Tetens (2013) - Der Naturalismus - Das Metaphysische Vorurteil unserer Zeit

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    ESSAY

    Die kulturelle Epoche, in der wir leben,nennt man zu Recht die wissenschaftlichtechnische Zivilisation. Ihr liegen zwei fndamentale Postulate zugrunde, und eineMehrheit der Menschen, vor allem die Mehrheit der Intellektuellen in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften ist berzeugt,dass diese beiden Postulate wahr sind: Das Postulat vom exklusiven Zugang derWissenschaften zur Wirklichkeit: Es sind dieWissenschaften und nur die Wissenschaften,die uns die Wirklichkeit imme r besser erkennen und verstehen lassen. Demgegenberverfehlen magische, mythische, religise undmetaphysisch-philosophische Weltzugnge,wie sie die Kulturgeschichte ebenso prgen,die eigentliche Realitt. Das Weltpe1:fektionierungspostulat: Indemwir die Ergebnisse wissenschaftlicher Welterkenntnis anwenden und unter Bedingungenkapitalistischer Produktion von Waren undDienstleistungen konomisch nutzen, schaffen wir eine stetig bessere Welt, in der immer mehr Ubel und Leiden aus ihr verschwinden.Es wre reizvoll, den Konsequenzen dieserbeiden Postulate genauer nachzugehen. Da-bei liee sich eine durchaus prekre Dialektik der wissenschaftlich-technischen Zivilisation entfalten (einige berlegungen in dieseRichtung habe ich angestellt in: Der Glaubean die Wissenschaft und der methodischeAtheismus. Zur religisen Dialektik der wissenschaftlich-technischen Zivilisation ; Erscheint in: Neue Zeitschrift fr systematischeTheologie und Religionsphilosophie, 2013,55 (3), S. 271-283).

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    Das erste Postulat lsst sich noch anders undkrzer formulieren. Die Erfahrungswirklichkeit, wie sie im Prinzip zutreffend durch dieErfahrungswissenschaften beschrieben underklrt werden kann, macht die ganze Wirklichkeit aus. Dabei wird sofort offenkundig,dass man diese Aussage zweifach, einmalradikal, das andere Mal gemigt lesen kann.Radikal formuliert sie zum Beispiel MichaelPauen (in: Das Leib-Seele-Problem, hrsgg.von Friedrich Herrnanni und Thomas Buchheim, 2006, S. 140) als die These, dass alleswas es gibt, grundstzlich in den Kategoriender Naturwissenschaften beschreib- und erklrbar ist. Ausgeschlossen werden damit dieExistenz und der Einfluss von immateriellenSeelen, Engeln, Wundern und anderen Entitten, die sich prinzipiell einer wissenschaftlichen Beschreibung und Erklrung entziehen. a.a.0.) Die Auffassung, die MichaelPauen in diesen Worten umreit, ist die reduktionistische Variante des Naturalismus.Sie ist auch bekannt unter den Bezeichnungen Physikalismus und Materialismus .Die gemigte oder nicht-reduktive Versiondes Naturalismus besagt, die Formulierungvon Pauen nachahmend, dass alles was esgibt, in den Kategorien der Erfahrungswissenschaften beschreib- und erklrbar ist, wobei ausdrcklich ausgeschlossen wird, dasssich alle Erfahrungswissenschaften in einemernstzunehmenden Sinne auf natmwissenschaftliche Theorien reduzieren lassen. Allerdings misst auch der gemigte Naturalismus den Naturwissenschaften eine herausgehobene Rolle zu. Denn fr den gemigtenNaturalismus ist alles, was es gibt, zwarnicht in den Kategorien der Naturwissenschaften beschreib- und erklrbar, abergleichwohl an materielle Prozesse gebunden , wie die Naturwissenschaften sie beschrieben und erklren. Das vage Wort ge-

