Terra nostrana

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1 Terra nostrana Alte Bilder, Geschichten und Rezepte aus dem Tessin Niklaus Starck porzio.ch Risottata in Ascona, 1951, Foto: Edi Dougoud

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Alte Bilder, Geschichten und Rezepte aus dem Tessin

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Terra nostranaAlte Bilder, Geschichten und Rezepte aus dem Tessin

Niklaus Starckporzio.ch

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Terra nostranaAlte Bilder, Geschichten und Rezepte aus dem Tessin

Niklaus Starck

2012porzio.ch

Privatdruck, dies ist Exemplar 99/100.

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Wie schreibt man ein Geleitwort, das diesem wunderbaren Buch gerecht wird? Jemehr ich darüber nachdachte, umso schwieriger erschien mir die Aufgabe ...

Terra nostrana – amato ticino! Wie viele Künstler, Schriftsteller und sonstige be-rühmte Persönlichkeiten haben diesen Flecken Erde so lieben gelernt, dass sie sichin persönlicher Form verewigt haben. Obwohl das Tessin viele Ecken und Kantenhat, und es manchmal etwas brummig sein kann, muss man es einfach ins Herzschliessen – und es lässt einen nicht mehr los.

In Ascona geboren, fand ich das Ticino als junge Frau wahnsinnig langweilig. Nichtswar los, diese „mache ich dann morgen“-Mentalität, das übliche Dorfgerede, die Tälerund die Berge – alles hatten wir schon zig Mal gesehen. Ich wollte unbedingt wegvon hier. Es ging eine Weile gut, fern der Heimat, dennoch merkte ich rasch, wie sehrich meine Heimat, il mio amato Ticino, vermisste. Hätte ich so nicht gedacht.

Nun betreibe ich mit meinem Mann das Antica Posta in Ascona, ein sehr kleinesHotel mit einem kleinen Restaurant, und wie gerne höre ich unseren Gästen zu, wennsie Geschichten von früher erzählen. Ob es nun Deutschschweizer, Welsche, Fran-zosen, Deutsche oder einheimische Ticinesi sind, alle ihre Herzen schlagen im selbenTakt, und sie schwärmen in ihren Erzählungen von den Menschen hier, von der wil-den und romantischen Natur und, wie könnte es auch anders sein, vom guten Essen.

Viele grosse Köche nannten über die Jahrhunderte das Tessin ihre Heimat, erlangtenso viele wunderbare Auszeichnungen. Doch genau so viel Ruhm, wenn auch in an-derer Form, erlangte die einfache Küche, oftmals nach Grossmutters Rezepten zu-bereitet, mit herrlich frischen Zutaten aus der „Terra nostrana“.

Zum Geleit

von Stephanie Bechter, Tessinerin und Gastronomin

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Zum Geleit ............................................................................................................................2Tessiner Küche?....................................................................................................................8In der Sonne essen!............................................................................................................10Ein Geleitwort für die Deutschschweizerinnen ............................................................12

Apéro, Vorspeisen und Suppen......................................................................14Il piatto ticinese ..................................................................................................................14Tartar von Linsen und frischem Ziegenkäse .................................................................16Suppen, wie sie die Nonna kochte ..................................................................................18Focaccia ...............................................................................................................................20Rezepte zur Sonnenwende ...............................................................................................22Carpaccio di verdura..........................................................................................................24Suppen alla Bettina, aus Brot und Marroni....................................................................26Wofür Don Fedele sein Leben liess.................................................................................28Crostini alla Zucca .............................................................................................................30Tessiner Fischsuppe auf rustikale Art ............................................................................32Minestrone – von wegen dicke Suppe! ...........................................................................34La Busecca, die traditonelle Kuttelsuppe .......................................................................36Ziegenkäse auf Rucola mit Feigensenf...........................................................................38Gemüsesuppen...................................................................................................................40Das Schloss von Stabio .....................................................................................................41Zuppa alla Svizzera interna ..............................................................................................42

Hauptspeisen .................................................................................................44Ur Putacin, der Tessiner Bohneneintopf........................................................................44Zampone mit Linsen .........................................................................................................46Von der Entstehung des Schneeglöckleins ....................................................................48

Inhaltsverzeichnis

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Risottata carnevalese, Luganighe mit Risotto ................................................................50Carnevale ticinese...............................................................................................................52Bärlauchravioli auf Bärlauchschaum...............................................................................54Spargelrisotto als insubrische Symbiose .........................................................................56Lesso – Bollito misto, gekochtes Vielerlei......................................................................58Pesce del lago......................................................................................................................60Gitzi – Capretto nostrano – das Ostermenu.................................................................62Die Sagen ums Convento in Bigorio ..............................................................................64Risi e Pisi .............................................................................................................................66Brasato di vitello al Merlot bianco...................................................................................68Polenta – Tessiner Bäuerinnen abgelauscht ...................................................................70Galletto ticinese al modo di Lello....................................................................................72Pesce in carpione................................................................................................................74Spezzatino di vitello alla salvia .........................................................................................76Puntarelle alla Zia Rosa .....................................................................................................78Das Wunder vom Origliosee............................................................................................80Coniglio in umido – ohne „fluktuierende Einflüsse“...................................................82Vegetarisches, wie die Nonna es kochte .........................................................................84Bolognese, Sugo & Co. .....................................................................................................86Spaghetti al Molino del Brumo........................................................................................88Lammcarré auf Kräutern mit Artischocken..................................................................90Legende vom armen Hirten .............................................................................................92Osso bucchi alla salvia.......................................................................................................98Gnocchi .............................................................................................................................100Camóss al vin nostrán, Gämsepfeffer im Nostrano...................................................102Cima di rapa alla Nonna Carolina .................................................................................104Kaninchenbraten alla contadina ....................................................................................106

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Kürbisgratin ......................................................................................................................108Das Wunder mit dem Hirtenmädchen .........................................................................110Glasierter Braten auf Kräutern .....................................................................................112Castagne ............................................................................................................................114Das Wunder mit den Kastanien ....................................................................................115Herbstliche Lese – Homage an die Kastanie...............................................................116

Nachspeisen .................................................................................................120Feigencarpaccio mariniert...............................................................................................120Tortelli di San Giuseppe .................................................................................................122Tortelli di San Giuseppe und die Hexe.........................................................................123Gelati..................................................................................................................................124Panettone – eine festtägliche Erfindung ......................................................................126Ratafià – eine der ältesten Tessiner Spezialitäten........................................................128Zabaione – die Weinschaumcrème................................................................................130Wie der Monte Gridone zu seinem Namen kam........................................................132Oss da mort ......................................................................................................................134Amaretti, die bitter-süsse Versuchung ..........................................................................136

Grundrezepte................................................................................................138Wissenswertes ..............................................................................................148Autoren und Fotografen ...............................................................................166Quellen .........................................................................................................174

