws in the orbits of the planets, in which respect the researchalso extends it's formulation of the question to other sciences. Becoming evident, the present findings, that is, the occurance of interval proportions, appear predominately in end results of developments, not however in the origin of facts. They are related to forms, shapes, and entireties which cannot be explained analytically and behave more comple­mentary to a causal type of approach.

On the other side with respect to teleological consequences, an area of the Harmonical Research leads to another very special aspect. It deals with the investigation (begun about thirty years ago) of the psychophysical effectiveness of the human hearing; in this investi­gation it was made clear that important fundamental elements of music are traceable to the corresponding dispositions of hearing. For example, there are the following elements: the difference between consonances and dissonances, the preference of simple numerical proportians in the construction of an interval, the twelve numerals of music, especially the occidental, progressed teleologically in an unconscious manner, namely with the goal of pleasing the inclinations of hearing aesthetically as much as possible.

Schlüsselwörter: Analogien, Harmonikale Forschung, Harmonikale Naturgesetze, Musikdis­position des Gehörs; Johannes Kepler.

A.IP'rinzipien der harmonikalen Forschung

Obwohl die harmonikale Grundlagenforschung ftir unser Thema als beka1mt vorausgesetzt oder allenfalls auf vorhandene Einführungsliteratur verwiesen werden muß/ müssen einige ihrer Grundprinzipien an den Anfang gestellt werden, da sonst die nachfolgenden Ausführungen unklar bleiben würden.

Insofern die Harmonik - wie sie meist kurz genannt wird - sich mit Naturforschung befaßt (was keineswegs ihre einzige Aufgabe ist), liegt der Schwerpunkt ihres Interesses auf der Ermittlung von Proportionen, und zwar von solchen Proportionen, die auch

* Vortrag auf dem XIX. Symposium der Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte ("Die Idee der Zweckmäßigkeit in der Geschichte der Wissenschaften"), 28.-30. Mai 1981 in Bamberg.

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konstituierend für die musikalischen Intervalle, also die Grundlagen der Musik sind. Diese Intervalle sind ambivalent, da sie eine mathematische Komponente haben (ein jeweils charakteristisches Zalllenverhältnis) und eine psychische; denn sie sind Sinnesqualitäten und können eben deshalb Grundlagen der Musik sein, wobei die mathematische Kompo­nente unbewußt bleibt. Es läßt sich nun zeigen/ daß diese derart gekennzeichneten Proportionen nicht nur für die Akustik wichtig sind, sondern daß sie in allen Bereichen der Natur eine Rolle spielen, wie durch die verschiedenen naturwissenschaftlichen Diszi­plinen nachgewiesen wird, so daß sich Analogien zwischen den Wissenschaften bezie­hungsweise ihren Forschungsbereichen ergeben. Obwohl das Aufsuchen von Proportionen und Analogien wichtigste Methode der harmonikalen Forschung ist, muß festgehalten werden, daß es sich hier nicht um bloß logische Operationen handelt, sondern um die Aufdeckung von Tatsachen, also um eine ontologische Ordnung, weshalb das Ergebnis als harmonikaler Strukturalismus3 bezeichnet werden kann.

Als weitere Feststellung ergibt sich, daß derartige harmonikale Analogien vorwiegend als Bestandteile oder gar Kennzeichen von Gestalten, Formen, Ganzheiten auftreten, also hauptsäclllich dort in Erscheinung treten, wo es sich um Endergebnisse, um Ziele von Entwicklungen handelt. Somit ftihrt harmonikale Naturforschung zu einem teleologischen Aspekt, über den nunmehr nähere Ausführungen folgen sollen.

B. Keplers Weitharmonik als Modellfall

Daß Johannes Kepler auf der Suche nach einem Beweis flir die legendäre pythagoreische Sphärenharmonie in den Planetenbahnen tatsächlich Intervallproportionen fand (er nannte sie "Planetenharmonien"), ist bekannt,4 so daß wir uns hier mit der Wiedergabe seines wichtigsten Ergebnisses begnügen können. Es handelt sich dabei um den Vergleich der Winkelgeschwindigkeiten an den Extremstellen (Aphel und Perihel) der Bahnen, wo­bei wir zur Vereinfachung die von Kepler ermittelten, den Rechnungen zugrundliegenden Winkelmessungen durch die BuchstabenAbis M ersetzt haben: 5