    ESSAYbunden drckt eine Verlegenheit des gemigten Naturalismus aus, auf die ich noch zusprechen komme.Der Naturalismus, gleichgltig, ob gemigtoder reduktionistisch, ist ein stagnierendesund degeneratives metaphysisches Forschungsprogramm, und das im Grunde genommen schon sehr lange. Angesichts dieserSachlage wre es fr uns Philosophen naheliegend, die metaphysischen Konkurrentendes selber ja metaphysischen Naturalismus,nmlich die verschiedenen Versionen desDualismus auf der einen Seite, des Idealismus auf der anderen Seite viel ernster zunehmen und mit dem Naturalismus dialektisch abzugleichen. Das aber unterbleibt,weil wir in der Philosophie inzwischen weitgehend entwhnt sind, noch spekulative Me-taphysik zu betreiben. Man muss das Wortspekulative Metaphysik nur aussprechen,um bei hinreichend vielen Philosophen Entsetzen auszulsen. Entwhnt sind wir deshalb, weil unter Philosophen ein weit verbreitetes, hegemoniales weltanschaulichesVorurteil zugunsten des Naturalismus grassiert. Aus meiner Sicht sollten wir jedoch unsere einseitige Fixierung auf den Naturalismus aktiv bekmpfen und aufZulsen versuchen:. Um diese These soll es in den folgenden Uberlegungen gehen.Der Naturalismus, wie ich ihn oben definierthabe, ist eine Auskunft ber das Ganze derWirklichkeit und die Stellung des Menschenin ihr. Jeder, der eine solche Auskunft gebenmchte, steht im Wesentlichen vor zwei miteinander verschrnkten Aufgaben. Erstensmuss er in seiner Sicht vom Ganzen derWirklichkeit alle Arten von Entitten berzeugend unterbringen, deren Existenz manbeim besten Willen nicht ableugnen kann.Zweitens muss er zeigen, wie diese verschiedenen Arten von grundlegenden Entitten somiteinander zusammenhngen, dass darausdie Einheit der Wirklichkeit resultiert.Nun drngt sich die Existenz von zwei Artenvon Entitten derart auf, dass jedes metaphysische Panorama vom Ganzen der Welt mitihnen angemessen zurechtkommen muss. Da

    sind zum einen die materiellen Dinge undProzesse in der Welt, wie insbesondere dieNaturwissenschaften sie beschreiben und erklren. Da sind zum anderen wir Menschenals erlebnisfhige selbst-reflexive Ich-Subjekte. Jede ernstzunehmende philosophischeAuskunft ber das Universum und unserenPlatz in ihm ist daher mit der Frage konfrontiert: Wie haben wir uns die Wirklichkeit imGanzen vorzustellen, damit wir zugleich verstehen, wie in ein und derselben Welt materielle Dinge und Prozesse und zugleich erlebnisfhige selbstreflexive Ich-Subjektevorkommen knnen?Der Natmalismus weicht dieser Frage nichtaus, sondern wagt beherzt eine Antwort.Gleichwohl hat er von seinen Anfngen anbis zum heutigen Tag enorme Schwierigkeiten, uns verstndlich zu machen, wie einevermeintlich an sich rein materielle Erfahrungswelt erlebnisfhige selbstreflexive IchSubjekte mit ihrer spezifischen Binnen- oderErste-Person-Perspektive einschlieen kann.Ich mchte drei Argumente skizzieren, dieschlaglichtartig beleuchten, warum der Naturalismus in Bezug auf uns als Ich-Subjekte inallergrten Schwierigkeiten steckt.Das erste Argument findet sich im Wesentlichen bei Thomas Nagel (in: Der Blick vonNirgendwo). Es ist ein wunderbar einfachesArgument. Sollte sich die Wirklichkeit vollstndig durch die Erfahrungswissenschaftenbeschreiben und erklren lassen, msste siesich vollstndig aus der objektiven Beobachterperspektive beschreiben lassen. Der Leserstelle sich vor, er werde mit einer vollstndigen erfahrungswissenschaftlichen Beschreibung der Welt konfrontie1i. Dar in wird auchber alle Personen alles gesagt, was ber siezu sagen wre. Oder wrde doch etwas fehlen? Nun, fr jeden von uns wrde noch etwas Entscheidendes in dieser angeblich vollstndigen Beschreibung fehle q: Jeder vonuns msste sich noch sagen: Ubrigens, diePerson, von der da unter der BezeichnungN.N. so ausfhrlich die Rede ist, das bin ichselbst. Und diese Feststellung, obwohl frjeden von uns das A und 0, berhaupt Teilder Welt zu sein, diese Feststellung kme

