Text für das SOFI-Forschungskolloquium

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Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen SOFI Text für das SOFI-Forschungskolloquium am 21. November 2008 Amartya Sens wohlfahrtstheoretischer Ansatz: Verwirklichungschancen als Konzept zur Beurteilung von Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik? Peter Bartelheimer René Büttner Jürgen Kädtler

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Microsoft Word - Amartya Sen 21-11-2008.docvon Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik?
Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik?
1. Warum Sen? ............................................................................................................. 2
Bedingungen von Individualisierung ....................................................................... 3
Sozialberichterstattung ............................................................................................. 4
2.2 Zentrale Kategorien bei Sen ............................................................................... 9
3. Hindernisse der Umsetzung und mögliche Lösungswege...................................... 22
3.1 Erschließung der Auswahlmenge ..................................................................... 22
3.2 Eingrenzung und Aufbau der Informationsbasis .............................................. 32
3.3 Zum Verhältnis von Ressourcen und Umwandlungsfaktoren.......................... 36
4. Sen und die Folgen – Risken und Nebenwirkungen .............................................. 37
4.1 Der Einzelne und seine Verwirklichungschancen............................................ 37
4.2 Der Capability-Ansatz im Lebensverlauf......................................................... 40
5. Anwendungsfälle .................................................................................................... 42
5.1 Beschäftigungsfähigkeit als Verwirklichungschance....................................... 43
1. Warum Sen? Der wohlfahrtstheoretische Ansatz der Verwirklichungschancen (capabilities), der vor allem mit dem Namen des Ökonomen Amartya Sen verbunden ist, hat in den zehn Jah- ren, seit dieser 1998 den „Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften“ 1 erhielt, in inter- nationalen ökonomischen und sozialwissenschaftlichen Debatten wachsende Beachtung erfahren.2 Auf die für Politik und Wissenschaft gleichermaßen entscheidende Frage: „Ungleichheit von was?“, antwortet die an Sen orientierte Wohlfahrts- und Ungleich- heitsforschung: Ungleichheit der Verwirklichungschancen. Für die Rezeption dieses Konzepts von Wohlfahrt, Armut oder Ausgrenzung in Deutschland gelten zwei Beson- derheiten. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales verwendet seit 2005 in der Armuts- und Reichtumsberichterstattung des Bundes einen weiten Begriff von Armut als Mangel an Verwirklichungschancen; der von Sen vorgeschlagene Bewertungsmaß- stab für Gleichheit findet damit Eingang in die Regierungspolitik und seine Operationa- lisierung in der Ressortforschung wird politikrelevant. Und in Deutschland tritt das Konzept der Verwirklichungschancen neben den älteren wohlfahrtstheoretischen Ansatz der Lebenslage, der Sozialberichterstattung und Sozialpolitik seit den 70er Jahren als multidimensionales Konzept für Armut und Benachteiligung diente (Andretta 1991; Voges u.a. 2003; Leßmann 2007). Für die Fragestellung von Sen kann dieser – in Göt- tingen entwickelte – Lebenslagenansatz mit guten Gründen vorrangige Originalitätsan- sprüche erheben. Damit stellt sich die Frage nach den Gemeinsamkeiten beider Ansätze und ihrem Verhältnis zu einander. Sen hat also heute nicht unbedingt deshalb Konjunktur, weil seine Fragestellung völlig neu wäre. Doch aus der Innovationsempirie ist bekannt, dass häufig der „second mover“ den eigentlichen Durchbruch schafft. Was das Konzept der Verwirklichungs- chancen dem Lebenslagensansatz voraus hat, sind zunächst einmal Englischsprachigkeit und die disziplinäre Verankerung als ökonomischer Diskurs – das Konzept der Lebens- lage wurde über die deutschsprachige Nische hinaus kaum wahrgenommen.3 Das wach- sende Interesse an Sen könnte aber auch mit der zunehmenden – oder zunehmend wahr- genommenen – Brisanz der aufgegriffenen Ungleichheitsfragen zu tun haben. In diesem Papier können beide Ansätze nicht vergleichend bewertet werden – hierfür sei auf den systematischen Vergleich bei Leßmann (2007) verwiesen. Es geht vielmehr darum, das Konzept Sens darzustellen und seine Eignung für die Erfassung sozialer Ungleichheit zu erörtern.
1 Preis der ‚Bank of Sweden’ im Gedenken an Alfred Nobel 2 Einen Überblick vermittelt die Website der Human Development and Capability Association:
http://www.capabilityapproach.com/ 3 Allerdings stellt sich für die Wohlfahrtsmessung und Sozialberichterstattung im internationalen Rah-
men die durchaus vergleichbare Frage, wie weit sich die Anliegen von Sen bereits im Konzept der Lebensqualität (quality of life) finden (Noll 2000).
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Wohlfahrtstheorien müssen allgemeine Aussagen über gesellschaftliche Wohlfahrt er- möglichen, während sich Wohlfahrt immer auf individuelle Lebensführung und die in deren Rahmen verfolgten Ziele bezieht. Dass der Umbruch des fordistischen Produkti- ons- und Sozialmodells mit einer wachsenden Vielfalt von Arbeits- und Lebensverhält- nissen einher geht, macht diese Aufgabe anspruchsvoller. Beschäftigungsverhältnisse differenzieren sich aus; zwar bleibt das Normalarbeitsverhältnis normativ prägend, doch sein Anteil ist kontinuierlich rückläufig. Erwerbsverläufe werden entstandardisiert, dif- ferenziert und pluralisiert, es entsteht ein breites Spektrum unterschiedlicher Muster zwischen dauernder Beschäftigung und Dauerarbeitslosigkeit. Der Begriff der Individu- alisierung verweist auf eine zunehmende Vielfalt von Sozial- und Interessenlagen, die nur zum Teil auf Veränderungen im Beschäftigungssystem zurückzuführen sind. Zugleich erodiert der fordistische Konsens, der das Wirtschaftsmodell bislang flan- kierte und der insbesondere die Unterscheidung zwischen legitimer und illegitimer Un- gleichheit zum Gegenstand hatte: Beteiligung am gehobenen Massenkonsum und Siche- rung des Familienunterhalts durch das Erwerbseinkommen, wobei der Sozialstaat Ge- fährdungen und Ungleichheiten korrigiert. Dieser Teilhabemodus funktioniert für den wachsenden Teil der Erwerbsbevölkerung nicht mehr, der in unsicheren Erwerbsmus- tern keine existenzsichernde Einkommen, keine „Familienlöhne“ und keine Versor- gungsansprüche an das im deutschen Sozialstaat dominante System der Sozialversiche- rung aufbauen kann. Und er unterstellt Geschlechterarrangements, die nicht mehr all- gemein akzeptiert sind: Das Leitbild des Familienernährers verliert seinen allgemeinen Geltungsanspruch; mit zunehmend individualisierten Erwerbsansprüchen von Frauen entstehen verschiedene Modelle familialer Arbeitsteilung. Damit wird es schwieriger, Sozialstrukturen anhand weniger Statusmerkmale zu analysieren und zwischen wünschenswerter Vielfalt und sozialpolitisch zu bekämpfen- der Ungleichheit zu unterscheiden. Zugleich nimmt als Reaktion auf die Auffächerung von Soziallagen und Beschäftigungsverhältnissen, aber auch als Konsequenz aus der neoklassischen Wende von keynesianischer Globalsteuerung zu angebotsorientierter, „aktivierender“ Politik die Bedeutung individualisierter Leistungen und Hilfen in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zu. Für die Planung und Evaluation von Programmen und Interventionen reicht es immer weniger aus, vor allem Input- und Outputindikato- ren (Ressourceneinsatz und Leistungen sozialstaatlicher Institutionen) zu beobachten und ihre Wirkungen als gesichert zu unterstellen. Eine Sozialberichterstattung, die sich darauf beschränkt, Wohlfahrtserträge anhand weniger Dimensionen, etwa mittels Ar- mutsquoten und Verteilungskennzahlen zu messen, vermag die Sozialstruktur nicht mehr angemessen zu beschreiben. Die Frage nach dem Verhältnis der „Wohlfahrtspro- duzenten“ (Markt, Haushalte, Staat, intermediäre Organisationen) und nach den Mecha- nismen individueller Teilhabe, die in den 70er Jahren noch im ursprünglichen Arbeits-
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1.2 Armut, Ausgrenzung, Verwirklichungschancen – europäische Einbettung der Sozialberichterstattung
Wohlfahrtsökonomie, Sozialberichterstattung und Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik müs- sen für ihren Bereich die Frage beantworten, um welche Art von Gleichheit / Ungleich- heit es ihnen geht. Vom Bewertungsmaßstab hängt ab, welche Informationen zur Be- wertung von Institutionen und Programmen sozialer Sicherung heranzuziehen sind (zum Begriff der Informationsbasis bei Sen vgl. unten: 2.2 und 4.2). Bereits in den 80er Jahren hatte sich der Schwerpunkt des Interesses in der Sozial- berichterstattung von der Dauerbeobachtung des Wandels in den allgemeinen gesell- schaftlichen Lebensbedingungen zur Beobachtung von Ungleichheit und „neuer Armut“ verlagert. Seither haben der deutsche sozialwissenschaftliche Diskurs zu sozialer Un- gleichheit und die wissenschaftsgestützte Sozialberichterstattung mehrfach Verände-
4 Castel (2000: 412) bezeichnet damit die Folgen der Individualisierung für Personen in den gesell-
schaftlichen Zonen der Verwundbarkeit und Ausgrenzung, „die ihre Individualität als ein Kreuz tra- gen, weil sie für einen Mangel an Bindungen und das Fehlen von Absicherungen steht“.