Tabelle 1: Keplers "Planetenharmonien"

Saturn AphelA A B 4:5 (große Terz) Perihel B A D 1:3 (Duodezime)

c D 5:6 (kleine Terz) Jupiter Aphele B c 1 : 2 (Oktave)

Perihel D c F 1:8 (3 Oktaven) E F 2:3 (Quinte)

Mars AphelE D E 5:24 (Kl. Terz + 2 Oktaven) Perihel F E H 5: 12 (kl. Terz + Oktave)

Erde Aphel G G H 15 : 16 (diaton. Halbton) Perihel H F G 2:3 (Quinte)

G K 3:5 (große Sexte) Venus Aphel I I K 24:25 (chromat. Halbton)

Perihel K H I 5:8 (kleine Sexte) I M 1 : 4 (2 Oktaven)

Merkur Aphel L L M 5: 12 (kl. Terz+ Oktave) Perihel M K L 3:5 (große Sexte)

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Kaum bekannt ist, daß diese Werte bis heute faktisch konstant geblieben sind (mit Ausnahme des Merkur, dessen gesamte Bahnelemente Kepler damals nur ungenau bestim­men konnte), obwohl sich die realen Bahnen der Planeten durch gegenseitige Graviations­beeinflussung ständig ändern. Der Grund dafür ist der, daß es sich um von der Sonne aus gemessene Winkel handelt, deren Größe von den Bahnänderungen nur minimal abhängt. Für diese Feststellung sind mir dreiüberprüfungender Keplerschen Werte bekannt: 1. 1942 befaßte sich Francis Warrain ausführlich mit Keplers Weltharmonik6 und bestä­

tigte seine Meßgenauigkeit sowie die Konstanz der Werte. Außerdem wendete er Kep­lers Methode auf die seither entdeckten Planeten Uranus, Neptun und Pluto an und fand an den gleichen Bahnstellen ebenfalls musikalische Intervalle (außerdem auch richtige Werte für Merkur).

2. Am Institut ftir theoretische Physik in Zürich (Prof. Dr. Walter Heitler) fand eine Nachprüfung statt, deren Ergebnis mündlich mitgeteilt wurde.

3. 1970 rechnete Dr. Volker Bialas an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Kepler-Kommission) die Werte der obigen Tabelle nach und fand sie bestätigt. Außer­dem teilte er dem Verfasser mit, daß nur etwa 1/60 des Betrages der Bahnänderung in die Winkelberechnung eingeht. Wir mußten uns mit Keplers Planetenharmonien deshalb so ausführlich befassen, weil

sie nicht nur das wichtigste historische Beispiel zu unserem Thema sind, sondern vor allem, weil an ilmen typische wesentliche Merkmale harmonikaler Naturgesetze besonders klar zu erkennen sind: 1. Die Analogie der Naturgesetze zu musikalischen Grundlagen (die natürlich nicht wirk­

lich erklingen, sondern rein geistige sind, die zur Hörbarmachung in den Hörbereich transponiert werden müßten).

2. Das Vorkommen dieser harmonikalen Gesetze im fertigen Planetensystem (teleolo­gischer Aspekt), wo sie nicht analytisch abgeleitet werden können (etwa aus dem Newtonsehen Gravitationsgesetz), sondern als Komplementaritäten zur kausalen Naturforschung gewertet werden müssen. 7

3. Die hervorstechende Bedeutung als Konstanten im ganzen System, während andere Komponenten durch die Zeiten hindurch Variationsbreiten haben. Wir werden diese typischen Merkmale auch in den meisten der folgenden Beispiele

vorfinden, ohne sie in dieser Ausführlichkeit erläutern zu können.

C. Weitere teleologische Beispiele harmonikaler Naturgesetze

1. Kristallographie: Victor Goldschmidt (1853-1933), Kristallograph in Heidelberg, ermittelte bei der Flä­chenentwicklung von Kristallen eine Fülle von Intervallproportionen, wobei er den von ihm ersonnenen Calcul der Complication anwendete.8 Er war sich der harmonikalen Bedeutung seiner Forschungen voll bewußt und übertrug seine Methode mit Erfolg auch auf andere Gebiete (Astronomie, Spektralanalyse und anderes).