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    ESSAYschon deshalb in der vermeintlich vollstndigen erfahrungswissenschaftlichen Beschreibung nicht vor, weil ber Personen erfahrungswissenschaftlich intersubjektiv mitEigennamen oder Kennzeichnungen geredetwerden muss, whrend unsere Selbstidentifizierung mit einer objektiv beschriebenenPerson nur mit dem indexikalischen Ausdruck Ich vollzogen werden kann. Daszeigt schon die Schwierigkeit, erlebnisfhigeselbstreflexive Ich-Subjekte und ilue besonderen Erste-Person-Perspektive verstndlichin einer objektiven, rein materiellen Welt zuplatzieren. Das ist das erste Argument.Nun zum zweiten Argument. Es geht ufLeibniz zurck. Eine moderne Version hatFranz von Kutschern jngst vorgelegt (DasLeibniz-Gesetz . in: Marcus Knaup TobiasMller Patrick Spt (Hg.), Post-Physikalismus. Freiburg/ Mnchen: Verlag Karl Alber2011; S. 234-244 . Das alltagspsychologische Vokabular, mit dem wir uns selbst, unsere Erlebnisse, unseren Gedanken und soweiter aus unserer Erste-Person-Perspektivebeschreiben, kann nicht definiert oder begrifflich expliziert werden mit Hilfe des naturwissenschaftlichen Vokabulars, mit demwir materielle Sachverhalte besclueiben.Mithin lsst sich aus rein physikalischenPrmissen niemals logisch-begrifflich ufmentale Sachverhalte schlieen. Dann aberscheitert eine rein physikalische Erklrungdes Mentalen. Dem1 eine Erklrung hat immer die Form eines Schlusses und eine physikalische Erklrung des Mentalen mssteein Schluss aus rein physikalischen Prmissen auf mentale Sachverhalte sein.Freilich scheitert am Ende melu als nur einerein physikalische Erklrung des Mentalen.Wer aus physikalischen Sachverhalten ufmentale Sachverhalte schlieen will, bentigtunter seinen Prmissen immer mindestensein Brckenprinzip, in dem sowohl physikalisches Vokabular als auch mentales Vokabular vorkommt. Doch solche Brckenprinzipien sind niemals begrifflich wahre Behauptungen. Vielmelu beinhalten sie harte,ihrerseits nicht weiter erklrbare Fakten. Genau deshalb bleibt es aber fr uns aus unserer

    Erste-Person-Perspektive auch weiterhin unverstndlich, warum wir als erlebnisfhige,selbstreflexive Ich-Subjekte in biologischenOrganismen verkrpert sind. Es gibt keinenfr uns erkem1baren notwendigen, intrinsischen Zusammenhang zwischen materiellenVorgngen, insbesondere keinen Zusammenhang zwischen neuronalen Vorgngen inder Welt und der Art und Weise, wie wir dieWelt und uns selbst erleben und uns unsererselbst bewusst werden.Eigentlich bentigen wir logisch-begrifflicheZusammenhnge zwischen Begriffen frPhysikalisches und Begriffen r Mentales.Da wir solche logisch-begriffliche Waluheiten fr den Zusammenhang zwischen demMentalen und Physischen nicht beibringenknnen, hat man in der naturalistischen Philosophie des Geistes versucht, die Notwendigkeit eines Gebundenseins des Mentalenan Physisches umzudeuten. Die einschlgigen Begriffe sind notwendige, aber empirisch entdeckte Identitt , funktionale Multirealisierbarkeit kausaler Rollen des Mentalen , starke lokale oder globale Supervenienz , Emergenz , Epiphnomen . Aberso raffiniert diese Begriffe auch eingefluisind, sie knnen am Ende nicht die Tatsacheaus der Welt schaffen, dass wir uns weiterhinalle physischen Vorgnge so vorstellen unddenken knnen, dass sie nicht mit mentalenVorgngen verbunden sind, insbesonderenicht mit der Erlebnis- und Gedankenwelt,wie sie jedem von uns in der Ich-Perspektivevertraut ist; und umgekelui erleben wir unsere Erlebnisse und Gedanken als Ich-Subjekteso, als ob sie mit physischen Vorgngen,insbesondere mit Hirnvorgngen nichts zutun htten. Deshalb mssen wir weiterhin zurKenntnis nehmen, dass erlebnisfhige selbstreflexive Ich-Subjekte zwar in der empirischen Welt in biologischen Organismen verkrpe1i sind, und wir trotzdem nicht verstehen, warum das so sein muss. Das ist daszweite Argument.Die Brckenprinzipien, ohne die das Mentaleund das Physische beziehungslos nebenein- anderstnden, nelunen in den gegenwrtigen\'empirischen Wissenschaften vom Mentalen