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Nach einer wechsel- und dornenvollen Geschichte der Unterdrückung durch die Her-zöge von Mailand und die Landvögte der Eidgenossen wurde das Tessin im Jahr 1803zu einem vollwertigen Kanton der schweizerischen Eidgenossenschaft. NapoleonBonaparte hatte die Tessiner vor die Wahl gestellt, zur Lombardei oder zur Helveti-schen Republik zu gehören. Sie wählten liberi e svizzeri. Wenige Jahre später begann,was unter dem Titel Tessiner Kulturkampf oder Hauptstadtfrage in die Geschichtsbüchereingehen sollte: die zuweilen auch blutig geführten Auseinandersetzungen – manschoss aufeinander – zwischen klerikal-konservativen Kräften, sie hatten ihre Mehr-heiten im Sopraceneri, und den Liberalen, die im Sottoceneri die Oberhand besassen.Diese Auseinandersetzungen sollten Interventionen der Eidgenossenschaft, sie ent-sandte 1890 gleich mehrere Infanteriebataillone zum Okkupationsdienst in die Süd-schweiz, erforderlich machen und die Tessiner bis ins 20. Jahrhundert in Anspruchnehmen. Derart in Anspruch nehmen, dass sie die Entwicklungen auf ihrer Terra nos-trana höchstens am Rande mitgestalten konnten. Hinzu kamen die grossen existen-tiellen Sorgen der Landbevölkerung. Es war die Zeit der Auswanderung aus denDörfern, fort ins ferne Ausland, ins gelobte Land. Es war auch die Zeit der schwarzenBrüder – Abertausende von Tessiner Knaben mussten, bitterer Not gehorchend undunter unmenschlichen Bedingungen, in den Städten der Lombardei und des Piemontsals Kaminfeger, Spazzacamini, schuften. Ihre Familien verdingten die Jungen für Geld.– Dann brachte die Bahn die Mobilität und die Anfänge des Massentourismus’ insTessin. Die Inbetriebnahme der Gotthard-Eisenbahnlinie 1882 war der Auslöser vonWanderbewegungen, die zu einer Vermischung der Kulturen nördlich und südlichder Alpen führen sollte. Der Gotthard-Durchstich brachte finanzkräftige Investoren– zur Hauptsache aus der Svizzera interna – in die Südschweiz. Die Hotellerie blühteauf: Das Bankett zur Einweihung der Bahnlinie Bellinzona - Locarno fand am 20.Dezember 1874 im kurz zuvor eröffneten Grand Hotel Locarno statt. Das HotelWalter au Lac in Lugano zählte mit seinen 240 Betten seinerzeit zu den grössten Häu-

Tessiner Küche?

ein Exkurs in die Südschweizer Geschichte, nicht nur in die kulinarische

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sern der Schweiz, es öffnete seine Türen 1888. 1890 nahmen die Bergbahnen anMonte Generoso und San Salvatore ihren Betrieb auf. Zu Beginn des 20. Jahrhundertswurde gleich eine Reihe von Hotels eröffnet, als erstes Grand Hotel im Sottoceneri1903 das Hotel Bristol in Lugano. 1904 nahm das Grand & Palace Hotel Lugano sei-nen Betrieb auf, und im Jahr 1906 waren es das Grand Hotel Brissago und das HotelInternational in Lugano. – Auch andere Entwicklungen trugen dazu bei, dass sich ab1900 im Tessin Menschen ansiedelten, die mit den Tessinern wenig gemein hatten,ausser vielleicht diese Liebe zur Terra nostrana. Die Baronessa Antoinette de St. Léger,legendäre Besitzerin der Brissagoinseln von 1885 bis 1927, war Anziehungspunkt fürdie europäische Kulturprominenz. Henri Oedenkoven und seine Partnerinnen undPartner schufen 1900 auf dem Monte Verità, oberhalb von Ascona, ein Zentrum fürReformer und Anarchisten aus ganz Europa. Die Bohème aus Berlin und Münchenzog dorthin. Spätere Träger des Literaturnobelpreises, Gerhart Hauptmann und Her-mann Hesse, hielten sich in Ascona auf. Rudolf von Laban schuf 1913 auf demMonte Verità mit seiner Tanzschule eine Wiege des modernen Ausdruckstanzes. Vorund während des Ersten Weltkriegs kamen die russischen – Jawlensky, Werefkin –und Künstler aus anderen Nationen als Emigranten. Auch im Zweiten Weltkriegkamen Emigranten. Und alle brachten sie ihre eigene Terra nostrana mit ins Tessin,die literarische, die künstlerische, die musikalische, die religiöse, die politische – soferndie von der Fremdenpolizei überhaupt toleriert wurde –, die soziale, die spirituelle,die tänzerische und die ihnen eigene, menschliche – und die gastronomische. Letzterebestimmte fortan massgeblich die Angebote auf den Speisekarten der Tessiner Gast-stätten. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen dann vor allem die Touristen und Fe-rienhausbesitzer, Menschen, die l’italianità suchten, das Dolce far niente, Salami, Bellaragazza, Spaghetti, Amore, Gelati, Merlot aus dem Boccalino und einen alten Mann, derdazu die Mandoline spielt, bitte sehr! – Plakativ zwar, aber doch: Wir sind am Punktangelangt: All diese Clichés haben nichts mit der Tessiner Küche gemein – gar nichts.Doch wo in der turbulenten Tessiner Historie ist sie geblieben? – Es gibt sie nochimmer. Sie heisst: Polenta, Kastanien, Fisch aus dem See, Fleisch aus dem eigenenKaninchen- oder Hühnerstall, Milch- und Käseprodukte von der eigenen Ziege undzu Ostern auch mal ein Gitzi, Gemüse und Kräuter aus dem Garten, Beeren ausdem Wald und, sofern man selbst Jäger ist oder einen zum Freund hat, Wild. Weres vermochte – oder musste, weil zuwenig Futter fürs Überwintern der Tiere imSpeicher lag –, schlachtete auch mal eine Kuh, ein Rind oder ein Schwein. Ecco, dasist die Tessiner Küche. Karg und doch reich, von den Jahreszeiten inspiriert odervon einer Bekannten aus einer anderen Talschaft oder einem Bahnarbeiter aus demSüden Italiens. Vor allem war und ist die Tessiner Küche würzig und schmackhaft,denn alles ist auf der eigenen Scholle gewachsen – Terra nostrana.

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Was sind das für steinerne Ställe an den kahlen Berghängen? Nicht doch, das sind dieHäuser der alten Frauen, die eben mit ihrer Gerla, den hohen Rückenkörben aus Wei-dengeflecht und einer Last Reisig, aus dem Tal heraufsteigen. Wo sind die Männer? –Die wanderten jung nach Amerika aus, um als reiche Leute heimzukehren, aber sie sindnicht heimgekehrt. Amerika, die Ferne, hielt sie fest. Das Leben ging weiter, die Frauenwurden alt; sie kämpften allein mit dem harten Winter, der unbarmherzigen Sommer-sonne, die die Erde ausdörrt, den schonungslosen Fluten der Wildbäche, die endloserRegen im Frühling und Herbst zum Überfliessen bringt, treiben die Ziegen auf diedürftige Weide, ringen dem Karst eine Handvoll Gemüse, ein Ährchen Mais ab, hät-scheln dickbäuchige Kürbisse und warten auf die Männer, die nicht wiederkommen.Was essen sie, was trinken sie? – Als echte Tessinerinnen trinken sie gern Kaffee, derschwarz bis zur Bitternis geröstet ist. Das runde, henkellose Trinkgefäss füllt er zueinem Drittel: Der Rest ist heisse Milch. Sehen Sie das sehr weisse Brot nach italienischerArt? Sie essen es trocken zum Kaffee, mit einem Stück Ziegenkäse, den sie nach altemRezept geknetet und auf sauberem Stroh gelagert haben. Eins ihrer Lieblingsgerichteist die Minestra. – Sie löffeln sie jahraus, jahrein, ihr ganzes Leben lang. Einen Tag Po-lenta, einen Tag Minestra, einen Tag Gnocchi. Lieber Gott, lass mich eine uralte Tessi-nerin sein, auf der Schwelle meines uralten Hauses sitzen und die uralte Minestra essen!