Es handelt sich bei den Kristallen um ausgewachsene, fertige Gestalten, und da Kristalle normative Bedeutung in der Geologie haben, insofern sie Eigengesetze in reiner Form (das heißt unbeeinflußt von anderen Kräften wie Witterung oder Bodenbewegungen) ent­wickeln, sind diese harmonikalen Gesetze besonders akzentuiert. 2. Physik und Chemie: a) Das wichtigste harmonikale Naturphänomen überhaupt ist die Obertonreihe, deren Teiltöne ganzzahlige Vielfache der Grundtonfrequenzen haben, weshalb die musikalische Proportionenlehre ein Fundament in der objektiven Natur hat. Die Obertonreihe ist nicht

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unbedingt teleologisch interpretierbar, es sei denn, daß man als ,Ziel' der Natur die Vermeidung von obertonfreien Tönen (Sinustönen) und die ausschließliche Produktion von "Klängen" (Tönen mit Obertönen) ansieht. Wir benötigen jedenfalls das Oberton­gesetz für die folgenden Beispiele. b) Quantenphysik. Sie beruht auf Max Plancks Entdeckung, daß in verschiedenen Berei­chen der Physik nur solche Energiebeträge vorkommen können, die ganzzahlige Vielfache des Wirkungsquantums h sind. Die Analogie zum Aufbaugesetz der Obertonreihe liegt auf der Hand, was Planck durchaus bewußt gewesen ist, wie folgendes Zitat beweist 9

:

Aus den diskreten Eigenwerten der Energie ergeben sich nach dem Quantenpostulat bestimmte diskrete Eigenwerte der Schwingungsperiode, ebenso wie bei einer gespannten, an den Enden festge­ldammerten Saite, nur daß bei der letzteren die Quantisierung durch einen äußerlichen Umstand, nämlich durch die Länge der Saite, hier dagegen durch das in der Differentialgleichung selber enthal­tene Wirkungsquantum bedingt wird.

Offenbar ist die Verknüpfung der hier angedeuteten Naturgesetzlichkeit mit dem Prin­zip der Ganzzahligkeit im Sinne der Naturzahlenreihe ein Ziel der Natur. Das wird noch deutlicher beim nächsten Beispiel, für das die Quantenphysik die Voraussetzungen liefert. c) Das periodische System der Elemente. Es ist bekanntlich auf den Kernladungen der Elemente aufgebaut, die nur ganzzahlige Vielfache der positiven Ladung des Wasserstoff­Atomkerns sein können. Die Anzahl der jeweiligen Kernladung gibt zugleich die Ord­nungszahl des betreffenden Elementes an, und die gleiche Zahl ist außerdem die Anzahl der den Kern umkreisenden Elektronen. Freilich: die systematische Anordnung der Ele­mente im Sinn der Naturzahlenreihe ( = Obertonreihe!) erfolgte durch den Menschen -könnte als Einwand vorgebracht werden. Jedoch ergibt sich durch diese Anordnung erst die Vielfalt der gemeinsamen oder polaren Eigenschaften bestimmter Zeilen oder Spalten des in Tafelform angeordneten Systems, wodurch der höhere Sinn des hier waltenden Ganzzahlprinzips deutlich wird. Wiederum ist die harmonikale Analogie Bestandteil, ja Leitprinzip einer Ganzheit.

3. Botanik und Zoologie: a) Für beide Gebiete gleichermaßen gelten die nach ihrem Entdecker Gregor Mendel (1822-1884) genannten Mendelschen Vererbungsgesetze. Aus ihrer komplizierten Viel­falt können wir hier nur ein einfaches Beispiel vorbringen, die sogenannte SpaltungsregeL

Wenn bei gelenkter Zucht ein rotes und ein weißes Exemplar der Wunderblume ge­kreuzt werden, so entstehen lauter rosafarbige "Kinder" (F I-Generation), werden diese jedoch untereinander gekreuzt, so spalten sich die Farben dieser F2-Generation in rote, rosa und weiße Blüten auf im Verhältnis 1 : 2 : 1 (Oktave). Auch bei weiteren Kreuzun­gen treten meist einfache Proportionen auf, vorwiegend Oktaven und Quinten (2 : 3).