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    ESSAYdie Gestalt von Korrelationsbehauptungenan. Das ist nicht von Ungefhr so. Eine wissenschaftstheoretische Analyse knnteschnell zeigen, dass die Hirnforschung zumZusammenhang zwischen Gehirn und Geistnicht mehr beisteuern kann als solche Korrelationsaussagen bzw. Korrelationsgesetze.Gegenwrtig sind die explizit formuliertenKo1Telationsbehauptungen oder gar Korrelationsgesetze sehr ungenau, um nicht zu sagen: grobschlchtig. Das ist kein Vorwurf andie Hirnforschung. Es ist nur eine Feststellung, die sich ein gutes Stck damit erklrenlsst, dass es vertrackt schwierig ist, Gehirneunter realistischen Bedingungen in Aktion zubeobachten. Der Verweis auf Korrelationsbehauptungen ist allerdings ein Vorwurf andiejenigen Hirnforscher, vor allem aber andiejenigen Philosophen, die uns immer wieder weismachen wollen, Fortschritte in derHirnforschung wrden das Leib-Seele-Problem eines Tages lsen. Fortschritt in derHirnforschung kann nur in allmhlich immergenaueren und kleinteiligeren Korrelationsbehauptungen bestehen.Nehmen wir einmal an, wir verfgten bersehr genaue Korrelationsgesetze - wovonwir wie gesagt gegenwrtig Lichtjahre entfernt sind. Wre das Leib-Seele-Problemdann gelst? Mitnichten. Denn alle Spielarten des Naturalismus, aber ebenso alle dualistischen und idealistischen Lsungsanstzesind mit solchen K01Telationsbehauptungenvertrglich, gleichgltig wie genau sie formuliert sind. Jeder dieser Lsungsanstzewird die Korrelationsbehauptungen lediglichunterschiedlich interpretieren; und diese Korrelationsbehauptungen lassen sich auch unterschiedlich interpretieren, wobei die unterschiedlichen Interpretationen von Identittsbehauptungen, ber Kausalgesetze psychophysischer Wechselwirkungen bis zu bloenzeitlichen Koinzidenzen zwischen mentalenund physischen Ereignissen reichen. Es drfte klar sein, was daraus folgt: Die empirischeHirnforschung liefert in Wahrheit nur Ergebnisse, die mit jedem philosophischen Lsungsansatz zum Leib-Seele-Problem vereinbar sind. Mithin trgt die Hirnforschungnichts zu einer definitiven Lsung des philo-

    sophischen Leib-Seele-Problems bei. Das istmein drittes Argument.Alle drei Argumente laufen auf dasselbe hinaus. ewhren msste sich der Naturalismusgerade daran, dass er uns verstndlich erklrt, warum und wie materielle Prozesse erlebnisfhige, selbstreflexive Ich-Subjektehervorbringen oder zumindest warum erlebnisfhige, selbstreflexive Ich-Subjekte inbiologischen Organismen verkrpert vorkommen. Genau in dieser Frage tritt der Na-turalismus in Wahrheit auf der Stelle.In den empirischen Wissenschaften htteman angesichts eines Forschungsprogramms,das in einem entscheidenden Problem nichtvon der Stelle kommt, lngst nach Alternativen, auch nach radikalen Alternativen Ausschau gehalten. In der Philosophie jedochhalten viele Philosophen dem Naturalismusunverbrchlich die Treue. Warum?Die meisten dieser Philosophen sehen einfach keine Alternative zum Naturalismus.Den Naturalismus aufzugeben, heit, soglauben viele Philosophen, von der Orientierung an den empirischen Wissenschaften abzurcken und zu metaphysischen Positionenzurckzukehren, die ihre Mngel lngst hinlnglich unter Beweis gestellt htten.Nun, zunchst einmal ist festzuhalten, dasssich Naturalisten, wenn sie sich so rechtfertigen, zu Unrecht mit den Ergebnissen derempirischen Forschung.schmcken. Bis zumheutigen Tag behaupten nicht wenige Philosophen immer wieder, als Naturalist sei mannur an den Ergebnissen der empirischenWissenschaften orientie1i und vermeide jedemetaphysische Spekulation. Das ist so offenkundig falsch, dass man sich nur wundernkann, wie sehr diese Behauptung bei vielenPhilosophen immer noch verfngt. Kein Resultat der empirischen Wissenschaften beweist den Naturalismus, auch kumulativ beweisen die einzelwissenscha:ftlichen Forschungsresultate insgesamt nicht die Richtigkeit des Naturalismus. Jedes einzelwissenschaftliche Resultat beweist nur: Es gibt dieErfahrungswirklichkeit, in der unter anderem