Geht der Tourist durch einen Wald, in dem Tessiner Holzfäller beschäftigt sind, sokann er zu seinem Erstaunen auf einem frischgehauenen Baumstumpf einen gelben,dampfenden Hut erblicken. Das ist die Polenta, die zum Auskühlen auf dem Stumpfgestülpt wurde, wodurch dem Holzfäller erstens eine silberne Platte, zweitens ein Tischerspart werden. Wie klug macht Armut den Tessiner! – Übrigens wird er gern bereitsein, dem Fremden ein Stück Polenta anzubieten, dass jenem das Wasser im Mund zu-sammenlaufen lässt. Der Tessiner ist sowohl gastfreundlich und heiter, als in gewisserHinsicht auch stolz.

In der Sonne essen!

von Jo Mihaly, Ferien-Journal vom 8. September 1956

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Diese einfache Einleitung ist eigentlich für die Tessinerinnen und die Tessiner be-stimmt, in der Hoffnung, dass sie über die bescheidenen Ratschläge der Kochkunst,die wir uns erlaubt haben Ihnen zu geben hinaus, daran denken, durch die täglichenMahlzeiten eine Lebensweise zu verteidigen und zu erhalten, selbst wenn es sich umdie elementaren Belange der Küche handelt.

Wir haben uns verleiten lassen, eine Übersetzung der Rezepte unserer Grossmütterzu schreiben, um sie auch den Deutschschweizerinnen zu unterbreiten. Wir möchtenwünschen, dass auch sie diese alten Rezepte versuchen, aber vor allem denken wirdaran, dass sie beim Besuch des Tessins in den Gasthäusern das verlangen, was fürunsere Gegend typisch ist. Sie würden uns dadurch zur Erlangung des Zieles, das wiruns gesetzt haben, helfen; nämlich unserer Gegend ihr Antlitz und ihre Jahrhundertealten Gebräuche zu erhalten, in einer Zeit der Nivellierung, die bei uns stärker alsanderswo ausgeprägt ist.

Kleine RatschlägeMan soll sich nicht mit finsterer Mine zu Tisch setzen, von den Geschäften sprechenoder von Dingen, die traurig machen. Man soll die Kinder bei Tisch nicht schelten,sondern sie in Frieden essen lassen. Man sollte aber guter Laune sein, denn die Fröh-lichkeit wird eure Mahlzeiten schmackhafter und wohltuender machen.

Einige der Rezepte der Grossmutter sind im Inhalt zu finden.

Ein Geleitwort für die Deutschschweizerinnen

aus Die Rezepte der Grossmutter, Sammlung von Tessinerrezepten, aus dem Jahr 1958

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Einmal abgesehen von den aristokratischen Häusern, die bekanntlich in der ganzenWelt etwas eigenartig sind, kannte die Tessiner Küche keine Gangabfolge. Es wurdezu Tisch gerufen und gegessen, was sich darauf befand: eine Suppe, eine Polenta,

Kastanien, an Festtagen auch mal Wurst oder Käsemit Brot. Einen Tessiner Teller wie wir ihn heutekennen gab es nicht. Er ist eine Erfindung der Zu-gereisten, denn er vereinigt all diese herrlichen, wür-zigen Erzeugnisse der Südschweizer Produzenten,ein Degustationsteller quasi, mit Köstlichkeiten aus

der Terra nostrana. Der kleinste gemeinsame Nenner aller Meinungen zum unerschöpf-lichen Thema, was auf einen Tessiner Teller gehöre, lautet: frische Tessiner Produkte.Alles andere ist Geschmacksache. Damit fallen die mit Tessiner-Plättli beschriftetenPlastikbeutel in den Kühlregalen der Supermärkte ausser Rang und Traktanden, essei denn, man mag tatsächlich diese pappig aufeinandergeklebten und vakumiertenFleisch- und Wursttranchen, aus denen die Salami wie die Coppa schmeckt und um-gekehrt ... Die Zutaten für einen Piatto ticinese besorgt man sich am besten in derMetzgerei oder auf dem Markt, zum Beispiel dem Samstagsmarkt in Bellinzona. Dortstehen die Produzenten selbst hinter ihren Ständen, sie wissen, wovon sie reden, siekennen die kleinen Unterschiede und Feinheiten, und sie bieten in der Regel auchgerne ihre Produkte zum Versuchen an.

Apéro, Vorspeisen und Suppen

Il piatto ticinese

die klassische Vorspeise, die eigentlich gar keine ist

Man nehme frisches Brot, Käse, Tro-ckenfleisch, Wurst und Rotwein,stelle alles auf den Tisch unter derPergola, greife zu und geniesse dasMahl.

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Das Linsen-Ziegenkäse-Tartar ist eine Vorspeise, die zu jeder Jahreszeit passt und inmancherlei Hinsicht etwas wirklich Besonderes ist. Erstens wäre da der Geschmackzu nennen, diese herrliche Symbiose aus Linsen und würzigem Käse, begleitet vonden deliziösen Beiträgen der restlichen Zutaten. Als Käse empfiehlt sich übrigens

der Büscium da cavra, der Tessiner Ziegenkäse, derauf der Kandidatenliste für die Herkunftsbezeich-nung AOC, Appellation d’Origine Contrôlée, steht – erist ein Hochgenuss! Zum Zweiten fällt der einzigar-tige Biss dieses Tartars auf: knackige Linsen in einercrèmig-sämigen Masse – eine Mixtur, die zum sinn-lichen auf der Zunge zergehen lassen einlädt. Und drit-tens überzeugt das Erfrischende und Leichte diesesprimo piatto. Auch das Praktische spricht für das Tar-

tar: Es eignet sich bestens für die Zubereitung bevor die Gäste da sind. Dazu passtam besten ein neutraler, prickelnder Kontrast, ein Glas Prosecco zum Beispiel oderein weisser, als Schaumwein gekelterter Merlot.Zubereitung: Die Linsen unter laufendem kaltem Wasser gut waschen, dann inschwach gesalzenem Wasser während 30 Minuten weich kochen, anschliessend imSieb abtropfen lassen. Die Tomaten während einer halben Minute in kochendes Was-ser tauchen, so lassen sie sich besser schälen. Alle Zutaten zu den noch warmen Lin-sen geben, gut vermischen, abschmecken, kühl stellen und eine bis zwei Stundenziehen lassen. Das Tartar mit zwei Löffeln formen, auf die Teller anrichten und mitSchnittlauch und Tomaten garnieren. Mit frischem Weissbrot servieren.Varianten: Wird anstelle des frischen Ziegenkäses ein gereifter, harter verwendet,entsteht ein eher ziegiges und weniger sämiges Tartar; für Liebhaber von Ziegenkäseeine wirklich lohnenswerte Alternative. Anstelle von Linsen kann auch Hirse ver-wendet werden.

Tartar von Linsen und frischem Ziegenkäse

Zutaten für 4 Portionen: 100 g Linsen5 dl Wasser2 kleine Tomaten, geschält, entkerntund fein gewürfeltfrische Kräuter, fein gehackt1 frischer Ziegenkäse, ca. 150 g1 EL OlivenölSalz und Pfeffer

eine sinnliche Vorspeise

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OrzataÜber Nacht die Gerste im Wasser liegen lassen (eine Handvoll pro Person). Danngut waschen und mit viel Wasser 2 Stunden lang kochen. Inzwischen etwas Butter,Zwiebeln, Kartoffeln, Lauch, Sellerie, gelbe Rüben und einen Löffel Mehl mit etwasBrühe dünsten und zusammen mit einer Handvoll Bohnen der Gerste beifügen.Noch weitere 3 bis 4 Stunden kochen lassen.

Karfreitags-Nuss-SuppeFrüher durfte man an Freitagen in der Fastenzeit nur mit Öl kochen. 3 oder 6 Nüssefein hacken, in Öl braun braten, dann einige Löffel Mehl beifügen und rösten lassen.Mit kaltem oder warmem Wasser übergiessen. Lauch, Kartoffeln, gekochte Bohnenund etwas Salz beifügen. Nach einer halben Stunde Reis oder Teigwaren nach Belie-ben in die Suppe geben. Noch etwa 20 Minuten kochen.