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rungen in den Leitkonzepten der europäischen Sozialpolitik nachvollzogen. In Anleh- nung an den englischen Sozialwissenschaftler Townsend (1979) verwendeten die ersten beiden Armutsbekämpfungsprogramme der EU (1975-1980 und 1986-1989) einen wei- ten Armutsbegriff: Als arm galten danach Personen, Familien und Gesellschaftsgrup- pen, „die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebenswiese ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist“ (Kommission 1991: 4). Vor dem Hintergrund dieser Defi- nition bildete sich in den 80er Jahren bei den verschiedenen Akteuren der deutschen Sozialberichterstattung fachlicher Konsens darüber heraus, einkommensbezogene Ar- mutsmaße mit komplexeren, mehrdimensionalen Konzepten mehrfacher Unterversor- gung (Deprivation) und benachteiligter Lebenslagen zu verbinden (Bartelheimer 2004). Die Lebenslage Armut stand dabei für eine Einschränkung des Spielraums, der dem Einzelnen in einer gegebenen Gesellschaft zur Entfaltung und Befriedigung seiner wichtigen Interessen mindestens zur Verfügung stehen sollte (Nahnsen 1975: 148). Das dritte Armutsbekämpfungsprogramm der EU (1990-1994) markiert eine Begriffsver- schiebung von Armut zu Ausgrenzung, von der Ressourcenverteilung zu mangelnder sozialer Teilhabe oder Integration. Doch während in den letzten Jahren über Armuts- messung eine methodische Annäherung gelang, fehlt der Sozialberichterstattung, wo sie über Einkommen und Versorgung hinaus zu gehen versucht, eine sozialwissenschaftli- che Verständigung über die Bedeutung von Ausgrenzung und ihre Messung; dem Beg- riff drohte eine inhaltsleere, inflationäre Verwendung als „Allzweckwort“ (Böhncke 2002: 46). Für die neuen Verhältnisse zunehmender sozialer Ungleichheit stellen die Sozialwissenschaften derzeit kein gefestigtes und geklärtes „Vokabular sozialer Un- gleichheit“ (Vogel 2006: 342) zur Verfügung. Das unterste Gesellschaftssegment wird in wechselndem Sprachgebrauch als arm, als prekär, ausgegrenzt oder „überflüssig“ angesprochen, ohne dass diese Begriffe mit dem gesellschaftstheoretischen Gehalt des Lebenslagenbegriffs (Sell 2002: 7) verbunden wären. In dieser Situation legte die Bundesregierung 2001 den ersten amtlichen Armuts- und Reichtumsbericht für die Bundesrepublik vor. Mit dem zweiten Bericht, der 2005 erschien, berief sich das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) als feder- führendes Ressort erstmals auf Verwirklichungschancen als methodisches Leitkonzept. Der dritte Armuts- und Reichtumsbericht (Bundesregierung 2008: 1 f.) bekräftigt den Anspruch, Armut als „Mangel an Verwirklichungschancen“ und Reichtum als „sehr hohes Maß an Verwirklichungschancen“ zu beobachten, und beantwortet die Frage nach dem sozialstaatlichen Ziel, mehr Gleichheit herzustellen, entsprechend. Ein nicht zu unterschätzendes Motiv für diese Berufung auf Amartya Sen dürfte darin liegen, dass es einen methodischen Anschluss an normative Diskurse und Be- richtskonzepte auf internationaler Ebene verspricht (vgl. z.B. die Bezugnahme auf Sen
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und auf eine „Politik der Gleichheit von Möglichkeiten“ im Weltentwicklungsbericht 2006 (Weltbank 2006: 92)).5 Wie Leßmann (2007) gezeigt hat, unterstellt das BMAS zu Recht, dass sich das Konzept der Teilhabe- und Verwirklichungschancen mit dem Lebenslagenansatz ver- binden lässt: „Beide Ansätze erweitern die Bemessung der Wohlstandsposition über traditionelle Einkommensanalysen hinaus auf Lebenslagedimensionen wie Gesundheit, Bildung oder Wohnen. Es wird dabei an den beobachteten Unterschieden der Lebensla- gen und damit den Teilhabeergebnissen angesetzt. Das Konzept der Teilhabe- und Ver- wirklichungschancen fragt darüber hinaus auch danach, inwiefern diese Unterschiede auf ungleiche Verwirklichungschancen zurückzuführen sind. Ziel sozialstaatlichen Han- deln ist es, Ungleichheiten bereits bei den zur Verfügung stehenden Chancen zu redu- zieren. Alle müssen die Chance erhalten, ihre individuellen Möglichkeiten auszuschöp- fen.“ Dazu sei es erforderlich, dass „zu individuellen Potenzialen entsprechend förderli- che gesellschaftliche Realisierungschancen hinzu kommen, die eine Person tatsächlich in die Lage versetzen, von der eröffneten Teilhabechance Gebrauch zu machen“. Für die Berichterstattung bedürfe es daher „langfristig gesellschaftlicher Maßstäbe für rele- vante Lebensbereiche, die beschreiben, wovon niemand ausgeschlossen sein soll“. Dies gelte nicht nur bei der materiellen Absicherung existenzieller Risiken, sondern auch bei der Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme und des Bildungssystems oder auf dem Arbeitsmarkt. (Alle Zitate ebd.: 1 f.) Bei seiner methodischen Festlegung stützt sich die Armuts- und Reichtumsbericht- erstattung des Bundes auf Expertisen im Rahmen der Ressortforschung, die wesentlich zur „Eindeutschung“ des Konzepts von Sen beigetragen haben (Volkert u.a. 2003; Vol- kert 2005; Arndt u.a. 2006). Jedoch zeigt sich auch im dritten Bericht, dass eine für po- litische Akteure handhabbare konzeptionellen Integration und Operationalisierung von Verwirklichungschancen und Lebenslagen bislang nicht gelungen ist. Zu konstatieren ist, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, nicht in erster Linie ein Umsetzungsdefizit, also etwa die unzulängliche Übersetzung eines wissenschaftlichen Konzepts in die poli- tiknahe Berichterstattung. Das Problem liegt vorläufig im Feld der Wissenschaft selbst, also in Ambivalenzen, Unschärfen und methodischen Problemen des Ansatzes von Sen.6
5 Sen entwickelte sein Konzept nicht zufällig mit Blick auf entwicklungspolitische Fragestellungen
und Zielsetzungen. Es soll ein einheitliches Konzept der Wohlfahrtsmessung für Länder mit ganz un- terschiedlichen Entwicklungsniveaus und Positionen im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung anbieten – ein Aspekt, der in diesem Papier nicht weiter behandelt werden kann.
6 Gleiches gilt allerdings, wie etwa Voges u.a. (2003) und Leßmann (2007) zeigen, weiterhin auch für den Lebenslagenansatz. Der pragmatische Konsens in der lebenslagenorientierten Sozialberichter- stattung, die Einkommensschichtung um Darstellung und Analyse sozialstruktureller Ungleichheit in verschiedenen Dimensionen des Lebensstandards und der Lebensführung zu ergänzen, wird jeden- falls dem zentralen Anspruch des Lebenslagenansatzes, Gesellschaftsstruktur und individuelle Lage aufeinander zu beziehen, noch nicht gerecht.
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Dass das BMAS sich auf Verwirklichungschancen und Lebenslagen als Maßstab für die Bewertung sozialstaatlicher Leistungen festgelegt hat, dürfte auf mittlere Sicht Stan- dards auch für die politiknahe Sozialberichterstattung auf Ebene der Länder und der Kommunen setzen und mittelfristig auch die wissenschaftsgestützte Berichterstattung beeinflussen. Die Sozialwissenschaften sind daher gefordert, ausgehend von den wohlfahrtstheo- retischen Gemeinsamkeiten zwischen dem deutschen Lebenslagendiskurs und dem An- satz von Sen ein Konzept gesellschaftlicher Teilhabe zu präzisieren, das zu zeigen ver- mag, wie viel Gleichheit der individuellen Teilhabe öffentliches Handeln schafft, ob also sozialstaatliche Institutionen die Gleichheit der Chancen erhöhen, sich gesellschaft- liche Möglichkeiten individuell zu eigen zu machen. In diesem Auftrag liegt für anwen- dungsorientierte Grundlagenforschung die Chance, nichtmonetäre Ungleichheitsdimen- sionen bei der empirischen Beschreibung der Sozialstruktur besser zu berücksichtigen und durch praktikable Vorschläge zu ihrer Operationalisierung in Sozialberichterstat- tung und Evaluation auf die Informationsbasis zur Bewertung staatlichen Handelns Ein- fluss zu nehmen. Dass aber das Konzept der Verwirklichungschancen derzeit ein höchst mehrdeuti- ges und interpretationsfähiges Konstrukt darstellt, dessen wissenschaftlich fundierte Handhabung weitgehend aussteht, ist andererseits mit erheblichen Risiken verbunden. Wie ein Blick in den Dritten Armuts- und Reichtumsbericht zeigt, ist keineswegs ge- klärt, was in den einbezogenen Teilhabedimensionen unter zu unterstützenden Verwirk- lichungschancen verstanden wird. So lässt sich einstweilen jedes staatliche Programm mit geringem rhetorischen Aufwand als chancenfreundlich präsentieren. Ob mit seiner Verwendung die Meßlatte für sozialstaatliches Handeln höher oder tiefer gelegt wird, ist vorläufig unentschieden. (Zur den Gefahren einer politischen Instrumentalisierung des bei Sen angelegten „methodischen Individualismus“ vgl. 4.)
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2.1 Eine notwendige Rekonstruktion
Sens „Capability-Ansatz“ ist ein Versuch, Kriterien für gesellschaftliche Wohlfahrt und Wohlfahrtsmessung theoretisch so zu begründen, dass unterschiedliche Wohlfahrtni- veaus in historischer wie zeitgenössischer Perspektive verglichen und bewertet werden können. Der Ansatz stellt individuelle Handlungs- und Wahlmöglichkeiten ins Zentrum von Wohlfahrt und Wohlfahrtsmessung, die sich angesichts der Komplexität und Varia- tionsbreite individueller Werthaltungen wie situativer Handlungsbedingungen über gän- gige Standardmaße wie Haushaltseinkommen, Lebensstandard, Erwerbsstatus usw. nicht angemessen erfassen lassen, so wichtig diese sind. Der Capabilities-Ansatz setzt sich ausdrücklich von zwei anderen Konzepten der Wohlfahrtmessung ab: ressourcenbasierten Ansätzen, die das verfügbare Einkommen oder eine bestimmte Güterausstattung zur Grundlage haben, und nutzenbasierten Ansät- zen, die auf die Befriedigung individueller Wünsche und Präferenzen abstellen. Gegen die ersteren spricht, wie bereits erwähnt, dass ein bestimmtes Einkommen oder ein bestimmtes, etwa über einen standardisierten Warenkorb oder über Versor- gungsmerkmale erfasste Güterausstattung keine zureichende Auskunft über ihren mög- lichen Beitrag zum Wohlergehen einer Person zu geben vermag. Die individuelle Ei- genschaften von Individuen und situative Bedingungen des Gebrauchs sind zu verschie- den, als dass man von gleichen Ressourcen auf gleiche Wohlfahrteffekte schließen könnte. Gegen das utilitaristische Konzept der Aggregation individuellen Nutzens oder in- dividueller Präferenzen als Bewertungs- und Vergleichbasis spricht, dass sich individu- elle Wünsche und Erwartungen (oder wenigstens die Selbstauskünfte darüber) an die jeweiligen Lebensumstände anpassen. In der Konsequenz können die einen minimale Verbesserungen einer allgemeinen Alltagsmisere als großen Nutzenzuwachs erfahren, während anderen nur mit Luxusgütern aus dem subjektiv erfahrenen Unglück zu helfen ist. Benachteiligte Person bewältigen ihre Lebensumstände nicht zuletzt durch resigna- tive Anpassung, so dass Aussagen über Zufriedenheit oder „die subjektive Auffassung der eigenen Chancenlage“ (Bude/Lantermann 2006: 234) keine guten Wohlfahrtsmaße abgeben. Schließlich können „zufällige Umstände“ (Sen 1999: 89) oder kritische Le- bensereignisse bekanntermaßen die relative Wertschätzung von Gütern, etwa von Pfer- den und Königreichen, stark beeinflussen (Shakespeare, Richard III, 5,4). Vor dem Hintergrund der Einwände gegen diese beiden Positionen sucht Sen „a criterion that does not get messed up by circumstantial contingencies” (Sen 1985), eine Entsubjektivierung der Erfassungs- und Bewertungsgrundlage, die aber nicht „ohne Ansehen der Person“ erfolgen kann. Mit Blick auf diese doppelte Problemstellung for- muliert er die Anforderung, dass „[t]he primary feature of well-being can be seen in terms of how a person can „function“, taking that term in a very broad sense” (ebd.)