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    olm Tetensdas jeweils angefhrte Resultat der Fall ist.Dass es eine Erfalu-ungswirklichkeit gibt undwir selu viel von ihr wissen, wer bezweifeltdas? Die These des Naturalismus ist dasnicht. Der Naturalismus behauptet, dass esnichts anderes als die Erfahrungswirklichkeitgebe. Ersichtlich kann man jedoch mit denMethoden der Erfalmmgswissenschaftennicht beweisen, dass es nichts gibt, was sichnicht mit den methodischen Mitteln der Erfaluungswissenschaften erke1men lsst.Man kann es auch ironisch formulieren: Na-turalisten halten sich immer wieder zugute,sie orientierten sich nur an von den Wissenschaften erhrteten Fakten und mssten nichtmetaphysisch spekulieren. Aber gerade indem sich nur an die Fakten der Wissenschaften halten, gehen sie einen entscheidenden Scluitt ber die Wissenschaften hinausund begmen sie selber metaphysisch zu

    Der Naturalismus ist eine metaPosition, keine wissenschaftlichoder gar selber eine einzelwissenscha:ftliche Position.Und weil das so ist, muss sich der NaturaIisnms mit den anderen metaphysischen Positionen messen lassen. Denn schon rein logibt es auf die Frage, wasim Ganzen ausmacht undwelche Stellung insbesondere der Mensch in

    ihr einnimmt, drei prinzipiell mgliche Antworten. Zum ersten die naturalistische Antwort, die auf einen ontologischen Monismusdes Materiellen hinausluft, zum zweiten diedes Idealismus, die einen Monismus desGeistigen behauptet, und schlielich dieAntwort des Dualismus oder Pluralismus.Und jede dieser drei grundstzlichen Antworten auf die Frage nach der Wirklichkeitim Ganzen und der Stellung des Menschen inilu lsst sich so vertreten, dass keine mit irgendeinem Resultat der Einzelwissenschaften in Konflikt gert.Der Naturalismus ist eine metaphysische Position. Als Metaphysik konkurriert er mit denzwei anderen metaphysischen Weltauffassungen des Idealismus und Dualismus undmuss sich dem Wettbewerb von Grndenund Gegengrnden stellen, die sich fi ir odergegen die verschiedenen metaphysischenDeutungen der Wirklichkeit ins Feld fhrenlassen. Einzelwissenscha:ftliche Resultatezhlen nicht zu diesen Grnden.Was ist eine metaphysische Position? ImHintergrund meiner Auffassungen stehtWilhelm Diltheys ungemein aufschlussreichePhilosophie der Philosophie mit ihrer Lehrevon den philosophischen Weltanschauungen.Erstens verstehe ich unter einer metaphysischen Position eine grundstzliche Antwortauf die schon mehrfach formulierte Frage,was die Wirklichkeit im Ganzen und die besondere Stellung des Menschen in ihr ausmacht. Jede Antwort zeichnet ein Bild vonder Wirklichkeit im Ganzen, man knnteauch von einem Panorama auf die Wirklichkeit im Ganzen, einem Weltbild oder, wieDilthey, von einer grundstzlichen Anschauung der Welt reden. Zweitens gibt jede metaphysische Position ihre Antwort auf dieFrage nach der Wirklichkeit im Ganzen aufder Grundlage gewisser fundamentaler Rahmenannahmen, die ihrerseits weder definitivzu beweisen noch definitiv zu widerlegensind, weil sie die Rolle transzendentalerPrinzipien spielen. Alle Erfahrungen werdenerst im Lichte der jeweiligen fundamentalenRahmenannahmen gedeutet und diese legenauch erst fest, was durch eine Erfahrung be-