Harmonika! interessant ist aber noch etwas. Bei obigem Beispiel ist klar, daß das Verhältnis 1 : 2 : 1 eine Anzahl von 4 Blüten betrifft; 4 ist sozusagen die kleinste Maßein­heit, an der sich das Gesetz offenbart. Überprüft man kompliziertere Kreuzungen, 10 so tritt eine charalüeristische Proportionenfolge meist erst bei größeren Anzahlen auf, bei 8, 16 oder 64, und das sind (wie in der Obertonreihe) alles Zahlen, die Oktaven eines angenommenen Grundtones entsprechen (hat dieser die Frequenz 1, so haben seine Okta­ven 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128 usw. Schwingungen). Der uns aus der Musik vertraute "Rahmen" des Tongeschehens aus Oktaven ist hier also ebenfalls vorhanden.

Diese Gesetzmäßigkeit tritt, wie wir schon bemerkten, nur bei gelenkter Zucht zutage, das heißt bei Fernhaltung störender Einflüsse. Es ist das eine Analogie zur Kristallbildung; da auch der Kristall sich nur dann (in Spalten, Drusen) ausbilden kann, wenn andere Einflüsse wegfallen. Hier wie dort handelt es sich um normative, nämlich wichtige Ge­setze, die sich zudem auf ganzheitliche Sachverhalte beziehen.

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b) Die Blattstellungszahlen sind eines der wenigen mit Zahlen erfaßbaren Gesetze pflanz­licher Gestalten. Bei den wechselständigen Pflanzen, an deren Stengel immer nur ein Blatt an einem Knoten entspringt, verteilen sich diese Blätter rund um den Stengel nach dem Gesetz der sogenannten "Haupt reihe der Blattstellungszahlen". Diese gibt Winkelzuord­nungen der Blätter an und drückt diese in Teilen des Vollkreises wie folgt aus: 1/2, 1/3, 2/5, 3/8, 5/13 usw. Diese Brüche, die man natürlich auch als Proportionen schreiben könnte, sind leicht harmonikal zu interpretieren; sie werden danach komplizierter, doch kommen für Pflanzen meist nur die ersten Glieder der Reihe in Frage -bei Coniferen­zapfen, deren Anordnung der Schuppen ebenfalls diesem Gesetz unterliegt, sind auch höhere Werte anzutreffen. Der Zusammenhang mit der ausgewachsenen Gestalt der Pflan­zen, also mit Zielen der Natur, ist offenkundig.

(Nicht unerwähnt sollte bleiben, daß die angegebene Proportionenfolge sich in den Zählern und den Nennern aus zwei gegeneinander versetzten Fibonacci-Reihen zusam­mensetzt mit der Zahlenfolge 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21 usw. Bildet man aus diesen Zahlen analog zu oben Brüche beziehungsweise Proportionen, so ergibt sich 1 : 2, 2: 3, 3 : 5, 5 : 8 usw., und das sind die Intervalle Oktave, Quinte, große Sexte, kleine Sexte usw.) c) Der Vogelgesang kann fast gänzlich als Analogie zur menschlichen Musik angesehen werden -jedenfalls dann, wenn er wirklich als Gesang zu bezeiclmen ist, doch beruhen auch einfachere Rufe von Vögeln auf unseren Intervallen. Dort aber, wo die höchste Vollkommenheit zu hören ist, nämlich bei der Amsel (Schwarzdrossel), sind ganz verblüf­fende Parallelen vorhanden, die sich unter anderem in Harmoniebrechungen, Quintver­wandtschaft, Bevorzugung von Dur äußern. Am Endpunkt einer ganzheitlich betrachteten Entwicklung also ist eine Fülle harmonikaler Analogien nachweisbar.