Zuppa alla CavalottaEinige dünne Brotschnitten in eine Suppenschüssel geben. Dann eine Schicht Käse-schnitten von jungem fetten Käse zufügen, dann nochmals Brotschnitten, Käse-schnitten nach Belieben. Die letzte Schicht sollte Brot sein. Etwas fein gehackteZwiebeln in einem grossen Stück Butter schön gelb dünsten, zu dem Brot in derSuppenschüssel geben und alles mit kochender Fleischbrühe übergiessen. Einige Mi-nuten ruhen lassen.

Suppen, wie sie die Nonna kochte

aus Die Rezepte der Grossmutter, Sammlung von Tessinerrezepten, aus dem Jahr 1958

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Die Focaccia gilt als eine Vorläuferin der Pizza. Sie stammt aus dem Nachbarland,genauer aus Ligurien, ihre Ursprünge gehen bis zu den Etruskern zurück. Dieser He-fefladen ist beliebtes Apérogebäck und Brotersatz zugleich. Hier das traditionelle Re-zept: Das Mehl in eine Schüssel geben, eine Mulde eindrücken. Hefe, Zucker und

Wasser in die Mulde geben und zu einem dünnenBrei verrühren. Mit wenig Mehl bestreuen und ca.15 Minuten stehen lassen. Anschliessend Salz, Was-ser und Öl beigeben und zu einem elastischen Teigkneten. Je nach verwendetem Mehl kann der Teigzu trocken oder zu feucht werden. In diesen Fällenwenig Wasser oder wenig Mehl dazugeben und ein-arbeiten. Den fertigen Teig zugedeckt bei Raumtem-

peratur während 30 Minuten um das Doppelte aufgehen lassen. Anschliessend in 4Portionen aufteilen, auf wenig Mehl rechteckig auswallen (10 auf 20 cm) und auf

ein mit Backpapier belegtes Blech legen. In jedes Teigstück miteinem scharfen Messer 4 - 6 Schlitze schneiden

und den Teig leicht auseinander ziehen.Nochmals zugedeckt eine Viertelstundegehen lassen. Anschliessend mit Olivenölbepinseln und mit Himalaya-Salz be-streuen, nach Belieben auch mit Rosma-rin oder anderen Kräutern. Die Focacciakann auch mit Oliven, Tomaten oderKümmel belegt werden, der Fantasie sindkeine Grenzen gesetzt. In der Mitte des auf200 Grad vorgeheizten Ofens etwa 15 Mi-nuten backen.

Focaccia

300 g Mehl¼ Würfel Hefe, zerbröckelt2 Prisen Zucker0,5 dl lauwarmes WasserSalz1 dl lauwarmes Wasser0,5 dl OlivenölHimalaya-Salz

ein würziger Begleiter des Apéros ist gleichzeitig auch eine Abwechslung zum täglichen Brot

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Nach der kalten Jahreszeit erwacht die Natur wieder. Zarte, saftige Pflänzchen kämp-fen sich durch den Erdboden und strecken sich der Sonne entgegen. Ihre Kraft wirdunsere Lebensgeister erwecken und unseren trägen und wintermüden Körper aufHochtouren bringen. Zur Frühling-Tagundnachtgleiche am 21. März assen die Men-schen früher die Neunkräutersuppe. Die Neunstärke ist ein jahrhundertealtes Rezeptfür eine Frühlingssuppe, die aus neun Wildkräutern besteht. Die Neunstärke war beieinfachen Leuten weit verbreitet und beliebt und gehörte zum Frühjahr wie die erstenBlüten auf den Wiesen. Der Ursprung dieses Rezeptes findet sich im angelsächsi-schen Neunkräutersegen des 10. Jahrhunderts. Hier das mittelalterliche Rezept. Neu-nerlei Kräuter sollen es nach altem Brauch sein. Die alte Reihenfolge gibt einenHinweis auf die Anteile. Danach war Giersch der Hauptbestandteil. Von den folgen-den Wildkräutern nimmt man jeweils etwas weniger. Gänseblümchen gehörten immerdazu. Genaue Mengenangaben gab es natürlich nicht, denn solche Rezepte verändernsich mit dem Angebot der Natur, und die Hausfrauen von damals kannten ihre Neun-stärke auch ohne Mengenangaben: Giersch, Löwenzahn, Taubnessel, Brennnessel,Schafgarbe, Sauerampfer, Sauerklee, Felsenfetthenne (Tripmadam), Gänseblümchen.Eine Variante ist die Brennesselsuppe: wenig Öl, Zwiebeln, Brennnesseln, Bouillonund wenig Halbrahm zum Verfeinern.

Der Sommer zeigt sich in seiner ganzen Fülle. Es ist Zeit, ihn zur Sommersonnen-wende am 21. Juni gebührend zu feiern und sich an seinen unglaublichen Farben undDüften zu erfreuen. Mit einer Zitronenmelissen-Erdbeer-Bowle: Erdbeeren, Zitro-nenmelisse, Zucker, 1 Flasche Weisswein, 1 Flasche trockenen Champagner.

Eine Spezialität aus dem Engadin, Bettinas Heimat, kommt zur Herbst-Tagundnacht-gleiche am 23. September auf den Tisch. Die Tage werden wieder kürzer. Es tut gut,die Wärme und das farbintensive Herbstlicht, welche die Preiselbeeren in sich verei-

Rezepte zur Sonnenwende

aufgeschrieben von Bettina Secchi, einer Wahltessinerin aus dem Engadin

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nen, aufzusaugen und für dunklere Zeiten zu speichern. Preiselbeeren sind sehr reichan Vitamin C. Das Rezept: Tatsch mit Preiselbeerkompott: Eier, Mehl, Milch, Zuckerund Salz für den Tatsch. Selbst gepflückte Preiselbeeren, Zucker und wenig Weissweinund Wasser für das Kompott.

Zur Wintersonnenwende am 21. Dezember kocht Bettina eine Wurzelsuppe. DieNächte sind lang und kalt. Die Wurzeln, die in der dunklen Erde gewachsen und ge-diehen sind, wärmen und stärken uns von innen. Rezept: wenig Öl, Zwiebel, Knob-lauch, Randen, Sellerieknolle, Karotten, weichkochende Kartoffeln, Bouillon, wenigHalbrahm zum Verfeinern.

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Das Gemüsecarpaccio ist ein echter Sommerhit: rasch zubereitet, erfrischend,schmackhaft, leicht und erst noch kerngesund. Kreativen Köchinnen und Köchensind bei der Zubereitung kaum Grenzen gesetzt, das Carpaccio lässt sich in den ver-schiedensten geschmacklichen und farblichen Varianten anrichten. Zubereitung: Vier

flache Teller mit Olivenöl beträufeln, dann die ver-schiedenen Gemüse durch den sehr fein eingestell-ten Trüffelhobel darauf verteilen, in der Reihenfolgewie unter Zutaten angegeben. Es ist aber auch jedeandere Variante möglich – Kreativität ist gefragt!Zum Schluss den Parmesan darüber raffeln, würzenund mit Olivenöl beträufeln. Je nach Geschmackkann das Carpaccio mit einigen Tropfen Balsamico,Sonnenblumenkernen- oder Trüffelöl verfeinert

werden. Auch kurz angebratene Mandelsplitter, Pinienkerne, Sonnenblumenkerne,Nuss- oder Pistazienstücke passen dazu. Die Teller mit den fein gehackten Kräuterngarnieren. Kurz ziehen lassen. Sofern das Carpaccio nicht sofort serviert wird, dieTeller mit Frischhaltefolien abdecken. Das Gemüsecarpaccio eignet sich auch sehrgut als Unterlage für gebratene Fischfilets, grillierte Kalbsleberstreifen, Riesencre-vetten oder anderen Leckerbissen – und schon ist daraus ein sommerlicher Haupt-gang geworden. Servieren mit frisch aufgeschnittener Ciabatta und einem würzigenWeisswein, es darf auch Prosecco sein.