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    ESS Ywiesen, was durch sie widerlegt werdenkann.Das klingt erst einmal so, als ob philosophische Weltanschauung neben philosophischerWeltanschauung stnde und als ob es wedermglich noch ntig wre, die philosophischen Weltanschauungen miteinander zuvergleichen und zwischen ihnen mit Argumenten und Gegenargumenten zu streitenund zu entscheiden. Dieser Eindruck trgt.Warum? Philosophische Weltanschauungenantworten auf dieselbe Frage. Die unterschiedlichen Antworten bilden logisch-begriffliche vollstndige Fallunterscheidungen,beginnend mit der allgemeinsten Einteilungder metaphysischen Systeme in naturalistische, idealistische und dualistische. Deshalbsind philosophische Weltanschauungen miteinander vergleichbar: Sie k1men nicht allegleichzeitig wahr sein. Aber eine von ihnenmuss wahr sein. n diesem prinzipiellenWahrheitsanspruch der verschiedenen philosophischen Weltanschauungen und damitauch an ihrem Ausschlussverhltnis ist unbedingt festzuhalten.Trotzdem mssen wir zugleich eimumen,dass metaphysische Positionen nicht definitivbewiesen oder widerlegt werden knnen. Jede dieser Positionen besclueibt eine interessante Mglichkeit, wie es um die Wirklichkeit im Ganzen und die Stellung des Menschen in ilu bestellt sein knnte. uch derNaturalismus ist selbstverstndlich nicht widerlegt. Er k1mte prinzipiell die richtigeAuskunft ber die Wirklichkeit sein. Dasmag den Leser verwirren, nachdem der Naturalismus oben wenig freundlich ein stagnierendes Forschungsprogramm genaimt wurde.Doch haben meine Argumente nicht meingezeigt, als dass der Naturalismus, zugegeben an zentraler Stelle, in erheblichen Problemen steckt und mit ihnen nicht berzeugend zurechtkommt.Es lsst sich kurz begrnden, warum der Na-turalismus nicht definitiv zu widerlegep ist.Jede metaphysische Position muss ein Uberlegungsgleichgewicht herstellen zwischenontologischen und epistemischen Behauptungen. Das ist von der Fragestellung der

    Metaphysik her vollkommen verstndlich.Die Metaphysik fragt nach dem Ganzen der:Wirklichkeit. Sie fragt deshalb nie nur onto-ilogisch, was tatschlich alles der Fall ist.Vielmelu sind Tatsachen wie die, dass wirmetaphysisch nach dem Ganzen der Wirklichkeit fragen, dass wir in der Wel t als W esen vorkommen, die sich um Erke1mtnis bemhen, selber Momente der Wirklichkeit,ebenso wie es ein Moment der Wirklichkeitist, ob und welche Antworten wir auf unsereFragen erhalten. Die Metaphysik muss daherilue ontologischen Ausknfte immer in einenverstndlichen Zusammenhang bringen mitihren epistemologischen Ausknften darber,was wir fragen, mit welchen Mitteln wir dieFragen beantworten und welche Antwortenwir auf unsere Fragen erhalten. Ihre ontologischen und e p i s t e m o l o g ~ s h e n Antwortenmssen ein kohrentes Uberlegungsgleichgewicht bilden, das auerdem in der Selbstanwendung auf die betreffende metaphysi-isehe Position nicht auf einmal als inkohrentauseinanderfallen darf.Wenden wir diese metaphilosophische berlegung auf den Naturalismus an. Er definie1isich ber die These, dass es nur die materielle Erfahrungswirklichkeit gibt. Diese Theseist weder beweisbar noch widerlegbar. DieArgumente, die oben gegen den Naturalismus vorgetragen wurden, weisen darauf hin,dass sich das Mentale nicht blo als etwasMaterielles verstehen lsst. Muss der Natura-list sich deshalb geschlagen geben? Nein.\Denn er kam1 so argumentieren: Es gibt nur_die materielle Wirklichkeit. ber zugegeben,wir haben Probleme, das Mentale als blo'Materielles zu verstehen. Die beste Erklrung dafr jedoch ist, dass bestimmte Aspekte des Materiellen fr uns nicht erke1mbarlsind." Diese Argumentati on ist hier nur in ih-1rer Grundstruktur skizziert. In Collin Mc-iGms Buch Die Grenzen vernnftigen Fra-igens" (Klett-Cotta, Stuttgai1, 1996) lsst sich\unter dem Titel transzendentaler Naturalismus'.'. genauer nachlesen, wie ein Naturalistjein Uberlegungsgleichgewicht zwischen on- tologischen und epistemischen Aussagen soherzustellen versucht, dass die ontologische