Natürlich liegt der Verdacht nahe, daß es sich dabei um Nachahmung menschlicher Musik handeln könne -was auch schon erstaunlich genug wäre -,doch ist das nicht der Fall. Zwar wurde bewiesen, daß Vögel musikalische Äußerungen imitieren, ja sogar trans­ponieren können, doch gilt dies nicht für den hochkomplizierten Gesang der Amsel, denn es liegen Aufzeichnungen von Amselgesängen aus dem vorigen Jahrhundert vor, deren Differenziertheit erst wesentlich später (etwa bei Richard Strauß) von menschlicher Musik erreicht wurde. 11

4. Anthropologie (Medizin): a) Von den Abmessungen der menschlichen Gestalt wurde bereits in der Antike behaup­tet, daß einfache Proportionen maßgeblich seien, wie sie auch in der Musik verwendet werden. 12 Die moderne Anthropometrie hat diese Kunsttheorie vollauf bestätigt, ja es hat sich sogar zeigen lassen, daß auch in der Jugendzeit, zwischen 12 und 18 Jahren, während der sich faktisch alle absoluten Meßwerte verändern, die Relationen der Körperteile zuein­ander nahezu unveränderte Proportionen bleiben. 13 Man kann sagen, daß der Mensch räumlich harmonikal gestaltet ist. b) Relativ neu ist die Entdeckung, daß es auch eine zeitliche Organisation des Menschen gibt, die harmonikal funktioniert. Wir meinen die physiologische Rhythmik, die in einem sehr modernen Zweig der Medizin, der Rhythmologie oder Chronobiologie, eingehend untersucht wird. Für unseren Zusammenhang sind vor allem die zahlreichen Arbeiten von Gurrther Hildebrandt zu nennen, der nachgewiesen hat, daß diese physiologische Rhythmik koordiniert ist, im Ruhezustand oder Schlaf nämlich, und daß es sich dabei um einfachste rhythmische Proportionen handelt, die mit den Zahlen 1 bis 4 erfaßt werden können; dabei ergeben sich ausnahmslos Konsonanzen, und Hildebrandt betont immer wieder, daß es sich um harmonikale Analogien handelt. 14

Die einfachen harmonikalen Proportionen verändern sich bei Leistungsbelastungen, doch pendeln sie sich nach Beendigung der Anstrengung wieder auf die Normwerte ein.

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Älmlich verhält es sich bei Erkrankungen, durch welche die physiologische Rhythmik unter Umständen gänzlich durcheinander geraten kann, doch läßt sich in der Rekonvales­zenzzeit die allmähliche Rückkehr zu den Proportionen beobachten, die bei völliger Ge­sundung wieder exakt sind. c) Wenn somit der menschliche Körper räumlich und zeitlich harmonikal geordnet ist, liegt der Gedanke nahe, daß eine Beeinflussung des Organismus durch Musik oder anders erzeugte Proportionsrhythmen möglich sein müßte, daß also bei Kranld1eiten entspre­chende Therapien nützlich sein könnten.

In der Tat gibt es längst Musiktherapie, sogar mit unterschiedlichen Verfahrensweisen, und teilweise beruft man sich dabei auf die Harmonik. 15 Daß Musiktherapie wirksam ist, vor allem bei psychischen Störungen, ist längst erwiesen, nur wie sie funktioniert, weiß man noch nicht genau. Das Wissen von harmonikalen anthropologischen Gesetzen legt aber nahe, eine Art Resonanzwirkung zu vermuten, deren Grundlage das Analogieprinzip ist; man kann diesbezüglich von einem harmonikalen Resanalismus sprechen.

Es gibt aber noch andere Heilverfahren, deren Erklärung auf diese Weise möglich ist. Sie wurden von dem Arzt Hans Weiers entwickelt, der sich dabei bewußt auf harmonikale Kenntnisse stützte.16 Er entwickelte den sogenannten "Bioscillator", ein Gerät für Hoch­frequenzbestrahlungen, das nicht eine, sondern zwei Frequenzen gleichzeitig abgibt, die im Verhältnis 2 : 3 (Quinte) stehen. Die seit Jaluen bewährten auffälligen Heilerfolge -übrigens auch in der Veterinärmedizin- veranlaßten Weiers zur Konstruktion weiterer Apparate, von denen wir nur den "Hydrovibrator" erwälmen wollen, der mit Wasser­impulsen im Verhältnis 2 : 3 in der Balneologie ausgezeiclmete Ergebnisse zeitigte.