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bzw. “to lead the kind of life he or she has reason to value” (Sen 1999 in Farvaque 2005: 102), was die Möglichkeit einschließt, sich zwischen unterschiedlichen Varianten oder Funktionsbündeln entscheiden zu können. Für diese Möglichkeit steht das Konzept der Verwirklichungschancen, das im Folgenden genauer erläutert wird. Dass dieser Ansatz nicht nur politisch mehrdeutig ist, sondern auch bislang eher ein „sensitizing concept“ denn einen methodisch abgesicherten Ansatz darstellt, zeigt sich schon im Fehlen einer vereinheitlichten und gefestigten Terminologie. Im Folgenden wird der Ansatz so dargestellt, wie er im Projekt „Resources, Rights and Capabilities: In Search of Social Foundations for Europe”7 (nicht zuletzt als Resultat des vorausgegan- genen Projekts EUROCAP8) verwendet wird. Zu den deutschen Begriffen wird in Klammern die englische Begrifflichkeit nachgewiesen. Für das Eindeutschen der Ter- minologie von Sen gibt es in der Literatur zum Teil unterschiedliche Vorschläge (Vol- kert 2005; Leßmann 2007); in Zweifelsfällen hält sich dieses Papier an die deutsche Übersetzung von „Development as Freedom“ (Sen 1999), die unter dem Titel „Ökono- mie für den Menschen“ (Sen 2002) im deutschsprachigen Raum am weitesten verbreitet ist.
2.2 Zentrale Kategorien bei Sen
Grundanliegen des Ansatzes von Sen ist es, Wohlfahrt als eine Auswahlmenge von Möglichkeiten der Lebensführung aufzufassen. Demnach kommt es nicht so sehr auf Gleichheit des Einkommens oder der Ressourcenausstattung an, sondern auf die Gleich- heit der damit zugänglichen Verwirklichungschancen (vgl. Abbildung 1). Diese bleiben natürlich erstens abhängig von den ökonomischen und materiellen Ressourcen, die Menschen zugänglich sind; hierzu zählen auch die Ansprüche an den Sozialstaat. Sen spricht aber zweitens von den Faktoren, die erst darüber entscheiden, welche Auswahl- menge an Verwirklichungsmöglichkeiten diese Ressourcen für den Einzelnen eröffnen. Bei diesen Faktoren („Umwandlungsfaktoren“, weil sie die Umwandlung von Ressour- cen in Chancen der Lebensführung ermöglichen sollen) denkt Sen zum einen an persön- liche Fähigkeiten und Eigenschaften, zum anderen aber an die gesellschaftlichen Be- dingungen, unter denen Menschen Ressourcen einsetzen, um eine selbst gewählte Le- bensweise besser oder schlechter zu verwirklichen. Wie beobachtete Unterschiede in „Funktionen“ der Lebensführung (z.B. Erwerbstä- tigkeit oder Nichterwerbstätigkeit oder ein bestimmter Konsumstandard) zu bewerten sind, hängt für Sen entscheidend davon ab, ob diese Unterschiede Ergebnis einer per- sönlichen Wahl sind, also wünschenswerte Vielfalt einer stärker individualisierten Ge- sellschaft ausdrücken, oder ob sie auf ungleiche Verwirklichungschancen zurückgehen. 7 Kurz „CAPRIGHT“, siehe (http://www.capright.eu).
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Die Freiheit der Menschen, über ihre Lebensführung zu entscheiden, hat nach Sen wie- der zwei Aspekte: Unter dem Chancenaspekt ist zu fragen: Wie günstig sind die Gele- genheitsstrukturen, die Menschen vorfinden, wie groß demnach die Auswahlmenge ihrer Möglichkeiten? Unter dem Verfahrensaspekt geht es darum, welche Wunsch- und Wahlrechte die Gesellschaft oder der Sozialstaat Menschen einräumt und wie groß ihre Möglichkeiten politischer Partizipation sind. Hierzu gehört auch die Möglichkeit, mit zu entscheiden, bei welchen Funktionen und Verwirklichungschancen durch politisches Handeln und durch sozialstaatliche Intervention mehr Gleichheit geschaffen werden soll. Abbildung 1: Verwirklichungschancen, oder: ein Reim auf Sen
Diese zentralen Begriffe und die mit ihrer Verwendung verbundenen Schwierigkeiten werden im Folgenden einzeln erörtert.
2.2.1 Funktionen der Lebensweise (Functionings)
Funktionen sind Teilhabeergebnisse, tatsächlich verwirklichte Handlungen und Zustän- de (bei Sen: „doings and beings“). Sie können in der Nutzung von Gütern (mobil sein), im Erleben mentaler Zustände (sich seines Lebens freuen), unterschiedlichen Gesund- heitszuständen bestehen usw., eben allem, was man tun und sein kann9. Der Begriff ist für sich genommen werteneutral. ‚Arbeit haben’ und ‚schlechte Arbeit haben’ sind glei- 8 „Social dialogue, employment and territories. Towards a European Politics of Capabilities“
(http://www.idhe.ens-cachan.fr/Eurocap/project.html) 9 Um Verwechslung mit einer Funktion als Umwandlungsregel von x zu y zu vermeiden (siehe unten),
kann von „Funktionen der Lebensweise“ oder auch von Teilhabeergebnissen gesprochen werden.
Erreichte »Funktionen« der
Persönliche Potenziale (individuelle »Umwandlungsfaktoren«)
Auswahlmenge an »Verwirklichungschancen«
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chermaßen Funktionen in diesem Sinn. Die gesamte Lebenssituation oder einzelne Le- bensbereiche eines Individuums können als Bündel oder Vektoren solcher Funktionen begriffen werden. Wohlfahrt (well-being) steht für deren Bewertung auf der Grundlage eines bestimmten Wertesets. Allerdings stehen nicht tatsächlich realisierte Funktionen im Fokus des Capability-Ansatzes, sondern Verwirklichungschancen: diejenigen Funk- tionen, die von einem Individuum tatsächlich realisiert werden könnten. Dieser Vorrang des Potentiellen gegenüber dem Verwirklichten reflektiert die zentrale Bedeutung, die individuelle Freiheit in Sens Konzept einnimmt. Entscheidend ist unter dieser Perspek- tive nicht, ob jemand beispielsweise einen Fernseher hat, sondern ob er einen haben könnte wenn er wollte, aber auch, ob der Verzicht darauf möglich ist, ohne dass unver- hältnismäßige Nachteile in Kauf genommen werden müssen. Als Nächstes sollen zwei Begriffe erläutert werden, die für die Entstehung des individu- ellen Potentials an Funktionen zentral sind, Ressourcen und Umwandlungsfunktionen.
2.2.2 Ressourcen (Resources)
Unter Ressourcen verstehen wir Güter ('commodities') und Rechte ('rights'), auf die ein Individuum in einer Gesellschaft Anspruch hat. Güter umfassen dabei Marktgüter und Nicht-Marktgüter von materieller oder immaterieller Beschaffenheit10. Ressourcen sind auf ihre Eigenschaften hin anzusehen, d.h. auf die Möglichkeiten ihrer Verwendung. Sie können dabei eine Vielfalt von Eigenschaften haben, die mehrere alternative oder paral- lele Arten der Verwendung zulassen. Eine Mahlzeit kann also in Form ihres Nährwer- tes, oder auch ihrer Eignung, soziale Zusammenkunft zu ermöglichen, betrachtet wer- den. Die Eigenschaften einer Ressource sind unabhängig davon, was sie für ihren Besit- zer und seine Lebensführung bedeuten (Sen 1985: 10), dies vor allem daher, weil streng unterschieden wird zwischen diesen Eigenschaften einer Ressource und den Eigen- schaften der Verwendung dieser Ressource.
2.2.3 Umwandlungsfunktionen und -faktoren
Der Übergang von Ressourcen zu Teilhabeformen geschieht durch Umwandlung mittels einer Umwandlungsfunktion. Die Umwandlungsfunktion vermittelt also zwischen den 10 Es besteht damit ein scharfes Spannungsverhältnis zwischen diesem engen, auf die ‚dinglichen’
Charakteristika von Gegenständen bzw. die formellen Inhalte von Rechten bezogene Ressourcen- begriff in wohlfahrtstheoretischer Perspektive und einem handlungstheoretischen, der grundsätzlich alles beinhaltet, was ein Individuum ins Spiel bringen kann, um seine Ziele in einer gegebenen Situ- ation zu verfolgen, aber auch nur das. Unter dieser Perspektive macht erst die individuelle Verknüp- fung mit einem konkret verfolgten Zweck etwas zur Ressource, wobei allerdings alles zur Ressource werden kann, was unter dieser Perspektive brauchbar ist, von individuellen Gefühlen bis hin zu ge- sellschaftlichen Strukturen und Normen, einschließlich der Ressourcen im oben bestimmten wohl- fahrtstheoretischen Sinn. Es ist im Folgenden wichtig, diese grundlegende Differenz im Auge zu be- halten, da Sens zentrale Kategorie der Verwirklichungschancen Missverständnisse in diesem Punkt durchaus nahe legt.
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2.2.4 Verwirklichungschancen als Auswahlmenge (Capability Set)
Verwirklichungschancen sind mögliche Teilhabeergebnisse bzw. Funktionen, die einem Individuum tatsächlich zugänglich sind. Im Englischen ‚Capabilities’ genannt, sind die Verwirklichungschancen Kern und Namensgeber des Capability-Ansatzes, zu Deutsch: 'Ansatz der Verwirklichungschancen'12. Die Gesamtmenge der Verwirklichungsmög- lichkeiten eines Individuums wird bei Sen als „capability-space“ oder „capability-set“ bezeichnet, und lässt sich mit „Auswahlmenge“ (Leßmann 2007: 294) übersetzen. Sie steht für all das, was einem Individuum zu tun oder zu sein möglich ist, also jedwede mögliche Variante der Nutzung der ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen. Da die verfügbaren Kombinationen von Ressourcen und Nutzungsweisen von Individuum zu Individuum unterschiedlich sind, folgt, dass Individuen aus unterschiedlichen Aus- wahlmengen wählen. Es gibt drei Hinsichten, in denen Auswahlmengen sich voneinander unterscheiden kön- nen: die Anzahl ihrer Elemente, die Qualität ihrer Elemente und die Beziehung dieser Elemente untereinander. Diese drei Dimensionen können allesamt Dimensionen von 11 Siehe unten für eine formale Darstellung.
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Ungleichheit sein. Tendenziell gilt, dass ein Mehr an Wahlmöglichkeiten einen Zu- wachs an Freiheit bedeutet und den Wert einer Auswahlmenge somit steigert. Kompli- zierter ist die Frage der Qualität der Verwirklichungschancen. Sie spielt deshalb eine Rolle, weil der CA nur solche Verwirklichungschancen, denen ein subjektiver Wert zugemessen wird (genauer: denen ein solcher zugemessen werden müsste), als konstitu- tiv für echte Wahlfreiheit ansieht. Auf die Bewertungsfrage wird in einem gesonderten Abschnitt einzugehen sein. Mit der Beziehung der Elemente der Auswahlmenge schließlich ist der von ihnen aufgespannte Raum gemeint. Auf dass dieser eine weite Auswahl an Handlungs- und Seinsalternativen biete genügt es nicht, dass die Zahl der Elemente beträchtlich und jedes einzelne von ihnen wertvoll sei: es muss auch zwischen den Elementen eine ausreichende Diversität bestehen, es muss sich in der subjektiven Wahrnehmung um substantiell unterschiedliche Alternativen handeln. Die Auswahlmenge entspricht nach einer Untersuchung durch Leßmann nicht den Stan- dardanforderungen, die beispielsweise an eine Budgetmenge gestellt werden. Aufgrund spezifischer Eigenschaften von Funktionen enthält die Auswahlmenge nicht in jedem Fall ihre 'Schlechtermenge', d.h. jede Menge, die ihr identisch ist bis auf die geringere Ausprägung eines oder mehrerer Elemente. Ebenso ist die Auswahlmenge nicht unbe- dingt konvex, d.h. Linearkombinationen von Funktionenbündeln müssen nicht Teil der Menge sein13 (vgl. Leßmann 2007: 295ff).