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    ESSAYGrundthese des Naturalismus unangetastetbleibt.Mit diesen Hinweisen drfte deutlicher werden, inwiefern einer metaphysischen Positionbestimmte Rahmenannahmen zugrunde liegen, die eine transzendentale Rolle in demSinne spielen, dass unserer Erfahrungen immer in ihrem Lichte gedeutet werden. Wennman unsere Schwierigkeiten, das Mentale alsetwas blo Materielles zu verstehen, imLichte der naturalistischen Grundaimahmedeutet kaim man mit dem Schluss auf diebeste Erklrung daraus schlieen, dass unsbestimmte Aspekte der materiellen Wirklichkeit epistemisch nicht zugnglich seinknnen. So wird die Grundthese des Natura-lismus gar nicht erst zur Disposition gestellt.Im Einzelfall sind die Argumente natrlichraffinierter, als es in diesem Beispiel angedeutet werden kann.In diesem Sinne knnte der Naturalismus,jedenfalls der gemigte, nicht reduktionistische Naturalismus, trotz seiner unbersehbaren Schwierigkeiten wahT sein. Er bleibt eineernsthafte Mglichkeit, wie es um die Wirklichkeit als Ganze und unsere Stellung in ihrgrundstzlich bestellt sein kimte. Doch genauso gut knnte der Naturalismus auchfalsch sein, und die Schwierigkeiten, in denen er steckt, knnten darauf hindeuten, dasser falsch und statt seiner der Dualismus oderder Idealismus in der einen oder anderenVersion wam ist.Steht in metaphysischen Fragen Mglichkeitneben Mglichkeit? Keine der Mglichkeitenist definitiv beweisbar, keine definitiv widerlegbar. Jede metaphysische Position ka msich, wie wir eben gesehen haben, d e ~ Kritikerwehren. Sie muss dazu nur das Uberlegungsgleichgewicht zwischen ontologischenund epistemischen Aussagen so austarieren,dass sie bei ihrer ontologischen Generalthesebleiben kann. Immunisiert sich damit nichtjede Position selbst? Macht das kontroverseWechselspiel von Argument und Gegenargument zwischen verschiedenen metaphysischen Positionen berhaupt noch Siim?

    Wir haben es beim Naturalismus, Idealismusund Dualismus mit drei grundstzlichen Optionen zu tun, die eine vollstndige Fallunterscheidung darstellen. Genau eine der dreiPositionen muss wam sein. Die Positionenverhalten sich kontrr zueinander, je zweider Positionen knnen nicht beide wahr, sehrwohl aber beide falsch sein. Jedes Argumentzugunsten der einen Position ist zugleich einArgument gegen die jeweils beiden anderenPositionen. Jedes Argument gegen eine derPositionen ist ein Argument fr die dannvereinfachte Alternative der beiden jeweilsverbleibenden Positionen und damit tendenziell ein Teilargument fr eine der zwei restlichen Positionen. Die oben vorgetragenenArgumente gegen den Naturalismus, dasdrfte offenkundig sein, sind erst einmal zugleich Argumente fr den Dualismus (undmglicherweise sogar fr den Idealismus).So betrachtet ist die dialektische Auseinandersetzung zwischen den drei grundstzlichen metaphysischen Positionen im Grundegenommen unvermeidlich. Jede der drei Positionen muss ausgearbeitet und entwickeltwerden. Das kann nicht anders als ber Argumente fr oder gegen die betreffende Position geschehen. Jedes Argument fr oder gegen eine der Positionen ist jedoch in WahTheit ein Argument gegen oder fr die beidenanderen Optionen. Je ernster man die beidenPositionen argumentativ nimmt, die maneigentlich ablehnt, desto mehr tut man fr diePosition, die man selber favorisie1i. Philosophen sollten daher den leidenschaftlichenStreit zwischen den verschiedenen metaphysischen Weltanschauungen suchen.Allzu viel ist gegenwiiig von diesem lebendigen, leidenschaftlichen Streit in der Philosophie um und zwischen den verschiedenenWeltanschauungen nicht zu spren. Warum?Weil sich viel zu viele Philosophen vonvornherein auf den Naturalismus und nur aufihn eingeschworen haben. Und weil sie glauben, dass der Dualismus oder der Idealismus,gar zum Beispiel ein theistischer Idealismusdoch schon lange jeden rationalen Kreditverspielt htten und zu Recht mausetot seien. In meinen Augen ist das ein beklemmen-