D. Musikdisposition des Gehörs

Die Beschaffenheit des menschlichen Gehörs gehört naturgemäß auch zur Anthropologie, doch haben wir bewußt davon abgesehen, dieses Thema im vorigen Abschnitt zu behan­deltn, obwohl es sich dabei um ebenso objektive Naturgesetze handelt wie bei den ande­ren Beispielen. Der Grund ist der, daß alle von uns dargestellten harmonikalen Naturge­setze teleologische Tendenzen in der Natur verdeutlichen sollten, während es bei der Gehörsdisposition um eine zweite Art von Teleologie geht, die in anderer Weise mit der harmonikalen Forschung zusammenhängt, wie wir sogleich zeigen werden. 1. Es gibt eine physiologische und eine psychische Gehörsdisposition, doch sollletztere hier nicht geschildert werden, da sie nicht in strengem Sinn hannonikal ist. Die Erfor­schung der physiologischen Disposition wurde vor allem von Heinrich Husmann begrün­det/7 der die als Folge der Nichtlinearität des Ohres im Ohr entstehenden subjektiven Obertöne und die (bei zwei gleichzeitigen Tönen auftretenden) Kombinationstöne näher untersuchte. Er kam durch Experimentieren darauf, daß Obertöne und Kombinationstöne im Ohr Interferenzen bilden, und zwar bei jedem Intervall andere. Die Obertonreihen zweier Intervalltöne werden sozusagen durch Kombinationstöne "getrübt", und das in unterschiedlicher Weise. Wir haben die Untersuchung der zwölf Hauptintervalle nach Husmanns Angaben in einer Tabelle zusammengestellt, wobei in jedem Fall 72 Kombina­tionstöne (bis zur 9. Ordnung) zu berücksichtigen waren (die sehr komplizierten Vorgänge können hier nicht detailliert geschildert werden, zudem müssen wir uns auf den didaktisch einfachsten Fall beschränken; Einzelheiten können der vorhandenen Literatur entnom­men werden18

):

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Tabelle 2: Sonanzgrade nach Husmann

Mit Obertönen identische Kombinations-Intervall Proportion töne

Anzahl Prozent

72 100 Oktave 1 2 42 58 Quinte 2 3 28 39 Quarte 3 4 24 33 gr. Sexte 3 5 18 25 gr. Terz 4 5 14 19 kl. Terz 5 6 10 14 kl. Sexte 5 8 8 11 ld. Septime 5 9 2 3 gr. Sekunde 8 9 2 3 gr. Septime 8 15 0 0 kl. Sekunde 15 16 0 0 Tritonus 32 45

Die Tabelle wurde an der Anzahl der mit Obertönen zusammenfallenden Kombina­tionstöne orientiert, wobei sich (in der 3. Spalte) als bemerkenswertes Ergebnis eine Reihenfolge der Intervalle einstellt, die sehr genau der seit Jahrhunderten bekannten Einteilung in Konsonanzen und Dissonanzen entspricht: Die optimalen Konsonanzen stehen oben, die Dissonanzen unten, und jedes Intervall hat einen anderen Sonanzgrad, den man in Prozenten (2. Spalte) angeben kann. Wir können also feststellen, daß die Unterscheidung von Konsonanzen und Dissonanzen naturgegeben ist -sie ist offensicht­lich ein Ziel der Natur, womit wir noch einen weiteren Beitrag zum vorigen Kapitel geliefert haben. 2. Aus dieser grundlegenden Erkenntnis folgen aber weitere, die ebenfalls wichtig sind. Zunächst sei noch ergänzt, daß ein Zusammenfall von Ober- und Kombinationstönen nur im Falle von ganzzahligen Proportionen möglich ist. Diese werden also zu folge der Physio­logie des Ohres bevorzugt, so daß sich auf diese Weise eine nachträgliche Begründung dafür ergibt, daß gerade die ganzzahligen Proportionen seit der Antike als Grundlagen der Musik dienten. Ihre Verwendung beruht somit nicht auf mathematischen Spekulationen und noch weniger auf bloßer Konvention, wie noch heute vielfach behauptet wird, son­dern sie ist naturbedingt. Das aber ist auch für die harmonikale Naturforschung, um die es uns ja hier vor allem geht, eminent wichtig, da eine Analogiebeziehung zwischen Natur­und Musikgesetzen nur dann wissenschaftlichen Wert besitzt, wenn beide Glieder der Analogie wahr sind!