2.2.5 Informationsbasis
Die Informationsbasis (IB) ermöglicht die Beschreibung der Situation eines Indivi- duums und damit die Bestimmung von Ungleichheit zwischen Individuen. Dies ge- schieht in erster Linie auf der Ebene der Verwirklichungsmöglichkeiten (jedoch kön- nen auch Funktionen eine Rolle spielen, hierzu später). So wird insbesondere Armut definiert als das Fehlen grundlegender Verwirklichungsmöglichkeiten. Dass die Aus- wahlmenge die Grundlage zur Erfassung der Situation eines Individuums ist, bedeutet jedoch nicht, dass alle Aspekte der Auswahlmenge beobachtet werden müssen. Die In- formationsbasis ist vielmehr eine Teilmenge der Elemente der Auswahlmenge, nämlich jene Teilmenge der Elemente, die in einem bestimmten Kontext und in Bezug auf ein bestimmtes Untersuchungsinteresse als relevant angesehen werden. Während die Aus- wahlmenge ein Sachverhalt ist, beruht die Bestimmung der IB auf normativen Ent- scheidungen. Dies wird noch deutlicher, wenn man sich folgende Eigenschaft der IB vor Augen führt: indem sie eingrenzt, auf was es ankommt, legt sie auch implizit fest, auf was es nicht ankommt. Das heißt, dass alle Elemente, die sich außerhalb der Infor- 12 Bisweilen auch als ‚Befähigungsansatz’ anzutreffen, wobei hier die Gefahr einer zu starken Fokus-
sierung auf das Individuum zuungunsten der Umweltfaktoren besteht (vgl. Jan-Hendrik Heinrichs: „Grundbefähigungen. Zum Verhältnis von Ethik und Ökonomie“, Mentis Verlag, 2006)
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mationsbasis befinden, keinen Einfluss haben auf Entscheidungen, die sich auf diese Basis stützen14. Wenn eine Gesellschaft z.B. das Arbeit haben, nicht aber das Arbeiten gemäß seinen Neigungen als relevante Verwirklichungschance ansieht, so hat dies un- mittelbar Konsequenzen für die Praxis der Arbeitsvermittlung, insofern, als die Präfe- renz des Betreffenden schlicht irrelevant ist. Bildlich gesprochen: Die Informationsbasis konturiert das Spielfeld, und nur jene Ansprüche, die auf diesem Feld zugelassen sind, können in selbiges geführt, also im Lichte öffentlicher Aufmerksamkeit geltend ge- macht werden.
2.2.6 Bewertungsfragen
Bewertungsfragen spielen an zwei Stellen im Denkgebäude des CA eine Rolle: Erstens bei der Definition der informationellen Basis, also der Identifikation derjenigen Funkti- onen, denen Relevanz und Wert beigemessen wird. Dieser Punkt ist in normativer Hin- sicht der hauptsächliche, und er stellt die entscheidende Vorarbeit für die zweite Bewer- tungsaufgabe dar, die Einschätzung einer Auswahlmenge im Gesamten, also der allge- meinen Lage eines Subjekts15. Jener Punkt hat, wie wir in den Ausführungen zur Aus- wahlmenge bereits ersehen konnten, eher methodische Züge, er soll deshalb erst behan- delt werden, wenn einige mit Bewertung einher gehende grundlegende Fragen ange- sprochen wurden16. Bewertung von Verwirklichungschancen findet in einem Spannungsfeld statt: sie muss sowohl das Subjektive einbeziehen, als auch eine gewisse Objektivierung leisten. Aus der Position eines „ethischen Individualismus“ (Robeyns 2005) heraus, das heißt das Individuum als Ziel und Zweck begreifend, kann der CA nicht anders, als subjektive Präferenzen einfließen zu lassen. Das Individuum soll die Möglichkeit haben, ein Leben zu führen, das es schätzt (‚to value’). Damit ist nicht ein diffuses Lustempfinden ge- meint, für das der Nutzen (‚utility’) steht, sondern ein auf Werten basierendes Guthei- ßen von Elementen der Lebensweise, wobei Werte sich auf die subjektive Vorstellung von einem gelungenen, sinnvollen Leben beziehen. Die Notwendigkeit des Rückbezugs auf eine solche Ebene wird auch und bereits in der deutschen Tradition des Lebensla- genansatzes gesehen, so ist bei Weisser von „möglichst freier und tiefer Selbstbesin- nung“ (Leßmann 2007: 95) die Rede. Diese immer noch subjektive Wertebene wird bei Sen wiederum von einer objektiveren Grundlage gestützt, um die zur Identifikation ei- nes guten Lebens unabdingbare Bewertungsfrage noch fester abzusichern gegen die
13 Wenn an Arbeitswochenstunden zwischen '0 h' und '40 h' gewählt werden kann, so steht die Option '20 h' nicht zwingend offen
14 „The ‚informational basis of a judgement’ identifies the information on which the judgement is di- rectly dependent and – no less importantly – asserts that the truth and falsehood of any other type of information cannot directly influence the correctness of the judgement” (Sen 1992: 73).
15 Meist eines Individuums, je nach Fragestellung kann es sich jedoch auch um Gruppen handeln. 16 Siehe Gliederungspunkt 3.1.3.
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Einwände17 adaptiver, aber auch zu hoch gesteckter oder fehlgeleiteter Präferenzen, die von Sen gegen die utilitaristische Position ins Feld geführt werden. Es ist die Ebene der Dinge, die in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext als wertvoll anzusehen sind (‚to have reason to value’). Sie steht für einen Kanon an Handlungen und Zuständen, die Individuen offen stehen sollten, und bietet damit den Ausgangspunkt für die Ein- schätzung von Teilhabe, als für die Frage: „Gleichheit wovon“? Auf diese subjektive und zugleich über-subjektive Weise legitimiert, soll die Informationsbasis als Grundla- ge für Korrekturen im Sinne von gesellschaftlicher Verteilungsgerechtigkeit dienen können. Je nach Thematik bietet Sen zwei Instrumente an, um sich die Elemente dieser Menge an wertzuschätzenden Funktionen zu erschließen: die kritische (Selbst-)Reflektion und die öffentliche Diskussion18. Besonders wenn es um kollektive Aufgaben, wie z.B. Verteilungsfragen geht, ist die kollektive Bestimmung dessen, was unter den gegebenen Umständen gegeben sein sollte, unabdingbar. Erst an diesen Schritt kann sich wohl- fahrtsstaatliches Handeln anschließen.
Legitimität von Wertungen
Ob durch öffentliche Diskussion Objektivität erreicht wird und erreicht werden kann, ist vielleicht nicht entscheidend. Sen scheint auf das Konzept der Verfahrenslegitimität zu setzen, da er davon ausgeht, dass das Ergebnis eines demokratischen Prozesses, in dem jeder von seiner Freiheit Gebrauch machen kann, Einfluss auszuüben, legitimiert sei. Er bezieht sich auf John Rawls’ Begriff der ethischen Objektivität ('ethical objectivity'), der angibt, ethische Forderungen zögen ihre Rechtfertigung aus ihrem „survival and flourishing when they encounter unobstructed discussion and scrutiny, along with ade- quately wide informational availability“ (Sen 2004: 349). Es lassen sich dieser Stelle ebenso Berührungspunkte mit Habermas' Diskurstheorie ausmachen. Sens Optimismus, dass sich auf diese Weise ein Konsens finden lasse, wird von Kriti- kern in Frage gestellt, denn konfligierende Interessen können nicht nur von verschiede- nen Bedürfnissen, sondern auch von verschiedenen Weltsichten innerhalb einer Gesell- schaft herrühren19. Insbesondere liberale Kritiker fürchten eine Bevormundung und Kontrolle des Einzelnen durch die Gesellschaft (Sugden 2006). Die liberale Forderung nach universell feststehenden Freiheiten birgt jedoch zwei Probleme: Erstens ist sie für negative Freiheiten leichter zu argumentieren als für positive, zweitens wirft sie wieder das Problem der legitimen Festlegung dieser Freiheiten auf.
17 „The mental metric of pleasure or desire is just too malleable to be a firm guide to deprivation and
disadvantage“ [Sen (1999)|54] 18 ' public deliberation', 'public reasoning' (Sen 2006: 13) 19 Die zu unterschiedlichen Begründungsordnungen führen, siehe 4.1.
16
Es besteht allerdings sehr wohl Anschlussfähigkeit dieser Position zur Tradition des CA: Wenn auch ohne Beteiligung Amartya Sens, sind doch Versuche unternommen worden, Verwirklichungschancen festzuschreiben, die jedem Menschen zur Verfügung stehen sollten. Die bekanntesten hiervon sind die Arbeiten Martha Nussbaums (2000)20, die hierzu Verwirklichungschancen aus zehn Dimensionen des Mensch-Seins auflistet. Diese Garantie dieser Verwirklichungschancen erfordert Ansprüche des Einzelnen an Andere, eine Aufgabe, die sich laut Nussbaum am besten von Institutionen wahrnehmen lässt (Nussbaum 2003). Die durch Institutionen (z.B. Staaten) vermittelte Solidarität, die zur Bereitstellung derjenigen Mittel notwendig ist, welche positive Freiheiten erst ermöglichen, wird moralphilosophisch untermauert (ebd.). Die zweite angesprochene Schwierigkeit, die der Legitimität einer doch recht detailliert spezifizierten Liste, die auf verschiedene Kontexte anwendbar sein soll und in aristotelischer Tradition davon ausgeht, den Menschen und seine Bedürfnisse recht allgemein behandeln zu können, will Nussbaum als Input-Legitimität lösen. Die Liste soll durch den Expertenstatus ihrer Architekten Glaubwürdigkeit erhalten. Dem Vorwurf, zu detailliert („überspezifiziert“) zu sein, setzt Nussbaum entgegen, dass erst auf diese Weise Transparenz und Verbind- lichkeit erreicht werden könne, da Forderungen somit einen konkreten Bezugspunkt hätten (ebd.). Gegenüber dem Prinzip der Aushandlung als Basis für Gerechtigkeit („Vertragstheorie“, ebd.) ist Nussbaum deshalb skeptisch, weil Verhandlungen zu stark von dem Gedanken des beiderseitigen Nutzens geprägt seien. Da hierfür jedoch eine annähernde gleichwertige Anfangsverteilung unterstellt werden müsse (vgl. Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit) sei dies keine Prämisse, unter der annehmbare Verteilungs- ergebnisse erlangt werden können. Robeyns (2005: 103) versucht, die gegensätzlichen Ansätze von Sen und Nussbaum durch unterschiedliche Interessen und Denktraditionen zu erklären: „Nussbaum and Sen have different goals with their work on capabilities. They also have different personal intellectual histories in which their work needs to be situated”. Während Nussbaum sich von der Seite der Philosophie nähere und politisch Einfluss nehmen wolle, sei Sen eher aus methodischem Interesse und ohne klares Handlungsziel zum capability-Ansatz ge- kommen. Auf eine mögliche Kombination beider Konzepte soll unter 3.2 noch einmal eingegangen werden, doch kommen wir nun noch einmal auf die Aussichten öffentli- cher Diskussion zurück. Sen selbst begegnet der Kritik, dass in öffentlicher Diskussion zwar keine Einigung, wohl aber Bevormundung wahrscheinlich sei, mit zwei methodischen Gedanken, die auch in Bezug auf die Reihung von Capability-Sets wegweisend sind: Zum einen muss das Ergebnis öffentlicher Diskussion keine vollständige hierarchische Ordnung von Verwirklichungsmöglichkeiten sein, und zwar aus einem „fundamentalen“ und einem
20 Siehe auch unter Gliederungspunkt 3.2. Eine kurze Gegenüberstellung der Sen’schen und Nuss-
baum’schen Positionen findet sich bei Robeyns (2005: 103ff)
17
„pragmatischen“ Grund (vgl. Sen 1992: 46f). Die Alternative, die Angesichts der Präfe- renzenvielfalt unter den Mitgliedern einer Gesellschaft möglich bleibt, ist die einer par- tiellen Ordnung. Zur Verdeutlichung: Zwei Personen mögen sich nicht darüber einig sein, ob Zustand A oder Zustand B der bessere sei, aber sie können dennoch darin über- einstimmen, dass sowohl A und B besser sind als Zustand C. Damit konstruiert sich eine Hierarchie mit einem ordinalen Stamm und einer nominalen Verzweigung darüber. Dieses ist der „fundamentale” Grund für eine partielle Ordnung21. Der pragmatische Grund besagt, dass auch bei theoretisch herstellbarer vollständiger Ordnung beschrän- kende Wirkung aus einem Mangel an Information resultieren kann. In diesem Fall rät Sen, mit dieser teilweisen Ordnung zu arbeiten: „To 'complete' partial orderings arbitra- rily for the sake of decisiveness, or convenience, or order, or some other worthy con- cern, may be a very misleading step to take. Even when the partial ranking is quite ex- tensively incomplete, the case against 'forcing' completeness may be quite strong. Bab- bling is not, in general, superior to being silent on matters that are genuinely unclear or undecided“ (Sen 1992:134). Ein zweites, funktionales Argument ist, dass es ohnehin viel bedeutender sei, augen- scheinliche (und damit, wie er unterstellt, konsensfähige) Ungleichheit zu reduzieren, als sich in einer Bekämpfung von marginalen Unterschieden zu verlieren. Als argumen- tative Rückendeckung für Sen wirkt zudem die Tatsache, dass sich jede Gesellschaft, will sie nicht auf eine Anzahl grundlegender gesellschaftlicher Funktionen verzichten, auf bestimmte Werte einigen muss. Die Festlegung von Anspruchs- und Schutzrechten setzt immer Wertenscheidungen voraus. Die „guten Gründe“ wirken also weniger als Einschränkung denn als Schnittstelle zwischen individueller Freiheit und öffentlichem Handeln Ein weiterer Punkt ist, dass sich Werte von vornherein nicht gesellschaftsu- nabhängig bilden, auf ihn bezieht sich u.a. Elaine Unterhalter, für die gerade im Rea- son-to-value-Konzept ein Potential des CA liegt: „[T]he capability approach is more than simply a proposal to focus on people's capabilities, but also entails a critical enga- gement with all social, cultural and other factors that shape people's preferences, expec- tations and perceptions, and that thus influence which choices are made from the free- doms that we have“ (Unterhalter 2003). Über die Notwendigkeit der freien Mitsprache bei der Definition des Wertvollen hinaus berühren sich die diskutierten Bewertungsfragen in einer Vielzahl von Hinsichten mit der im nächsten Abschnitt anzusprechenden Thematik der Freiheit.