Carpaccio di verdura

Zutaten für 4 Personen: 1 Zuchetto, 1 Karotte, 2 kleine, ver-schiedenfarbige Peperoni, 1 kleine Fenchelknolle 2 - 3 Champignons Parmesan am Stück Pinienkerne, geröstetfrische KräuterOlivenöl, Salz und Pfeffer

eine herrlich sommerliche Vorspeise, rasch zubereitet

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Aus dem Ferien-Journal Nr. 124/6 vom 16. August 1969: Hier ein Rezept nach Anga-ben einer alten Tessinerin, bei dem altes Brot Ver-wendung findet. Es ist einfach aber gut. Pan cottist eine schmackhafte Brotsuppe und leicht zu-zubereiten. 1 Zwiebel hacken, in Butter dünsten,mit 1 Liter Bouillon ablöschen, altbackenes Brotbeifügen und ¾ Stunden köcheln lassen. Ge-

hackte Petersilie hinzugeben, mit Parmesan oder Sbrinz überstreuen und servieren.

Suppen alla Bettina, aus Brot und Marroni

altes Brot, in Stücke gebrochen1 Zwiebel, gehackt1 l BouillonPetersilie, gehacktParmesanButter, Pfeffer und Salz

Aus dem Ferien-Journal Nr. 150/8 vom 4. Oktober 1972: Kochrezepte von Bettina,Marroni-Suppe. Marroni oder Kastanien waren vor Zeiten einmal eine der Hauptnah-rungsmittel im Tessin. Sie sind eine wahre Delikatesse, aber sie werden heute fast nurnoch als gebratene Marroni genossen, weil das Schälen ziemlich zeitraubend ist. Mar-

roni müssen nicht unbedingt im Wasser gekochtwerden, wenn man sie schälen will, man kann sieauch schälen, wenn man sie wie üblich auf derrunden Seite einschlitzt und auf einem Blech imheissen Backofen ca. fünf Minuten bratet. – Zu-bereitung: Man kocht die geschälten Marroni inso viel schwach gesalzenem Wasser, dass sie ge-rade bedeckt sind gar, dann das Wasser abgiessen,die Marroni durch die Kartoffelpresse drücken

oder im Mixer zu einer Creme pürieren. In die Pfanne zurückgeben und 1 Liter Bouil-lon hinzufügen. Speck, Schinken und Zungenwurst darin auf kleinem Feuer gar wer-den lassen. Vor dem Servieren Petersilie, Pfeffer und Rahm einrühren und ganzzuletzt die gerösteten Brotwürfeli hineingeben.

im Originaltext aus dem Ferien-Journal übernommen

1 Pfund geschälte MarroniSalzwasser1 l Bouillon100 g Speck, fein geschnitten100 g Schinken, fein geschnitten100 g Zungenwurst, fein geschnitten1 EL Petersilie, fein gehackt1 dl Rahm1 Handvoll geröstete Brotwürfeli

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Bei der Kirche Santo Stefano in Tesserete, sie wird in den Geschichtsbüchern erst-mals im Jahr 1078 erwähnt und gilt mit ihrem in die Frontfassade eingegliedertenTurm und dem hohen Chor als eine der schönsten im ganzen Tessin, ist eine mar-kante Grabstätte aus Granit zu sehen: die letzte Ruhestätte der Contessa Crassa,sagt man. Die Contessa war eine verwitwete Fürstin von Mailand, ihr soll um dasJahr 1050 die ganze Capriasca gehört haben. Sie soll so unansehnlich gewesensein, hässlich, dick mit verkrüppelten Gliedern, dass die Menschen sie auslachten.Ihre beiden Söhne waren arrogante und respektlose Zeitgenossen, die den Be-wohnern der Capriasca mit ihren willkürlichen Bosheiten und Streichen arg zu-setzten. Der Einzige, vor dem sie Respekt hatten, war Don Fedele, der Pfarrherrvon Santo Stefano.An einem Sonntag nun beschlossen die Söhne der Contessa, mit Freunden jagen zugehen. Sie trugen Don Fedele auf, mit der Feier der Heiligen Messe abzuwarten, bissie von der Jagd zurück seien. Aber Diana war ihnen nicht hold. Weder bei San Cle-mente noch bei Bigorio kam ihnen etwas vor ihre Pfeilbogen. So entschlossen siesich Stunden später, zurück nach Tesserete zu reiten. Dort aber hatte der Glöcknerschon lange zur Messe geläutet, und Don Fedele hatte in der vollen Kirche mit derZelebration begonnen, gerade erhob er seine Arme zum Himmel, um den Segendes Herrn zu erbitten. Genau in diesem Augenblick trafen die von der erfolglosenJagd wütenden Brüder mit ihrem Gefolge ein. Einer der beiden Crassa, in grenzen-losem Zorn darüber, dass Don Fedele ihren Befehl missachtete, schoss ihm einenPfeil mitten ins Herz. Der Gottesmann starb auf der Stelle. – Erschrocken ob die-sem Frevel und aus Angst vor der Rache der braven Bauern stoben die beiden Crassadavon, man soll sie in der Carpiasca nie mehr gesehen haben. Die Contessa aber,besorgt um das Seelenheil ihrer Söhne, vermachte ihr ganzes Vermögen, das sie inder Capriasca besass, der Kirchgemeinde von Santo Stefano. Seither wird immer zurFastenzeit eine Messe zum Gedenken an die gute Contessa Crassa gelesen.

Wofür Don Fedele sein Leben liess

erzählt von Bruder Niklaus Regazzoni, Klostergärtner, Bigorio, 1968

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Der Kürbis ist einer der klassischen Protagonisten der herbstlichen Tessiner Küche.Bereits seit 10’000 Jahren soll er auf den Speisezetteln verschiedener Kulturen stehen,insbesondere sind Rezepte von indigenen Stämmen aus Nord- und Südamerika über-liefert. Auf diesem Kontinent ist auch – von irischen Emigranten importiert – der

alte Volksbrauch der Kürbis-Laternen gewachsen,Halloween, was eigentlich All Hallows’ Eve heisst,„Vorabend von Allerheiligen“. Kürbisse gelten alsgesundes, vitaminreiches Gewächs, das in über 800verschiedenen Sorten gedeiht, die sich in Form,Farbe und Grösse unterscheiden. Aus ihnen werdengekochtes, gebratenes oder gebackenes Gemüse,aber auch Kürbiskuchen oder -suppen zubereitet.Auch in ihren Kernen stecken wertvolle Substanzen,geröstet werden sie gerne als Apérosnack gereicht,

das Kürbiskernöl gilt als Delikatesse. Zubereitung der gerösteten Kürbiskerne: DieKerne so gut es geht von Fruchtfleisch lösen und über Nacht in Salzwasser einlegen.Absieben, das verbleibende Fruchtfleisch entfernen und einen halben Tag lang trock-nen lassen. Anschliessend einen Esslöffel Olivenöl in eine Schüssel geben und dieKerne darin gut wenden. Die Kerne auf ein Backblech verteilen und im auf 150Grad vorgeheizten Ofen während rund 15 Minuten rösten. Nach 10 Minuten Back-zeit immer wieder kosten, die Kerne dürfen nicht austrocknen. Ausgekühlt könnensie in einem geschlossenen Gefäss aufbewahrt werden. Zubereitung der Crostini:Den Kürbis und die Schalotte in feine Stücke schneiden und zusammen mit den Kür-biskernen im heissen Olivenöl 15 - 20 Minuten auf mittlerem Feuer dünsten, bis sieFarbe genommen haben. Nach Belieben würzen, mit dem Mehl bestreuen, gut um-rühren und mit dem Wein ablöschen. Die Masse auf der ausgeschalteten Herdplatteziehen lassen, bis die Flüssigkeit verdunstet ist – sie darf nicht eindicken –, dann in