Beruhen also Konsonanz-Dissonanz-Unterscheidung und Ganzzahligkeit der Intervall­proportionen auf naturgegebenen Dispositionen des Gehörs, so läßt sich jetzt schon erken­nen, daß wichtige Grundlagen der Musiktheorie und der Musik auf Grund der Beschaffen­heit des Gehörs zustandekamen -was freilich unbewußt geschah, da wir erst heute diese Zusammenhänge aufklären können. Damit haben wir aber zum ersten Mal jenen zweiten Fall von Teleologie angedeutet, den wir schon ankündigten: die Entwicklung der Musik durch das menschliche Gehör als causa finalis mit harmonikalen Proportionen als Basis.

Die beiden geschilderten Fakten sind aber nicht die einzigen Folgen der Gehörsdisposi­tion. Durch Weiterführung des Ansatzes von Husmann konnte der Verfasser ferner ablei­ten: die Entstehung der Diatonik, die Bevorzugung von Dur und anderen zentralen Ton-

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Ieitern von Tonsystemen (insgesamt in 5 verschiedenen Kulturen19), die Zwölfzahl unse­

rer Intervalle (Chromatik), um nur die wichtigsten Ergebnisse zu nennen. Einzelheiten dieser Ableitungen mögen an anderer Stelle nachgelesen werden. 20

Aus alledem folgt, daß die wichtigsten Grundlagen unserer abendländischen Musik durch die Gehörsdisposition vorgegeben sind, daß also die Musik sich teleologisch ent­wickelt hat. Die Komponisten folgten einem sicheren Instinkt und schrieben ihre Werke flir das menschliche Gehör, hatten den Menschen als Ziel.

(Daß auch in fremden Kulturen eine analoge Orientierung an der Gehörsdisposition unbewußt stattfindet, kann hier nur olme Beweis mitgeteilt werden. Es geht immer um die Grundlagen; denn die sind harmonikal und gelten auf der ganzen Welt. Welche Musik jedoch mit diesen Grundlagen gemacht wird, ist eine ganz andere Frage - wie denn auch mit den gleichen Farben auf der ganzen Welt und zu allen Zeiten denkbar unterschied­liche Malerei entstand.)

JE. Zusammenfassung

1. Harmonikale Teleologie in der Natur: An einer Reihe signifikanter Beispiele konnten wir zeigen, daß harmonikale Naturgesetze fast immer wichtige Gesetze (Normen, Kon­stanten) sind und vorwiegend an Endpunkten von Entwicklungen und als Merkmale von Ganzheiten, Gestalten, Formen vorkommen. 2. Harmonikale Teleologie in der Musik: Zufolge einer sinnreichen physiologischen (und psychischen) Disposition des menschlichen Gehörs, die selbst Beispiel teleologischer Naturgesetzlichkeit ist, sind ganz bestimmte Grundlagen der Musik entstanden, von denen sich die wichtigsten schon im Alterum nachweisen lassen. Dadurch hat sich die Musik - vor allem die unserer eigenen Kultur - teleologisch, mit dem Gehör des Menschen als Ziel, entwickelt. 3. Teleologie in der angewandten Harmonik: Nicht erwähnt wurde bisher eine weitere teleologisch orientierte Komponente der Harmonik, die nunmehr kurz nachgetragen wer­den soll. Unter ,angewandter Harmonik' verstehen wir die bewußte Verwendung harmoni­kaler Prinzipien (Intervallproportionen) durch den Menschen auf solchen Gebieten, in denen diese nicht naturbedingt vorkommen. Der wichtigste Bereich ist die bildende Kunst und da wiederum die Architektur ,21 die schon in der Antike von harmonikalen Anregun­gen profitierte.22 Die Architekten bauten- und bauen zum Teil auch heute wieder- mit dem Ziel, Musikgesetze zu integrieren, also teleologisch. 4. Synthese: Harmonikale Naturforschung führt durch die Aufdeckung analogischer und teleologischer Aspekte zu einer ganzheitlichen Naturerkenntnis. Der Mensch ist in das harmonikale Weltbild einbezogen -einschließlich jener Fakten, die nur in ihm inter­subjektiv zustandekommen (Intervallempfindungen, Konsonanzen usw.). Gerade durch diese psychische Komponente der ambivalenten Intervalle, das heißt durch die Verschmel­zung zweier Töne zu einer jeweils charakteristischen Empfindung, erhalten die harmoni­kalen Naturgesetze erst ihre eigentliche Bedeutung. Denn ohne diese psychische Kopplung zweier Einzelwerte gäbe es in der Natur an den betreffenden Stellen nur Zahlenpaare, die durch nichts von anderen Zahlen unterschieden wären. Die psychische Funktion erst gibt ilmen einen Akzent, und dadurch kommt auch die teleologische Tendenz in der Natur in den Blick. Durch das sinnvolle Zusammenwirken von Gesetzen in der Natur und im Menschen werden also Zusammenhänge offenbar, die bei rein mathematischer Betrach­tungsweise der sogenannten ,objektiven' Natur gar nicht erkannt werden können.