21 Sen (1992: 48): „It is important not to see the use of the capability approach as an ‚all or nothing’
exercise. […] Both well-being and inequality are broad and partly opaque concepts”.
18
2.2.6 Freiheit
Freiheit im CA äußert sich in der realen Möglichkeit des Individuums, aus einer Menge von subjektiv wertvollen Lebensweisen eine Art und Weise auszuwählen, sein Leben zu führen. Die Menge der Lebensweisen ist die Auswahlmenge, die weiter oben als all das, was ein Individuum tun oder sein kann, definiert wurde. Dies zu beachten hilft, ein Missverständnis zu vermeiden, das dem CA gelegentlich die Kritik einbringt, einen zu breit gefassten Freiheitsbegriff zu verwenden: Funktionen, auch wertvolle, z.B. mobil sein, seien keine Freiheiten, sondern Handlungen bzw. Zustände. Sen stimmt zu, präzi- siert aber: nicht die Mobilität selbst, sondern die Wahlmöglichkeit, mobil zu sein, ist im CA mit Freiheit gemeint. Die Freiheit also, sich für oder gegen Mobilität entscheiden zu können, sie bezieht sich auf die Verwirklichungschance, nicht auf die zugehörige Funk- tion (siehe Sen 2004). Freiheit hat einen Gelegenheitsaspekt und einen Verfahrensaspekt. Der Gelegenheitsas- pekt (opportunity-aspect) bezieht sich auf die Qualität und Anzahl der vorhandenen Verwirklichungsmöglichkeiten, denn es bedarf mehrerer annehmbarer Optionen, um von 'substantieller' Freiheit sprechen zu können: „A set of three alternatives we see as 'bad', 'awful' and 'dismal' cannot, we think, give us as much real freedom as a set of three others we prefer a great deal more and see as 'great', 'terrific' and 'wonderful' […] The idea of effective freedom cannot be dissociated from our preferences“ (Sen 1990: 470)22. Der Verfahrensaspekt (process-aspect) steht für den Weg, der zu einer Entschei- dung führt, sowohl im Bereich der politischen Mitsprache als auch in der privaten Ent- scheidungssituation. In der öffentlichen Diskussion soll sich der Einzelne Gehör ver- schaffen können, um auf die kollektiven Entscheidungen Einfluss auszuüben, die schließlich die Bündel an Verwirklichungsmöglichkeiten konditionieren, zwischen de- nen er eine Wahl treffen wird. So wie die zur Auswahl stehenden Elemente einen Wert haben, hat auch der Vorgang der Wahl einen eigenen Wert23. Ohne autonome Entschei- dung gelten auch attraktive Optionen nicht dasselbe, abgesehen davon, dass ohne politi- sche Einflussnahme subjektiv wertvolle Wahlmöglichkeiten vielleicht gar nicht gegeben sind. Wahlfreiheit ist demnach wie ein Gut, das der Mensch mit Grund wertschätzt. Verfahrens- und Gelegenheitsaspekt ergeben also erst im Verbund die Freiheit, die im Capability-Ansatz gemeint ist. Beide Aspekte finden sich auch bei dem von Sen zitier- ten Isaiah Berlin. Er spricht von „a man's, or a people's, liberty to choose to live as they desire“ (Sen 1992: 67). Wenn sich “liberty to choose” auf die ‘positive’ Freiheit, etwas
22 Oder allgemeiner gefasst: „The evaluation of the freedom I enjoy from a certain menu of achive-
ments must depend to a crucial extent on how I value the elements included in that menu. The 'size' of a set, or the 'extent' of freedom enjoyed by a person, cannot, except in very special cases, be judged without reference to the person's values and preferences“ (Sen, in Farvaque 2005)
23 Hiermit ist nicht die Wahl aus einer Hundertschaft an quasi-identischen Waschmitteln gemeint, die hauptsächlich Informationskosten verursacht, sondern die Wahl zwischen hinreichend unterschiedli- chen Optionen.
19
real wählen zu können bezieht, meint „as they desire“ die subjektive Güte der Wahl- möglichkeiten, und geht damit über das Konzept der positiven Freiheit hinaus, macht es zur gleichzeitig realen und relevanten Freiheit. Um den Stellenwert der Wahlentscheidung im Capability-Ansatz zu unterstreichen, wird an dieser Stelle der Begriff „agency“ eingeführt. Der Begriff verweist auf die Ei- genschaft des Individuums als Agent, als Handelnder, der frei ist, sich in selbst be- stimmter Weise für selbst bestimmte Zwecke einzusetzen, unabhängig von einer Bewer- tung durch Dritte. Im Sinne des mit „agency“ verknüpften Verfahrensaspektes von Freiheit ist es zu verstehen, dass Sen keine Aussagen macht über Verwirklichungschan- cen, die a priori zu jeder Zeit und an jedem Ort wertzuschätzen seien. Auch wenn er der Meinung ist, dass es abstrakt gefasste grundlegende Funktionen gibt, die in jeder Kultur wertgeschätzt werden24, obliegt es jedem Individuum und jeder Gesellschaft erneut, ihre Inhalte festzulegen. Auf den Vorwurf, er überfordere die ‚Tätigen’ durch unrealistisch kontinuierliche partizipatorische Verpflichtungen präzisiert Sen, dass stellvertretendes Handeln ohne Einschränkung von Freiheit möglich sei, wenn es auf Basis dessen, was Individuen mit Grund wertschätzen, erfolgt25. Die Freiheit, nicht zu handeln, zählt e- benso zu den Freiheiten des Akteurs. Das sich für andere Menschen oder für idealistische Ziele Einsetzen ist ebenso Bestand- teil der in Frage kommenden Entscheidungen des Individuums26. Solche Absichten werden im Unterschied zu well-being-Zielen (die auf das eigene Wohlergehen abzielen) als „agency-Ziele“ bezeichnet. Agency-Ziele haben die Eigenschaft, für Außenstehende sehr eingeschränkt beobachtbar zu sein: Um festzustellen, wie es einem Individuum in Bezug auf ein idealistisches Ziel geht, müsste erhoben werden, wie dieses Ziel genau gefasst ist und wie es um seine Verwirklichung bestellt ist. Ist das Ziel das Wohlerge- hen von Bezugspersonen, mag dies möglich sein, handelt es sich aber um abstraktere Ziele wie die Verbreitung der Bibel oder den Respekt gegen Tiere, wird eine Operatio- nalisierung schon viel schwieriger und angesichts der Vielfalt an möglichen Zielen eine Endlosaufgabe. Aus praktischen Gründen liegt es also nahe, nur well-being-Freiheiten und nicht agency-Freiheiten in die Bewertung der persönlichen Chancen auf Wohlfahrt einzubeziehen. Ein weiterer, normativer Grund kann aus der Überlegung abgeleitet werden, dass idealistische Anliegen, die in den Bereich agency fallen, Ziele im Eigenin- teresse des Individuums nicht substituieren können oder zumindest nicht als substituie- rend angesehen werden sollten27.
24 Vgl. (Sen 1992: 108) 25 In diesem Fall ist stellvertretendes Handeln „in line with what we value and want (i.e. in line with
our 'counterfactual decisions' – what we would choose), and in this sense they give us more power and more freedom to lead the lives that we would choose to lead” (Sen 1992: 64).
26 Das damit auch seine Autonomie ggbr. Zuschreibungen wie der des rationalen Egoisten demonstri- ert.
27 Dieses Argument wird unter 3.2. im Zusammenhang mit hypothetischen und realisierten Funktionen noch einmal aufgegriffen.