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    ESSAYdes Vorurteil in der akademischen Philosophie. Dieses Vorurteil ist eine fatale sichselbst erfllende Prophetie. Die meisten vonuns sind angesichts des Vorurteils zugunstendes Naturalismus vollkommen entwhnt,ber den Dualismus und den Idealismus nochernsthaft und genauso grndlich nachzudenken, wie sie ber den Naturalismus nachzudenken bereit sind. Doch in dem Mae, wieman ernsthaft nicht mehr ber den Dualismus und den Idealismus nachdenkt, scheinendiese beiden Positionen auch des Nachdenkens nicht mehr wert zu sein. Sie werden lediglich zur Abschreckung nur noch in denKarikaturen prsentiert, die Naturalisten vonihnen in der Regel zeichnen. Von vornhereinerscheint allein der Naturalismus als die einzige akzeptable Option, deren prinzipielleRichtigkeit nicht ernsthaft in Frage gestelltwerden knne und ber die im Grundstzlichen sich deshalb auch nicht mem nachzudenken lohne. Angeblich sind nur noch De-tails des Naturalismus zu klren, alle selbstverstndlich von Anfang an im transzendentalen Rahmen des Naturalismus.Und so nehmen leider wenige Naturalistenwahr, dass der Nat11ralismus nur scheinbarblht. r blht nmlich nur insofern, als unglaublich viele Details auf hchstem logischen und begrifflichen Niveau diskutiertund aufgegriffen werden, die ganze Jahrgnge philosophischer Journals fllen. Dochmacht diese Blte naturalistischer Detaildiskussionen allzu schnell vergessen, wie oft essich nur um eine Scheinblte handelt. De1mviele der berlegungen sind in Wahrheit Logeleien und Formen einer Scholastik derSpitzfindigkeiten, ber die sich vielleichtsptere Generationen einmal so lustig machen werden wie wir uns ber die Frage dermittelalterlichen Philosophie, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz haben. DieseBlte des Naturalismus in den Detaildiskussionen ist bestens dazu geeignet, die Tatsache zu verdecken, wie sehr der Naturalismusim Grundstzlichen auf der Stelle tritt undstagniert.Argumentationstheoretisch scheint mir klarzu sein, was eigentlich auf der Tagesordnung

    der Philosophie stehen sollte. Es wren dieTren wieder weit zum Dualismus und Idealismus zu ffnen und auch diese Positionenso detailliert auszuarbeiten, wie das gegenwrtig hauptschlich und vllig einseitig undallzu detailverliebt nur fr den Naturalismusgeschieht. Vorbildliche philosophische Arbeit in diesem Sinne leistet in Deutschlandschon lange Franz von Kutschern (siehe seine Bcher Jenseits des Materialismus undWege des Idealismus .Allein: Wann geht endlich wieder ein Ruckdurch die Reihen der akademischen Philosophen? Wann werden endlich die Tore zu denAlternativen zur Metaphysik des Naturalisnrns wieder weit aufgerissen? Knnte essein, dass die Fixierung weiter Teile der akademischen Philosophie auf den Naturalismusetwas zu tun haben knnte mit der Verquickung des naturalistischen Postulats des exklusiven Zugangs der Wissenschaften zurRealitt mit dem Weltperfektionierungspostulat der wissenschaftlich-technischen Zivilisation? Ich lasse diese Frage und den ideologiekritischen Verdacht, der sich in ihr andeutet, unerrtert als Provokation am Schlussso stehen.UNSER AUTOR:olm Tetens ist Professor fr theoretischePhilosophie an der FU Berlin. Im Herbst erscheint bei C.H. Beck sein Buch Wissenschaftstheorie. Eine Einfhrung (128 S.,pbk., 8.95, Beck sche Reihe )

    Von der Redaktion gekrzte Fassung einesVortrages im Rahmen des Kolloquiums desInstituts fr Philosophie der UniversittMagdeburg

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