Dieser durch die Harmonik aufgedeckte Zusammenhang läßt uns zu der philoso­phischen Vermutung kommen, daß ein Plan der Schöpfung existiert, in welchem das geschilderte Zusammenwirken von Natur und Mensch eines der Ziele ist.

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1 R. Haase: Harmonikale Synthese. (Beiträge zur harmonikalen Grundlagenforschung, Heft 12)Wien 1980.

2 R. Haase: Der meßbare Einklang. Grundzüge einer empirischen Weltharmonik. (Edition Alpha) Stuttgart 1976.

3 R. Haase: Der harmonikale Strukturalismus als Modell kosmischer Analogien. (Imago Mundi, Bd VIII, Kosmopathie) Innsbruck 1981.

4 J. Kepler: Harmonices mundi libri V. Lincii 1619 (Weltharmonik, übers. und eingel. von M. Caspar. 2Darmstadt 1967).

5 J. Kepler (wie Anm. 4), S. 301. 6 F. Warrain: Essai sur L'Harmonices Mundi ou Musique du Monde de Johann Kepler. 2 Bde, Paris

1942. 7 W. Heitler: Harmonik -ein komplementärer Aspekt zur analytischen Wissenschaft, in: W. Schulze

(Hrsg.): Festschrift Rudolf Haase. Eisenstadt 1980, S. 24-29. 8 V. Goldschmidt: Über Harmonie und Complication. Berlin 1901. 9 Zitiert nach H. Kayser: Vom Klang der Welt. Zürich 1946, S. 78.

10 R. Haase (wie Anm. 2), S. 80. 11 H. Tiessen: Musik der Natur. Freiburg i. Br. 1953, S. 75. 12 Vitruvius Pollio: Zehn Bücher über Architektur (übersetzt von C. Fensterbusch). Darmstadt 1964,

S. 137 f. 13 R. Haase (wie Anm. 2), S. 99 ff. 14 H. Hildebrandt (a); Rhythmus und Regulation. Die medizinische Welt (1961/2), S. 73-81; derselbe

(b): Die Koordination rhythmischer Funktionen beim Menschen. Verhandlungen der deutschen Gesellschaft für innere Medizin 73 (1967), 922-941; derselbe (c): Harmonikale Strukturen der rhythmischen Funktionsordnung von Kreislauf und Atmung beim Menschen, in: W. Schulze (wie Anm. 7), S. 30-42.

15 A. Pontvik: Heilen durch Musik. Zürich 1955, S. 137. 16 H. Weiers: Die Quinte in der physikalischen Therapie, in: W. Schulze (wie Anm. 7), S. 197-202. 17 H. Husmann: Vom Wesen der Konsonanz. Heidelberg 1953. 18 R. Haase (a): Über das disponierte Gehör. (Fragmente als Beiträge zur Musiksoziologie, 4) Wien

1977, derselbe (b): Musikdisposition des Gehörs, in: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Bd 15, Zürich 1979, S. 1094-1102.

19 R. Haase (wie Anm. 18/b). 20 R. Haase (wie Anm. 18/ a). 21 R. Haase (wie Anm. 1); derselbe (a): Bauen auf dem Fundament der Musik [außerdem in eng­

lischer, französischer, spanischer, portugiesischer Sprache]. Die Faserzement-Revue 26/1 (1981), 4-6 und 60-61; derselbe (b): Harmonics in Architecture [außerdem in finnischer Sprache]. Abacus, Yearbook Museum of Finnish Architecture 2 (Helsinki 1981), 92-112.

22 Vitruvius Pollio (wie Anm. 12).

Prof Dr. Rudolf Haase Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien Hans-Kayser-Institut für harmonikale Grundlagenforschung Lothringerstraße 18 A- 1037 Wien