20
Doch auch wenn agency in der Wertung keine Rolle spielt, so ist sie im Entscheidungs- prozess eine maßgebliche Variable. Diese auszublenden resultiert in einer noch größe- ren Unberechenbarkeit des Entscheiders. Dass diese Unberechenbarkeit nicht nur als Folge methodischer Schwierigkeiten, sondern auch als zutiefst menschliche Eigenschaft gesehen wird, soll rechtfertigen, dass der Capability-Ansatz nicht mit einer Entschei- dungstheorie dient. Das Entscheidungsverhalten, individuelles und kollektives, bleibt eine ‚black box’. Sen versteht den CA als Evaluationsrahmen, der Prozess der Wahl berührt ihn insofern, als er für das Individuum substantiellen Wert hat. Der CA befasst sich also eingehender mit dem Gelegenheits- als mit dem Verfahrensaspekt von Frei- heit, wenn er auch beide für fundamental hält. Der Ergänzungsbedarf des CA zeigt sich an dieser Stelle noch deutlicher, wenn man sich vor Augen hält, dass die Unberechen- barkeit von Entscheidungen nicht nur durch das positive Bild des selbstständig Han- delnden, sondern auch durch die kritischer zu bewertende Abhängigkeit der Entschei- dung von Faktoren bedingt ist, auf die das Individuum wenig Einfluss hat. Inwiefern das Individuum die Spanne seiner realen Möglichkeiten erfassen kann und ob es sie zu nutzen wagt, hängt ab von der Information über die sich bietenden Umwandlungsmög- lichkeiten und von seiner Fähigkeit, Widerstände zu überwinden, z.B. seiner Autonomie gegenüber Erwartungshaltungen und Rollenprägungen. Abgesehen von den normativen Bedenken ist es, laut Sen, jedoch auch methodisch nicht möglich, den Verfahrensaspekt von Freiheit ausschließlich auf der Basis von Verwirklichungschancen zu behandeln (siehe auch unter 4.1). Der Verwirklichungschancenansatz, der sich in puncto Chancen- aspekt der Freiheit als bessere Alternative zur Rawlsschen Theorie der Gerechtigkeit versteht, stützt sich deshalb in Fragen des Verfahrens auf ebendiesen. Psychologie und Soziologie wären, möchte man Sen empfehlen, weitere nahe liegende Adressen. Nur mit Hilfe dieser Disziplinen kann der Capability-Ansatz die Wirkung von Persönlich- keitsmerkmalen und der sozialen Umwelt des Entscheiders einbeziehen und damit sei- nem Ziel, reale Freiheiten zu erfassen, gerecht werden. Rezipienten des CA merken an, dass nicht nur Verheißungen, sondern auch Kosten in die Bewertung von Verwirklichungschancen eingehen müssen. Damit ist ein weiterer Berührungspunkt zwischen Wertung und Freiheit angesprochen: Unter Umständen kön- nen die mit einer Option verbundenen Unannehmlichkeiten die reale Freiheit, von ihr Gebrauch zu machen, schmälern und damit auch ihren Wert für ein Individuum verrin- gern. Williams, zitiert in Leßmann (2004), formuliert die Frage folgendermaßen: “[h]ow far should we consider the costs of doing something, when we are trying to decide whether someone has the capability of doing it“? Harrison, ebenda zitiert, fragt in eine im Grunde ähnliche Richtung, wenn er statt Kosten Voraussetzungen einbezieht: „There may exist functioning vectors well apart from the one achieved that are feasible but with courage and special knowledge. Are these functioning vectors elements of the capabili- ty-set of the person concerned“? Die Frage, inwiefern eine Option tatsächlich eine Op- tion ist, stellt sich z.B. in der Praxis der Arbeitsvermittlung in Bezug auf Zumutbarkeits-
21
regelungen. Auf die formale Möglichkeit zu pochen, ein Stellenangebot anzunehmen, und sei es auf einer Bohrinsel fern von der Familie, und die Entscheidung gegebenen- falls zu sanktionieren, hat etwas Zynisches, wenn Widrigkeiten nicht Teil der Entschei- dungsgrundlage sein sollen28. Ohne Berücksichtigung der Kostenseite bliebe die Identi- fikation substantieller Freiheit unvollständig, weil die aufgeworfene Bewertungsfrage nicht hinreichend beantwortet werden könnte. Methodisch kann dem Kostenproblem mit dem Konzept des Fuzzy-Sets begegnet werden, wie weiter unten im Themenkom- plex ‚Messung’ noch weiter ausgeführt wird. Eine andere Gewissensfrage, die sich bei der Bewertung der Verwirklichungsmöglich- keiten eines Individuums stellt, hat mit Verantwortung zu tun. Eine Gesellschaft kann entscheiden, helfende Intervention davon abhängig zu machen, inwiefern ein Indivi- duum selbst dazu beigetragen hat, dass ihm bestimmte Möglichkeiten nun zur Verfü- gung stehen oder nicht. Die Perspektive des Lebensverlaufes impliziert die Einordnung des Capability-Konzepts in eine Zeitdimension, die in einem späteren Abschnitt näher besprochen werden soll.
2.2.7 Formale Darstellung
Wie es zu einem von der Person i erreichten Bündel1 an Funktionen bi kommt, wird formal folgendermaßen dargestellt29:
bi = fi(c(xi)), wobei
xi = ein Ressourcenvektor, ausgewählt aus aus der Menge an verfügbaren Ressourcen Xi
c(.) = Funktion, die Ressourcen in einen Eigenschaftsraum von Ressourcen abbildet
fi(.) = eine bestimmte, für i spezifische Nutzungsfunktion, die eine mögliche Verwen- dungsweise der Eigenschaften eines Ressourcenbündels angibt. Sie ist Element von Fi , der Gesamtmenge an Nutzungsfunktionen, aus der Person i tatsächlich wählen kann30.
Die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten Qi stellt Sen formal so dar:
Qi (Xi) = [bi | bi = fi(c(xi)), für ein fi e Fi und ein xi e Xi]
Wenn die Terminologie der 'Konversionsfaktoren' gewählt wird, kann deren Einfluss auf die Nutzungsfunktion (oder 'Umwandlungsfunktion') wie folgt notiert werden:
bi = fi(c(xi)|zi, ze, zs), wobei zi für individuelle Umwandlungsfaktoren steht, zs für sozia- le und ze umweltbedingte31.
28 Es sei hier das Konzept der Informationsbasis in Erinnerung gerufen, siehe oben 29 Vektoren werden fett gedruckt wiedergegeben 30 Vgl. (Sen 1985: 11), Sen spricht von „Commodities“, aber Rechte sollten hier mitgezählt werden 31 Vergleiche (Binder und Broekel 2008)
22
3. Hindernisse der Umsetzung und mögliche Lösungswege
Ausgehend von den oben eingeführten Konzepten soll es nun darum gehen, wie der CA nutzbar gemacht werden kann. Zwar versteht sich der Ansatz in erster Linie als „fra- mework of thought“32, der in Bezug auf die Anwendung keine konkreten Methoden vorgibt, ja der nicht einmal für sich beansprucht, in allen seinen Aspekten anwendbar zu sein. Dennoch gibt es eine beträchtliche Anzahl an Arbeiten, die Wege und Irrwege seiner Nutzung freigelegt haben. Angesichts der großen Aufgabe der Übersetzung so abstrakter Konzepte in eine Forschungsmethodik waren Forscher, allen voran Sen selbst, immer wieder zu Kompromissen gezwungen, die in Weglassungen und Verein- fachungen bestanden. Drei maßgebliche Herausforderungen stellen sich einer Anwendung des CA in den Weg und sollen im Folgenden behandelt werden. Da ist erstens die schlichte Feststellung der einer bestimmten Person gegebenen Verwirklichungschancen: Wie kann der Forscher wissen, welche Möglichkeiten einer Person offen stehen und welche nicht, wo sie doch im Raum des Hypothetischen, also des Nicht-Beobachtbaren, angesiedelt sind? Zwei- tens stellt sich zur Gesamteinschätzung von Teilhabesituationen als Voraussetzung für inter-individuelle Vergleiche die Aufgabe, die identifizierten Verwirklichungschancen synthetisierend zu bewerten. Dabei kommt es nicht auf alle sich bietenden Verwirkli- chungschancen an, sondern vielmehr auf die im Rahmen einer bestimmten Fragestel- lung interessierenden. Es wurde bereits ausgeführt, was eine Informationsbasis ist und wie sie theoretisch geschaffen wird. Die praktische (dritte) Frage ist, wie der Forscher von dieser Informationsbasis erfahren kann, beziehungsweise eine solche schaffen kann, wenn öffentliche Diskussion im Sinne Sens nicht stattgefunden hat. Die in der CA-Literatur einschlägigen Lösungsansätze für diese Fragenkomplexe sollen nun dar- gestellt werden.
3.1 Erschließung der Auswahlmenge
Wenn die Unbeobachtbarkeit des Gegenstandes auch ein maßgeblicher „Wettbewerbs- nachteil“ des Capability-Ansatzes in Bezug auf den Ressourcenansatz ist, so teilt er dieses Hemmnis wiederum mit einem anderen konkurrierenden Paradigma, nämlich dem Utilitarismus, dessen zentraler Bezugspunkt, der Nutzen, ebenfalls aufwendig und risikoreich erschlossen werden muss33. Wenn es auch theoretisch mehr als eine Mög- lichkeit gibt, die Auswahlmenge an Verwirklichungschancen zu messen, ist es doch
32 Vgl. Leßmann (2004: 2) 33 Dem Utilitarismus voraus hat der CA jedoch, dass seine Informationsbasis mittels des reason-to-
value Konzepts immerhin objektiven Gehalt bekommt. Nutzen hingegen ist eine rein subjektive Va- riable, selbst wenn eine objektive Basis, nämlich der Kaufentscheidung für bestimmte Güter, bemüht wird.
23
eines der Paradoxa des Capability-Ansatzes, dass sich die Mehrheit der sich auf ihn berufenden Forschungsarbeiten auf die Messung von (realisierten) Funktionen verlegt34. Den ersten 'Sündenfall'35 in diesem Sinne beging Sen selbst (wie Farvaque (2005) an- merkt), nämlich im Anhang an sein Standardwerk „Commodities and Capabilities“, wo er in einem Ländervergleich Daten zu Bildung und Gesundheit analysiert. Im selben Fahrwasser der Human Development Index (HDI), der maßgeblich zur Verbreitung des CA beigetragen hat. Sen bewertet diesen Ansatz als legitime Alternative zur Messung der potentiellen Funktionen36. Bevor wir auf diesen Strang von Forschungsarbeiten ein- gehen, wenden wir uns jedoch den Versuchen der Messung der Auswahlmenge selbst zu.
Erhebung der Auswahlmenge selbst
Grundsätzlich gibt es hierfür zwei Möglichkeiten. Entweder, die Auswahlmenge wird direkt zu messen versucht, oder sie wird anhand unabhängiger Variablen erschlossen. Da es sich um kontra-faktuelle Sachverhalte handelt, kommt eine direkte Messung meist nicht um eine Befragung von Individuen herum. Dieser Zugang ist sowohl in qua- litativer als auch in quantitativer Forschung denkbar. Ein Beispiel ist eine Arbeit von Anand und Van Hees (2003), in der Personen gebeten werden, auf einer Skala von eins bis sieben den Umfang der Möglichkeiten einzuschätzen, die sie in verschiedenen Le- bensbereichen haben. Quantitative Forscher beklagen häufig die Spärlichkeit der für Capabilities verfügbaren Daten, Primärerhebungen wurden jedoch bisher, wahrschein- lich aufgrund der Kosten, sehr selten unternommen. Vereinzelt befinden sich jedoch in groß angelegten Studien Items wieder, die auf Verwirklichungschancen rückschließen lassen, weil sie direkt fragen, was eine Person hypothetisch tun könnte.