Crostini alla Zucca

Zutaten für 8 Crostini: 8 kleine Brotscheiben 200 g Kürbis1 kleine Schalotte1 Handvoll gerösteter Kürbiskerne1 TL Mehl1 dl Weisswein2 EL geriebener ParmesanKürbiskernöl, Olivenöl, Curry, Pfefferund Salz

das sind herrlich herbstliche Apéro-Begleiter

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eine Schüssel geben und abkühlen lassen. Wenig Kürbiskernöl und den Parmesandarunterziehen, abschmecken und zugedeckt kühl stellen. Die Pfanne wieder erhitzen,wenig Olivenöl beigeben und die Brotscheiben darin auf mittlerem Feuer rösten, bissie Farbe genommen haben. Die Brotscheiben herausnehmen und auskühlen lassen.Vor dem Servieren die Kürbismasse auf die Brotscheiben streichen, zusammen mitgerösteten Kürbiskernen und frischen Baum- und Haselnüssen reichen. Dazu passtein trockener Weisswein oder Prosecco.

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Dieses Rezept ist als Arme-Leute-Mahlzeit überliefert, es hat seine Wurzeln dort, woeinst die Fluss- oder Seefischer ihrer Arbeit nachgingen. Für die Zubereitung derFischsuppe wurden zu günstigen Preisen ganze Fische verwendet, die aufgrund vonQualitätsmängeln nicht in den Verkauf gelangten, die Karkassen für den Fond gab’sgratis obendrein, und Gemüse und Kräuter kamen aus dem eigenen Garten. Nur derWein ist damals wohl nicht so grosszügig zum Kochen eingesetzt worden. Nachdemin unseren Tagen die Fischereibetriebe im Tessin bald an einer Hand abgezählt wer-den können, lohnt es sich, den fangfrischen Fisch dort oder bei den Fischhändlernin Bellinzona, Locarno oder Lugano einzukaufen. Fragen Sie auch nach, welcheFischarten im Angebot sich am besten für die Suppe eignen, so ist der Erfolg ihrerArbeit quasi garantiert. Auf jeden Fall sollten Sie es vermeiden, anstelle ganzer Fisch-

stücke Filets zu verwenden, das nähme der Suppeihren Charakter. Scheuen Sie sich auch nichtdavor, den Fond selbst zuzubereiten, Ihre Suppewird damit definitiv schmackhafter als mit einge-kauftem Fischfond – und sei dieser noch so teuer.Das Rezept finden Sie unter Grundrezepte.Die Fische in Stücke schneiden. Im heissen Oli-venöl anbraten, bis sie gut Farbe genommenhaben. Das Gemüse kurz mitdünsten, dabei häu-fig umrühren. Mit dem Weisswein ablöschen, denFond, das Wasser, die gehackten Kräuter und dasTomatenmark beigeben, gut verrühren und alles

während 90 Minuten köcheln. Die Suppe durch ein Sieb streichen, dabei die Fisch-und Gemüsestücke gut auspressen. Abschmecken. Mit Weiss- oder Knoblauchbrotservieren. Dazu passt ein kräftiger Weisswein oder ein trockener Spumante.

passt zu jeder Jahreszeit; es lohnt sich, grössere Mengen zu kochen und Portionen zu gefrieren

Tessiner Fischsuppe auf rustikale Art

Zutaten für vier Personen: 500 g FischstückeGemüse: 2 Peperoni, 1 Karotte, 1 Kartoffel, 3 Knoblauchzehen, 1 Tomate frische Kräuter (Lorbeer, Rosmarin undThymian), 5 dl Fischfond5 dl Weisswein 5 dl Wasser2 TL TomatenmarkOlivenöl, Pfeffer und Salz

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Wenn in einem deutschsprachigen Lexikon geschrieben steht, Minestrone sei „etwamit dicke Suppe“ zu übersetzen, so könnte man den Deutschsprachigen an diesemBeispiel aufzuzeigen versuchen, was es mit der Italianità auf sich hat. Von wegendicke Suppe! Die Minestrone ist die Königin der Suppen, sie ist die Weltmeisterin der Düfte,

die Verführerin des Gaumens, das hat mit Leidenschaftzu tun, mit Erotik und mit Liebe, capito? – Die Mi-nestrone ist pure Lebensfreude, basta! – Nicht nurjede einzelne Stadt und jedes Dorf in der italienischsprechenden Welt nimmt für sich in Anspruch, diebeste Minestrone zu kochen, nein, jeder Haushalttut das, und so sind mittlerweile wohl Millionen ver-schiedener Rezepte im Umlauf. Im Ursprung war

die Minestrone eine Gemüsesuppe, ein Arme-Leute-Mahl aus dem südlichen Alpen-raum. Wer es vermochte, gab der Minestrone Pancetta, luftgetrockneten Bauchspeck,bei und machte sie damit noch kräftiger. Aufgrund ihres Wohlgeschmacks verbreitetesie sich rasch und wurde, je nach Region, mit weiteren Zutaten angereichert. In derLombardei etwa kommt Reis dazu, in Ligurien und der Toskana Pastasciutta, getrock-nete Teigwaren, in der Emilia Romagna der geriebene Parmesankäse, anderswo To-matenmark, Rindfleisch und so weiter. Den Zutaten sind keine Grenzen gesetzt. Gerade im Frühling, wenn das Gemüse jung, frisch und knackig ist, gelingt die Mi-nestrone besonders gut. Kaufen Sie es direkt beim Produzenten oder auf dem Markt,halten Sie sich dabei nicht stur an den Einkaufszettel, sondern nehmen Sie das Ge-müse, das Sie anlacht – ganz nach Ihrem Gusto, nur die Gesamtmenge sollte in etwastimmen. Oder lassen Sie sich von der Verkäuferin beraten – Sie werden mit ihr sehrrasch am Fachsimpeln sein, die Minestrone ist ein unerschöpfliches Thema.Hier unser Vorschlag für die ursprüngliche Minestrone, die reine Gemüsesuppe. Üb-rigens: Die Behauptung, wonach aufgewärmte Minestrone fast noch besser schmeckt

Minestrone – von wegen dicke Suppe!

Zutaten für 4 Personen: 1 kg Frischgemüse, darunter Bohnen, Frühlingszwiebeln, Karotten,Lauch, Sellerie und Wirsingfrische Kräuter1,5 l WasserOlivenöl und Salz

sie ist die Königin der Suppen

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als die frisch gekochte, stimmt. Deshalb lohnt es sich auch, ein grösseres Quantumzu kochen. – Zubereitung: Das Gemüse putzen, waschen und in mundgerechte Stü-cke schneiden. Olivenöl in einer grossen Pfanne erhitzen, das Gemüse während 5Minuten dämpfen und anschliessend mit dem Wasser ablöschen, salzen. Einen Teilder fein gehackten Kräuter beigeben. Zugedeckt während 1,5 bis 2 Stunden auf klei-nem Feuer kochen. Abschmecken, mit dem Rest der gehackten Kräuter dekorierenund mit Weissbrot servieren. Dazu passt ein kräftiger Barbera oder Merlot.

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Die Busecca, eine währschafte und schmackhafte Gemüsesuppe, angereichert mitklein geschnittenen Kutteln, ist ein typisches Wintergericht aus dem Mendrisiotto.