Ein anderer, indirekter Weg, eine Auswahlmenge zu erschließen, nimmt das Konzept der 'Produktion' von Verwirklichungschancen aus Ressourcen unter Umwandlungsbe- dingungen beim Wort. Robert Havemann und Andrew Bershadker (2001)37 zum Bei- spiel wollen anhand von unabhängigen Variablen wie Geschlecht, Herkunft, Alter und Bildungsabschluss eine „earning capacitity“ errechnen können, das heißt ein Einkom- men, dass einer Person zu verdienen möglich wäre. Ruggeri Laderchi (1999)38 verfährt
34 In aller Deutlichkeit Josiane Vero: „Il n'aura échappé à personne que, dans la plupart des enquêtes,
les données portent sur les faits survenus plutôt que sur les faits qui seraient survenus ou qui auraient pu survenir“ (Vero 2005: 223)
35 Jedenfalls wird dies von manchen Autoren so gewertet, vergleiche Bénicourt, zitiert in Farvaque (2005), Seite 149: „son utilisation d’indicateurs courants (sur la santé, l’éducation, etc.) ne réclament en rien l’élaboration de tout ce « fatras » théorique que représentent les notions de capacité et de fonctionnement“ [„fatras“ = dtsch: „Krempel“]
36 Vergleiche Sen (1999), Seite 96. 37 Siehe Farvaque (2005) 38 (ebd.)
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ähnlich, um die Verwirklichungschancen in den Bereichen Gesundheit und Bildung zu messen. Sie bezieht eine Variable für die Umwelt mit ein. Eine noch komplettere Aus- arbeitung dieser Idee liefern Burchardt und Le Grand (2002)39, die davon ausgehen, dass Individuen aus ähnlichen Ressourcen ähnliche Verwirklichungschancen machen können, wenn für die Umwandlungsbedingungen kontrolliert ist. Hierzu werden Typen von Umwandlungsbedingungskonstellationen gebildet. Als abhängige Variable lassen sich Funktionen verwenden, die von Individuen erreicht werden, die zu jenem Typ ge- hören. Es wird bei Burchardt und Le Grand unterstellt, dass alle Funktionen, die von einem Vertreter eines Typus realisiert wurden, auch von seiner peer group realisiert werden könnten. Dieser Kunstgriff soll einen Erwartungshorizont schaffen, anhand des- sen die von einem Individuum realisierte Teilhabe mit den Möglichkeiten des Indivi- duums verglichen werden kann. Hierdurch soll eine Idee davon gewonnen werden, in- wiefern die Funktion freiwillig realisiert wurde. Die Arbeit ist insofern eine Besonder- heit, als sie beide oben genannten Vorgehensweisen, die direkte und die indirekte, ver- eint. Denn die wie beschrieben gewonnen Ergebnisse werden in einem zweiten Schritt Erkenntnissen gegenübergestellt, die aus der Befragung der Personen über die von ih- nen wahrgenommene Freiheit gewonnen werden. Wenn beide Modelle vollkommen (und die Daten verlässlich) wären, dann müssten die Ergebnisse kongruent sein40. Lei- der kann man aber nur von Schnittmengen sprechen, dies ein Hinweis darauf, dass ei- nerseits die Instrumente verbesserungswürdig sind, andererseits aber auch auf die Prob- lematik der Messung der Auswahlmenge ganz allgemein.
Messung mit Funktionen
Wenn die eben beschriebenen Arbeiten nicht vollständig ohne Einbezug von Teilhabe- ergebnissen ausgekommen sind, stellen diese, wie bereits bemerkt, sogar die hauptsäch- liche Informationsgrundlage eines Großteils der Forschungsarbeiten dar. Dies findet die Zustimmung des Stifters des Ansatzes, unter der Voraussetzung, dass die Philosophie des Ansatzes nicht aus dem Blick gerät: „[W]e must distinguish between what becomes acceptable on grounds of practical difficulties of data availability, and what would be the right procedure had one not been so limited in terms of information“41. Das Greif- bare kann z. T. die verlässlichere Informationsquelle sein: „In fact the capability set is
39 (ebd.) 40 Vgl. (Farvaque 2005: 224) 41 Sen fährt fort: „In arguing for the importance of the capability set in the analysis of achived well-
being, we are not closing our eyes to the practical problems of informational availability, nor to the value of the second-best analysis that we can do even with limited data. But it is also important to be quite clear as to what data, in principle, can be relevant and useful, even though in many cases we might not be able to get them. Practical compromises have to be based with an eye both to (1) the range of our ultimate interests, and (2) the contingent circumstances of informational availability” (Sen 1992: 53, siehe auch Seite 135).
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not directly observable and has to be constructed on the basis of presumptions [...] Thus, in practice, one might have to settle often enough for relating well-being to the achieved - and observed - functionings, rather than trying to bring in the capability set (when the presumptive basis of such a construction would be empirically dubious)” (Sen 1992: 52). Dieses Zitat nimmt vorweg, was zum Beispiel im Falle der bereits ge- nannten Studie von Anand und van Hees (2003) evident wird: Sie hatten, nachdem sie die Selbsteinschätzung der sich den Individuen bietenden Möglichkeiten abgefragt hat- ten, die tatsächlich erreichten Funktionen erhoben und eine sehr hohe Übereinstimmung festgestellt. Es lässt sich vermuten, dass die Individuen ihre Einschätzungen dem status quo anpassen, sich also einreden, ihre Möglichkeiten ausgeschöpft zu haben. Farvaque schließt daraus, dass es vorteilhafter ist, einen objektiven Bezug zu verwenden42.
Funktionen haben zwei Vorteile, einer mehr, einer weniger offensichtlich: Zum einen sind Funktionen direkt beobachtbar, zum anderen sind sie per definitionem Teil der Auswahlmenge. Funktionen sind die einzigen Verwirklichungschancen, von denen wir mit absoluter Sicherheit wissen. Besonders, wenn in einem Kontext geforscht wird, der sehr beschränkte Auswahlmengen erwarten lässt, sind die in Funktionen enthaltenen Informationen hinreichend. Man kann zum Beispiel annehmen, dass die Funktion, ge- sund zu sein, ein 'basic functioning' ist, also, dass sich ein jeder eher dafür entscheiden würde, diese Funktion zu realisieren, als sie nicht zu realisieren. Insofern macht es kei- nen Sinn, über die Beobachtung des Gesundheitszustandes hinaus zu fragen, ob das kranke Individuum auch die Möglichkeit gehabt hätte, gesund zu sein. Hätte es sie ge- habt, hätte es sie mit hoher Wahrscheinlichkeit genutzt, und wenn nicht, dann ist von fehlgeleiteten Präferenzen auszugehen43. Wiederum wäre es barer Unsinn, wissen zu wollen, ob ein gesundes Individuum auch die Möglichkeit gehabt hätte, krank zu sein, denn dies hätte den Wert seine Capability-Sets wohl kaum erhöht44. Vor diesem Hinter- grund ist durchaus zu rechtfertigen, dass sich Sen in seiner Pionierstudie zu Gesundheit und Bildung in Entwicklungsländern (Sen 1985) an beobachtbare Phänomene hält. Mit steigendem Wohlstand jedoch wächst die Auswahlmenge. Je mehr die Anzahl an realen Freiheiten zunimmt, je weniger dringend Grundbedürfnisse ein bestimmtes individuel- les Verhalten nahe legen, desto stärker kommt eine die individuelle Freiheit betonende Grundannahme des Capability-Ansatzes zum Tragen: es existiert keine allgemeine Handlungsregel, die die Auswahl einer bestimmten Funktion aus der Menge an Ver- wirklichungschancen erklären würde. Indem er insbesondere nicht davon ausgeht, dass Individuen Maximierer irgendeiner Variablen seien, grenzt sich der Capability-Ansatz auch in dieser Hinsicht vom Utilitarismus ab. Der Preis dafür, die individuellen Züge der Subjekte mitzudenken, ist zumindest in der quantitativen Forschung, wo die Kennt- 42 Les auteurs obtiennent en fait une mesure de l’adaptation des préférences et aspirations, ce qui sug-
gère la nécessité d’une approche fondée sur un référent objectif (Farvaque 2005: 226). 43 Siehe Abschnitt 2.2.5.
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nis des Einzelnen oberflächlich bleibt, einen diffusen Bezug zwischen (gewählter) Funktion und Auswahlmenge zu akzeptieren. In dieser analytischen Schwierigkeit zeigt sich der Zusammenhang zwischen Werthaltung und Methode des behandelten Ansatzes: der Rückgriff auf den Raum der Verwirklichungschancen wird deshalb notwendig, weil Freiheit unterstellt, also eine Nicht-Standardisierbarkeit des individuellen Verhaltens angenommen wird. Neben dem investigativen Grund, der in der Feststellung von Hand- lungsfreiheit liegt, gibt es jedoch auch den normativen Grund, der in der Wertschätzung von Freiheit liegt. Von dieser soll im folgenden Abschnitt noch einmal gesprochen wer- den, zudem soll ein forschungspraktischer Kompromiss dargestellt werden, der die Verwendung entweder von Daten über Funktionen oder über die Auswahlmenge als Extrempositionen erscheinen lässt. Messung mit verfeinerten Funktionen
Von verfeinerten Funktionen (‚refined functionings’) spricht man, wenn die Beobach- tung einer Funktion durch die Information, in welchem Grade diese Funktion unter frei- heitlichen Bedingungen realisiert wurde, ergänzt wird. Der Umfang der Zusatzinforma- tionen kann variieren, man könnte mithin unterschiedliche Grade der Verfeinerung an- geben. Die krudeste Form einer verfeinerten Funktion wäre eine Beobachtung, die mit einer binären Information ergänzt ist, ob oder nicht diese Funktion frei gewählt wurde. Mehr Abstufung böte die Auskunft darüber, inwiefern man bei der Wahl von einer frei- en Entscheidung sprechen kann, oder anders gesagt, bis zu welchem Grade sie durch die Umstände erzwungen wurde. Die verfeinertste Funktion enthielte Informationen über alle vorhandenen Alternativen, gäbe also umfassenden Einblick in den Raum der Ver- wirklichungschancen. Der Hintergrund, warum eine verfeinerte Funktion ein Plus ge- genüber einer bloßen Funktion bedeutet, ist wie erwähnt die normative Bedeutung der Wahlfreiheit. Diese lässt sich sehr explizit fassen45: Eine Funktionenbündel sollte eine Information darüber enthalten, wie die ihm zugrunde liegende Auswahlmenge zusam- mengesetzt ist. Wenn x eine Funktion aus der Menge der denkbaren Funktionen K ist, und S und T jeweils Untermengen von K sind, die die Funktion x enthalten, wobei gilt, dass S ≠ K: dann bedeutet x nicht das Selbe, je nachdem ob es aus S oder aus K gewählt wird, weil im Moment der Realisierung von x unterschiedliche Alternativen zur Verfü- gung stehen. Falls eine Funktion die einzige Verwirklichungschance einer Auswahl- menge darstellt, ist ihre Wahl freilich zwingend, die Freiheit also gleich Null. An die- sem Extrembeispiel lässt sich zeigen, dass bei einer genügend hohen Wertschätzung der Wahlfreiheit selbst eine attraktive Funktion unzureichend sein kann.
44 (wenn Wahlfreiheit in anderen Zusammenhängen auch essentiell ist) 45 Siehe (Farvaque 2005: 178)
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Eine Gegenposition wird diskutiert in Farvaque (2005: 179f): Verwirklichungschancen brächten keinen Erkenntnisgewinn gegenüber einer auf Funktionen beschränkten Sicht- weise, weder in methodischer noch in normativer Hinsicht. Ersteres, da Wahlfreiheit nicht zu einem Erkenntnisproblem führe, da nicht einzelne Funktionen, sondern Funkti- onenbündel betrachtet werden sollten. Diese gäben in ihrer Informationenfülle sehr wohl Aufschluss über die Möglichkeiten des Individuums, z.B. im Falle dessen, der im Luxus lebt, aber zu fasten pflegt. Der Leser bemerkt, dass wir damit doch wieder in den Raum der Möglichkeiten geraten sind und die Frage der Freiheit bedenken… Das zwei- te, normative Argument lautet, dass es eben nicht darauf ankomme, was jemand machen oder sein kann, sondern darauf, was tatsächlich eintritt. Wer eine klägliche Existenz führt, obwohl er in Saus und Braus hätte leben können, sei deshalb nicht weniger elend. In der Tat findet sich auch bei Sen die Position, dass zur Bewertung der Situation eines Individuums nicht nur Kenntnis über dessen Auswahlmenge, sondern auch eine Infor- mation über die tatsächlich gewählte Funktion vorhanden sein muss. Ein Grund hierfür ist sicher die Tatsache, dass der CA keine Theorie über den Entscheidungsprozess hat. Er kann also nichts darüber sagen, unter welchen Bedingungen überhaupt von einer freien Wahl die Rede sein kann, hierzu müssten Fragen der Information und Informati- onsverarbeitung, sowie der beabsichtigten oder unbeabsichtigten Beeinflussbarkeit der Wahl durch die Umwelt besser bearbeitet werden. Das Konzept positiver Freiheit, das auf die tatsächliche Wählbarkeit von Verwirklichungschancen abzielt, kann sich nicht nur auf Eigenschaften der Chancen, sondern muss sich auch auf Eigenschaften des Wählenden und seines Kontexts beziehen. Andernfalls kann die das Individuum tref- fende Verantwortung für die Wahlentscheidung nicht festgestellt werden. Ein zweiter Grund, für tatsächliche Manifestationen sensibel zu sein, liegt im bereits erläuterten „agency“-Konzept begründet, das in Rechnung stellt, dass ein Individuum alle mögli- chen Zwecke zum Ziel seines Handelns machen kann. Da agency-Motivationen sich jedoch in besonderem Maße der Beobachtung entziehen und somit noch weniger dar- über gesagt werden kann, warum ein Funktionenbündel gewählt wird, könnte man zu- nächst meinen, dass es geratener sei, die tatsächliche Wahl außen vor zu lassen und sich auf die Auswahlmenge zu konzentrieren. Hält man sich jedoch vor Augen, dass idealis- tische Anliegen die Entscheidung eines Individuums maßgeblich beeinflussen können (was ja im Capability-Ansatz auch postuliert und gutgeheißen wird), so muss man da- von ausgehen, dass Individuen zum Teil Funktionenbündel wählen, die zwar für andere förderlich, für sie selbst aber unvorteilhaft sind. Es folgt daraus, dass es eben doch nicht genügt, zu prüfen, welche Wohlfahrt ein Individuum sich verschaffen könnte, sondern auch, welche Wohlfahrt es tatsächlich für sich verwirklicht. Sollte etwa freiwilliger und verdienstvoller Verzicht eines Individuums nicht angerechnet werden? Hat, wer ein unmoralisches Jobangebot ausschlägt, 'seinen Lohn schon gehabt'? Dieses normative Moment steht also dem zuvor ausgeführten methodischen entgegen. Es wäre untypisch für den Capability-Ansatz, sich für die methodische Raison zu entscheiden. Robeyns
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(2005: 103) folgert: „The central claim of the capability approach is that whatever con- cept of advantage one wants to consider, the informational base of this judgement must relate to the space of functionings and/or capabilities, depending on the issue at hand”. Eine Anwendung der verfeinerten Funktionen findet sich beispielsweise bei Vero (2005) in einer Studie über Jugendliche, wo die Information, ob ein Individuum bei den Eltern wohnt, ergänzt wird mit dem persönlichen Grund hierfür. Je nachdem wird die Funktion, leider nicht ganz ohne Willkür46, mit einem numerischen Freiheitsmaß verse- hen. Eine weitere, kreative Anwendung, dort in Form eines einzigen Items, findet sich bei Bonvin und Farvaque (2003: 20): Die Möglichkeit, einen angebotenen Arbeitsplatz auszuschlagen. Solch knappe Information birgt jedoch auch Risiken, da die Hintergrün- de einer solchen Entscheidung nicht genügend bekannt sind. Zum einen lässt sich nur darüber spekulieren, in welchem Maße das Ablehnen eines Angebots auf die reale Mög- lichkeit, es nicht abzulehnen, hinweist. Eine methodische Annäherung an diese Proble- matik soll im folgenden Abschnitt erläutert werden. Zum anderen bleibt das zweite Bei- spiel einer verfeinerten Funktion recht nah an einer bloßen Funktion, so dass sich auch die Deutungsschwierigkeiten, die aus der Ermangelung einer Entscheidungstheorie er- wachsen, wieder abzeichnen.
‚Verschwommene’ Elemente
Zwischen den beiden Zuständen, in denen eine Funktion für ein Individuum entweder erfüllt ist oder nicht erfüllt ist, ist eine unendliche Anzahl von Positionen denkbar. ‚Krank’ und ‚gesund’ etwa sind zwei Pole eines Kontinuums, zwei Extrema, die bei empirischer Beobachtung nach vielen Abstufungen verlangen. Für den hypothetischen Raum der Auswahlmenge lässt sich Ähnliches konstruieren: Wie bereits angedeutet, lässt sich von manchen Elementen mit größerer Bestimmtheit als von anderen Elemen- ten sagen, dass sie Teil der Auswahlmenge seien. Bezogen auf das Individuum heißt das, dass es Gründe gibt, warum eine Handlungs- oder Zustandsoption in einer Situation zwar im Grunde gewählt werden kann, sich dieser Wahl jedoch Widerstände entgegen- stellen47. Es kann sich um die mit einer Option verbundenen Kosten handeln, z.B. den langen Anfahrtsweg eines angebotenen Arbeitsplatzes. Es kann auch sein, dass das In- dividuum über die relevanten Eigenschaften einer Information in Unkenntnis ist, sie also unter Risiko wählen müsste. Ferner ist denkbar, dass die Option ohne weiteres wählbar wäre, es aber psychologische Gründe gibt, die dem entgegenstehen, z.B. habi- tusbedingte Verhaltensregeln, gegen die zu verstoßen Überwindung kosten würde. Sen bezieht diese Hemmnisse ein, wenn er von der „actual ability to achive“ spricht48. Der
46 Vgl. Farvaque (2005: 220) 47 Vgl. Leßmann (2004: 11ff) 48 Vgl. Schokkaert (2008: 12)
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Sachverhalt, dass ein Element nicht vollständig Teil einer Menge, aber sehr wohl zu einem gewissen Grade in ihr enthalten ist, kann mathematisch mit dem Konzept des ‚Fuzzy Sets’ behandelt werden. Jedem Element x aus der Gesamtmenge an möglichen Elementen X wird Wert μ zugeordnet, der die Zugehörigkeit des Elements x zu einer Untermenge A quantifiziert, wobei 0 ≤ μ ≤ 1. Ist das einem x zugehörige μ gleich 0, so ist x nicht Teil von A. Ist es gleich 1, so ist x vollkommen Teil von A. Für alle anderen Werte von μ gilt es, eine Zugehörigkeitsfunktion (‚membership function’) zu spezifizie- ren, die angibt, welche Intensität der Zugehörigkeit zu A jeweils vorliegt. Die lineare ist hierbei nur eine mögliche Spezifikation49, allgemein gilt, dass die Zuordnungsregel dem Inhalt des Messgegenstandes entsprechen muss bzw. ein normatives Urteil über diesen widerspiegelt. Wählt man beispielsweise das Beschäftigungsverhältnis als zu untersu- chende Variable, und operationalisiert diese mit dem Indikator der wöchentlichen Ar- beitsstunden, so könnte man eine Mindestanzahl an Wochenstunden festlegen, ab der ein Individuum als vollbeschäftigt gilt. Unterhalb dieser Stundenanzahl wäre es nicht etwa unbeschäftigt (binäre Sichtweise), sondern eben nur nicht hundertprozentig voll- beschäftigt. Wie viele Wochenstunden nun aber, sagen wir, einem halben Normalar- beitsverhältnis entsprechen, ist Ermessensfrage50. Zum Skalierungsproblem kommt ein Aggregationsproblem hinzu, wenn die Funktion Normalarbeitsverhältnis nicht nur durch einen, sondern durch mehrere Indikatoren, z.B. ein ausreichendes Erwerbseinkommen, operationalisiert wird. Es müssen die verwende- ten Indikatoren dann gegeneinander gewichtet werden, d.h. es muss eine Annahme dar- über getroffen werden, wie (ge-)wichtig Arbeitszeit in Bezug auf Entlohnung ist. Dies ist freilich ein Grundproblem der Indexbildung51, und die vorgeschlagenen Lösungen sind die gleichen auf verschiedenen möglichen Aggregationsebenen: ob es sich um die Aggregation von Indikatoren zu einer Verwirklichungschance (oder Funktion) handelt oder von Verwirklichungschancen (oder Funktionen) zur Möglichkeit, Wohlfahrt zu erreichen (oder zu einem Maß der erreichten Wohlfahrt selbst). Bei Chiappero Martinet- ti (2000: 12f) und Lelli (2001: 9) finden sich drei Klassen von Operatoren, die als Aus- gangspunkt für eine Gewichtung dienen können: Schnittmengenoperatoren, Vereini- gungsmengenoperatoren und durchschnittsbildende Operatoren. Grundgedanke ist, bei der Aggregation im ersten Fall das am schwächsten, im zweiten Fall das am stärksten ausgeprägte Element zu betonen, wobei mit Ausprägung die Zugehörigkeit μ zur Ag- gregationskategorie gemeint ist. Der Schnittmengenoperator z.B. würde davon ausge- hen, dass Arbeitszeit und Entlohnung komplementäre Kriterien sind, d.h. dass eine grö- ßere Ausprägung der Verwirklichungschance Normalarbeitsverhältnis nur durch Anhe-
49 Für weitere Spezifikationen siehe Lelli (2001: 7ff). 50 Eine grafische Darstellung typischer Zugehörigkeitsfunktionen findet sich bei Chiappero Martinetti
(2000: 28). 51 Im Bereich des Capability-Ansatzes nehme man z.B. den Human Development Index, der sich ent-
scheidet, Einkommen doppelt, Gesundheit und Bildung aber nur einfach zu gewichten.
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ben sowohl der potentiellen Bezahlung als auch einer wählbaren besseren Gestaltung der Arbeitszeit erreicht werden könne. Die dritte Variante von Operatoren kennt ver- schiedene Möglichkeiten, die Ausprägungen der Elemente zu verrechnen. Ein durch- schnittsbildender Indikator würde Bezahlung und Arbeitszeit als substitutiv annehmen. Neben verschiedenen Möglichkeiten der Mittelwertbildung ist auch eine asymmetrische Gewichtung der einzelnen Elemente denkbar. Eine von Cheli und Lemmi vorgeschlage- ne Variante hat den Vorzug, objektive, weil auf Datenbasis errechnete Wichtungen zu ermöglichen, indem von der Häufigkeit des Fehlens eines Elements auf dessen Wich- tigkeit geschlossen wird: Der Einzelne kann umso schwerer auf eine bestimmte Ver- wirklichungschance verzichten, je mehr Individuen über diese Verwirklichungschance verfügen, je mehr sie also eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit ist. Wenden wir uns noch einmal dem einzelnen Element und dem Maß μ seiner Zugehö- rigkeit zum Set zu, genauer der Deutung dieses Maßes. Eingangs wurden verschieden- artige Gründe aufgezählt, warum ein Element als einer Menge mehr oder weniger zuge- hörig betrachtet werden kann. Was genau misst nun μ, bezogen auf die Wirklichkeit? Leßmann (2004: 11f) vertritt die Ansicht, dass Chiappero Martinetti Fuzzy Sets haupt- sächlich in die Anwendung des CA eingeführt hat, um dem Proble