Wer Kutteln nicht mag, ersetzt sie z. B. mit mage-rem Hackfleisch, ein Sakrileg zwar, aber ... Immermehr kann man während der Karnevalszeit aufTessiner Dorfplätzen die grossen Töpfe sehen, ausdenen ein verführerisch duftender Dampf aufsteigt– die Busecca! Alle Zutaten fein schneiden bzw. hacken. Zwiebelund Knoblauch mit der Pancetta in reichlich heissemOlivenöl andünsten. Gemüse und Kutteln beigebenund kräftig mitdünsten, die Tomaten dazugeben.Mit dem Merlot ablöschen, die Bouillon beigeben,Zubereitung siehe Grundrezepte, aufkochen undauf kleinem Feuer während 30 Minuten leicht kö-cheln lassen. Abschmecken. Die in der Bratpfannewährend 20 Minuten auf mittlerem Feuer gebratene

Luganiga in Scheiben schneiden und zur Suppe geben, Kräuter und Kümmel beigeben,umrühren und servieren. Nach Belieben mit Parmesan würzen. Eigentlich geht zurBusecca nichts anderes als ein kräftiger roter Merlot.

La Busecca, die traditonelle Kuttelsuppe

Zutaten für 4 Personen: 200 g Karotten, 1 Sellerieknolle200 g Lauch200 g Wirsing1 Zwiebel2 Knoblauchzehen4 geschälte und entkernte Tomaten 500 g Rindskutteln 50 g Pancetta (Bauchspeck) 1 Luganiga 3 dl roter Merlot 1 l Rindsbouillonfrisch gehackte Kräuter geriebener ParmesanKümmelOlivenöl, Salz, Pfeffer

ein Rezept aus Peter P. Riesterers Tessiner Küche, es gehört in die Zeit des Carnevale

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„Eine Vorspeise?!“, rief Nonna Carolina entsetzt und schlug ihre Hände vor derBrust zusammen. Von Nonna Carolina stammt das Feigensenf-Rezept. „Das ist keineVorspeise, das ist eine Speise aus dem Delicium!“ – Und wenn die Nonna recht hat,dann hat sie recht. Denn diese Komposition ist eine Symbiose der buoni sapori, hier

vereinen sich eigenwillige Düfte und Geschmäcke.Und nicht nur das: Hier gesellt sich der pelzige Ru-cola zum sämigen Käse, das samtig-schwere Kür-biskernöl zu den knackigen Kernen, und der kühle,herbe Senf rundet das kulinarische Erlebnis erstrichtig ab. – Zur Zubereitung des Feigensenfs: DieFeigen waschen und mit einem scharfen Messer inkleine Stücke schneiden, 3 EL Wasser beigeben undmit einem Löffel geduldig zerstossen. Essig undZucker in der Pfanne langsam zum Kochen brin-gen, die Feigenmasse beigeben und während 15 Mi-nuten ganz leicht köcheln lassen, im Bedarfsfallwenig Wasser zugeben. Die Pfanne vom Herd neh-

men, das Senfmehl mit 3 EL Wasser gut vermischen, in die Pfanne geben und erneutgut umrühren. Nochmals erwärmen, die Herdplatte abstellen und den Senf für wei-tere 10 Minuten ziehen lassen. Den fertigen Senf zugedeckt kühl stellen. Die Zu-bereitung des Deliciums ist rasch erklärt: Man nehme grosse, flache Teller und lasseder Fantasie freien Lauf. Arrangieren Sie den Rucola, platzieren Sie den Büscion unddrapieren Sie Kürbiskerne, Kürbiskernöl und den Feigensenf dekorativ darumherum. Dann noch nach Belieben Olivenöl, Pfeffer und Salz über den Rucol,a undschon ist der Teller fertig. Servieren Sie ihn mit frischem Weissbrot oder einer Cia-batta. Dazu passt ein Glas weisser Merlot oder Prosecco.

Ziegenkäse auf Rucola mit Feigensenf

Zutaten für 1 Portion:1 Büscion, Ziegenkäsezapfen1 Handvoll RucolaKürbiskerne, geröstetFeigensenfOliven- und KürbiskernölPfeffer und SalzZutaten für den Feigensenf:6 reife Feigen, fein geschnitten100 g Rohrzucker3 EL weisser Balsamico1 EL SenfmehlWasser

eine verführerische Vorspeise

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Jedes Gemüse macht eine hervorragende Suppe! Genau gleich wie der Kürbis lassensich alle anderen Gemüsesorten unkompliziert zu einer schmackhaften Vorspeise zu-bereiten. Blumenkohl eignet sich genauso gut wie Broccoli, Fenchel, Karotten, Kar-toffeln, Kohlrabi, Sellerie oder Wirz. Zur Kürbissuppe: Den in grobe Stücke

geschnittenen Kürbis im Salzwasser während 45 Mi-nuten weichkochen, mit dem Stabmixer pürierenund auf kleiner Flamme auf die gewünschte Kon-sistenz reduzieren. Abschmecken, in vorgewärmteTassen füllen, wer mag gibt einen Schuss Kürbisker-nöl dazu und serviert das Süppchen deko-

riert mit frischem Grün. So zubereitet ist die Gemüsesuppe besondersgesund und kräftig. Selbstverständlich dürfen auch Butter und Sahne da-runter gerührt werden, um sie zu „verfeinern“, auch das Sahnehäubchensteht der Suppe gut. Eine rustikale Variante zur vorgestellten Zuberei-tungsart: gehackte Zwiebeln im heissen Olivenöl in der Suppen-pfanne andünsten, bis sie Farbe genommen haben,dann die Gemüsestücke kurz mitdämpfen, mitwenig Weisswein ablöschen, dasSalzwasser dazugeben undwie oben fortfahren.

Gemüsesuppen

Zutaten für 2 Personen: 6 dl Wasser400 g KürbisSalz und Pfefferfrische Kräuter

bringen Abwechslung auf den Tisch

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Einst stand in Stabio ein prächtiges Schloss, bewohnt von einem gottesfürchtigenund strengen Herrn, der in seinem Leben viel für den Glauben und die HeiligeSache gekämpft hatte. Er, von hitziger und gewalttätiger Natur, führte aber auchunnütze Kämpfe um der Kämpfe willen mit seinen Nachbarn und Landsleuten.In seiner Wut muss er eines Tages, als er wieder einmal in Kriegsdiensten war, etwasFürchterliches getan haben, denn er kehrte in sein Schloss nach Stabio zurück,schloss sich ein und wollte niemanden mehr sehen, obwohl er einst zu denen ge-hörte, die an Festen und Turnieren noch so gerne teilnahmen. Man hörte ihnschluchzen wie ein Kind, man sah ihn, wie er mit den Händen ringende den Him-mel anflehte, doch niemand wusste warum. Dann verschwand er für Monate ausdem Dorf. Als er zurückkehrte war er umgeben von Freunden und Frauen. Vonda an wurden in seinem Schloss rauschende Feste gefeiert, Gelage und Schmause-reien, Lustbarkeiten und wilde Feiern, bei denen sich die Gäste auf alle möglicheWeise des Lebens zu freuen suchten. In ganz Stabio sprach man von nichts ande-rem mehr, als von diesen ausschweifenden Festivitäten und davon, dass dort Zau-berei und Hexerei mit im Spiel sein mussten. Die Leute schlugen das Kreuzzeichen,als sie vorübergingen. Monate später, es war ein Sonntag, im Schloss war erneutein wildes Gelage im Gang, und die Menschen sassen in der Kirche, um dem Got-tesdienst beizuwohnen, geschah es: In dem Augenblick, als der Pfarrer in der Kir-che das Allerheiligste in seinen Händen hielt und den Segen sprach, versank dasSchloss mit all den feiernden Menschen unvermittelt in der Tiefe, und über ihmbildete sich der kleine Lago di Peschiera. So führte der Herrgott den Menschenvon Stabio vor Augen, wie er Gericht über unsittliche Stätten hält.

Das Schloss von Stabio

eine Sage nach Walter Keller, erzählt von Bruno Festoni, Stabio, 1924

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Die alte Elisabetta hatte eine Freundin, die im Krieg im Maderanertal in der Svizzerainterna in der Käserei ihres Schwiegervaters aushalf, während die jungen Männer alsSoldaten an der Schweizer Grenze standen. Es sei eine entbehrungsreiche Zeit ge-wesen, mit viel Arbeit und wenig auf dem Tisch. Ob das Rezept für die Zuppa alla

Svizzera interna in der Not der Kriegszeit entstand,oder bereits früher, weiss Elisabetta nicht, sie weissnur, dass sie eine Köstlichkeit ist. Die Zubereitunghat sie auf die heutigen Verhältnisse angepasst: An-stelle von gehackten Fleischresten verwendet sie fri-sches Hackfleisch, die Butter ersetzt sie mitOlivenöl, und das Glas Weisswein zum Ablöschen –ci vuole! – das brauche es einfach. – Die angegebenenZutaten ergeben eine volle Mahlzeit für zwei Perso-nen oder eine Vorspeise für vier Personen. – Zur

Zubereitung: Die Zwiebeln werden zusammen mit dem Knoblauch in reichlich Oli-venöl gedünstet, bis sie leicht Farbe genommen haben, dann das Fleisch beigebenund kräftig anbraten. Zum Schluss den Lauch während rund 3 Minuten mitdünsten,immer wieder umrühren. Das Ganze mit dem Weisswein ablöschen, umrühren, dasWasser zugeben, abschmecken und zugedeckt während 30 Minuten leicht köchelnlassen. Anschliessend den in grobe Stücke geschnittenen Frischkäse und die Kräuterbeigeben, die Suppe auf kleinem Feuer ziehen lassen und immer wieder umrühren,bis der Käse vollständig geschmolzen ist. In vorgewärmten Suppentellern mit einemkräftigen Brot, zum Beispiel einem Roggenbrot, servieren. Dazu passt ein kräftigerRotwein.

Zuppa alla Svizzera interna

Zutaten für zwei Personen:200 g gemischtes Gehacktes1 grosse Zwiebel, fein gekackt2 Knoblauchzehen, fein gehackt1 Lauchstängel, fein geschnitten1 dl Weisswein3 dl Wasser150 g FrischkäseKräuter, fein gehacktOlivenöl, Pfeffer und Salz

ein Suppenimport aus der „Innerschweiz“, wie die Tessiner die Deutschschweiz auch nennen

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Hauptspeisen

Der Ur Putacin, ein Bohneneintopf, kommt in der kalten Jahreszeit auf den Tisch.Nahrhaft und kräftig, ist es ein traditionelles Arme-Leute-Essen, das, je nach Budget,

eben auch ohne die Zugabe von Speck, Brät und Lu-ganighe zubereitet wurde. Es schmeckt auch ohneFleisch hervorragend! Und wird anstelle der Rinds-eine fettfreie Gemüsebouillon verwendet, wird derEintopf perfekt vegetarisch. – Die Bohnen überNacht in viel Wasser einweichen. Die Pilze etwa 2Stunden in warmem Wasser aufquellen lassen, ab-schütten und grob hacken. Die Zwiebel im Olivenöldämpfen, Knoblauch, Pancetta, Pilze und das Brat-wurstfleisch dazugeben und mitrösten, das Toma-tenpüree einrühren. Mit der Bouillon auffüllen,Kräuter und Gewürze beigeben und aufkochen las-sen. Die abgetropften Bohnen beifügen, und dasGanze zugedeckt während 1 Stunde köcheln lassen,

dann die Kartoffelwürfel daruntermischen, gegebenenfalls Wasser beigeben. Die aufbeiden Seiten angebratenen Luganighe auf den Bohneneintopf legen und nochmalszugedeckt während 30 Minuten köcheln. Dazu passt ein kräftiger Merlot.

Ur Putacin, der Tessiner Bohneneintopf

Zutaten für 4 Personen: 200 g getrocknete weisse Bohnen400 g klein gewürfelte Kartoffeln1 gehackte Zwiebel2 gehackte Knoblauchzehen 1 Schweinsbratwurst (nur das feingehackte Brät)50 g klein geschnittene Pancetta(Bauchspeck)4 Luganighe20 g getrocknete Steinpilze 7 dl Rindsbouillon2 EL Tomatenpüree1 Rosmarinzweig, 1 LorbeerblattOlivenöl, Salz und Pfeffer

ein winterliches Eintopfgericht, bodenständig und nahrhaft, nach Peter P. Riesterer

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Wer sich in der italienisch sprechenden Welt im neuen Jahr Glück und Geldsegenwünscht, der isst in der Silvesternacht oder am Neujahrstag seit MenschengedenkenLinsen. Aber nicht nur dort, denn auch zum Beispiel das Handwörterbuch des deutschenAberglaubens verspricht dem, der zu Silvester Linsen verspeist, ein gefülltes Portemonnaieim kommenden Jahr. Kommt mit den Linsen auch noch Schweinisches auf die Teller,dann dürfte optimal für das künftige Wohlergehen gesorgt sein, ist doch die gute alte

Sau der Glücksbringer par excellence. Besorgen Siesich also einen Zampone di Modena. Zampone heisstgrosser Fuss und steht für eine deftige Mahlzeit: gefüll-ter Schweinsfuss. In ihm stecken zerkleinerte und ge-würzte Stücke von Schwarte, Schulter, Backe undHaxe des Schweins. Er wird in speziellen Öfen gegartund getrocknet, damit auch konserviert. Es lohnt sichallemal, die lange Zubereitungszeit des Zampone inKauf zu nehmen, er schmeckt wesentlich besser als

die Convenience-Produkte. – Zubereitung: Den Zampone während 12 Stunden in einergrossen Schüssel in Wasser einweichen. Anschliessend die Schwarte mit einer Nadelauf der ganzen Länge in drei Reihen einstechen und das Küchengarn darum lockern,das verhindert das Platzen während des Garens. Nun wird der Zampone in eine genü-gend grosse Pfanne gelegt, kaltes Wasser aufgefüllt, bis er bedeckt ist, und dann während4 Stunden auf schwacher Hitze geköchelt. Kurz vor Ende der Kochzeit die gehackteZwiebel in einer Pfanne im Olivenöl andünsten, die Linsen beigeben, kurz mitdünstenund mit dem Weisswein ablöschen. Bouillon auffüllen, bis die Linsen vollständig be-deckt sind, und das Ganze auf schwacher Hitze eine halbe Stunde garen lassen. DenZampone nach Ablauf der Kochzeit aus dem Wasser nehmen, in dünne Scheibenschneiden und mit den Linsen auf heissen Tellern servieren. Dazu passen rustikaleRotweine aus dem Piemont oder gehaltvolle Merlots aus dem Eichenfass. Und auf demfestlich gedeckten Tisch dürfen die rosa Marzipanschweine nicht fehlen!

Zampone mit Linsen

Zutaten für 4 bis 6 Personen: 1 Zampone von etwa 1 kg1 Zwiebel300 g Linsen1 Lorbeerblatt1 dl WeissweinGemüsebouillonOlivenöl, Salz und Pfeffer

das Gericht, das Glück im neuen Jahr bringt, im Tessin wird anstelle des Zampone ein Cotechino gekocht

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